Jorge Amado
Die Werkstatt der Wunder
Roman
Aus dem Brasilianischen von Karin von Schweder-Schreiner
FISCHER E-Books
Mit einem Nachwort von Henry Thorau
Jorge Amado, 1912 als Sohn eines Kakaoplantagenbesitzers in brasilianischen Bundesstaat Bahia geboren, wuchs in der Hafenstadt Ilhéus auf. Mit 12 schrieb er erste Kurzgeschichten, mit 15 arbeitete er für eine Zeitung, mit 18 veröffentlichte er seinen ersten Roman. Er schrieb über 35 Bücher, wurde Kommunist, lebte im Exil in Buenos Aires, Prag und später viel in Paris. Heimgekehrt, konnte er auf Bücher in 49 Sprachen und 55 Ländern zurückblicken, er wurde Mitglied der Brasilianischen Akademie der Literatur, Samba-Schulen wurden nach ihm benannt. 2001 starb er an einem Herzinfarkt, seine Asche wurde unter seinem Mangobaum verstreut.
Covergestaltung: RME, Rosemarie Kreuzer / Sabine Hanel
Coverabbildung: Corbis
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 1969
unter dem Titel ›Tenda dos milagres‹
bei Livraria Martins Editora, São Paulo
Die vorliegende Ausgabe bezieht sich auf:
© 2008 by Grapiúna – Grapiúna Produções Artísticas Ltda., Rio de Janeiro
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403178-1
Für Zélia,
Rose und Zauberwesen
Während ich dieses Buch schrieb, dachte ich oft an den verstorbenen Professor Martiniano Eliseu do Bonfim, Ajimuda, Gelehrter, Babalaô und mein Freund. An seinen Namen möchte ich hier erinnern – ebenso an Dulce und Miécio Tati, Nair und Genaro de Carvalho, Waldeloir Rego und Emanoel Araújo, axé.
So seid Ihr, mein Bahia,
Solches geschieht in Euren Mauern.
GREGÓRIO DE MATOS
Brasilien besitzt zwei wirkliche Schätze: die Fruchtbarkeit
seines Bodens und die Fähigkeiten seiner Mischlinge.
MANUEL QUERINO, Der schwarze Siedler und sein Beitrag
zur brasilianischen Zivilisation
Also greifen sie zu einem derzeit beliebten Mittel: Sie machen ihn zu etwas, was er nicht ist. […] Sie machen ihn zu einem riesigen, willfährigen, institutionalisierten Roboter. Einem zeitgemäßen Apparat, angepasst an das sterbende oder künftige System. Ähnlich wie Gregório de Matos, doch fraglos schöner und gesitteter. Und sie werden sein Werk in Grund-, Ober- und Hochschulen verteilen, in Buchhandlungen und Zeitungskiosken vertreiben. Mit Hilfe der gesamten Propagandamaschinerie der Schulen, Universitäten und Regierungsstellen werden sie dieses falsche Bild von ihm den Menschen aller Altersstufen, vom Kind bis zum Greis, vermitteln und ihre Halbwahrheit […] so effizient verkaufen wie ein beliebiges Industrieprodukt.
[…]
Solche Feingeister sollten bedenken, dass der Dichter weder gerecht noch ungerecht, weder berühmt noch anonym sein wollte, sich nicht in eine Einsiedelei zurückzog und auch nicht auf dem Land Zuflucht suchte, wonach er sich zuvor gesehnt hatte; Gregório de Matos verlor sich weder in Tatenlosigkeit noch in friedlicher Betrachtung. Er lebte das Leben, das seine Dichtung ihn lehrte, ein Leben menschlicher Liebe und Freiheit weit über das übliche Maß hinaus.
[…]
Dieses Bild ist hier unverfälscht wiedergegeben oder aber verfälscht – ganz wie man will.
JAMES AMADO, »Das seit dreihundert Jahren verbotene Foto« –
Randbemerkung zu der Herausgabe der Gesammelten Werke von Gregório de Matos
»Mulatte, mittellos und aus Bahia gebürtig –
spielt sich als Gelehrter und toller Hecht auf.«
(Aus einem Polizeibericht über Pedro Archanjo, 1926)
Iabá ist eine Teufelin ohne Schwanz.
Carybé, Iabá, Drehbuch für einen Film
In dem weiten Areal des Stadtteils Pelourinho im Herzen von Bahia lehren und lernen Männer wie Frauen. Eine große, vielseitige Universität, die sich mit ihren Verästelungen bis nach Tabuão, Portas do Carmo und Santo Antônio Além do Carmo erstreckt, nach Baixa dos Sapateiros, über die Märkte, nach Maciel, Lapinha, den Largo da Sé, Tororó, Barroquinha, Sete Portas und Rio Vermelho, überall dorthin, wo Männer und Frauen Metall und Holz bearbeiten, mit Kräutern und Wurzeln handeln, Rhythmen, Schritte und ihr Blut mischen; mit dieser Mischung haben sie eine Farbe und einen Klang geschaffen, ein neues, ganz eigenes Bild.
Hier erklingen die Trommeln, Rasseln, die Doppelglocken, die Schellentambourins, Rahmentrommeln, Kalebassen – die Berimbaus, Pandeiros, Adufes, Caxixis, Ganzás – Instrumente der Armen, reich an Rhythmus und Melodie. Hier, wo das einfache Volk lebt, entstanden die Melodie und der Tanz:
Camaradinho ê
Camaradinho, camará
In einem Haus neben der Sklavenkirche zum Rosenkranz der Schwarzen hatte im ersten Stock mit fünf Fenstern zum Largo do Pelourinho Mestre Budião seine Schule für Capoeira Angola eingerichtet; die Schüler kamen am späten Nachmittag oder frühen Abend, müde von des Tages Arbeit, aber bereit zum Kampf. Die Berimbaus bestimmen den Rhythmus der verschiedenen Attacken, allesamt schrecklich: Halbmond, Beinstellen, Kopfstoß, Rachenschwanz, Peitschenschlag, Bananenstaude, Galoppierender, Hammer, Bauchtritt, Gertenhieb, Handkantenschlag, Krabbenmaul, Fußtritt von vorn, von der Seite und von hinten. Die jungen Männer bewegen sich zum Klang der Berimbaus in der wahnwitzigen Geographie der Rhythmen: São Bento Grande, São Bento Pequeno, Santa Maria, Cavalaria, Amazonas, Angola, Angola Dobrada, Angola Pequena, Heb-die-Orange-auf-Tico-Tico, Iúna, Samongo und Cinco Salomão – und damit nicht genug, es gibt noch mehr, Leute, und ob! Hier in diesem Viertel hat die Capoeira Angola sich weiter entwickelt und verändert, ist immer noch Kampftanz, doch nun auch Ballett.
