ROBERT SILVERBERG
ÜBER DEN WASSERN
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
www.diezukunft.de
Prolog
Erster Teil – Die Insel Sorve
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Zweiter Teil – Das Meer der Leere
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Dritter Teil – Das Feste Land über den Wassern
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Für Charlie Brown,
den Focus des LOCUS
– und wahrscheinlich auch grad
zur rechten Zeit.
Und die Erde war gestaltlos und leer; und Finsternis lag über dem Flachen auf dem Tiefen. Und der Geist GOTTES wehte über dem Flachen der Wasser.
– GENESIS, I:2
Das Meer kennt kein Mitleid, keine Treue, kein Gesetz, kein Gedenken … Seine Unbeständigkeit kann menschlichen Zwecken nur durch unverzagte Entschlossenheit und schlaflose, bewaffnete, argwöhnische Wachsamkeit, in denen eigentlich immer mehr Hass als Liebe liegt, dienstbar erhalten bleiben.
– JOSEPH CONRAD, Der Spiegel der See{1}
Über ihnen lag Blau, unter ihnen ein anderes Blau; zwei unermessliche, unzugängliche Abgründe, und das Schiff hing scheinbar zwischen dem einen und dem anderen in der Schwebe, ohne sie zu berühren, bewegungslos in einer perfekten Windstille gefangen. In Wirklichkeit aber lag es im Wasser, wohin es gehörte, und nicht über ihm, und es machte die ganze Zeit über gute Fahrt. Vier Tage hindurch und vier Nächte zog das Schiff nun stetig hinaus, fort von Sorve, immer tiefer hinaus auf das unwegsame Meer.
Als Valben Lawler am Morgen des fünften Tages früh an Deck des Flaggschiffes trat, ragten ringsum überall Hunderte von langen Silberrüsseln aus dem Wasser. Dies war neu. Und das Wetter hatte ebenfalls umgeschlagen: der Wind hatte sich ganz gelegt, die See war bleiern-träge geworden, nicht mehr nur still, sondern auf eine bestimmte Art elektrisch aufgeladen und voll einer potentiellen explosiven Spannung. Die Segel flappten schlaff, die Takelage baumelte schlapp herab. Über den Himmel erstreckte sich ein dünner, scharfer grauer Dunststreifen, wie etwas, das von einem anderen Ort der Welt hier hereingedrungen war. Lawler, schlank, großgewachsen, in mittleren Jahren, aber mit dem Körper und der Geschmeidigkeit eines durchtrainierten Athleten, bedachte die Wassergeschöpfe drunten mit einem schiefen Grinsen. Sie waren dermaßen hässlich, dass sie schon fast wieder attraktiv wirkten. Unheimliche Biester, dachte er.
Falsch: Unheimlich, ja; Biester, nein! In den unangenehm scharlachroten Augen blitzte zweifellos so etwas wie kühler Verstand. Noch eine intelligente Spezies auf dieser Welt, die damit schon so reichlich gesegnet war. Und unheimlich waren sie im Grunde einfach nur eben deshalb, weil sie keine primitiven Bestien waren. Und ziemlich gefährlich sahen sie aus, die schmalen Schädel auf den vorgereckten Röhrenhälsen. Sie sahen aus wie große metallene Würmer, die sich aus dem Wasser heraufrecken. Und diese offenbar recht funktionstüchtigen Kiefer, die kleinen sägeblattscharfen Zähnchen, dutzendweise in der Sonne blitzend. Es sah dermaßen absolut unmissverständlich bösartig aus, dass man nicht anders konnte, als sie zu bewundern.
Lawler spielte ein Weilchen mit dem Gedanken, über Bord zu gehen und sich mitten unter diesen Wesen zu vergnügen.
Dann überlegte er, wie lange er dann noch leben würde. Höchstwahrscheinlich keine sechs Sekunden … Und danach – Frieden, ewiger Frieden. Eine hübsche perverse Vorstellung dieses Wunschbild eines raschen kleinen Selbstmords. Aber selbstverständlich nicht ernstgemeint. Lawler war kein suizidaler Typ, sonst hätte er die Sache schon vor langer Zeit hinter sich gebracht, und überdies war er derzeit gegen Depressionen und Angstzustände und ähnliche ärgerliche Sachen chemisch abgeschirmt. Der kleine Schluck Stumpfkrauttinktur, den er sich nach dem Aufstehen erlaubt hatte, wie dankbar war er nun dafür. Wenigstens für ein paar Stunden lieferte ihm die Droge einen kleinen undurchdringlichen Schutz und ruhige Sicherheit, und er konnte vielzähnigen Ungeheuern wie diesen da lachend in die Augen schauen. Es brachte doch gewisse Vorteile mit sich, Arzt zu sein – der einzige Doktor in der Gemeinschaft.
