Lara Schützsack
Und auch so bitterkalt
Roman
FISCHER E-Books
Lara Schützsack, geboren 1981 in Hamburg, studierte Germanistik, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften sowie Amerikanische Literatur und Kultur an der Universität Potsdam. Es folgte ein Drehbuchstudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Lara Schützsack lebt und arbeitet als Autorin und Musikberaterin in Berlin. Ihr erster Film ›Draußen ist Sommer‹ lief 2013 in den Kinos.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.blubberfisch.de und www.fischerverlage.de
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2014 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Regina Solf
Coverabbildung: Christiane Wöhler, Leipzig
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402865-1
für Amélie
One day, where the shoreline breaks,
We’ll write in sand all our mistakes,
For the sea to wash away,
And you shall sit with me.
I am Kloot
Am Himmel steht, rund und unglaublich gelb, der Mond. Lucinda und ich liegen auf unserer Brücke und schauen in den Himmel. Es ist eine warme, scheinbar endlos lange Nacht. Die Brücke, oder vielmehr das, was von ihr noch übrig ist, liegt am Rande der Stadt. Niemand kommt hierher. Nur wir. Wenn die anderen schlafen, schleichen wir uns aus dem Haus. Früher einmal gab es hier einen Fluss, und wenn man an dieser Stelle aus der Stadt wollte, musste man ihn überqueren. Beide Seiten der Brücke sind noch begehbar, in der Mitte jedoch sind Holzbalken erst vermodert und dann teilweise weggebrochen. Wenn man sich weit genug in die Mitte vorwagt, fällt der Blick meterweit hinab. Die Schilder, die einst an den Enden der Brücke standen und das Betreten bei Lebensgefahr untersagten, stehen heute nicht mehr da. Irgendjemand hat sie mit Graffiti besprüht und dann umgetreten.
Lucinda sagt, es sei wichtig, dass wir den Sommer in seiner ganzen Größe fühlen. Von überall aus den dunkelgrünen Gräsern und Büschen hört man das Zirpen der Grillen, das Zittern der Blätter im Wind. Nirgendwo sonst kann man eine Sommernacht so riechen wie hier.
»Wie riecht sie?«, frage ich. Lucinda atmet tief ein: »Feucht und schwer und beunruhigend. So als dürfte man niemals wieder schlafen, um ja nichts zu verpassen.« Dann liegen wir still auf dieser vergessenen alten Brücke. Manchmal raschelt es, als säße dort unten jemand im Gebüsch. Aber wir haben keine Angst. Denn das Gefährlichste ist die Angst selbst.
»Die Erwachsenen«, sagt Lucinda, »haben immer Angst. Alles beunruhigt sie. Am meisten die Sterne. Weil sie nicht verstehen können, wie etwas so hell und so schön und gleichzeitig Lichtjahre entfernt sein kann. Am liebsten würden sie so lange in den Himmel schießen, bis der hellste Stern hinunterfällt und auf dem Höhepunkt seines Lichts knisternd am Boden verglüht. Danach würden Wissenschaftler aus der ganzen Welt anreisen und den gefallenen Stern ansehen. Sie würden ihn an Kabel, Messgeräte und Computer anschließen. In all seine Einzelteile würden sie ihn zerlegen und die Ergebnisse in Formeln und Tabellen fassen. Aber sie hätten sein Geheimnis schon verraten.«
Wir halten unsere Köpfe in den Abgrund.
»Was ist, wenn wir fallen?«, frage ich.
