Ostfriesenfeuer

Klaus-Peter Wolf

Ostfriesenfeuer

Der neue Fall für Ann Kathrin Klaasen

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Klaus-Peter Wolf

Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bislang sind seine Bücher in 26 Sprachen übersetzt und über zwölf Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, derzeit werden einige Bücher der Serie prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.

 

Besuchen Sie auch die websites des Autors:

www.klauspeterwolf.de

www.ostfrieslandkrimis.de

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Impressum

Erschienen bei FISCHER Taschenbuch

Frankfurt am Main, März 2014

 

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014

Für die Landkarte: © Wiebke Rocker

Covergestaltung: bürosüd°, München

Coverabbildung: Ostfriesland-Bild

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-401044-1

Rupert, Hauptkommissar, Kripo Aurich

»Staatskrise? Was interessieren mich der Euro oder die Steuerreform? Hauptsache, die Nordsee bleibt hinterm Deich!«

Ubbo Heide, Kripochef Aurich/Wittmund

»Ich hatte schon Freunde, da gab’s noch gar kein Facebook.«

Ann Kathrin Klaasen, Hauptkommissarin, Kripo Aurich

Doch auch wenn dieser Roman ganz in einer realen Kulisse angesiedelt ist, sind die Handlung und viele Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Organisationen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Das Café Willbrandt in Carolinensiel existiert nicht, sondern entstammt komplett meiner Phantasie.

Für ihn war es wie ein Versprechen, das die Vorfreude in ihm schürte. Er saß auf dem Deichkamm und atmete den Qualm ein.

Hinter sich wusste er Diekster Köken, vor sich sah er das haushoch gestapelte Holz fürs Osterfeuer. Für ihn sah es aus wie ein wunderbarer Scheiterhaufen. Er konnte seinen Blick gar nicht davon abwenden.

Die Schaumkronen der Wellen erreichten das Holz nicht, sondern brachen an der Strandbefestigung.

Er zog die Lederjacke aus und legte sie wie eine Decke ins Gras. Zum ersten Mal seit Wochen hatte er keine pochenden Kopfschmerzen, und auch das enge Gefühl in der Brust war weg. Es hatte ihm verdammt gutgetan, Willbrandt zu ermorden. Seitdem ging es ihm wesentlich besser.

Er streckte sich auf der Jacke aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah voller Zuversicht in den blauen ostfriesischen Himmel.

Die Kitesurfer bereiteten sich, angestachelt vom Wetterbericht, auf einen großen Tag vor. Während im Binnenland Regenschauer niedergingen, wurden der Küstenstreifen und die Inseln verschont. Die Sonne lachte mild herunter.

Er versuchte, damit seinen Freund Frank Weller aufzuheitern, der nervös herumtanzte. Einerseits war dies ein wunderbarer, großer Tag für ihn. Er und Ann Kathrin Klaasen würden sich gleich das Ja-Wort geben. Aber die Hochzeitszeremonie im Ostfriesischen Teemuseum weckte auch Ängste in ihm.

Die letzte Ehe hatte aus Frank Weller einen armen Mann gemacht. Diesmal würde alles anders werden, so hoffte er.

Seine beiden Töchter, Jule und Sabrina, waren dabei und strahlten. Er hatte ihren Segen, und das war wichtig für ihn.

»Familienväter«, sagte Peter Grendel, »sind die letzten Abenteurer dieser Zivilisation, Frank.«

Dann steckte Peter Grendel Weller einen Zettel zu.

Weller sah ihn fragend an.

»Damit du gleich keinen Hänger hast, wenn der Standesbeamte dich was fragt.«

Frank Weller sah auf den Zettel. Dort stand: Ja, ich will.

Weller lachte: »Mensch, gute Idee, falls ich vergesse, was ich sagen wollte.«

Weller kam mit dieser Art Humor sehr gut klar. Er sah zu Ann Kathrin. Sie betrachtete die friesische Standuhr und sagte zu ihrer Freundin Rita Grendel: »Guck mal, die Uhr zeigt das Datum an, die Tageszeit, den Mondstand und Ebbe und Flut. Das Ding ist aus dem 18. Jahrhundert. Meine Digitaluhr ist von 2012, weiß aber nicht, wann Ebbe und Flut ist.«

»Dafür«, grinste Rita, »hast du eine genaue Sekundenangabe. Die fehlt hier.«

Die Trauung fand im ehemaligen Gerichtssaal, dem sogenannten Rummel, statt.

Sie hatten sich bewusst für eine Feier im ganz kleinen Kreis entschieden. Lediglich Ubbo Heide, der für Ann Kathrin so etwas wie ein Vater war, nahm als einziger Kollege der beiden an der Feierlichkeit teil.

Ann Kathrins Mutter, Helga Heidrich, saß zwischen Wellers Kindern, die sich rührend um die alte Dame kümmerten. Ann Kathrins Sohn Eike hatte sich zwar geweigert, eine Krawatte zu tragen, aber immerhin hatte er ein sandfarbenes Jackett an und ein weißes T-Shirt. Seine Jeans und die Turnschuhe waren vielleicht nicht ganz angemessen, doch darüber sah Ann Kathrin gern hinweg. Sie war froh, ihren Sohn überhaupt dabeizuhaben, denn zwischen ihm und Frank Weller herrschte bestenfalls so etwas wie Waffenstillstand. Richtig Frieden geschlossen miteinander hatten die beiden nie.

Sie hatten für später bei ten Cate eine Hochzeitstorte bestellt und für Ubbo Heide ein paar Marzipanröschen zusätzlich, weil sie Angst hatten, er würde sich sonst heimlich drüber hermachen. In weiser Voraussicht hatten sie darum gebeten, das Hochzeitspaar aus Porzellan und keineswegs aus Marzipan zu gestalten, damit es vor Ubbo sicher war.

Mancherorts schmückte eine Hexenpuppe aus Stroh den Holzstapel des Osterfeuers. Dies war hier bei den Ostfriesen anders.

Er dachte über einen alten Streit nach, den er mal mit seinem Deutschlehrer hatte, ob die Osterfeuer christlicher oder heidnischer Herkunft seien. Sein Lehrer hatte damals behauptet, die ersten Osterfeuer seien erst 1559 bezeugt worden, also lange nach Christi Geburt.

Er erinnerte sich noch gut an die Worte seines Lehrers: »Wie einst das Volk Israel der Feuersäule durch die Wüste folgte, so folgen heute die Gläubigen Jesus Christus auf dem Weg vom Tod zum Leben.«

Er wusste nicht, wen er mehr hasste: seinen alten Deutschlehrer oder Christoph Willbrandt.