Mestre Budiãos Beweglichkeit ist beispiellos – kann eine Katze so wendig, leichtfüßig und geschmeidig sein? Er springt zur Seite und zurück, keinem Gegner wird es je gelingen, ihn zu treffen. In dieser Schule haben sie ihre Fähigkeit und Stärke, ihr ganzes Können gezeigt, die großen Meister: Gottes Liebling, Käpten Ketch, Chico da Barra, Antônio Maré, Groß-Zacaria, Pimmel-Peixoto, Sieben Tode, Seidenschnauzer, Pacífico aus Rio Vermelho, Schönes Haar, Vicente Schmalzlocke, Zwölf Mann, Tiburcinho aus Jaguaribe, Gib-her-Chico, Nô da Empresa und Barroquinha:
Junge, wer war dein Lehrer?
Mein Lehrer war Barroquinha
Einen Bart hatte er nicht
Gegen die Polizei zog er das Messer
Leute von hier behandelte er besser.
Eines Tages kamen die Choreographen und erfanden die Tanzschritte. Es kamen die Komponisten, aller Moden und Richtungen, Ernsthafte und Scharlatane, für alle ist genug Platz und noch mehr, oder etwa nicht? Hier, in Pelourinho, dieser freien Universität, entsteht Kunst, vom Volk geschaffen. Bis spät in die Nacht singen die Schüler:
Ai, ai, Aidé
Schöner Tanz, den ich lernen will
Ai, ai, Aidé
Lehrer finden sich in jedem Haus, jedem Laden, jeder Werkstatt. Im Innenhof des Gebäudes von Budiãos Schule hat der Afoxé »Söhne Bahias« seinen Auftritt im Karneval vorbereitet und geprobt, und hier hat die Singspielgruppe »Terno da Sereia« ihren Stammsitz unter der Leitung des jungen Valdeloir, einem leidenschaftlichen Tänzer bei den Hirtenspielen und im Karneval; über Capoeira weiß er alles, hat sie mit neuen Figuren und Rhythmen angereichert, als er seine eigene Schule in Tororó eröffnete. Samstags und sonntags trifft man sich im großen Hof auch zum Samba de Roda, dann tritt der schwarze Ajaiy auf, als Afoxé-Botschafter Lídio Corrós Rivale, doch einzig und unerreicht beim Samba de Roda, sein bedeutendster Rhythmiker, sein größter Choreograph.
Es gibt auch etliche Wundermaler, sie arbeiten mit Öl, mit Leimfarben oder mit Buntstiften. Wer vor Unserem Herrn zum guten Ende, Unserer Lieben Frau von den Kerzen oder einem anderen Heiligen ein Gelübde abgelegt hat und erhört wurde, Gnade und Wohltat erfahren hat, geht zu den Wundermalern und bestellt ein Bild, um es zum Dank in der Kirche aufzuhängen. Diese einfachen Maler heißen João Duarte da Silva, Mestre Licídio Lopes, Mestre Queiroz, Agripiniano Barros, Raimundo Fraga. Mestre Licídio fertigt auch Holzschnitte an, für Deckblätter von Heftchen mit Cordel-Literatur.
Bänkelsänger, Klampfenspieler, Stegreifdichter, Verfasser schmaler Broschüren, zusammengestellt und gedruckt in der Werkstatt des Mestre Lídio Corró und anderen primitiven Läden, verkaufen hier Romantik und Poesie für fünfzig Reis und einen Tostão.
Sie sind Dichter, Pamphletisten, Chronisten, Moralisten. Sie berichten über das Leben der Stadt, kommentieren die Ereignisse und fassen alle Geschichten in Reime, auch erfundene und mitunter recht erstaunliche: »Die Jungfer mit dem Damenbart, die es mit einer Banane tat« oder »Die Prinzessin Maricruz und der Ritter der Lüfte«. Sie protestieren und kritisieren, lehren und amüsieren, und ab und an ersinnen sie einen vortrefflichen Vers.
In Agnaldos Werkstatt verwandeln sich edle Hölzer – Palisander, Brasilholz, Mahagoni, Peroba, Putumuju, Massaranduba – in die Doppelaxt von Xangô, dem mächtigen Herrn über Blitz, Donner und Feuer, in Statuetten der Wassergöttinnen Oxum und Iemanjá, in Figuren der Caboclos-Weltenfahrer, Drei Sterne, Sieben Degen, mit blitzenden Schwertern in den mächtigen Händen. Mächtig ist auch Agnaldos Hand: Als ihm das Herz unter der Marter der Chagas-Krankheit (dieses fatalen Leidens, das damals noch nicht einmal einen Namen hatte, nur langsames, aber sicheres Sterben bedeutete) schon versagen wollte, schufen seine unermüdlichen Hände noch Orixás und Caboclos, und sie haben etwas Geheimnisvolles, niemand kann es genau benennen, als hätte Agnaldo, dem Tod so nah, ihnen einen unsterblichen Lebensodem eingehaucht. Beunruhigende Figuren, sie erinnern an legendäre Wesen und normale Menschen zugleich. Einmal bestellte ein Kultpriester aus Maragogipe einen riesigen Oxóssi, den Gott der Jäger, und brachte ihm dafür den Stamm eines Brotbaums; sechs Männer waren nötig, ihn zu tragen. Agnaldo, schon todkrank, lachte, nach Atem ringend, bei seinem Anblick: So einen Baumstamm zu bearbeiten, welche Freude. Er schnitt das Holz zu einer übergroßen Gottheit, dem großen Jäger Oxóssi; doch nicht mit Pfeil und Bogen, sondern mit einem Gewehr. Es war ein anderer Oxóssi – ganz fraglos der König von Ketu und Herr des Waldes, nur sah er aus wie Lucas da Feira, ein Bandit aus dem Sertão, ein Gesetzloser wie der berühmte Capoeirakämpfer Besouro Cordão de Ouro:
Bevor Besouro starb,
machte er den Mund auf und sprach:
Lass dich nicht erwischen, mein Sohn,
dein Vater wurde nie erwischt.
So sah Agnaldo Oxóssi, und so gestaltete er ihn: mit Lederhut, Messer und Gewehr und an der Hutkrempe den Banditen-Stern. Doch der Pai-de-santo lehnte ihn ab, zu weltlich war ihm die Figur – Oxóssi blieb und wachte viele Monate über die Werkstatt, bis eines Tages ein französischer Reisender kam, ihn erblickte und sofort gutes Geld für ihn bot. Wie es heißt, landete er in einem Museum in Paris. Man erzählt sich so allerhand dort in Pelourinho.