Lawler erblickte Sundira Thane, die sich beim Fockmast weit über die Reling beugte. Anders als Lawler war die dunkelhaarige schlaksige Frau ein erfahrener Ozeanfahrer und hatte zahlreiche interinsulare Fahrten hinter sich gebracht, die manchmal über weite Strecken geführt hatten. Sie kannte die See. Er dagegen war hier nicht in seinem Element.
»Hast du so was früher schon mal gesehen?«, fragte er.
Sie blickte auf. »Das sind Drakkens. Hässliche Biester, was? Und schlau und schnell. Die verschlucken dich ganz, wenn du ihnen bloß 'ne halbe Chance dazu gibst. Oder auch bloß 'ne Viertelchance. Nur ein Glück, dass wir hier oben sind und die dort drunten.«
»Drakkens«, wiederholte Lawler. »Hab noch nie von so was gehört.«
»Sie sind Nordlinge. Werden selten in tropischen Wassern oder hier in diesem Meer gesichtet. Ich vermute, sie wollten mal Sommerferien machen.«
Die schmalen gezähnten Schnauzen waren halb so lang wie ein Mannsarm und ragten wie ein Wald von Schwertern aus dem Wasser herauf. Lawler sah flüchtig schlanke bandförmige Leiber im Wasser, die wie poliertes Metall blinkten, in die Tiefe baumeln. Manchmal tauchte die Schwanzflosse eines Drakken auf oder eine mächtige schwimmhautbesetzte Pranke. Flammenrot helle Augen erwiderten seinen Blick mit beunruhigender Intensität. Sie sprachen miteinander in hohen Stimmlauten, einen scharfen hallenden Klirrton wie dem von Beilen auf dem Amboss.
Von irgendwo tauchte Gabe Kinverson auf und platzierte sich halbwegs zwischen Lawler und Thane an der Reling. Kinverson, ein sehniger Riese mit einem flachen windverbrannten Gesicht, hatte die Werkzeuge seiner Tätigkeit dabei: ein Bündel Haken und Schnur und eine lange Angelrute aus Holzkelp. »Drakkens«, brummte er. »Was für Mistviecher. Einmal bin ich mit meinem Boot und einem Zehnmeter-Seeleoparden im Schlepp heimgefahren, und fünf Drakkens haben ihn mir glatt vom Haken gefressen. Und ich konnte verdammt gar nichts dagegen machen.« Kinverson hob eine zerbrochene Belegpinne auf und schleuderte sie ins Wasser. Die Drakkens stürzten sich darauf, als wäre es ein Köder, schoben sich schulterhoch in die Luft, schnappten von allen Seiten danach und yippten wütend; dann ließen sie den Pflock sinken, und er verschwand.
»Aber sie können doch wohl nicht an Bord raufkommen?«, fragte Lawler.
Kinverson lachte. »Nein, Doc. An Bord kommen können sie nicht. Zu unserm Glück.«
Die schätzungsweise dreihundert Drakkens schwammen mehrere Stunden lang neben den Schiffen her, konnten mühelos die Reisegeschwindigkeit mithalten, stießen die bösartigen Schnauzen in die Luft und keiften und gellten unablässig ihre bedrohlichen Vokalkommentare. Aber gegen die Morgenmitte tauchten sie alle zusammen ab und außer Sichtweite und wurden nicht mehr gesehen.
Kurz darauf brasste der Wind auf. Die Matrosen der Tageswache kletterten geschäftig in der Takelung umher. Hoch drüben im Norden kristallisierte sich schwarz ein kleiner Sturmregen zusammen, direkt unter einer gemein aussehenden Wolkendecke, und schleifte einen steilen dunklen Netzvorhang mit sich, der nicht ganz bis zur Oberfläche der See reichte. In der Nähe der Schiffe behielt die Luft ihre trockene Durchsichtigkeit, bekam aber eine knisternde Schärfe.