Ja, dachte er, auf dem Weg vom Tod zum Leben. Wie ironisch.

Am liebsten hätte er Willbrandt gepfählt zuoberst auf den Holzstapel gesteckt. Aber heidnische Sitte hin oder her, das ließ sich nicht machen.

Sein Plan jetzt war besser. Er hatte die Leiche in den frühen Morgenstunden zur vorbereiteten Feuerstätte gebracht. Angst hatte er nur vor den blöden Tierschützern, die ihm noch alles zunichtemachen könnten. In den Nachrichten hatte er gehört, dass in Österreich und im Sauerland Tierschützer gegen das Abbrennen von Osterfeuern protestiert hatten, weil sich in den aufgetürmten Holzstößen aus Baum- und Strauchschnitt Kleintiere einnisteten, die dann später, wenn das Feuer entzündet war, elendig verbrennen würden.

Er hoffte, dass die Ostfriesen keine ganz so fanatischen Spinnen-, Käfer-, Wanzen- und Milbenschützer waren wie die Sauerländer oder Österreicher.

»Tja«, freute er sich und sprach es gegen den Wind, »du wirst also mit dem ganzen Getier verbrennen, Willbrandt.«

Sein Hals wurde trocken, und er hustete. Aber er fühlte sich

Ich werde dabei sein, wenn du brennst!, dachte er triumphierend.

Ich werde mit den Schaulustigen ums Feuer stehen und feiern. Ich werde mit ihnen Musik hören, Bier trinken und Bratwürstchen essen und dabei der Einzige sein, der genau weiß, was geschieht.

Er reckte sich und legte sich dann wieder auf seine Lederjacke. Sie war wie eine Ritterrüstung für ihn. Später würden sich vielleicht Menschen an ihn erinnern, aber sie würden die Jacke beschreiben, nicht ihn. Sie war dominant, machte eine bestimmte Persönlichkeit aus ihm. Im hellblauen Anzug mit roter Krawatte würde ihn niemand wiedererkennen. O ja, Kleider machten Leute. Und wie! Heute gab er den Motorradfreak mit Meckihaarschnitt und Dreitagebart.

Er sah einer Möwe zu und beneidete sie darum, so segelfluggleich im Wind schweben zu können.

Wenn ich wiedergeboren werden sollte, so möchte ich eine Möwe sein. Am Meer leben und den Touristenkindern die Pommes stehlen.

Er lachte und wunderte sich, dass seine Lachmuskeln überhaupt noch funktionierten, so untrainiert, wie sie waren …

Unten am Strand wurden in der Nähe des Holzstapels die ersten Tische aufgebaut und Getränkestände installiert.

Er sang: »Goodbye, Michelle, it’s hard to die, when all the birds are singing in the sky.«

Vor der Feuerstelle, die mit Delfter Fliesen verkleidet war, gaben sich Weller und Ann Kathrin das Ja-Wort, und Weller musste nicht einmal auf den Zettel gucken, den Peter ihm zugesteckt hatte.

Dann nahm Ann Kathrin die herzlichen Glückwünsche von Wellers Töchtern und die verhaltenen ihres eigenen Sohnes entgegen, was sie ein bisschen schmerzte, aber sie wollte sich diesen schönen Tag nicht verderben lassen, und immerhin war er ja gekommen.

Es gab eine Teezeremonie, und jeder trank nach alter ostfriesischer Sitte drei Tassen mit Kluntje und ein paar Tropfen Sahne, aber natürlich ohne umzurühren.

Im Distelkamp 13 wartete schon die Hochzeitstorte, und es waren so viele Marzipanrosen darauf, dass man die Torte kaum noch sehen konnte. Sie war dreistöckig. Fürst Pückler-Erdbeersahne-Sanddorn.

Rita Grendel bestand darauf, mit ihrer neuen Digicam zu filmen, denn was jetzt geschehe, sei äußerst wichtig. Das Brautpaar müsse die Torte gemeinsam anschneiden.

Weller holte aus der Küche ein Brotmesser und wollte forsch beginnen.

»Halt, halt!«, rief Rita. »Gemeinsam! Das ist wichtig für den weiteren Verlauf der Ehe.«

Ann Kathrin legte ihre Hand auf die von Weller. Sie lächelte. Gemeinsam sägten sie durch das Marzipanrosen-Meer ein Stück Sanddorntorte ab.

Sie küssten sich dabei, und Weller genoss die Berührung von Ann Kathrins Hand auf seiner. Ubbo Heide schoss ein Foto, die Kinder auch. Rita filmte und erklärte fröhlich:

»Es ist nämlich so: Wer beim Anschneiden der Torte die Hand oben hat, führt auch später in der Ehe die Regie.«

In das brüllende Gelächter hinein sagte Ann Kathrin: »Tja, Frank, dann weißt du ja, was dich erwartet.«

»Später«, erklärte Ann Kathrin ihrer Mutter, »werden wir

Helga Heidrich unterbrach ihre Tochter: »Das schaffe ich nicht mehr. Bringt ihr mich denn vorher zurück zur AWO

»Na klar, Mama.«

Ann Kathrin war froh, dass ihre Mutter überhaupt so lange durchgehalten hatte.

»Nein, noch nicht gleich. Erst noch ein Stück Kuchen. Aber dann …«

Rupert reckte die Nase und schnupperte. Er fand, das Osterfeuer roch heute besonders gut. Da knisterten nicht einfach alte Weihnachtsbäume in der Glut. Da war auch ein Hauch von Buchenholz, Birke und salzigem getrocknetem Strandgut. Die Flammen loderten in den Himmel, und weil die Sicht klar war, konnte man von hier aus auch die Feuer auf Juist und Norderney sehen.

In Fünferreihen standen die Touristen und erfreuten sich an den Flammen. Aus den Lautsprechern dröhnten die alten Hits, die von vielen mitgesungen wurden: Born to be wild, Satisfaction und schließlich Smoke on the water.

Rupert stand zum zweiten Mal für eine Bratwurst Schlange. Er konnte diesem Duft einfach nicht widerstehen, und heute waren die Würstchen besonders knackig.