In den Händen von Mário Proença – einem schmächtigen, fast weißen Mulatten – werden Weißblech, Zink, Kupfer zu Schwertern des Kriegers Ogum, zu runden Fächern der Meeresgöttin Iemanjá, fischförmigen Abebés, den Fächern der Süßwassergöttin Oxum, zu Paraxôs, den Wanderstäben von Oxalá, dem Herrn der Schöpfung. Eine große Iemanjá aus Kupfer ist das Wahrzeichen seiner Werkstatt: Tenda da Mãe-d’Água, Werkstatt der Mutter des Wassers.
Mestre Manu, verdreckt, grimmig und streitlustig, ein Mann der klaren Worte und anspruchsvoll, schmiedet in seinem Feuer den Dreizack des Götterboten Exu, die Waffen des Ogum, Gott des Eisens, den gespannten Bogen des Jägers Oxóssi, die Schlange des Regenbogengottes Oxumaré. In Manus Feuer und seinen gewaltigen Pranken nehmen die Orixás und ihre Insignien Gestalt an. In den kreativen Händen all dieser ungebildeten Menschen entstehen wunderbare Skulpturen.
Mestre Didi, der sich in Portas do Carmo niedergelassen hat, arbeitet mit Perlen, Palmstroh, Rosshaar, Leder; er stellt immer neue Zepter, Diademe, Rosshaar- oder Kuhschwanzpeitschen und Piassavawedel – Ebiris, Adês, Eruexins, Eruquerês und Xaxarás – für Omolu her, den Gott der epidemischen Krankheiten. Sein Nachbar ist Deodoro, ein Mulatte mit gellendem Lachen, Spezialist für die Trommeln der verschiedenen Kultnationen – Nagô und Jeje, Angola und Congo – sowie für Ilus, die doppelseitig bespannten Trommeln der Ijexá. Er fertigt auch die Rasseln aus Kalebassen wie Agbês und Xerés an, die besten Agogôs aber macht Manu.
In der Rua do Liceu, vor einer Tür, an der sich frei und fröhlich plaudern lässt, schnitzt und bemalt Mestre Miguel einfache Engel, Erzengel und Heilige. Katholische Heilige, in der Kirche verehrt, die Jungfrau der Unbefleckten Empfängnis und der heilige Antonius von Lissabon, der Erzengel Gabriel und das Jesuskind – wie eng sind sie eigentlich mit Mestre Agnaldos Orixás verwandt? Etwas haben diese vom Vatikan Erwählten einerseits und die Hilfsgottheiten und Caboclos der Terreiros andererseits gemein: Sie sind Mischlinge. Agnaldos Oxóssi ist ein Gesetzloser aus dem Sertão. Ist Miguels heiliger Georg dies nicht auch? Sein Helm sieht eher wie ein Lederhut aus und der Drache wie eine Mischung aus einem Krokodil und dem Fabelwesen der Dreikönigssingspiele.
Mitunter, wenn er Zeit hat und ihm der Sinn danach steht, schnitzt Miguel zum eigenen Vergnügen eine nackte Schwarze mit all ihrer sinnlichen Pracht und schenkt sie einem Freund. Eine geriet zum Abbild der schwarzen Dorotéia, nicht mehr und nicht weniger: volle Brüste, keckes Hinterteil, blühender Leib und rundliche Füße. Wer, wenn nicht Archanjo, hatte sie verdient? Doch Rosa de Oxalá nachzubilden schaffte er nicht, es gelang ihm nicht, »ihr strotzendes Selbstbewusstsein zu verstehen«, wie er sagte.
Silberschmiede arbeiten mit Edelmetallen: Silber und Kupfer gewinnen in der Form von Früchten, Fischen, Figas und kleinen Anhängern schlichte Schönheit. In den Vierteln Sé und Baixa dos Sapateiros hämmern sie Gold, und im Handumdrehen werden daraus Ketten und Armreife. Der berühmteste Silberschmied war Lúcio Reis; sein Vater, ein geschickter Portugiese, lehrte ihn das Handwerk, doch er verschmähte die filigrane Arbeit an Cashewfrüchten, Ananas, Pitangas, Palmzapfen und Figas in allen Größen. Von seiner Mutter, der schwarzen Predileta, erbte er die Freude am Entwerfen, also entwarf er Ohrgehänge, Broschen, Ringe – heute kosten sie im Antiquitätengeschäft ein Vermögen.
In den Kräuterläden finden sich als Ergänzung zur Apothekenmedizin Kolanüsse und viele magische, in Riten verwendete Samenkörner. Dona Adelaide Tostes, streitbar, mit böser Zunge und trinkfest, kennt jede Beere und jedes Blatt, ihre Opfergabenkraft und ihre böse Wirkung. Sie kennt sich aus mit Wurzeln, Baumrinden, Pflanzen und Gräsern und deren heilenden Eigenschaften: Alaun für die Leber, Melisse zur Nervenberuhigung, Carqueja bei Kater, Phyllanthus für die Nieren, Duftgras gegen Leibschmerzen, Riedgras zum Heben von Stimmung und Ständer. Auch Dona Filomena verfügt über besondere Fähigkeiten, wenn man sie bittet und dafür bezahlt, betet sie und feit den Körper des Kunden gegen den bösen Blick, und tatsächlich heilt sie chronischen Katarrh, dieses Brustleiden, mit einer bestimmten Mischung aus Kresse, Honig, Milch, Zitrone und weiß der Himmel was noch. Kein Husten, und sei er noch so hartnäckig, kann sich dagegen behaupten. Ein Arzt hat von ihr ein Rezept zur Blutreinigung gelernt, ging nach São Paulo und wurde dort durch erfolgreiche Behandlung von Syphilis reich.
In der Werkstatt der Wunder, Ladeira do Tabuão 60, befindet sich das Rektorat dieser Volksuniversität. Dort malt Mestre Lídio Corró Wunder, bewegt magische Schatten, meißelt grobe Holzschnitte; dort trifft man Pedro Archanjo an, den Rektor, wer weiß? In der ärmlichen, archaischen Werkstatt über alte abgewetzte Schrifttypen und eine launenhafte Druckerpresse gebeugt, setzen und drucken die beiden ein Buch über das Leben in Bahia.
Ganz in der Nähe, auf dem Terreiro de Jesus, ist die Medizinische Fakultät, und auch dort lehrt man, Kranke zu versorgen, Krankheiten zu heilen. Und anderes, wie Rhetorik, Sonette und fragwürdige Theorien.
Auf den folgenden Seiten werden die Leser das Ergebnis meiner Nachforschungen über Leben und Werk des Pedro Archanjo finden. Aufgetragen wurde mir diese Arbeit von dem großen James D. Levenson und in Dollar bezahlt.