Lawler stieg unter Deck. Dort wartete Arbeit auf ihn, allerdings nichts besonders Anstrengendes dabei. Neyana Golghoz hatte eine Blase an ihrem Knie; Ehrwürden Father Quillan war aus seiner Koje gefallen und hatte sich eine Prellung am Ellbogen zugezogen; Leo Martello hatte Sonnenbrand auf dem Rücken. Als Lawler die Patienten versorgt hatte, rief er alle übrigen Schiffe vorschriftsmäßig über Funk, um festzustellen, ob es auf ihnen irgendwelche medizinischen Probleme gebe. Gegen Mittag stieg er wieder an Deck, um frische Luft zu schöpfen. Nid Delagard, der Reeder der Flottille und Leiter der Expedition, besprach sich gerade mit dem Kapitän des Flaggschiffes, Gospo Struvin, am Ruderhaus. Ihr Lachen hallte hemmungslos über die ganze Länge des Schiffsdecks. Die beiden waren aus dem gleichen Holz geschnitzt, klobige stiernackige Kerls, stur und ordinär, voll einer grobschlächtigen Energie.
»He, Doc, hast du heut früh diese Drakkens gesehn?«, brüllte Struvin herüber. »Süße Krabben sind die, was?«
»Ja. Sehr hübsch. Was wollten sie denn von uns?«
»Uns auf den Zahn fühlen, nehme ich an. Man kann in dieser See nicht weit reisen, bevor irgendwas auftaucht und einen neugierig beschnüffelt. Wir werden noch 'ne ganze Menge anderer unzivilisierter Besucher kriegen auf dieser Fahrt. Da, schau mal, Doc … steuerbord!«
Lawler folgte der ausgestreckten Hand des Captains. Dicht unter der Meeresoberfläche wurde die blasige, ungefähr kugelige Gestalt eines riesenhaften Geschöpfes erkennbar. Es sah aus wie ein vom Firmament gestürzter Mond, grünlich, riesig und ganz von Pockennarben bedeckt. Nach einer Weile erkannte Lawler, dass die Narben in Wirklichkeit rundliche Mundöffnungen waren, die dicht beisammen auf der gesamten kugeligen Oberfläche saßen und sich regelmäßig öffneten und schlossen. Hunderte schluckender Mäuler, unablässig an der Arbeit. Tausende vielleicht. Eine Myriade langer bläulicher Zungen, die geschäftig vor und zurück durch das Wasser peitschten. Das Ding war nichts als lauter Mäuler, eine gewaltige im Meer schwebende Fressmaschine.
Lawler besah sich das Geschöpf mit einigem Ekel. »Was ist denn das?«
Doch Struvin hatte keinen Namen dafür. Und Delagard ebenfalls nicht. Es war eben nur ein anonymer Meeresbewohner, etwas Hässliches und Monströses, dein persönliches Horrording in Großformat, das da eben mal vorbeischaute, um festzustellen, ob es in dem kleinen Konvoi von Fahrzeugen irgend etwas gebe, das zu verschlucken sich lohnte. Langsam trieb das Ding vorbei, und seine Mäuler mahlten unablässig weiter. Danach – etwa eine halbe Stunde später – drangen die Schiffe in einen Bezirk ein, in dem es von großen orange-grün-gestreiften Quallen wimmelte, graziösen, geschmeidigen schimmernden Schirmen, mannskopfgroß, von denen fingerdicke, gekrauste fleischigrote Bänder anscheinend mehrere Meter lang herabhingen. Diese Quallen wirkten irgendwie friedlich, sogar ein wenig clownskomisch, aber die See rings um sie dampfte und sprudelte, als sonderten sie eine scharfe Säure ab. Sie schwebten so dichtgepackt im Wasser, dass sie ganz dicht an die Schiffswandung stießen, gegen die Seefingerpflanzen prallten, die dort wuchsen, und mit leisen seufzenden Schmatzern widerwillig zurückwichen.
