Von Matthias Gräbner
Frankenstein 2.0
Wenn Naturforscher der heutigen Zeit künstliches Leben erschaffen, muss das Ergebnis kein Monster mehr sein. Aber im Grunde ist die Wissenschaft noch nicht viel weiter als im Roman des 19. Jahrhunderts.
"Woher, fragte ich mich oftmals, kommt das Leben? Es war eine kühne Frage, eine von denen, auf die es keine Antwort gab", lässt Mary Shelley Frankenstein in "Frankenstein oder Der moderne Prometheus" sagen. Als Viktor Frankenstein sich mit der Schaffung künstlichen Lebens befasst, ist er jugendliche 19 Jahre alt. Auf Friedhöfen, in Beinhäusern und Grabgewölben in Bayern, rund um die Universitätsstadt Ingolstadt, wo er studiert, findet er die Antwort. Denn er weiß: "Um die Ursachen des Lebens zu entdecken, müssen wir zuerst wissen, was der Tod ist." Seine Erfinderin Mary Shelley liefert damit eine kluge Beschreibung der Probleme, vor denen Biologen auch heute noch stehen.
Nach der üblichen Definition wird die Eigenschaft Leben solchen Systemen zugeschrieben, die sich von der Umwelt abgrenzen und doch mit ihr wechselwirken, die sich in einem selbstorganisierenden Gleichgewicht befinden und zu Wachstum und Fortpflanzung fähig sind. Diese Begriffsbestimmung hat allerdings einige Schwächen. Eigentlich müsste sie lauten: Leben ist das, was Biologen dafür halten. Denn sowohl in der Natur als auch in der Technik kommen Systeme vor, die viele Eigenschaften des Lebens mitbringen. Feuer, Computerviren, geologische Systeme gehören dazu - während etwa Pilzsporen weder Stoffwechsel betreiben noch wachsen.
Was Leben jedoch offenbar nicht braucht, ist ein Agens. Leben wird nicht eingehaucht. Es entsteht in Folge einer simplen Zustandsänderung. Eben hat es noch gefehlt, jetzt ist es da. Diese Unterscheidung wäre allerdings leichter zu treffen, wenn die Unterschiede zwischen unbelebter und belebter Materie klarer wären. Das würde das Leben allerdings auch komplett des von vielen, nicht nur religiösen Menschen geliebten Mysteriums berauben.
Dieses Forschungsgebiet der Biologie scheint dem Laien oft am nächsten dran an der Erforschung des Lebens an sich. Das Bestreben der Forscher in diesem Bereich geht dahin, komplette, lebende Zellen aus ihren Grundbestandteilen zu erzeugen. Darin sind die Wissenschaftler schon ziemlich weit. Sie sind unter anderem in der Lage, Erbsubstanz aus den vier Basenpaaren zusammenzusetzen.
Die Wissenschaftler sind dabei etwa auf dem Stand achtjähriger Kinder beim Lego-Bauen: Damit dabei etwas Sinnvolles entsteht, müssen sie bestehende Baupläne kopieren. Immerhin trauen sie sich bereits kleinere Änderungen und Umbauten zu. Doch bis zum freien Bauen unter Ausnutzung aller zur Verfügung stehenden Einzelteile auf ein vorher erdachtes Ziel hin werden noch Jahre vergehen.
Die Paläobiologen gehen einen anderen Weg. Die Entstehung von Leben aus unbelebter Materie ist auf der Erde ja schon einmal gelungen. Das ist zwar sehr lange her und lief ohne Zeugen ab, doch wenn es gelingt, ähnliche Umweltverhältnisse wie damals zu schaffen, müsste sich auch wie damals Leben bilden. Die Schwierigkeit besteht hier darin, dass die Entstehung von Leben womöglich ein ziemlicher Zufall gewesen ist - in dem riesigen Labor Erde hat er sich trotzdem realisiert, im Reagenzglas der Forscher steht dem leider die Statistik entgegen. Umso mehr kommt es darauf an, die genauen Verhältnisse der Frühzeit zu kennen.
Wenn schon nicht Frankensteins Monster, dann wenigstens ein Cyborg, eine andere Ikone der fantastischen Literatur? Ersatzteile für den Menschen zu erzeugen und einzusetzen, ist längst medizinischer Alltag. Die gute alte Mechanik ist robust, aber unelegant. Ein Ersatz-Organ, aus körpereigenen Zellen gewachsen, löst gleichzeitig das Abstoßungs-Problem der Transplantationsmedizin und das Haltbarkeitsproblem der Mechaniker.
Derzeit ist der Stand der Technik, ein Gerüst mit körpereigenen Zellen überwachsen zu lassen. Das Gerüst kann künstlich hergestellt sein oder aber durch die vorherige Bearbeitung etwa von Blutgefäßen oder Knochen gewonnen worden sein.
Künstliches Leben gibt es längst - im Computer. Software-Algorithmen können Evolution ebenso simulieren wie den Informationsaustausch mit der Umgebung und sogar die Entscheidungsfreiheit des Individuums, über deren Vorhandensein beim lebenden Menschen sich die Philosophen nicht einig sind. Die dazu nötige Rechenkapazität ist so gering, dass sie sich als 8-Bit-Chip in ein Tamagotchi-Ei einsetzen lässt. Hier schließt sich denn auch der Kreis zur synthetischen Biologie: Untersucht man doch zum Beispiel auch im Computer, wie sich in einem selbstorganisierenden Prozess in der Natur Zellmembranen herausgebildet haben könnten.
Volker Henn
Synthetisches Leben
Auf dem Weg zum biologischen Betriebssystem
Redaktion: Florian Rötzer
Umschlaggestaltung, Titelfoto & Herstellung: Michael Schuberthan
ISBN 978-3-944099-23-1 (V1)
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Titel
Vorwort
Florian Rötzer
Der Weg zum künstlichen Leben
Eine Einführung
Volker Henn
Synthetische Biologie - neue Pläne für das Leben
Die synthetische Biologie nutzt die Grundbausteine des Lebens, um neue Substanzen und Systeme zu erzeugen
Volker Henn
Das synthetische Genom - ein Schritt zum Minimalorganismus
Die Synthese und Transplantation eines Bakterien-Genoms könnte zu einem Organismus führen, dessen Erbgut auf ein Minimum reduziert ist
Volker Henn
Stoffwechsel nach Maß
Synthetische Biologen verändern den Stoffwechsel von Zellen, um Substanzen für den alltäglichen Bedarf zu produzieren
Volker Henn
Die Zelle als Computer
Synthetische Schaltkreise führen logische Operationen in lebenden Zellen durch und erlauben die Entwicklung von Biosensoren
Volker Henn
Neuer Code für neue Proteine
Forscher wollen neuartige Proteine aus ungewöhnlichen Bausteinen erzeugen, müssen dazu aber den genetischen Code anpassen
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