Vorausgeschickt werden müssen ein paar Erklärungen, denn die Angelegenheit erwies sich als eine von Anfang bis zum Schluss recht absurde Ansammlung von Missverständnissen. Bei der Durchsicht meiner Aufzeichnungen kann ich nicht leugnen, was sie so deutlich offenbaren: Widersinn und Unsinn sind in vielerlei Hinsicht noch immer vorhanden, alles ist wirr und undurchsichtig, trotz meiner wahrlich ungemein großen Mühen, ob man es mir nun glaubt oder nicht.
Wenn ich von Fragen und Zweifeln spreche, von Ungenauigkeiten und Lügen, beziehe ich mich nicht allein auf das Leben unseres Autors Pedro Archanjo aus Bahia, sondern auch auf die Fakten in ihrer vielschichtigen Gesamtheit – von weit zurückliegenden Begebenheiten bis zu den jüngsten Ereignissen, darunter das aufsehenerregende Interview mit Levenson; von dem unerhörten Trinkgelage bei den Feiern zu Archanjos fünfzigstem Geburtstag bis zum festlichen Abschlussabend der Hundertjahrfeierlichkeiten. Was das Leben von Pedro Archanjo betrifft, hatte weder ich mir vorgenommen, es zu rekonstruieren, noch verlangte dies der Gelehrte von der Columbia University, sein Interesse galt allein den Forschungs- und Studienmethoden sowie den Arbeitsbedingungen, die ein so lebendiges und originelles Werk hatten entstehen lassen und hervorbringen können. Er beauftragte mich lediglich, Daten zusammenzutragen, damit er sich ein besseres Bild von Archanjos Persönlichkeit machen konnte, denn er wollte ein paar Seiten über ihn schreiben, eine Art Vorwort zur Übersetzung seiner Werke.
Es waren nicht nur Einzelheiten aus Archanjos Leben, die ich nicht in Erfahrung bringen konnte, sondern auch wichtige, vielleicht gar lebenswichtige Fakten. Oft traf ich auf Leere, auf eine Lücke in Raum und Zeit oder auf unerklärliche Ereignisse, unterschiedliche Versionen, ungereimte Auslegungen, gänzlich ungeordnetes Material, einander widersprechende Informanten und Informationen. So habe ich zum Beispiel niemals herausfinden können, ob mit der Schwarzen Rosa de Oxalá auch die Mulattin Risoleta gemeint war, deren Vorfahren aus Mali stammten, oder eine gewisse Dorotéia, die einen Pakt mit dem Teufel hatte. Manche sahen sie in Rosenda Batista dos Reis aus Muritiba verkörpert, andere schrieben die Geschichte der reizvollen Sabina dos Anjos zu, »dem schönsten aller Engel«, wie Mestre Archanjo galant sagte. Waren sie nun eine einzige Frau, oder waren es mehrere? Ich habe es aufgegeben, das klären zu wollen, und zudem glaube ich nicht, dass es überhaupt irgendjemand weiß.
Ich gestehe, weil ich es leid war oder zu verunsichert, reizte es mich nicht mehr, gewisse Vermutungen zu erhellen, Details, womöglich gar entscheidende, zu klären, so verworren waren die Aussagen und so wenig stimmten die Angaben überein. Alles lief auf ein »vielleicht«, »mag sein«, »wenn nicht so, dann anders« hinaus – nichts war wirklich gesichert und von Bestand, so viele und so großartige Taten wurden Archanjo nachgesagt, als stünden die Leute, die ich befragte, nicht mit beiden Füßen auf der Erde und sähen im Verstorbenen keinen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern eine ganze Horde von Helden und Magiern. Nie habe ich ausmachen können, wo die Grenze zwischen Tatsachen und Erfindungen, zwischen Wirklichkeit und Phantasie verläuft.
Was seine Bücher betrifft, die habe ich gelesen, vom ersten bis zum letzten Wort, keine besondere Leistung übrigens – lediglich vier schmale Bände, der umfangreichste hat nicht einmal zweihundert Seiten (ein Verleger aus São Paulo hat kürzlich drei davon in einem einzigen Band zusammengefasst, nur das Buch über Bahias Küche weggelassen, weil es dank seiner speziellen Thematik ein breiteres Publikum erreichen kann). Zu Archanjos Werk, heute über jede Diskussion oder Schmälerung erhaben, will ich mich nicht äußern; nach der endgültigen Anerkennung durch Levenson, den diversen Übersetzungen und seinem Erfolg allenthalben wagt niemand mehr, seine Qualität anzuzweifeln. Gestern erst las ich als Kurznotiz in der Presse: »Archanjo in Moskau veröffentlicht, von der Prawda gelobt.«
Allenfalls kann ich mich dem allgemeinen Lob anschließen. Ich kann sagen, dass die Lektüre mir gefallen hat – vieles von dem, worüber Archanjo spricht, ist heute noch Teil unseres Lebens, des Alltags in unserer Stadt. Amüsiert habe ich mich, und nicht wenig, beim vorletzten seiner vier Bücher (es heißt, vor seinem Tod habe er an einem neuen Band gearbeitet), das ihm so viel Ärger, so viele Schwierigkeiten eingebracht hat. Wenn ich heute erlebe, wie gewisse Typen mit ihrem blauen Blut, ihrem Stammbaum, ihrem Wappen, adligen Vorfahren und dergleichen Unsinn prahlen, frage ich nach dem Familiennamen, und siehe da, ich finde sie in der Liste, die Archanjo so sorgfältig und ernsthaft, so leidenschaftlich der Wahrheit verpflichtet, zusammengestellt hat.
Bleibt mir nur noch zu erklären, wie ich den amerikanischen Gelehrten kennenlernte und warum er mich mit seiner Wahl ehrte. Der Name James D. Levenson bedarf keiner näheren Erklärung oder Präsentation, und dass er mir diese schwierige Aufgabe anvertraut hat, macht mich stolz und dankbar. Unsere kurze Bekanntschaft ist mir trotz aller Widrigkeiten in liebenswerter Erinnerung. Mit seiner unkomplizierten, freundlichen und warmherzigen Art ist er das Gegenteil der Karikatur eines alten, muffigen, langweiligen Gelehrten.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich einen Aspekt meiner Zusammenarbeit mit dem berühmten Professor von der Columbia University klarstellen, den neidische und argwöhnische Herrschaften mit ihrer üblen Nachrede schäbig ausgeschlachtet haben. Nicht damit zufrieden, sich in mein Privatleben einzumischen und den Namen von Ana Mercedes in den Dreck zu ziehen, in dem sie sich so gern suhlen, haben sie auch versucht, mich als für die Linke inakzeptabel darzustellen, indem sie herumposaunten, ich hätte sowohl mich selbst als auch Archanjos Andenken für eine Handvoll Dollar an den amerikanischen Imperialismus verkauft.