Delagard gähnte, dann verzog er sich durch die Heckluke unter Deck. Lawler blieb an der Reling und schaute verblüfft die Massen von Quallen dicht unter sich an. Sie bebten wie ein Haufen molliger Schwabbelbusen. Sie waren so nahe, er hätte mit Leichtigkeit hinuntergreifen und einen davon herausfischen können. Gospo Struvin kam an der Backbordreling an ihm vorbei übers Deck und sagte grob: »He, wer hat denn das Netz da liegen lassen? Du, Neyana?«
»Ich bestimmt nicht«, sagte Neyana Golghoz, ohne auch nur aufzublicken. Sie schrubbte voll Eifer das Deck weiter vorn am Bug. »Frag doch mal Kinverson. Der ist für die Netze zuständig.«
Das Netz war ein Wirrwarr von feuchten gelben Strängen und lag schlampig in einem Haufen an der Reling. Struvin trat mit dem Fuß dagegen, als wäre es ein Haufen Abfall. Dann brummte er einen Fluch und stieß noch einmal zu. Lawler schaute hinüber und sah, dass das Netz sich irgendwie um eins der bestiefelten Beine Struvins gewickelt hatte. Der Schiffskapitän stand mit erhobenem Bein da und stieß es wiederholt von sich, als versuchte er, etwas Klebriges und sehr Anhängliches abzuschütteln. »He«, sagte Struvin. »He, was soll 'n das!«
Das Netz hatte sich teilweise bis zur Hälfte seines Oberschenkels um das Bein festgewickelt. Der Rest des Netzes glitt die Reling hinauf und begann auf der anderen Seite zum Wasser hinabzukriechen.
»Doc!«, brüllte Struvin.
Lawler rannte zu ihm hinüber, Neyana dicht hinter ihm. Doch das Netz bewegte sich unglaublich schnell. Es war jetzt nicht mehr ein Gewirr von Fasersträngen, sondern hatte sich gestreckt und entpuppte sich nun als eine Art drei Meter lange durchbrochene Bioform, die Struvin hastig über Bord zerrte. Der Käptn brüllte und stieß mit dem Bein und wehrte sich, hing aber schon halb über der Reling. Das eine Bein war völlig in dem Netz verfangen, und er stemmte sich mit dem anderen verzweifelt gegen die Brüstung, um nicht in die See gezerrt zu werden; aber das Ungeheuer schien durchaus entschlossen, ihn im Schritt auseinanderzureißen, wenn er weiteren Widerstand leistete. Struvins Augen platzten ihm fast aus den Höhlen. Dann überzogen sie sich glasig vor Verblüffung und ungläubigem Entsetzen.
Im Verlauf seiner fast fünfundzwanzigjährigen Praxis als Mediziner hatte Lawler andere Leute in extremis erlebt, viele, viel zu viele Male. Aber noch nie hatte er in den Augen irgendeines Menschen eine derartige Todesangst gesehen.
»Befreit mich von dem Ding!«, kreischte Struvin. »Jesus! Doc – bitte! Doc …«
Lawler hechtete hinüber und packte sich den Teil des Netzes, der ihm am nächsten war. Als seine Hand sich darum klammerte, verspürte er sofort ein heftiges Brennen, wie wenn eine stechende Säure ihm durch Haut und Fleisch bis in die Knochen gedrungen wäre. Er versuchte den Griff zu lösen, es war vergeblich. Seine Haut klebte fest. Struvin hing inzwischen schon ziemlich weit draußen. Nur noch der Kopf und die Schultern waren zu sehen, und seine verzweifelt sich anklammerten Hände. Noch einmal schrie er um Hilfe, krächzend, entsetzlich, dieses Brüllen. Lawler zwang sich, den Schmerz nicht zu beachten, warf sich ein Ende des Netzes über die Schulter und zerrte es quer übers Deck. Er hoffte, auf diese Weise Struvin wieder an Bord zu holen. Der Kraftaufwand war entsetzlich, doch ihm wuchsen auf mysteriöse Weise Kräfte zu, stressbedingte Energie, er wusste nicht, woher sie kam. Das Zeug versengte ihm die Haut an den Händen, und er spürte durch das Hemd hindurch das Brennen an Hals und Schultern und im Rücken. Scheißviech, dachte er. Verdammtes Scheißviech! Er biss sich fest auf die Lippe und machte einen Schritt, dann noch einen und noch einen, und er zog gegen Struvins Körpergewicht an, gegen den Widerstand des Dings, das inzwischen ein gutes Stück außenbords hinabgeglitten war und nun heftig dem Wasser zustrebte.
Etwas in seiner Rückenmitte machte sproiing!, wo die überstrapazierte Muskulatur wie wild herumtanzte. Aber es sah so aus, als könne es ihm tatsächlich gelingen, das Netz wieder zurück an Bord zu hieven. Struvin war schon fast wieder an der Reling.