Die Stimmung war ausgelassen und fröhlich, einige Pärchen knutschten, einige ganz Verwegene tanzten im Sand. Dann näherten sich plötzlich, wie in einer Prozession, genau die Leute, deren reine Anwesenheit ihm normalerweise die Stimmung verhagelte. Der Journalist Holger Bloem. Der Maurer Peter

Er ahnte nicht, dass hinter ihm in der Schlange jemand stand, der ihnen in der nächsten Zeit noch viel Kopfzerbrechen bereiten würde. Er sang laut mit: »Smoke on the water, a fire in the sky …«

Der Wind drehte jetzt, und eine Böe wehte den Qualm vom Osterfeuer direkt in die Menge, die an der Würstchenbude und am Bierstand wartete. Eingehüllt in Nebel hielten sich einige die Augen zu, fächelten völlig sinnlos vor ihrem Mund in dem Rauch herum, während Flugasche ihre Haare und ihre Hemden silbern und schwarz färbte. Nur der Mann hinter Rupert saugte die verqualmte Luft so tief ein, als hätte er nie eine bessere geschnuppert.

Rupert glaubte sofort zu wissen, was mit dem Mann in der roten Motorradjacke los war. Er lachte: »Nichtraucher, hm? Ist noch keine vierzehn Tage her, dass du die letzte Kippe geraucht hast, stimmt’ s?«

Der Mann nickte, und Rupert grinste: »Ich war so sehr auf Entzug, dass ich hinter jedem Raucher auf der Straße hergelaufen bin, um wenigstens ein bisschen von dem Qualm mitzukriegen.«

Es schien dem ostfriesischen Wind Spaß zu machen, den Rauch in die Menge zu drücken, während die Funken wie in einem Feuerschwanz in ihre Richtung stoben.

Als sie endlich dran waren, legte der Mann am Grill gerade neue Würstchen auf. Der Mörder überließ Rupert großzügig die letzte Wurst und gab auch noch ein Jever aus. Er war so gutgelaunt, er hätte die ganze Welt umarmen können. Mit all diesen Menschen hier zusammen feierte er eine Party. Die Verbrennung von Christoph Willbrandt. Gab es einen schöneren Anlass?

Er mochte diesen Rupert und hätte gerne mit ihm noch ein Bier getrunken, doch eine Frau weckte sein Interesse. Sie hatte

Sie hieß Claudia, war Mitte dreißig, machte aber erfolgreich auf Ende zwanzig und war so wütend auf ihren Freund, dass sie ihn jetzt eifersüchtig machen wollte.

Es entstand eine kurze Konkurrenzsituation zwischen Rupert und dem Mörder, aber dann gab Rupert auf, denn so wie sie den Typen in der Lederjacke anhimmelte, hatte er keine Chance bei ihr. Sie wäre zweifellos Ruperts erste Wahl gewesen, aber so, wie es aussah, würden sich im Laufe der Nacht noch mehr Chancen für ihn auftun.

Auf solchen Festen hatte Rupert schon oft für sich einen One-Night-Stand abgestaubt. Wenn die Kerle besoffen genug waren, um sich nicht mehr um ihre Frauen zu kümmern, dann, so hoffte Rupert, saßen die Schlüpfer lockerer als sonst.

Er überließ dem Lederjackentypen, der einen auf Harley-Davidson-Fahrer machte, die Rothaarige und wendete sich anderen Abenteuern zu.

Ubbo Heide hatte so viele Marzipanröschen gegessen, dass ihm jetzt nach einem Schnaps war. Er bestellte sich zwei Doppelte in einem Glas. Das war jetzt genau die richtige Portion für ihn.

Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Ausschankwagen und sah zu Ann Kathrin rüber. Sie sah glücklich aus, und das stimmte ihn fröhlich. Weller war ein guter Mann, und sie hatte einen guten verdient. Er wünschte sich für seine Tochter auch so einen.

Er bestellte eine Runde Jever und wollte die Flaschen rüber zu den anderen tragen, doch wo die Stimmung besonders gut und

Ubbo wollte die Getränke gegen den Wind durch die Menge tragen. Es fiel ihm nicht leicht. Der Lederjackenmann bot seine Hilfe an, denn der Freund von Claudia sah aus, als sei er schwer auf Krawall gebürstet und suche nur ein Opfer für seine Kampfeslust … Der Mörder wollte keinen Stress und sich den Abend nicht verderben lassen. Da zog er sich lieber aus der Affäre, indem er dem alten Mann beim Flaschentragen half.

Melanie und Frank Weiß hatten den kleinen Ole mitgebracht. Sie zeigten ihm sein erstes Osterfeuer. Melanie tanzte jetzt mit Ole auf dem Arm.

Holger Bloem suchte eine gute Schussposition für ein Foto. Er fand das sehr stimmungsvoll. Im Watt spiegelten sich die Flammen, als seien viele hundert kleine Osterfeuer auf dem Meeresboden entzündet worden.

Da sah er, dass sich ein jugendlicher Taschendieb von hinten an Monika Tappers Handtasche heranmachte. Er hatte schon eine Hand in der Tasche und glaubte sich am Ziel.

Holger Bloem war gut vierzig bis fünfzig Meter entfernt, aber er rannte sofort los.

Der Jugendliche warf Monikas Portemonnaie zu seinen Freunden und versuchte, in Richtung Hundestrand zu entkommen, während seine Freunde in Richtung Deich loswetzten und dann einen Haken schlugen.

Holger verfolgte den Dieb, Rita Grendel stieß Peter an, und der versuchte, die beiden anderen mit dem Portemonnaie aufzuhalten. Jörg Tapper schnitt ihnen den Weg zum Haus des Gastes ab. Sie liefen Peter Grendel direkt in die Arme.

»Aus dem Weg, alter Mann, oder ich brech dir sämtliche Knochen«, fauchte ein Junge, der seinen sechzehnten Geburtstag gerade erst mit einem fürchterlichen Rausch hinter sich gebracht

»Na klar«, sagte Peter Grendel und versuchte, ängstlich zu gucken, »du brichst mir sämtliche Knochen.«

Den Bruchteil einer Sekunde später küsste der jugendliche Räuber den Sand.

Sein Freund hatte im Karate-Anfängerkurs einen Tritt gelernt, den Mae-Kin-Geri.

Den führte er jetzt filmreif gegen Peter Grendels Brust aus.

Es war, als hätte er gegen eine Steinwand getreten, und er hielt sich mit beiden Händen den Fuß, als könne er durch Handauflegen den Schmerz lindern.