»Wir fallen nicht«, sagt Lucinda und beugt sich noch weiter hinunter. »Guck doch, wie schön die Wüste unter uns ist.«
Eine Weile schauen wir einfach hinunter auf das trockene Flussbett. Dann legen wir uns mit den Gesichtern zum Himmel, und Lucinda erzählt von Tenebrien. Tenebrien ist das Land, in das alle gehen, die nicht für unsere Welt gemacht sind. Die Dünnhäutigen, die Gläsernen, diejenigen, die zu viel wünschen, diejenigen, die zu viel gewagt und zu viel verloren haben. All die Narben, die wir auf dieser Welt bekommen haben, heilt das Tenebrische Meer. Ein Wasser, das unvorstellbar tief und salzig ist und auf dem der Körper schwerelos treibt. In Tenebrien schlafen wir alle nackt und in Eisbärfelle eingewickelt, dicht nebeneinander. »So wie Eskimos«, sagt Lucinda. »Alles ist einfach. Wenn man dort jemanden liebt, dann ist es für immer.« Natürlich hat Tenebrien auch ein Nationaltier, die blaue Katze. Die Katze hat leuchtend gelbe Augen und ozeanblaues Fell, sie zu treffen bringt Glück, sie zu berühren Trost. Tenebrien ist ein Dunkelland. Dort ist es immer Nacht, und am Himmel, sagt Lucinda, am Himmel stehen unzählbar viele Sterne.
Lucindas Stimme ist weich und tief, so tief, dass man sie fühlen kann. Sie spielt auf ihrer Stimme wie auf einem Instrument, streicht langsam jede ihrer Saiten, bis man Bauchschmerzen bekommt vor Sehnsucht nach dem, wovon sie erzählt. Am schönsten aber sind Lucindas Augen: schmale grüne Augen mit gelben Splittern darin. Augen, die man nicht mehr vergisst. Ich glaube, irgendwo auf dieser Welt denkt immer jemand an die Augen meiner Schwester. Lucinda ist so ein Mädchen, nach dem sich die Menschen auf der Straße umdrehen. Nicht, weil sie einfach nur schön ist, sondern weil man spürt, dass etwas mit ihr passieren wird. Etwas, das nicht jedem passiert. Man spürt es an der Art, wie sie sich bewegt, an dem Luftzug, der einen streift, wenn sie an einem vorübergeht. Man erkennt es an dem leichten Schatten, der über ihrem Gesicht liegt, und an dem Licht, das unablässig in ihren Augen flackert.
Als sie aufhört zu erzählen, bleiben wir noch lange liegen, lauschen den Geräuschen der Nacht. Ich nehme Lucindas Hand und lege sie an meine Wange. Die Hand ist kühl und riecht nach Metall. In der Ferne hört man Hunde heulen. »Hörst du das?«, fragt Lucinda, »in der Nacht klingt der Sommer anders. Als könne er einen verschlucken, und dann wäre man weg.«
Der Lenker wackelt gefährlich. Lucinda und ich fahren auf ihrem klapprigen Fahrrad, auf einer dunklen Landstraße. Weit und breit ist kein Auto zu sehen, deswegen fahren wir auf der Mitte der Fahrbahn. Lucinda fährt großzügige Schlangenlinien. Ich sitze auf dem Gepäckträger und habe die Arme um ihre Hüfte geschlungen. Ihr langes schwarzes Haar weht mir ins Gesicht. Wir singen Über den Wolken. Singen kann man das eigentlich nicht nennen, wir schreien eher. Ich bin der Background-Chor. Lucinda singt: »Über den Wolken«, und ich stimme ein: »Eyeyeyey!« Lucinda lehnt sich tief in die Kurven, und manchmal schreie ich leise auf. Aber nicht vor Angst, sondern weil etwas in meinem Bauch vor lauter Aufregung auf und ab hüpft und rauswill. Wir steuern direkt auf das blaue Licht der Aral-Tankstelle zu, als hinter uns plötzlich und mit hoher Geschwindigkeit ein Auto auftaucht. Wir bemerken es erst so spät, dass wir keine Zeit mehr haben, an die Seite zu fahren. Der Wagen weicht nur knapp aus, beinahe hätte er uns angefahren. Der Fahrer hupt wütend. »Über den Wolken«, brüllt Lucinda. Der Wagen bremst ab, kommt neben uns fast zum Stehen, rollt dann in unserem Tempo weiter. Das Fenster wird heruntergekurbelt. Ich kneife die Augen zu. Das habe ich schon als kleines Kind gemacht, die Augen fest zugekniffen, wenn es Ärger zu geben drohte. Damals dachte ich, dass ich dann unsichtbar bin. Obwohl ich inzwischen weiß, dass das ein Irrtum war, kneife ich auch jetzt die Augen zu.