Hatte Levenson denn Verbindungen zum State Department oder zum Pentagon? Weit gefehlt, Levensons Position gilt bei Reaktionären und Konservativen als wenig orthodox, ist doch sein Name mit fortschrittlichen Bewegungen und Antikriegsdemonstrationen verbunden. Als ihm der Nobelpreis für seinen Beitrag zur Entwicklung der Sozial- und Humanwissenschaften verliehen wurde, hob die europäische Presse insbesondere die Jugend – er hatte kaum die vierzig erreicht – und die Unabhängigkeit des Preisträgers hervor, was ihn nach Ansicht gewisser offizieller Kreise verdächtig machte. Levensons Werk ist im Übrigen jedermann zugänglich, ein gewaltiges Panorama des Lebens primitiver und unterentwickelter Völker, ein »dramatischer Protestschrei gegen eine ungerechte und missratene Welt«, wie es einmal jemand nannte.
Ich selbst habe auf keinerlei Weise zur Verbreitung von Archanjos Büchern in den Vereinigten Staaten beigetragen, doch betrachte ich ihre Verbreitung als Triumph des fortschrittlichen Denkens, denn Archanjo war zwar ein Freigeist, bar jeder Ideologie, gewiss, doch von unvergleichlicher Liebe zu seinem Volk, ein Vorreiter im Kampf gegen Rassismus, Vorurteile, Elend und Tristesse.
Mit Levenson brachte mich Ana Mercedes zusammen, ein wahrer Schatz der jungen Lyrik, heute ganz der Música Popular Brasileira verschrieben, damals Redakteurin einer lokalen Morgenzeitung und beauftragt, über den kurzen Aufenthalt des Gelehrten in unserer Stadt zu berichten. Sie führte den Auftrag ihres Chefredakteurs so gut aus, dass sie dem Amerikaner nicht mehr von der Seite wich, ihn Tag und Nacht begleitete und dolmetschte. Ihre Empfehlung fiel fraglos bei der Entscheidung für mich ins Gewicht, doch ist dies ein himmelweiter Unterschied zu den verleumderischen Äußerungen einiger Kanaillen über sie und mich, denn bevor Levenson mich engagierte, hatte er Gelegenheit, sich meiner Eignung zu vergewissern.
Zu dritt besuchten wir das Fest zu Ehren der Göttin Iansã im Terreiro do Alaketu, und dort konnte ich meine fachliche Bildung demonstrieren und Levenson meine Kenntnisse und Fähigkeiten beweisen. In einer Mischung aus Portugiesisch und Spanisch, versetzt mit meinem kümmerlichen und Anas noch kümmerlicherem Englisch, erläuterte ich ihm die verschiedenen Zeremonien, nannte ihm die Namen der Götter, der Orixás, erklärte die Bedeutung der Bewegungen, Gestik und Körperhaltungen, sprach von den Tänzen und Gesängen, den Farben der Kostüme und noch etlichem mehr – wenn ich gut aufgelegt bin, rede ich drauflos, und was ich nicht wusste, dachte ich mir aus, denn ich konnte mir unmöglich die versprochenen Dollars entgehen lassen, schließlich handelte es sich nicht um wertlos gewordene Cruzeiros, nein, um Dollars, die mir wenig später ausgezahlt wurden, als ich mich in der Hotelhalle nur widerstrebend verabschiedete.
Mehr habe ich nicht zu erklären, es ist alles gesagt. Ziemlich betrübt, füge ich lediglich noch hinzu, dass der große Levenson meine Arbeit, mein Werk, nicht berücksichtigt hat. Sowie ich sie abgeschlossen hatte, schickte ich ihm wie vereinbart eine maschinengeschriebene Kopie und dazu eines der beiden einzigen fotografischen Dokumente, die ich hatte auftreiben und mir beschaffen können. Das verblichene Porträt zeigt einen dunklen Mulatten, jung und kräftig, selbstbewusst, im schwarzen Anzug – Archanjo, frisch ernannt zum Pedell der Medizinischen Fakultät von Bahia. Ich hielt es für besser, das andere Foto nicht zu schicken, auf dem Mestre Pedro offensichtlich bei einem Trinkgelage in Gesellschaft halbseidener Damen, inzwischen alt, ungepflegt und verlottert, ein Glas kippt.
Gut vierzehn Tage später brachte mir der Postbote einen Brief, unterschrieben von Levensons Sekretärin, mit dem der Erhalt meines Textes bestätigt und mir ein Dollarscheck zugesandt wurde über den noch ausstehenden Betrag sowie zum Begleichen von Ausgaben, die mir bei meinen Recherchen entstanden waren oder hätten entstanden sein können. Sie haben alles bezahlt, ohne kleinlich zu sein, und hätten gewiss noch mehr bezahlt, wenn ich mit meinen Ansprüchen nicht so bescheiden, bei meiner Ausgabenaufstellung nicht so schüchtern gewesen wäre.
Von all dem ihm übersandten Material verwendete der Gelehrte lediglich das Foto für die Veröffentlichung der englischen Übersetzung eines guten Teils von Pedro Archanjos Werk in einem Band seiner monumentalen Enzyklopädie über das Leben der Völker in Afrika, Asien und Lateinamerika (Encyclopedia of life in the tropical and underdevelopped countries), an der die bedeutendsten Namen unserer Zeit mitgearbeitet haben. In der mehrseitigen Einleitung geht Levenson so gut wie nicht auf die Bücher des Bahianers ein und erwähnt auch kaum etwas aus dessen Leben. Dennoch genug, um mir zu beweisen, dass er nicht einmal einen Seitenblick auf meinen Text geworfen hat. Im Vorwort wird Archanjo zum Professor befördert, zum erlauchten Mitglied des Ärztekollegiums der Medizinischen Fakultät (»distinguished Professor, member of the Teachers’ Council«), von der beauftragt und finanziert er seine Forschungen durchgeführt und seine Bücher veröffentlicht habe – ich bitte Sie! Wer Levenson solche Ammenmärchen aufgeschwatzt hat, weiß ich nicht, aber hätte er meine Papiere zumindest durchgeblättert, dann wäre ihm ein so plumper Fehler nicht unterlaufen – statt Pedell Professor, ha!, mein armer Archanjo, das fehlte dir gerade noch!