Peter Grendel verpasste ihm eine Ohrfeige und nahm den einen links und den anderen rechts unter den Arm und ging mit ihnen zu Monika. Während er sie in Richtung Monika trug, rief der Karateschüler: »Ich zeig Sie an! Ich ruf die Polizei!«

»Gute Idee«, sagte Peter. »Würde ich an deiner Stelle auch tun. So ein Satz wie: Hilfe! Ich hab ein Portemonnaie geklaut, und der Onkel war dagegen. Kommt bestimmt gut an bei unseren Ordnungshütern.«

Vor Monika ließ er die beiden fallen und sagte: »Die Jungs haben dein Portemonnaie gefunden, Monika. Sie wollten es dir gerne wiederbringen.«

Die zwei entschuldigten sich wortreich, gaben das Portemonnaie zurück und behaupteten tatsächlich, es da drüben im Sand gefunden zu haben.

Rita lachte: »Ja, das sind ja ganz reizende Kinder, nett, hilfsbereit … Hat man ja heutzutage sonst selten …«

Holger Bloem saß derweil mit dem eigentlichen Dieb oben auf dem Deich und hörte sich dessen Lebensgeschichte an. Er weinte, und Holger tröstete ihn.

Ja, die Welt war schlecht. Nicht mal als richtiger Taschendieb konnte man in Ostfriesland etwas werden.

Der Mann, der Ubbo Heide geholfen hatte, das Bier zu tragen, grinste, hob die Flasche und sagte: »Darauf trinken wir aber jetzt mal einen.«

Die rothaarige Claudia hatte sich durch die Menge zum Lederjackenmann vorgearbeitet. Die Blicke ihres Freundes verfolgten sie eifersüchtig.

»Was ist jetzt?«, fragte sie ein bisschen angenervt. »Gehen wir zu dir oder zu mir?«

Holger Bloem brachte »seinen Jungen« jetzt auch mit. Sie gingen nebeneinanderher wie Vertraute. Auch er wollte sich bei Monika entschuldigen, aber einen kleinen aufmunternden Anstupser von Holger brauchte er doch noch, bevor er den Mund aufbekam.

»Eigentlich«, sagte Ann Kathrin, »müssten wir die Jungs jetzt festnehmen. Das ist doch auch eine pädagogische Frage.«

Die drei standen bibbernd, mit weit aufgerissenen Augen, da.

Weller kramte in seiner Tasche und suchte in seinem Hochzeitsanzug seinen Polizeiausweis.

»Die sind nämlich von der Kripo«, erklärte Rita Grendel, zeigte auf Weller und sagte: »Der findet nur gerade seinen Ausweis nicht.«

»Aber ich finde«, sagte Weller, »wir sollten sie laufenlassen. Immerhin ist heute unser Hochzeitstag.«

Ubbo Heide lachte. »Schöne Art, seine Hochzeit zu feiern. Anlässlich der Vermählung von Frank Weller und Ann Kathrin Klaasen ließ die ostfriesische Polizei sämtliche Taschendiebe und Kleinkriminelle an diesem Feiertag laufen …«

Die drei Jungs erkannten ihre Chance und rannten los.

»Immerhin«, stellte Ann Kathrin fest, »so klug sind sie, dass jeder in eine andere Richtung rennt.«

Ihr kriegt mich nie, dachte der Lederjackenmann. Ihr nicht. Und er atmete noch einmal tief ein. Es roch nach verbranntem Fleisch, und das kam bestimmt nicht von der Bratwurstbude.

Als Rupert am nächsten Morgen ungeküsst, aber mit einem Riesenkater wach wurde, lag er in Norddeich zwischen zwei Sanddünen. Zwischen seinen Zähnen knirschte es. Sein Mund war trocken wie eine Wüste, seine Kleidung aber feuchtnass vom Morgentau. Er war durchgefroren und zitterte.

Magisch zog die Feuersglut ihn an. Zunächst auf allen vieren, dann aufrecht gehend, näherte er sich. Mit ihm standen fünf, sechs Übriggebliebene und zwei Wächter des Feuers und wärmten sich an der Glut. Es war ein saukalter Morgen, wie sie sich gegenseitig versicherten.

Was Rupert dann sah, schrieb er zunächst seinem Blutalkoholgehalt zu. Da unten aus der Glut ragte etwas heraus, und es sah aus wie die verkohlten Knochen eines menschlichen Fußes.

Rupert fehlten die Worte, und der Sand im Mund machte ihm das Sprechen schwer. Er zeigte nur stumm auf den Fuß. Dann erstarrten die Männer neben ihm.

Im Autohaus Immoor in Lütetsburg fanden sie einen Jahreswagen, der beiden auf Anhieb gefiel. Ein Citroën Picasso. Doch Weller musste nicht mal auf sein Konto sehen, um zu wissen, dass er keinen ernsthaften Beitrag dazu würde leisten können, während Ann Kathrin bei der Sparkasse Aurich-Norden genügend Euro auf dem Tagesgeldkonto hatte, um zwei solcher Autos zu finanzieren.

Weller fand, in diesen schweren Zeiten sollte man sein Geld lieber in Sachwerten anlegen, denn er hatte einen Filmbericht gesehen, in dem eine Hyperinflation angekündigt wurde. Seitdem drückten ihn seine Schulden nicht mehr so sehr, denn die würden ja durch die Inflation auch an Wert verlieren, hoffte er.

Weller vermutete, dass Ann Kathrin den Wagen schon allein deswegen liebte, weil er Picasso hieß und der Namenszug des von ihr verehrten Meisters silbern auf dem Wagen glänzte. Aber als sie ihren froschgrünen Twingo in Zahlung geben sollte, hatte sie plötzlich Tränen in den Augen. Sie nahm Weller beiseite und flüsterte: »Ich kann das nicht.«

»Was kannst du nicht?«

»Na, den Twingo abgeben.«

»Warum nicht? Wir können uns zwei Autos nicht wirklich leisten. Außerdem kommen wir mit einem Auto doch gut aus …«

»Das ist es nicht. Ich meine, wie fühlt der Wagen sich denn? Jetzt, wo er nicht mehr gebraucht wird, schieben wir ihn einfach so aufs Abstellgleis …«

Weller schluckte und atmete tief durch. Er sah sich nach allen Seiten um. Das hier musste niemand mitbekommen. Die Verhörspezialistin der ostfriesischen Mordkommission, die das BKA nur zu gern abgeworben hätte, weil sie als Fachfrau für

»Ann, Autos sind Gebrauchsgegenstände, keine Menschen.«

»Der Wagen hat mich überall sicher hingebracht. Er führt ein Eigenleben. Er spürt Hitze und Kälte, isst und hat eine Verdauung.«