»Mädchen, ihr fahrt ohne Licht mitten auf der Landstraße! Seid ihr eigentlich irre?« Die Stimme des Fahrers überschlägt sich vor Wut: Lucinda tritt fester in die Pedale: »Natürlich sind wir irre. Was glaubst du?«
»Das ist lebensmüde!«, brüllt er.
»Allerdings«, flötet meine Schwester.
»Ihr seid doch total bekloppt!«
Der Mann beschleunigt geräuschvoll und rast davon. Wir lachen. Ich drücke meinen Kopf an Lucindas Rücken und schlinge meine Arme noch fester um ihren schmalen Körper.
»Über den Wolken …«
»Eyeyeyey …«
Hinter dem Ortsschild biegt sie in einer halsbrecherischen Kurve zur Tankstelle ab. Wir halten direkt vor dem Fenster des Tankstellenshops. Lucinda schlägt mit der Faust gegen die Scheibe. Dahinter an der Kasse sitzt Bernd, ein Junge aus unserer Nachbarschaft. Bei dem Knall zuckt er zusammen, dann aber, als er Lucinda sieht, hellt sein Blick sich auf. Bernd ist schon achtzehn, aber klein, unscheinbar und pickelig. Die Mädchen aus unserer Straße lachen über ihn, sie nennen ihn Kratergesicht, und es ist ihnen egal, dass er es hört. Lucinda behauptet, dass er gerade deswegen interessanter ist als die anderen, weil er so aussieht.
»Verstehe ich nicht«, sage ich.
Und sie sagt: »Wirst du noch. Irgendwann.«
Lucinda steigt ab, drückt mir das Fahrrad in die Hand. »Du wartest draußen!« Dann betritt sie den grellerleuchteten Tankstellenshop, nicht ohne vorher ihren Zopf zu öffnen und einen Blick auf ihre Spiegelung im Fenster zu werfen. Ihr Schritt ist beschwingt. Ich beobachte sie durch die Glasscheibe:
Wenn Lucinda einen Ort betritt, gerät alles in Bewegung. Es gibt keine Gesetze mehr. Ihre Anwesenheit stellt alles in Frage.
Sie wirft einen prüfenden Blick auf Bernd, und als sie zu ihrer Zufriedenheit sieht, dass er nicht anders kann, als ihr mit den Augen zu folgen, steuert sie direkt auf die Eistruhe zu, fischt eine bunte Verpackung heraus, zeigt sie mir durchs Fenster. Twister, mein Lieblingseis. Ich nicke. Wie in Zeitlupe bewegt sich meine Schwester, als sie von der Tiefkühltruhe hinüber zur Kasse läuft. Langsam schiebt sie Bernd das Eis und eine Packung Kaugummi über den Ladentisch. Er greift, ohne aufzusehen, nach dem Twister. Sie hält das Eis eine Sekunde zu lange fest, so dass seine Finger ihre Hand berühren. Er schaut hoch, und als er ihren Blick auffängt, wird er rot und schaut schnell wieder zur Kasse. Dann zieht er die Sachen mit zitternder Hand über den Scanner. Lucinda lächelt, als sie sich umdreht und ohne zu bezahlen die Tankstelle verlässt.
»Komm!« Sie drückt mir das Eis in die Hand, greift nach dem Rad, steigt auf. Ich springe hinten auf den Gepäckträger. In Schlangenlinien fahren wir an, kichern.
»Guckt er?«
Einmal noch drehe ich mich um, von rechts nach links schwankend, aus dem Lichtkegel der Tankstelle hinaus in die Dunkelheit rollend.