Nicht ein einziges Mal wird mein Name auf den Seiten des James D. Levenson genannt, auch findet sich keinerlei Hinweis auf meine Arbeit. Deshalb fühle ich mich frei und bin gewillt, den Vorschlag anzunehmen, den mir jüngst Senhor Dmeval Chaves, der wohlhabende Buchhändler aus der Rua da Ajuda, nunmehr auch Verleger, im Hinblick auf Veröffentlichung und Verkauf dieser bescheidenen Seiten gemacht hat. Ich stellte eine einzige Bedingung: einen ordnungsgemäßen Vertrag, denn wie es heißt, ist Senhor Chaves, obwohl so begütert und reich, knauserig beim Zahlen der Tantiemen, womit er übrigens einer hiesigen Tradition folgt – schon unser Archanjo wurde seinerzeit, wie man noch sehen wird, Opfer eines gewissen Bonfanti, ebenfalls Buchhändler und Verleger, mit einem Geschäft am Largo da Sé.
»Was für ein Mann! Mein Gott, ein Bild von Mann!«, rief Ana Mercedes, trat einen Schritt vor und löste sich, ganz tropische Palme, aus der Masse der Journalisten, Professoren, Studenten, feinen Damen, Literaten und Müßiggänger, die sich in Erwartung von James D. Levenson zur Pressekonferenz im Salon des großen Hotels versammelt hatten.
Mikrophone diverser Rundfunksender, Fernsehkameras, Scheinwerfer, Fotografen, Leute vom Film, ein Kabelwust und dazwischen lächelnd und aufreizend die junge Reporterin vom Diário da Manhã, als wäre sie von der Stadt beauftragt, den berühmten Mann zu empfangen und zu begrüßen.
Aufreizend ist ein falscher, ja vulgärer Ausdruck, ein gemeines Adjektiv für dieses Wogen von Hüften und Brüsten im Sambaschritt, im Rhythmus einer Standartenträgerin im Karneval. Sehr sexy, der knappe Minirock über den braunen Säulen ihrer Schenkel, der Schlafzimmerblick, die vollen, zum Lächeln halb geöffneten Lippen, die gierigen Zähne und der entblößte Nabel, kurz, sie war hinreißend. Nein, sie bewegte sich nicht aufreizend, sie war Tanz, Aufforderung und Angebot in einem.
Der Amerikaner war aus dem Fahrstuhl getreten und stehen geblieben, um sich den Raum anzusehen und selbst gesehen zu werden – einen Meter neunzig groß, Figur eines Sportlers und Aussehen eines Schauspielers, blondes Haar, himmelblaue Augen, Pfeife, wer hätte ihm die fünfundvierzig Jahre gegeben, die sein Lebenslauf nannte? Die ganzseitigen Fotos in den Zeitschriften von Rio und São Paulo zeichneten dafür verantwortlich, dass so viele Frauen erschienen waren, doch alle stellten sie sofort fest: Das Original übertraf die Abbildungen bei weitem. Was für ein Mann!
»Schamloses Luder!«, sagte eine mit Täubchenbusen, auf Ana Mercedes gemünzt.
Fasziniert betrachtete der Gelehrte die junge Frau; entschlossen kam sie auf ihn zu, noch nie hatte er einen so schwingenden Gang, einen so biegsamen Körper, ein Antlitz so voller Unschuld und Anzüglichkeit gesehen: Weiße, Schwarze, Mulattin, alles zugleich.
Sie kam und blieb vor ihm stehen: »Hallo, Boy!« – das war keine Stimme, das war ein Zwitschern.
»Hallo!«, flötete Levenson und nahm die Pfeife aus dem Mund, um ihr die Hand zu küssen.
Die Frauen erbebten, ein einziges Aufseufzen, in Sorge, in Panik. Oh, diese Ana Mercedes, wirklich nicht besser als ein ordinäres Flittchen, eine miese Journalistin, Möchtegernpoetin, wer weiß denn nicht, dass ihre Verse von Fausto Pena geschrieben sind, ihrem derzeitigen Gehörnten?
»Charme, Klasse und Kultur der bahianischen Frau waren bei der großartigen Pressekonferenz des James D. comme il faut vertreten, die Hübschen ergingen sich in Ethnologie, die Hingerissenen in Soziologie …«, schrieb in seiner Kolumne der vortreffliche Silvinho, und etliche dieser Damen besaßen außer Schönheit, Eleganz, Haarpracht und Fertigkeiten im Bett noch weitere Vorzüge, sie verfügten über Diplome von Kursen zu Themen wie »Volkstümliche Trachten und Bräuche«, »Tradition, Geschichte und Denkmäler der Stadt«, »Konkrete Poesie«, »Religion, Geschlecht und Psychoanalyse«, die vom Tourismusamt oder der Schauspielschule angeboten wurden. Doch ob im Besitz eines Diploms oder schlichte Amateurin, ob stürmische Jugendliche oder unwiderruflich Matrone kurz vor der zweiten oder dritten Schönheitsoperation, sie alle spürten, dass die ehrliche Konkurrenz ein Ende hatte, jedwede Anstrengung vergeblich wäre – kühn und frech war Ana Mercedes ihnen zuvorgekommen, hatte den männlichen Exponenten der Wissenschaft mit Beschlag belegt und zu ihrem ausschließlich privaten Eigentum erklärt. Besitzergreifend und unersättlich, wie sie war – »unersättliches Weib, Diva des Beischlafs« nannte sie der leidgeprüfte Poet Fausto Pena in seinen Zeilen –, würde sie ihn mit keiner anderen Frau teilen, dahin alle Hoffnung, ihn ihr abspenstig machen zu können.
Von der Dichterin und Journalistin an die Hand genommen, schritt der Professor der Columbia University in die Raummitte zu dem für ihn reservierten Sessel. Fotografen ließen Blitze aufflammen, Lichter bunt wie Blumen – hätte man den Hochzeitsmarsch gespielt, Ana Mercedes in Minirock und Minibluse und James D. Levenson im blauen Tropenanzug wären das Brautpaar des Jahres gewesen auf dem Weg zum Altar. »Wie Brautleute«, brummelte Silvinho.
Der Gelehrte nahm Platz, und da erst trennten sich ihre Hände. Doch Ana blieb neben ihm stehen, bewachte ihn, sie war ja nicht so dämlich, ihn freizulassen angesichts der Gier all der läufigen Hündinnen. Sie kannte diese Stuten, eine leichter zu haben und zu vernaschen als die andere. Sie lachte ihnen zu, nur um sie zu ärgern. Die Fotografen, außer Rand und Band, stiegen auf Stühle, standen auf Tischen, krochen über den Fußboden, in wilder Jagd nach Blickwinkeln und Posen. Auf ein diskretes Zeichen des Leiters des Tourismusamts servierten Kellner Getränke, und die Pressekonferenz begann.