»Nein, Ann, er isst nicht, er wird betankt. Und das da hinten ist kein Verdauungsorgan, sondern ein Auspuff.«

»Trotzdem.«

»Wie, trotzdem?«

»Ich kann ihm das nicht antun. Ich weiß, dass es Blödsinn ist, aber ich habe oft mit ihm gesprochen.«

»Ja, ich weiß. Ich fand es auch immer witzig, aber das war doch nicht dein Ernst, oder?«

»Na ja, wie man’s nimmt. Die Dinge haben eben ein Eigenleben und ich …«

Sie stampfte mit dem Fuß auf, sah Weller fast wütend an, verzog trotzig den Mund und sagte: »Lach mich ruhig aus. Ich bin eben so. Mein Herz hängt daran. Ich will ihn nicht verstoßen. Wir nehmen ihn wieder mit. Und wehe, du sagst einem, warum!«

»Nein, natürlich nicht, das bleibt unser Geheimnis. Aber, Ann, wir haben für zwei Autos gar keinen Platz in der Garage.«

»Na und? Dann bleibt eben einer draußen.«

Weller stellte vorsichtshalber nicht die Frage, welcher Wagen denn in Zukunft draußen frieren sollte, sondern stimmte zu.

Und jetzt hatten sie eben zwei Autos. Einen Twingo, der langsam vor sich hin rostete, und dazu einen Jahreswagen mit Sitzheizung und einer funktionierenden Klimaanlage.

Weller packte den Picasso und freute sich auf die Reise. Im Genueser Schiff gab es ein Krimiwochenende mit mehreren Autoren, die Weller spannend fand. Außerdem wurde dort hervorragend gekocht. Er liebte die Frau, mit der er frisch vermählt war, und das Wetter versprach, prächtig zu werden.

Ubbo Heide hatte eine belegte Stimme und räusperte sich zunächst. Das reichte Ann Kathrin völlig aus. Sie wusste, noch bevor er einen ersten Satz formuliert hatte, dass sie die Hochzeitsreise verschieben mussten.

»Rupert hat im Osterfeuer eine verkohlte Leiche gefunden, Ann.«

Sie versuchte wenigstens einen Protest, und sei es nur, um Weller zu zeigen, dass sie die Hochzeitsreise mit ihm ernst nahm.

»Ubbo, wir sind sozusagen in den Flitterwochen.«

»Ich brauche dich nicht nur als Kommissarin, Ann, sondern auch als Zeugin. Wir waren alle dabei, als das Verbrechen geschah. Kannst du dir vorstellen, wie sich Rieke Gersema als Pressesprecherin fühlt? Willst du das irgendjemandem erklären? Da führt uns jemand vor, Ann. Wir sollen die Deppen der Nation werden.«

»Quatsch! Es konnte niemand wissen, dass wir alle dort hinkommen würden. Es war eine spontane Idee, mit der Hochzeitsgesellschaft …«

»Wie dem auch sei, wir sehen nicht gerade gut aus. Bitte kommt. Es fällt mir schwer, euch darum zu bitten, aber verschiebt eure Flitterwochen wenigstens um einen Tag. Ihr könnt uns jetzt nicht hängenlassen.«

»Wir sind in einer Stunde da«, schlug Ann Kathrin vor, doch Ubbo stöhnte: »Geht es nicht in einer halben?«

Ann Kathrin drückte das Gespräch weg und sah Weller nur an. Der winkte ab und knallte den Kofferraum zu.

»Wäre ja auch zu schön gewesen.«

Weller hielt sich gleich ein bisschen fern von ihm, denn er hatte keine Lust, sich von ihm anstecken zu lassen.

Immerhin roch es nach frischem Schwarztee, Rosinenbrot stand auf dem Tisch und eine Schale mit bröckeligen Sanddornkeksen.

Rieke Gersema nestelte an ihrem Brillengestell herum, als hätte sie Angst, es könne ihr von der Nase fallen und die Gläser würden auf der Tischplatte zerspringen, so als seien sie aus Zucker und nicht aus praktisch bruchsicherem Polycarbonat.

»Bitte sagt mir, dass wir den Fall hier binnen vierundzwanzig Stunden lösen.«

Rupert roch streng. Ann Kathrin nahm sich eine Tasse mit Rosenmuster und goss Tee ein. Sie hielt sich die Tasse nah vors Gesicht, um den Geruch, der von Rupert rüberwehte, zu überdecken.

DIN-A4-große Abzüge, auf denen nur ein paar Knochen zu erkennen waren, wurden herumgereicht.

Sylvia Hoppe sah sich die Bilder nicht richtig an. Entweder kannte sie die Aufnahmen schon, oder sie hatte einen besonders schlechten Morgen.

»Alles, was wir wissen«, sagte Ubbo Heide, »ist, dass es sich um eine erwachsene männliche Person handelt. Eine passende Vermisstenmeldung ist bei uns in den letzten Tagen nicht eingegangen. Wir gehen davon aus, dass der arme Mensch keineswegs bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Das war im Grunde nicht möglich. Sondern hier hat jemand vor unser aller Augen eine Leiche entsorgt.«

Rupert kaute an den Fingernägeln herum, was sonst überhaupt nicht seine Art war.

»Stellt fest, wer für das Osterfeuer verantwortlich ist, und

Rupert hustete: »Das macht natürlich die Kurverwaltung Norddeich.«

Weller hatte die Nummer in seinem Handy gespeichert und brummte: »Das haben wir gleich …«

Er hielt sich das Gerät ans Ohr, aber es war mal wieder so laut geschaltet, dass alle im Raum mithören mussten, wie eine sympathische weibliche Stimme vom Band sagte: »Herzlich willkommen bei der Kurverwaltung im See- und Heilbad Norddeich. Leider sind alle Plätze besetzt, aber ein Mitarbeiter ist gleich für Sie frei.«

Sylvia Hoppe klopfte einen Stapel Papier vor sich so lange auf den Tisch, bis alle Kanten ordentlich übereinanderlagen. »Also, wenn ich auch mal etwas sagen darf«, sagte sie vorwurfsvoll, als sei es ihr bisher verwehrt worden, »die Kurverwaltung hat das früher mal gemacht. Die Zeiten sind längst vorbei. Die zahlen höchstens noch einen Zuschuss von ein paar hundert Euro. Heute macht das der SPD-Ortsverein.«

Sie registrierte die verblüfften Gesichter.