»Ja, er guckt!«
Bernd sitzt vor seiner Kasse und sieht uns hinterher. Seine Schicht hat gerade erst begonnen. Und ich glaube, sie kommt ihm in diesem Moment unendlich lang vor. Er tut mir leid, denn genauso kommen mir die Nächte ohne Lucinda vor: unendlich lang.
»Kann ich heute bei dir schlafen?«, frage ich.
»Was?«, schreit Lucinda, die sich Wind und Haare um die Ohren rauschen lässt.
»Was hast du gesagt?«
»Bei dir schlafen, darf ich heute bei dir schlafen?«, rufe ich.
Lucindas Bett ist kein Bett. Es ist eine Höhle. Es ist ein Boot. Ein Höhlenboot, das uns durch die Nacht bringt, bepackt mit Tüchern, Postern, Büchern und vielen Geheimnissen – Steine, die sie von überall herhat und denen in der Dunkelheit magische Kräfte zufallen, Geschichten, die so unheimlich sind, dass ich mir ab der Hälfte die Ohren zuhalten muss. Meine Schwester trotzt allen Bitten, allem Flehen meiner Eltern, sie möge doch ihr Bett aufräumen. Im Gegenteil: Die Schätze, die das Bett birgt, nehmen mit der Zeit mehr und mehr Raum ein. Irgendwo dazwischen meine Schwester. Zugedeckt von Büchern, Notizen und bunten Tüchern.
In seltenen Nächten erlaubt Lucinda mir, bei ihr zu schlafen. Diese Nächte sind besondere Nächte, durchdrungen von unserem Flüstern, Lucindas weicher Stimme und meinen hundert Fragen. Meine Schwester beantwortet sie alle. Es gibt keine Wahrheit, die für alle Menschen gleich ist, sagt Lucinda, und deswegen gibt es auch keine Frage, die man nicht beantworten kann. Es gibt unendlich viele Wahrheiten. Nur das, was wir fühlen, kann für uns auch wahr sein. Jeder kann jede Frage beantworten, wenn er genügend Farben im Kopf hat.
Im Gegensatz zu mir schläft Lucinda, nachdem sie die Augen geschlossen hat, sofort ein. Seit ich mich erinnern kann, verfolgen mich zwei Sorgen: die Angst vor der Dunkelheit und die davor, dass meine Schwester mich alleine lässt. Also versuche ich, sie wach zu halten. Ich stelle ihr Fragen. »Was glaubst du, wie morgen das Wetter wird? Glaubst du, Mama und Papa küssen sich oft, wenn wir es nicht sehen? Gibt es Hunde auf den anderen Planeten?« Wenn Lucindas Antworten immer leiser und langsamer kommen, weiß ich, dass sie bald einschlafen wird. »Gute Nacht!«, sage ich. »Gute Nacht«, sagt Lucinda. Dann ist es still. Ich will nicht alleine wach sein. »Schlaf gut«, sage ich. »Schlaf gut«, kommt es von weit her. »Träum was Schönes!«, fällt mir noch ein.
Keine Antwort. Ich habe Angst, dass meine Schwester für immer schlafen wird. Was ist, wenn sie morgen einfach nicht mehr aufwacht? »Und wach morgen gut auf!«, flüstere ich beschwörend in die Stille hinein. Dann fällt mir nichts mehr ein. Ich bin alleine. Lange liege ich so wach, bevor ich einschlafen kann.
Am nächsten Morgen, als ich die Treppe hinunterkomme, wartet Isa schon im Flur auf mich. Isa ist meine Mutter. Sie steht da, die Hände in die Hüften gestemmt, und schaut mich an. Innerlich zähle ich die Treppenstufen nach unten mit. Ich wünschte, es wären hundert – aber natürlich sind es nur die üblichen zehn Stufen.
»Guten Morgen!« Ihre Augen sind keine Augen, sondern blaue Laserstrahlen, die immer auf der Suche nach dem Fehler sind.
»Morgen«, sage ich und versuche, an ihr vorbei in die Küche zu kommen, aber sie stellt sich mir in den Weg.