Júlio Marcos, Literaturkritiker und Redakteur des Jornal da Cidade, maßlos wichtig und gelehrt, selbstgefällig und hochnäsig, setzte sein Glas ab und stand auf. Stille trat ein, Bewunderung schwebte im Raum. Bei den Damen seufzte jemand – wenn die Importware in Gestalt des blonden Gelehrten schon nicht mehr zu haben war, dann war der arrogante Marcos, ein hellhäutiger Mulatte, als Ersatz nicht zu verachten. Im Namen des Jornal da Cidade – und der progressivsten Intellektuellen – stellte er die erste Frage, eine erste und überwältigende Frage:
»Ich würde gern in wenigen Worten die Meinung des erlauchten Professors über Marcuse hören, sein Werk und seinen Einfluss. Sind Sie nicht auch der Ansicht, dass nach Marcuse Marx zum alten Eisen zählt? Stimmen Sie mir darin zu?«
So sprach er und ließ den Blick triumphierend durch den Raum schweifen, während der vom Rektorat bestellte Dolmetscher – mit perfekter Aussprache, versteht sich – die Frage ins Englische übersetzte und die vorlaute Mariucha Palanga, zwei Schönheitsoperationen im Gesicht, eine an den Brüsten, traurige Karikatur eines jungen Mädchens, leise, doch hörbar Beifall spendete:
»Welch ein kluger Kopf!«
James D. Levenson zog an der Pfeife, warf einen liebevollen Blick auf Ana Mercedes’ Nabel, Blume auf dem Feld der Träume, Brunnen tiefer Geheimnisse, und gab in kehligem Spanisch eine barsche Antwort, wie sie Künstlern und Gelehrten so gut ansteht:
»Diese Frage ist idiotisch, und nur ein Kretin oder unseriöser Mensch würde sich im Rahmen einer Pressekonferenz zu Marcuses Werk äußern oder darüber diskutieren, ob der Marxismus noch aktuell ist. Wenn ich Zeit für einen Vortrag oder eine Vorlesung zu diesem Thema hätte, wunderbar; aber ich habe nicht die Zeit und bin auch nicht nach Bahia gekommen, um über Marcuse zu sprechen. Ich bin hier, weil ich die Stadt kennenlernen will, in der ein bemerkenswerter Mann gelebt und gearbeitet hat, ein Mann von profunden, großen Gedanken, ein Mann der Menschlichkeit, Ihr Mitbürger Pedro Archanjo. Deshalb und nur deshalb bin ich nach Bahia gekommen.«
Er zog erneut an der Pfeife, lächelte den Anwesenden zu, ruhig, entspannt, ein richtig netter Gringo, und ohne sich um den Journalisten Marcos zu kümmern, der damit erledigt war, ein toter Mann im Schweißtuch seiner Großspurigkeit, betrachtete er abermals Ana Mercedes, musterte sie von Kopf bis Fuß, von der offenen schwarzen Haarpracht bis zu den außergewöhnlichen, weiß lackierten Zehennägeln, und fand immer mehr Gefallen an ihr, sie passte zu ihm. Archanjo hatte in einem seiner Bücher geschrieben: »Die Schönheit der Frauen, der einfachen Frauen aus dem Volk, ist ein Attribut dieser vielfarbigen Stadt, der Liebe der Rassen, des hellen Morgens ohne Vorurteil.« Noch einmal blickte er auf den blühenden Nabel, diesen Nabel der Welt, und sagte in seinem korrekten, harten Spanisch einer nordamerikanischen Universität:
»Wissen Sie, mit wem ich Pedro Archanjos Werk vergleichen würde? Mit dieser Senhorita. Sie ist wie eine Seite aus dem Buch von Mister Archanjo, ganz genau so (›igualita‹).«
Damit begann an diesem lieblichen Aprilnachmittag Pedro Archanjos Verherrlichung in Bahia.
Bekanntheit, öffentliche Anerkennung, Beifall, Bewunderung von Seiten der Gelehrten, Ruhm, Erfolg – auch profanen, man denke an die Erwähnung seines Namens in Klatschspalten und die hysterisch spitzen Schreie von kultivierten, liberalen Damen aus besten Kreisen –, das alles wurde Pedro Archanjo erst post mortem zuteil, als er nichts mehr davon hatte, auch nichts von den Frauen, die zu Lebzeiten seine große Leidenschaft gewesen waren.
Es war das »Pedro-Archanjo-Jahr«, schrieb ein prominenter Journalist, der in seinem Jahresrückblick die bedeutendsten kulturellen Ereignisse aufzählte. Tatsächlich, kein Intellektueller machte so viel von sich reden, kein anderes Werk wurde so hoch gelobt wie die vier schmalen, eilends nachgedruckten Bände, Bücher, die über so lange Zeit vergessen oder vielmehr unbekannt geblieben waren, nicht nur dem breiten Leserpublikum, sondern auch den Fachleuten – mit den üblichen ehrenwerten Ausnahmen, von denen bald die Rede sein wird.
Alles begann mit der Ankunft des berühmten James D. Levenson in Brasilien, der Encyclopaedia Britannica zufolge »eines der fünf Genies unseres Jahrhunderts«: Philosoph, Mathematiker, Soziologe, Anthropologe, Ethnologe und etliches mehr, Professor der Columbia University, Nobelpreisträger für Naturwissenschaften, und als wäre es nicht schon genug, auch noch Amerikaner. Kühn und streitfreudig hatte er die zeitgenössische Wissenschaft mit seinen Theorien revolutioniert, hatte die Entwicklung der Menschheit aus überraschenden Blickwinkeln untersucht und erklärt und mit der Umformulierung von Begriffen und Thesen neue, gewagte Schlussfolgerungen gezogen. Für die Konservativen war er ein gefährlicher Ketzer, für seine Schüler und Anhänger ein Gott und für die Journalisten ein Segen des Himmels, denn James D. mäßigte sich weder in Worten noch in Meinungen.
Auf Einladung der Universidade do Brasil kam er zu einer Reihe von fünf Vorlesungen in der Philosophischen Fakultät. Es wurde, wie wir wissen, ein riesiger Erfolg. Für den ersten Vortrag war die Aula vorgesehen, doch musste er in aller Eile ins Auditorium Maximum des Rektorats verlegt werden, und trotzdem drängten sich noch Hörer in den Fluren und im Treppenhaus. Zeitungen und Illustrierte, Reporter und Fotografen bekamen reichlich Stoff: Levenson war nicht nur genial, er war auch fotogen.