»Ja … Ein Freund von mir … Also, mehr ein Exfreund … Der macht da mit und hat es mir erzählt.«

»A … aber …« Weller drückte die Verbindung weg und legte sein Handy vor sich auf den Tisch. »Aber wir waren alle da. Da hingen keine SPD-Plakate oder so. Ich habe jedenfalls nichts gesehen.«

»Mein Freund … also, wie gesagt, mein Exfreund … hat mir erzählt, dass zum Beispiel in Süderneuland die CDU das Osterfeuer mache. Das merkt kein Mensch.«

Ubbo Heide gab ihr sofort recht. »Das ist typisch Ostfriesland. Bei den richtigen heidnischen Sitten wird alles über

»Na prima. Ich wollte mich sowieso klonen lassen«, maulte Rupert.

»Ich könnte das ja übernehmen«, schlug Sylvia Hoppe vor, die sich deutlich darauf freute, ihren Ex zu vernehmen und ins Schwitzen zu bringen. Sie wurde jetzt noch wütend, wenn sie an den pinkfarbenen BH dachte, den sie in seinem Bett gefunden hatte, und an die lächerliche Unschuldsmiene, mit der er behauptet hatte, keine Ahnung zu haben, wie dieser BH dorthin gekommen sei. Aber sie sah den anderen sofort an, dass es für niemanden in Frage kam, ihr diese Aufgabe zu überlassen. Rupert vielleicht ausgenommen.

»Also gut. Ich bin ja vielleicht befangen, aber … Bei der Kurverwaltung seid ihr jedenfalls an der falschen Adresse.«

Ann Kathrin faltete ein Blatt Papier vor sich auseinander und strich es glatt. Ein leicht verunglückter Kreis sollte das Osterfeuer symbolisieren. Die Striche darin die gefundenen Knochen.

»Wir sollten uns den Tatort genauer ansehen«, begann sie.

»Wir waren alle da«, konterte Rupert.

Sie reagierte nicht darauf, sondern zeigte auf ihr Papier. »Das hier ist eine Skizze der Kriminaltechnik vom Fundort. Auffällig ist die Verteilung der Leichenteile. Hier, das rechte Bein und der Kopf. Da das linke und ein Arm. Hier der Brustkorb und die Hüfte. Der linke Arm dort, praktisch unter der Hüfte. Das alles deutet darauf hin, dass die Leiche recht weit oben im Holzstapel lag, und das Gerippe ist dann mit dem Rest vom Osterfeuer eingebrochen. So kam es zu dieser zufälligen Verteilung. Wahrscheinlich wollte der Täter, dass der brennende Körper oben zutage tritt. Die Chancen standen auch gut, denn wie die Kollegen von der KT sagen, braucht ein menschlicher Körper eine viel höhere Temperatur, um zu verbrennen, als trockenes Holz. Die Feuchtigkeit der inneren Organe …«

Rupert rollte mit den Augen. »Die war doch gar nicht dabei.«

»Wir sollten also unser Augenmerk darauf richten«, fuhr Ann Kathrin fort, »wer das obere Drittel des Osterfeuers mit Holz bestückt hat. Dort lag vermutlich die Leiche.«

Rieke Gersema setzte sich wieder und trank einen Schluck Wasser.

Ubbo Heide kam zum nächsten Punkt auf seinem Zettel: »Sein Gebiss ist noch relativ gut erhalten. Wir könnten über eine Anzeige in der Zahnärztezeitung versuchen herauszufinden, ob …«

»Die erscheint vierzehntäglich«, warf Rieke Gersema ein. »Für die nächste Ausgabe sind wir bereits zu spät. Das würde bedeuten …«

Ubbo Heide brach unterm Tisch ein Stückchen von seinem Marzipanseehund ab und schob es sich verstohlen zwischen die Lippen. Er brauchte das jetzt für seinen Magen.

»Wir waren damit vor ein paar Jahren schon einmal erfolgreich. Das Blatt erscheint bundesweit«, sagte er.

Ann Kathrin meldete sich zu Wort. »Ich denke, wir sollten mit einem Gebissabdruck und einer OPG-Röntgenaufnahme die örtlichen Zahnärzte aufsuchen und fragen, wer diesen Status kennt.«

»Ja«, warf Rupert ein, »wenn wir Glück haben, handelt es sich um einen Einheimischen …«

»Ich würde das jetzt nicht Glück nennen«, betonte Ubbo Heide, »wenn ein Mitbürger auf diese Art ums Leben kommt.«

»Beim Osterfeuer«, sagte Weller, »sind auch viele Touristen. Aber einen Versuch ist es wert. Die sollen uns aus der Pathologie in Oldenburg schnell alles rüberschicken, und dann ziehen wir los.«

»Kann man das nicht per E-Mail oder per Fax regeln?«, fragte Rieke Gersema leicht angenervt.

Ubbo Heide stimmte Ann Kathrin zu.

Rupert krächzte übertrieben. »Ich glaube, das müsst ihr ohne mich machen. Ich melde mich für heute krank.«

»Nein, das wirst du nicht tun«, sagte Ann Kathrin bestimmt, »sondern du duschst erst einmal gründlich, und dann übernimmst du die Zahnärzte in Aurich, Frank die in Norden, Hage und Umgebung, und ich werde …«

»Seit wann entscheidet Madame denn, wer hier krankfeiert und wer nicht?«

»Wenn wir nicht in die Flitterwochen fahren«, brüllte Weller Rupert an, »dann feierst du auch nicht krank! Klar? Weißt du, wie viele Zahnärzte es in Norden und Umgebung gibt?«

»In fünfzig Kilometer Umkreis genau einhundertneunzig«, stellte Rieke Gersema zur allgemeinen Verblüffung klar.

Ubbo Heide versuchte zu schlichten. »Bitte, Leute! Keinen Zoff! Das bringt uns doch nicht weiter.«

»Mit was für einem Täter haben wir es zu tun?«, fragte Ann Kathrin.

»Mit einem, der Leichen verbrennt«, giftete Rupert zurück und gab zu bedenken: »Vielleicht handelt es sich ja auch gar nicht um einen Mörder. Wieso kommt ihr überhaupt auf die Idee? Das Ganze kann auch ein blöder Studentenstreich sein. Vielleicht haben ein paar Besoffene eine Leiche in der Totenhalle geklaut und dann im Holz fürs Osterfeuer versteckt, um uns allen einen gewaltigen Schrecken einzujagen.«

»Und um uns die Hochzeitsreise zu versauen«, maulte Weller.

Ann Kathrin wirkte konzentriert, ja, angespannt auf Ubbo Heide. Er sah sie an und forderte sie mit Blicken auf, ihre Gedanken mitzuteilen.