»Schau mich mal an.«
Ich schaue hoch und schnell wieder weg.
»Du siehst müde aus.«
Fehler gefunden.
Ich versuche, Zeit rauszuschlagen, setze mich erst mal auf die Treppenstufen und fange an, langsam und ordentlich meine Schuhe anzuziehen.
»Das war eine Frage!«, sagt Isa.
»Ich hab noch gelesen«, murmele ich. Isas Gesichtsausdruck bleibt skeptisch. »Das Buch über die Menschen, die zusammen in Eisbärfellen schlafen, nackt. Die sich für immer lieben. In dem Land, wo alles einfach ist und das Leben endlos …« Meine Stimme wird immer schneller und schriller. Ich kann nicht lügen. Isa schaut mich an, als wäre ich nicht mehr ganz dicht. Wo bleibt Lucinda? »Na, Tenebrien«, versuche ich zu erklären.
Gerade setzt Isa zu einer weiteren Frage an, als oben eine Zimmertür auffliegt.
Lucinda rauscht die Treppe herunter. Die langen Haare in einer dramatischen Hochsteckfrisur, unter ihrem engen dunkelroten T-Shirt zeichnen sich gut sichtbar Brüste und Rippen ab. Der Jeans-Rock endet kurz unter dem Po. Wortlos geht sie an uns vorbei, schlüpft in ihre Schuhe, klobige Cowboystiefel, die zu groß aussehen an ihren Beinen. Dann steht sie im Flur, schaut uns fragend an.
»Was?«
»Das heißt ›wie bitte‹!« Isa legt Wert auf unsere Erziehung. »Wie sieht es aus mit Frühstück?« Und darauf, dass wir morgens etwas essen.
»Ich kann jetzt nicht.« Lucinda geht an Isa vorbei zur Haustür. »Malina?«
Endlich. Ich springe von der Treppe auf und reiße meinen Rucksack vom Boden.
»Die Stunde fängt doch erst um acht an. Ihr sollt nicht ohne Frühstück aus dem Haus.«
Isas Blick ist vorwurfsvoll, aber wir sind schon halb aus der Tür.
»Aber wir frühstücken doch!« Lucinda zieht ein großes rosa Kaugummi aus der Rocktasche, steckt es sich in den Mund, lächelt Isa unschuldig an.
»Also dann, ciao!«
Wir rennen den Gartenweg hinunter und auf die Straße in Richtung Bus.
»Hat sie dich gescannt?«, ruft Lucinda.
»Ja.«
»Und?«
»Sie hat komisch geguckt, aber ich habe gesagt, ich hätte lange gelesen.«
»Perfekt!«
Lucinda und ich gehen auf die gleiche Schule. Von meinem Klassenzimmer aus beobachte ich meine Schwester manchmal, wie sie in den Freistunden in ihrem kurzen Jeansrock auf der Schultreppe sitzt und mit den Cowboystiefeln rhythmisch gegen die Wand trommelt. Ab und an – wenn kein Lehrer hinguckt – streckt sie ihre Hand aus und bekommt von einem der Oberstufenjungs eine selbstgedrehte Zigarette in die Hand gedrückt, an der sie einmal zieht und die sie dann, ohne den großzügigen Geber eines Blickes zu würdigen, wieder zurückgibt. Das Rauchen unter achtzehn ist bei uns an der Schule verboten, aber das stört Lucinda nicht. Sie erntet Respekt von den Jungs und schiefe Blicke von den Mädchen. Sie hat nur Feindinnen oder Bewunderer. Egal ist sie keinem. Zu mir sagen die Lehrer: »Ähnlich seht ihr euch ja, aber vom Wesen her hast du nichts von deiner Schwester.« Und dann gucken sie mich so an, als müsste ich dazu jetzt etwas sagen. Aber ich weiß nicht, was.
