Text: Jean Lahor (Nachdichtung)
Übersetzung: Dr. Martin Goch
Redaktion der deutschen Veröffentlichung: Klaus H. Carl
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Die Ursprünge des Jugendstils
„Man kann über die Verdienste und die Zukunft der neuen Bewegung der angewandten Kunst geteilter Meinung sein, aber es gibt keinen Zweifel, dass sie gegenwärtig in ganz Europa und in allen englischsprachigen Ländern außerhalb Europas dominiert; was sie jetzt nur noch braucht, ist Führung, und dies ist eine Aufgabe für Männer mit Geschmack.”
(Jean Lahor, Paris 1901)
Zusammenfassung
Chronologie
England: Die Wiege des Jugendstils
Belgien: Das Aufblühen des Jugendstils
Frankreich: Eine Leidenschaft für den Jugendstil
Der Jugendstil auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900
Der französische Pavillon
Der englische Pavillon
Der amerikanische Pavillon
Der belgische Pavillon
Der deutsche Pavillon
Der österreichische Pavillon
Der ungarische Pavillon
Der niederländische Pavillon
Der dänische Pavillon
Die schwedischen und norwegischen Pavillons
Der russische Pavillon
Der finnische Pavillon
Der rumänische Pavillon
Der schweizerische Pavillon
Fazit
Index
1893 Victor Horta baut in Brüssel das Hôtel Tassel, das als erstes Art Nouveau-Gebäude gilt.
1894 Louis Comfort Tiffany erfindet eine neue Methode für die Herstellung von Schalen und Vasen, die Favril-Technik, eine Handwerkstechnik der Glasbläserei, die verschiedene Effekte ermöglicht.
1895 Edmond Picard verwendet in der belgischen Zeitschrift L’Art Moderne erstmals den Begriff Art Nouveau.
1897 Siegfried Bing eröffnet in Paris sein Geschäft L’Art Nouveau, in 22, rue de Chauchat.
1897 – 1899 Schaffung des Sezessionsstils durch Joseph Hoffmann in Wien. Diese Bewegung, zu der auch Egon Schiele, Oskar Kokoschka und Koloman Moser gezählt werden, wurde von Gustav Klimt angeführt.
1900 Joseph Maria Olbrich erbaut das Sezessionsgebäude in Wien, in Paris findet die Weltausstellung statt. Siegeszug der Art Nouveau.
1901 René Lalique erhält den großen Preis für Schmuck bei der Weltausstellung und wird aus diesem Grunde zum bekanntesten Art Nouveau-Juwelier.
1904 Ausstattung der ersten Metrostationen durch Hector Guimard. Die Vereinigung für industrielle Kunst – bekannt als Schule von Nancy - wird von den Künstlern Louis Majorelle, den Daum-Brüdern und Émile Gallé als erstem Vorsitzenden ins Leben gerufen. Antoni Gaudí baut in Barcelona die Casa Batlló.
1914 – 1918 Die Kunstwelt wird durch die weltweite Krise erschüttert.
Um 1920 Die Art Nouveau macht einem neuen Stil Platz: Art Deco.
Der Jugendstil entstand aus einer sich erstmals 1892 innerhalb der angewandten Kunst Westeuropas bemerkbar machenden Bewegung, dabei war aber seine Geburt weniger spontan, als vielfach angenommen wird. Die dekorativen Künste waren zwischen dem Untergang des Stils des französischen Kaiserreichs etwa um 1815 und der Weltausstellung in Paris im Jahr 1889 zu Ehren des hundertsten Jahrestages der Französischen Revolution vielen Veränderungen unterworfen. |
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Schwäne. Tapetenmuster Walter Crane, 1875 Gouache und Wasserfarbe, 53,1 x 53 cm Victoria & Albert Museum, London |
Es gab in dieser Zeit z. B. deutliche, noch auf der Weltausstellung des Jahres 1900 in Paris zu sehende Wiederbelebungen der Praktiken der Restaurationszeit sowie der Zeiten der französischen Könige Louis Philippe und Napoleon III. Die Tradition (oder besser: die Nachahmung) spielte in diesen unterschiedlichen Stilrichtungen jedoch eine zu große Rolle, als dass daraus eine einheitliche Bewegung hätte entstehen können. Es gab in dieser Zeit allerdings durchaus eine Reihe von Künstlern, die sich durch die Artikulation ihres eigenen dekorativen Ideals von ihren Vorgängern abheben wollten. |
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Sarah Bernhardt Georges Clairin, 1876 Öl auf Leinwand, 200 x 250 cm Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris, Paris |
Wofür stand die neue Bewegung in der angewandten Kunst im Jahr 1900? Wie überall bedeutete sie auch in Frankreich, dass die Menschen der üblichen, sich wiederholenden Formen und Methoden, der alten Klischees und Banalitäten, der endlosen Imitation von Möbeln aus der Zeit von Königen, die allesamt Ludwig hießen (Ludwig XIII. bis Ludwig XVI.), aus der Gotik und der Renaissance überdrüssig waren. Sie bedeutete, dass die Künstler endlich die Kunst ihrer eigenen Zeit annahmen. |