Rupert rülpste, als würden Ann Kathrins Worte einen Brechreiz in ihm auslösen. Als alle ihn ansahen, maulte er: »Wenn man den Film Der weiße Hai rückwärts anschaut, handelt er von einem Hai, der so lange Menschen ausspuckt, bis sie eine Strandbar eröffnen.«

Ubbo Heide wies ihn mit einem Blick zurecht. »Ich weiß nicht genau, was du uns damit sagen willst, Rupert, aber es wäre besser gewesen, du hättest den Mund gehalten.«

»Eine Hexenverbrennung war es jedenfalls ganz sicher nicht«, spottete Rupert. »Es handelt sich um einen Mann, das ist ja wohl eine gesicherte Erkenntnis, oder nicht?«

Ann Kathrin ignorierte seinen Einwand. »Das Ganze hatte Volksfestcharakter«, beharrte sie.

»Ja, ich weiß. Ich war ja dabei. Mir wird jetzt noch schlecht, wenn ich daran denke, wie gut die Bratwurst roch«, schimpfte Rupert.

»Der Täter wollte, dass die Menschen gutgelaunt und feiernd dabei zusehen, wie jemand verbrennt. Findet ihr das nicht eigenartig?«

»Nein«, sagte Rieke Gersema und ordnete die Papiere, die vor ihr lagen. »Finde ich nicht.«

Sie konnte sich schon lebhaft vorstellen, wie die Zeitungsartikel ausfallen würden, wenn ein Journalist auf die gleichen Gedanken käme wie Ann Kathrin.

»Wir haben das nicht gefeiert. Niemand der Anwesenden hat mitbekommen, was da los war. Sonst hätte ja jemand eingegriffen. Ich neige eher zu Ruperts Theorie. Es handelt sich um einen Scherz. Einen saublöden Scherz.«

Ubbo nahm Ann Kathrins Faden wieder auf. »Denkst du, es ist so eine Art Ritual?«, fragte er Ann Kathrin und schüttelte

Ann Kathrin sprach zwar laut, sah aber aus, als würde sie einfach nur nachdenken und mit sich selbst reden. »Jemand hat seine eigene, private Leichenverbrennung zu einem riesigen öffentlichen Ding gemacht. Ich wette, dieser Mensch war dabei.«

Ubbo Heide spürte ein Kribbeln auf der Haut. Manchmal, wenn Ann Kathrin sprach, war das so. Dann wusste er, dass die Sache heiß wurde. Sehr heiß.

»Du meinst, wir haben den Täter möglicherweise gesehen?«

Ann Kathrin nahm jetzt den ersten Schluck aus ihrer Teetasse und lächelte. »Mehr als das. Vielleicht existieren sogar Fotos von ihm. Holger Bloem hat ein paar Aufnahmen gemacht. Das weiß ich genau. Ich werde ihn anrufen.«

Allein die Nennung des Namens Holger Bloem ließ Ruperts Magenschleimhaut verrückt spielen.

»Nee, Ann Kathrin. Du wirst doch jetzt nicht die Presse einschalten. Da kannst du gleich bei Radio Ostfriesland anrufen. Ich denke, wir wollen das alles hier schnell und still über die Bühne bringen.«

Dies war einer der seltenen Fälle, in denen Rieke Gersema Rupert sofort mit Blicken in die Runde zustimmte, aber Ann Kathrin Klaasen ließ sich nicht beirren.

»Holger hat oben auf dem Deich gesessen und Aufnahmen gemacht. Wenn der Täter da drauf ist, sollten wir die Chance nutzen und …«

Rupert lachte demonstrativ. »Ja. Außer ihm waren aber noch gut zwei-, dreihundert Leute da. Wenn nicht mehr. Sollen wir die besuchen, bevor wir zu den Zahnärzten gehen oder danach?«

Erneut lachte Rupert auf. Es klang höhnisch.

»Genau das habe ich vor«, sagte Ann Kathrin, nahm ihr Handy und ging damit in den Flur.

Während Weller mit dem vollgepackten Citroën die siebzehn Zahnärzte in Norden auf seiner Liste abarbeitete und vom Brummelkamp, wo er Dr. Hans-Joachim Doege besucht hatte, zum Markt fuhr, um bei Dr. Andreas Dohle vorstellig zu werden, besuchte Ann Kathrin ihre Zahnärztin Melanie Maida in Marienhafe.

Ann Kathrin genoss die Fahrt nach Marienhafe in ihrem grünen Twingo. Es kam ihr vor, als sei der Wagen ihr dankbar dafür, dass sie ihn nicht in Zahlung gegeben hatte.

Sie parkte direkt vor der Apotheke, und als sie die Stufen zur Zahnarztpraxis hinaufging, wurde ihre Vorfreude, Melanie Maida zu treffen, von ihrem schlechten Gewissen überschattet, weil sie seit bestimmt einem Jahr ihre Zähne nicht mehr hatte kontrollieren lassen, obwohl sie Melanie beim letzten Besuch das Gegenteil versprochen hatte.

Melanie Maida war eine kleine, drahtige Frau. Sie strahlte sportliche Lebendigkeit aus. Ann Kathrin wusste, dass sie zumindest vor kurzem noch aktiv im Norder Boxverein trainiert hatte.

Für Rupert, der boxende Frauen genauso furchtbar fand wie intelligente, waren die beiden ein Albtraumgespann. Er hatte sie einmal zusammen gesehen, als sie aus der Alten Backstube kamen, wo sie an einer Kleinkunstveranstaltung teilgenommen hatten.

Als Melli, die Zahnfee, wie sie von Ann Kathrin liebevoll genannt wurde, Ann Kathrins Stimme am Empfang hörte, kam sie sofort, um sie zu begrüßen. Bei der Umarmung musste sie sich auf Zehenspitzen stellen und hochrecken. Dann tätschelte sie Ann Kathrins Gesicht und sagte: »Schmerzen, meine Liebe, oder warum kommst du ohne Voranmeldung? Kann ich etwas für dich tun? Hier ist heute viel los, aber …«

»Es geht nicht um mich, sondern«, Ann Kathrin zeigte die Fotos vor, »wir haben eine Leiche gefunden, und ich hoffe, du kannst uns bei der Identifizierung weiterhelfen.«

Sie wusste, dass sie Melli sofort am Haken hatte, denn die Zahnfee war nicht nur ein begeisterter Boxfan, sie las auch mit Vorliebe Kriminalromane. So manch guten Buchtipp hatte Weller von ihr erhalten.