Bernd steht auch oft auf der Treppe. Abseits von den anderen steht er. Gemeinsam mit seinem Freund, Julius. Der spricht kaum und sieht immer etwas erschrocken aus, so als wäre ihm gerade klargeworden, dass er etwas Wichtiges vergessen hat. Lucinda meint, ihm fehle weibliche Energie. Auf der Treppe stehen die Leute von unserer Schule der Beliebtheit nach angeordnet. Ganz oben steht Olivia, die Königin, unsere Schulsprecherin, laut meiner Schwester nicht mehr als Hormone auf Beinen. Bernd und Julius stehen ganz unten, unterhalb der letzen Treppenstufe. Bestimmt ahnt niemand, dass meine Schwester sich manchmal mit Bernd trifft. Hier auf der Treppe tut Lucinda so, als ob sie ihn nicht kenne. Meine Schwester sitzt seitlich auf der Mauer. Sie wird von allen gesehen, gehört aber keiner Gruppe an. Sie findet die anderen lächerlich.
Einmal stand ich in der Cafeteria in der Schlange, als ich hörte, wie Olivia ihrer besten Freundin Nadine zuflüsterte: »Aufpassen, die Irre kommt!« Als ich mich umdrehte, sah ich Lucinda in der Tür stehen. Sie hatte die Haare zu zwei Zöpfen geflochten, und in jeden der Zöpfe waren Trockenblumen eingeflochten. Die Reste eines Rosenstraußes, den Bernd ihr mitgebracht hatte. Als ich Lucinda später davon erzählt habe, war sie so begeistert, dass sie die Rosen noch zwei weitere Tage trug, bis alle zerfallen waren. Isa sagt, dass Lucinda immer um jeden Preis auffallen muss. Dem Ton ihrer Stimme hört man an, dass sie das ärgert. »Wenn deine Schwester was sagt oder tut«, sagt Isa, »kann man gleich mal fünfzig Prozent abziehen.«
Lucinda verdreht hinter Isas Rücken die Augen: »Ich verstehe überhaupt nicht, wieso dich das so aufregt! Du kannst ja einfach drüberstehen«, keift sie Isa an.
»Wenn Isa etwas sagt oder tut«, zischt sie mir zu, »kann man davon ausgehen, dass es so trocken ist wie Brot. Sie hat einfach keinen Sinn für Geschichten!« Frieder und ich gucken uns an und wissen nicht, was wir sagen sollen. Lucinda und Isa sind schwarz und weiß. Tag und Nacht. Und eigentlich, meint Frieder, sind sie deswegen ganz gleich.
Unser Haus ist wunderschön, dreistöckig und blau, es trägt dicke weiße Stuck-Schärpen um den Körper, auf denen fünf Engel sitzen: George, Paul, Ringo, John und Janis. Lucinda hat sie so genannt. In unserem Garten schlingen sich dornige Ranken über den Boden, bilden hohe Gräser ein leise summendes Feld. Daneben ein Meer aus dunklem Moos. Das Haus selbst ist von Efeu befallen wie von einer unheilbaren Krankheit, die wuchert und wächst, langsam in sein Gewebe dringt. Von der Straße aus ist es im Sommer kaum zu sehen, so zugewachsen ist der Garten, so hoch und majestätisch stehen die Bäume davor.
Ich sitze auf der kleinen Steinmauer vor unserem Haus. Ein Mann und eine Frau gehen unten vorbei, er hat den Arm um sie gelegt, als wäre sie sein Eigentum, sie bleiben bewundernd stehen, versuchen durch die Bäume hindurch ein paar Blicke auf das Gebäude zu erhaschen. Ihre Münder gehen auf und zu, die Stimmen hört man nicht. Aber ich kenne die Gespräche, weiß was sie sagen: »Wunderschön. Wirklich hochherrschaftlich. Dass die das so verkommen lassen … Unglaublich.« Dann seufzen sie, weil sie ein bisschen traurig sind, dass sie nur ein Leben haben. In einem anderen – so denken sie – würden sie dieses Haus einfach kaufen. Sie würden gut zu dem Haus sein, es pflegen wie einen verwundeten Vogel. Ob die schon einmal was von Denkmalschutz gehört haben?