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Rosen und Möwen Jacques Gruber Bleiglas, 404 x 300 cm Musée de l’École de Nancy, Nancy |
Bis 1789 (dem Ende des Ancien Régime) hatte sich der Stil in Abhängigkeit von Königen fortentwickelt; dieses Zeitalter wollte seinen eigenen Stil. Und es gab (jedenfalls außerhalb Frankreichs) eine spürbare Sehnsucht, nicht länger der Sklave einer ausländischen Kunst und Mode zu sein. Dieser Wunsch war ein wesentlicher Bestandteil des erwachenden Nationalismus dieser Zeit, in der jede Nation eine eigene, unabhängige Kunst und Literatur entwickeln wollte. Kurz, es gab überall den Drang hin zu einer neuen Kunst, die weder eine servile Kopie der Vergangenheit noch eine Nachahmung eines ausländischen Geschmacks war. |
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Pfauenlampe Tiffany & Co. Glas und Bronze Privatsammlung |
Zusätzlich bestand ein großes Bedürfnis nach angewandter Kunst, weil es bis zur Jahrhundertwende schlicht keine gegeben hatte. In früheren Epochen hatte die angewandte Kunst geradezu geblüht. In der Vergangenheit war alles, von der Kleidung und den Waffen bis hin zu den einfachsten Haushaltsgegenständen – von Kaminen, Kaminböcken und Blasebälgen bis hin zu Trinkbechern – reich geschmückt gewesen. Jedes Objekt hatte seine eigenen Ornamente, seine eigene Schönheit und Eleganz besessen. |
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Blumenlampe Émile Gallé Geätztes und emailliertes Überfangglas und Bronze Privatsammlung, Japan |
Aber das 19. Jahrhundert hatte sich nur für das Funktionale interessiert. Schönheit, Eleganz und Ornamente waren überflüssig. Das gleichzeitig erbärmliche und großartige 19. Jahrhundert war so tief gespalten wie Pascals menschliche Seele. Das Jahrhundert, das so traurig in der brutalen Missachtung des Völkerrechts endete, hatte mit einer vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber der dekorativen Schönheit und Eleganz begonnen und war zum großen Teil durch eine einzigartige Lähmung des ästhetischen Gefühls und Geschmacks charakterisiert. |
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Tischlampe Tiffany & Co. Privatsammlung |
Die Rückkehr des verbannten ästhetischen Empfindens half bei der Entstehung des Jugendstils. In Frankreich begann man, die Absurdität der Situation zu durchschauen und verlangte nun von den Stuckateuren, Raumausstattern, Möbeltischlern und sogar Architekten mehr Fantasie, Kreativität, ein wenig Innovation und Authentizität. Auf diese Weise entstand eine neue Form der angewandten Kunst als Antwort auf die Bedürfnisse einer neuen Generation. |
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Pfau. Tischlampe Patinierte Bronze, Glas und emailliertes Glas Macklowe Gallery, New York |
Die zur Schöpfung einer neuen Kunst fähigen modernen Tendenzen sollten erst auf der Weltausstellung von 1889 in Erscheinung treten. Dort artikulierten die Engländer ihren eigenen Geschmack in Möbeln; die amerikanischen Silberschmiede Graham und Augustus Tiffany schmückten die Produkte ihrer Werkstätten mit neuen Ornamenten und Louis Comfort Tiffany revolutionierte die Kunst der Buntglasherstellung. |
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Pfauenzimmer in Frederic Leylands Haus James McNeill Whistler, 1876 Freer Gallery of Art, Washington, D.C. |
Eine Elite französischer Künstler und Hersteller stellte Arbeiten aus, die ebenfalls große Fortschritte illustrierten: Emile Gallé zeigte selbst entworfene Möbelstücke und farbige Glasvasen, bei denen er durch Feuer brillante Effekte erzielte; Clément Massier, Albert Dammouse und Auguste Delaherche stellten geflammtes Steinzeug in neuen Farben und Formen aus und Henri Vever, Lucien Falize und Frederic Boucheron präsentierten Silber und Schmuck von großer Raffinesse. Die neue Tendenz in der Ornamentik war so fortschrittlich, dass Falize sogar mit Küchenkräuter-Ornamenten geprägte alltägliche Silberobjekte vorführte. |
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Vitrine mit künstlerischen Vasen Émile Gallé Einlegearbeit und Glas Macklowe Gallery, New York |