Und dann barst das Netz – oder zerteilte sich vielmehr aus eigenem Willen. Lawler hörte einen letzten scheußlichen Klagelaut, blickte zurück und sah, wie Struvin wieder absackte und in die kochende, dampfende See fiel. Sofort begann das Wasser um ihn herum zu peitschen. Unter der Oberfläche sah Lawler Bewegungen, zuckende weiche Wesen, die wie Bolzen aus allen Richtungen herankamen. Jetzt erschienen ihm diese Quallen gar nicht mehr als so harmlos und clownskomisch.
Der Rest des Netzes blieb an Deck und begann sich um Lawlers Handgelenke und Hände zu wickeln. Er kämpfte mit einem wütenden feurigen Netzwesen, das sich wand und zuckte und an ihn festklammerte, wo immer er es berührte. Er ging auf die Knie und schmetterte das Netzding auf die Deckplanken, wieder und wieder und immer wieder. Das Zeug war zäh und geschmeidig, irgendwie knorpelhaft. Es schien ein wenig schwächer zu werden, doch er vermochte es noch immer nicht abzuschütteln. Das Brennen wurde allmählich unerträglich.
Kinverson kam angerannt und rammte seinen Stiefelabsatz auf das eine Ende dieses Netzdings und hielt es so fest; Neyana stieß ihren Mop auf seine Mitte, und dann tauchte plötzlich Pilya Braun aus dem Nichts auf, kauerte über Lawler und zückte ein Knochenmesser aus der Scheide an ihrer Hüfte. Wild fing sie an, die bebenden gummiartigen Maschen zu zertrennen. Metallisch blinkendes Blut von dunkelblauer Färbung spritzte aus dem Netz, und die Gewebestränge zogen sich hastig von der Klinge zurück. Sekundenschnell hatte Pilya die Teile abgetrennt, die an Lawlers Händen klebten, und er konnte sich wieder aufrichten. Offenbar war das Bruchstück zu klein, um sich unabhängig vom Rest am Leben zu erhalten; es begann zu schrumpfen und löste sich von seinen Fingern, und er konnte es von sich schütteln. Kinverson stampfte noch immer auf den anderen Netzteil ein, das Stück, das an Bord geblieben war, nachdem Struvin hinausgezerrt worden war.
Wie benommen taumelte Lawler auf die Reling zu, irgendwie von einem verschwommenen Impuls getrieben, dass er über Bord springen und Struvin retten müsse. Kinverson schien zu begreifen, was in ihm vorging. Er griff mit einem langen Arm nach ihm, packte ihn an der Schulter und zerrte ihn zurück.
»Sei nicht verrückt«, sagte er. »Da drunten schwimmt gottweißwas rum und wartet auf dich.«
Lawler nickte verwirrt. Er trat von der Reling zurück und stierte seine brennenden Finger an. Auf der Haut zeichnete sich ein hellrotes Netz von Linien ab. Der Schmerz war unglaublich heftig. Er hatte das Gefühl, als müssten seine Hände zerplatzen.
Der ganze Vorfall hatte vielleicht anderthalb Minuten gedauert.
Nun kam Delagard aus dem Decksluk gestürzt und rannte verärgert und bestürzt zu ihnen her.
»Was, zum Teufel, ist hier los? Was soll dieses Geschrei und Gebrüll?« Er brach ab und gaffte mit offenem Mund in die Gegend. »Wo ist Gospo?«
Lawlers Atem ging schwer, seine Kehle brannte, sein Herz hämmerte, er konnte kaum sprechen. Mit einer Kopfbewegung wies er zur Reling.
»Über Bord gegangen?«, sagte Delagard ungläubig. »Er ist in die See gefallen?«
Er stürzte an die Bordwand und blickte hinaus. Lawler trat neben ihn. Dort unten war jetzt alles still. Die Massen wimmelnder wabbeliger Quallen waren verschwunden. Die See war dunkel, glatt und stumm. Nirgends war etwas von Struvin oder dem Netzding zu sehen, das ihn sich geholt hatte.
»Er ist nicht gestürzt«, erklärte Kinverson. »Er wurde reingezogen. Die andere Hälfte von dem Zeug da hat ihn erwischt.« Er zeigte auf die Bruchstücke und zerfetzten Reste des Netzes, die er zertrümmert hatte. Diese waren nun nichts weiter als ein grünlicher verschmierter Fleck auf dem gelben Holz der Decksplanken.