Sie nahm Ann Kathrin die Papiere aus der Hand und versank in geradezu meditativer Betrachtung.

Leise sprach Melli vor sich hin. »Der Gebissstatus ist ziemlich klar. Vorhandene Füllungen, Kronen, Brücken, Implantate – das Vorhandensein der Weisheitszähne, ihre Lage, ja, sogar die Zahnwurzeln sind bei jedem Menschen einzigartig. Wenn er je bei mir auf dem Stuhl gesessen hat, dann …« Sie hielt inne, ließ die Blätter sinken und sagte: »Bingo. Wenn mich nicht alles täuscht, war der vor ein paar Tagen hier. Kein Stammkunde, aber warte. Wir haben ein Röntgenbild. Das mache ich immer, um eventuelle Frakturen zu erkennen. Er kam nach einer Schlägerei. Ich hatte Notdienst.«

Sie lief in die Praxisräume. Ann Kathrin eilte hinter ihr her, immer höchstens einen Meter von ihr entfernt, und schon hielt sie eine Röntgenaufnahme in die Höhe.

»Ja, das ist er. Ganz eindeutig. Ich habe ihm zwei

Ann Kathrin wusste, dass Melli jetzt zu einem großen Vortrag über Zähne, Zahnhygiene und möglicherweise sogar die Besonderheiten einer Wurzelbehandlung ausholen würde, aber daran hatte sie im Moment kein Interesse. Sie hakte gleich nach: »Wie heißt er? Ich brauche kein Gutachten für die Krankenkasse, sondern einen Namen und eine Adresse.«

»Er war privat versichert und glaubte, daraus besondere Privilegien für sich herleiten zu können. Er klingelte nachts, so zwischen zwölf und halb eins.«

»Hast du eigentlich keine Angst, wenn dich irgendjemand nachts anruft und …«

Melli grinste, und Ann Kathrin wusste wieder, warum ihre Zahnärztin so gerne in den Boxring stieg.

Aber Melli spielte darauf gar nicht an, sondern sagte: »Auch die stärksten Männer und die wildesten Typen werden hier plötzlich ganz kleine, weinerliche Jungs, die Angst vor dem Bohrer haben. Besonders, wenn sie mit eingeschlagenen Zähnen kommen, so wie der hier.«

»Du weißt also, wie er heißt.«

»Na klar. Dieses Gebiss gehört zu Christoph oder Christian Willbrandt. Auf jeden Fall Willbrandt. Er kommt aus Carolinensiel.«

»Aus Carolinensiel? Und dann kommt der zu dir nach Marienhafe? Hatte denn in Wittmund keiner Notdienst?«

»Er war auf einem Konzert von action b. Die haben in Marienhafe im Zelt gespielt. Ich wäre auch gerne hingegangen, aber ich hatte ja leider Notdienst. Die machen nämlich richtig guten Soul.«

»Ich weiß«, sagte Ann Kathrin und schloss für ein paar Sekunden die Augen, weil sie sich daran erinnerte, wie sie gemeinsam mit Frank beim fünfzehnjährigen Jubiläum der Gruppe zu Proud Mary und Midnight Hour zwischen verschwitzten Fans

»Und bei einem Konzert von action b haben sie ihm die Zähne eingeschlagen?«

»Nein, es war wohl draußen am Bierzelt. Er hat es mir erzählt, so gut, wie er halt sprechen konnte. Aber ich war nicht wirklich daran interessiert, mir von einem Besoffenen seine Heldentaten während einer Schlägerei anzuhören.«

»War er volltrunken?«

»Nein, du darfst das nicht so interpretieren, Ann Kathrin. Er roch nach Bier und Zigaretten, klar, aber volltrunken war er bestimmt nicht. Ich hätte ihm zwar keinen Autoschlüssel mehr gegeben, aber …«

»Weißt du sonst noch etwas über ihn?«

»Ja. Er war ungefähr eins achtzig groß. Ich vermute, er hatte zwanzig Kilo Übergewicht, und mit seiner Zahnhygiene stand es nicht zum Besten … Eine junge Frau hat ihn begleitet. Ich dachte erst, sie sei vielleicht seine Tochter, aber möglicherweise waren sie auch ein Liebespaar … Es war uneindeutig. Hellblonde Haare und strahlend blaue Augen. Etwa zwei Köpfe größer als ich. Die Figur sah nach strenger Diät und viel Arbeit aus.«

Ann Kathrin hatte es plötzlich sehr eilig. Die beiden Frauen versprachen sich gegenseitig, bald mal wieder etwas gemeinsam zu unternehmen, dann gingen sie beide ihrer Arbeit nach.

Der Milchschaum stand auf dem Cappuccino wie die Miniaturausgabe eines schneebedeckten Bergmassivs. Der Anblick löste in ihm Assoziationsketten aus. Der Urlaub in St. Moritz. Die

Er griff sich an die Schläfe, als müsse er die Schneebrille geraderücken. Lange Zeit hatte er geglaubt, einen größeren Kick, als auf Skiern ins Tal zu fahren, gäbe es nicht für die menschliche Seele. Doch diesen Willbrandt zu töten hatte sich noch viel besser angefühlt. Eine fast schwerelose Leichtigkeit des Seins hatte ihn erfasst, als er ihm die Kehle durchschnitt. Dieses Gefühl verspürte er jetzt in diesem Augenblick, als er den Cappuccino genoss. In Willbrandts Café.

Carolinensiel war zwar kein Paradies für Skifahrer, dachte er grinsend, aber doch ein schöner Ort, um die Vollstreckung des Todesurteils an Willbrandt zu genießen. Hier wurde er von der Energie seines Triumphes befeuert und konnte in fröhlicher Stimmung die nächste Tat planen.

Er streckte die Füße unterm Tisch aus und bog die Knie durch. Ja, diese Kreaturen auszulöschen war besser, als Ski zu laufen, Champagner zu trinken oder schöne Frauen zu lieben.

Die Kellnerin mit den wippenden blonden Haaren und dem kräftig geschminkten Schmollmund sah der Frau sehr ähnlich, die Willbrandt zum action-b-Konzert begleitet hatte.

Ja, sie war es. Sie bewegte sich nur weniger lasziv als beim Konzert, und sie hatte ihre Frisur verändert. Er kannte einige Frauen, die sich eine neue Frisur zugelegt hatten, nachdem sie verlassen worden waren oder einem Typen den Laufpass gegeben hatten.