Die Vorträge mit anschließenden Fragen und hitzigen, mitunter scharfen Diskussionen veranlassten die Studenten zu temperamentvollen Sympathiebekundungen für den Gelehrten und ebensolchen Protesten gegen die Diktatur. Nicht nur einmal sprangen die Studenten auf und zollten ihm wie im Rausch minutenlang stehend Beifall. Manche seiner Sätze fanden beim Publikum so großen Anklang, dass sie im ganzen Land die Runde machten: »Zehn Jahre nicht endender internationaler Konferenzen sind mehr wert als ein einziger Tag Krieg und billiger.« »Gefängnisse und Polizei sind überall gleich schändlich, unter jeder Regierungsform, ohne jede Ausnahme.« »Die Welt wird erst dann wirklich zivilisiert sein, wenn es Uniformen nur noch im Museum gibt.«
Von Fotografen und Starlets umringt, nur mit einem winzigen Badeslip bekleidet, verbrachte Levenson die Vormittage am Strand.
Systematisch lehnte er Einladungen von Akademien, Instituten, Vereinigungen, Kultureinrichtungen, Professoren ab – das alles hatte er mehr, als ihm lieb war, in New York, aber diese brasilianische Sonne, wann würde er die wieder erleben? Sogar Fußball spielte er am Strand, und er wurde bei einem Schuss aufs Tor fotografiert, doch sein Lieblingssport waren fraglos die Frauen. Am Strand und in den Nachtclubs kam er etlichen Prachtexemplaren des Landes näher.
Die Gesellschaftsreporter überschlugen sich darin, dem erst kürzlich Geschiedenen Liebschaften und Verlobungen anzudichten. Eine überkandidelte Schreckschraube und Skandalreporterin sah den Zusammenbruch einer Society-Ehe voraus; Irrtum, der höchst geschmeichelte Ehemann wurde zum Busenfreund des gelehrten Schürzenjägers. »Gestern saß auf der Terrasse des Copa Katy Siqueira Prado in einem Bikini aus Cannes und schenkte ihrem Mann Baby und dem großen James D., den beiden Unzertrennlichen, zärtliche Blicke«, schrieb der in diesen Kreisen bewanderte Zul hingegen. In derselben Woche zeigte eine auflagenstarke Illustrierte auf dem Titelblatt die athletische Blöße des Nobelpreisträgers neben der werbeträchtigen Nacktheit von Nádia Sílvia, einer vielversprechenden Schauspielerin, die ihr großes Talent leider noch nicht hatte unter Beweis stellen können, da man ihr bislang aus unerklärlichen Gründen weder im Film noch auf der Bühne die Chance dazu gegeben hatte – und Nádia, für die Reportage befragt, lachte viel, gab nichts zu, stritt aber Verliebtheit und Beziehung nicht ab. »Levenson ist der sechste weltberühmte Mann, dem die unwiderstehliche Nádia den Kopf verdreht hat«, berichtete eine Zeitung allen Ernstes und zählte die fünf Vorgänger auf: John F. Kennedy, Richard Burton, Aga Khan, ein Schweizer Bankier und ein englischer Lord. Ganz zu schweigen von der italienischen Gräfin, einer vornehmen Millionärin und Lesbe.
»Der geniale Levenson gestern abermals auf der Tanzfläche des Le Bateau, in love mit der glamourösen Helena von Kloster«, stand in Gisas Crônica da Noite zu lesen; »er hat Samba tanzen gelernt, für ihn gibt es keinen anderen Rhythmus mehr«, verkündete Robert Sabad in achtzehn Zeitungen und ebenso vielen Fernsehsendern und brachte den Ausspruch von Branquinha do Val Burnier unters Volk, der großartigen hostess, unvergleichlich, was Tisch und Bett betrifft: »Wenn James nicht der Nobelpreisträger wäre, der er ist, könnte er sein Brot als Profitänzer verdienen.« Zeitungen und Illustrierte waren entzückt, der Gelehrte ließ sie nicht im Stich.
Nichts jedoch war so sensationell wie die Erklärung zu Pedro Archanjo – sie schlug auf dem Flughafen beim Einchecken nach Bahia wie eine Bombe ein. Tatsächlich hatte Levenson gleich nach seiner Ankunft aus New York beim ersten Kontakt mit der Presse den Bahianer kurz erwähnt, hatte seinen Namen genannt: »Ich befinde mich in Archanjos Heimat und bin glücklich.« Die Reporter indes hatten den Satz nicht festgehalten, weil sie ihn entweder nicht verstanden oder ihm keine besondere Bedeutung beimaßen. Beim Abflug nach Bahia aber war es anders, denn der erstaunliche Nobelpreisträger erklärte, er habe zwei Tage seines kurzen Brasilienaufenthaltes für einen Besuch in Bahia vorgesehen, »um die Stadt und die Menschen kennenzulernen, den Gegenstand der Studien des faszinierenden Pedro Archanjo, in dessen Büchern Wissenschaft Poesie ist«, dieses Autors, der so viel zur brasilianischen Kultur beigetragen hatte. Panik brach aus.
»Wer ist dieser Pedro Archanjo, von dem man noch nie gehört hat?«, fragten sich verblüfft die Journalisten. In der Hoffnung, ein Stichwort zu erhalten, erkundigte sich einer, auf welchem Weg Levenson von dem brasilianischen Autor erfahren habe. »Ich habe seine Bücher gelesen«, antwortete der Gelehrte, »seine unvergänglichen Bücher.«
Die Frage gestellt hatte Ápio Correia, ein Schlauberger, Redakteur der Beilage Wissenschaft, Kunst und Literatur einer Morgenzeitung, ungemein bewandert und gewitzt wie kein zweiter.
Er bluffte weiter und sagte, er habe nie gehört, dass Archanjos Bücher ins Englische übersetzt seien.
Er habe die besagten Bücher auch nicht auf Englisch, sondern auf Portugiesisch gelesen, teilte der schreckliche Amerikaner mit und fügte hinzu, das sei ihm, obwohl er nur minimale Kenntnisse unserer Sprache besitze, dank seiner Beherrschung des Spanischen und vor allem des Lateinischen möglich gewesen. »Es war nicht schwierig«, ergänzte er und erklärte dann, er habe Archanjos Bücher in der Bibliothek der Columbia University entdeckt, als er vor kurzer Zeit über das Leben tropischer Völker recherchierte. Und er beabsichtige, das »Werk Ihres großen Landsmannes« in den Vereinigten Staaten übersetzen zu lassen und zu veröffentlichen.
»Jetzt kommt es auf jede Minute an«, dachte Ápio Correia und machte sich auf die Suche nach einem Taxi, um zur Nationalbibliothek zu fahren.
Es war eine wilde Hetzerei, bis die Journalisten von Professor Ramos erfuhren und ihn ausfindig machten, prominent wegen etlicher Titel und nun auch deshalb, weil er das Werk des besagten Archanjo kannte, das er mehrfach als wertvoll bezeichnet und mit Artikeln in leider kaum zugänglichen und noch weniger gelesenen Fachzeitschriften gerühmt hatte.