Mit heiserer Stimme sagte Lawler: »Es hat genau wie ein altes Fischnetz ausgesehen und lag da ganz durcheinander in einem Haufen auf dem Deck. Vielleicht haben's diese Quallen raufgeschickt, damit es für sie Beute fängt. Struvin hat es mit dem Fuß angestoßen, und das Zeug hat ihn am Bein gepackt und …«
»Was? Was für einen Quatsch erzählst du mir da?« Delagard blickte wieder über Bord, dann auf Lawlers Hände und danach auf den verschmierten Fleck auf den Planken. »Meinst du das im Ernst? Etwas, das aussieht wie ein Fischnetz kam aus dem Meer an Bord und hat sich Gospo geholt?«
Lawler nickte.
»Das gibt's nicht. Irgendwer muss ihn rübergestoßen haben! Wer war es? Du, Lawler? Kinverson?« Delagard blinzelte mit den Augendeckeln, als wäre auch ihm klar, wie unwahrscheinlich das eben Gesagte sei. Dann blickte er Lawler und Kinverson fest an und sagte: »Ein Netz? Ein lebendes Netz ist aus der See raufgekrochen und hat sich Gospo geschnappt?«
Wieder nickte Lawler fast unmerklich mit dem Kopf. Langsam spreizte er die Hände und schloss sie wieder. Das Stechen ließ sehr langsam nach, aber er wusste, er würde es noch stundenlang fühlen. Er war am ganzen Leib wie betäubt, war benommen und durcheinander. Die ganze albtraumhafte Szene rollte in seinem Kopf wieder und wieder ab: Struvin bemerkt das Netz, stößt mit dem Fuß dagegen, verfängt sich darin, das Netz beginnt über die Reling zu fließen und zerrt Struvin mit …
»Nein«, murmelte Delagard. »Himmel, verdammt noch mal, ich kann es nicht glauben.« Kopfschüttelnd spähte er in die ruhige See hinab. Dann schrie er: »Gospo! Gospo!« Aus der Tiefe kam keine Antwort. »Verdammter Mist! Fünf Tage auf See, und schon einen Mann verloren? Das darf doch nicht wahr sein!« Er kehrte der Reling den Rücken zu, genau in dem Moment, da die restliche Schiffsbesatzung an Deck erschien: Leo Martello voran, dann Father Quillan und Onyos Felk, und dicht hinter ihnen die übrigen. Delagard kniff die Lippen zusammen, seine Wangen blähten sich. Das Gesicht war vor Bestürzung und Wut und Schock blutrot geworden. Das Ausmaß von Delagards Bekümmerung überraschte Lawler. Struvin war auf scheußliche Weise gestorben, aber schließlich gab es ja nicht viele angenehme Sterbearten. Und er hätte auch nie vermutet, dass Delagard sich einen feuchten Furz um irgendwas oder irgend jemanden kümmerte, außer um sich selber.
Der Reeder wandte sich zu Kinverson und fragte: »Hast du je von so was gehört?«
»Noch nie. Niemals nicht.«
»Ein Ding, das aussieht wie ein ganz gewöhnliches Netz«, wiederholte Delagard. »Ein vergammeltes altes Netz, das dich plötzlich anspringt und packt … Himmel, was ist das für eine Gegend! Was für eine verfluchte Gegend!« Und er schüttelte unablässig weiter den Kopf, als könnte er Struvin wieder aus der See herausschütteln, wenn er es nur lang und heftig genug durchhielt mit dem Kopfgewackle.
Dann wuchtete er sich herum und sprach zu dem Priester: »Father Quillan! Sagt uns ein Gebet auf, ja?«
Der Geistliche schaute betroffen drein. »Wie? Was?«
»Habt Ihr mich nicht gehört? Wir haben einen Mann verloren. Struvin ist fort. Irgendwas ist an Bord gekrochen und hat ihn ins Meer gezerrt.«
Der Pater blieb stumm. Er reckte die geöffneten Hände vor, als wollte er bedeuten, dass Sachen, die aus dem Ozean heraufgekrochen kommen, außerhalb seiner ekklesiastischen Kompetenz und Verantwortlichkeit lägen.
»Mein Gott, so sagt doch ein paar Worte! Sagt irgendwas!«
Father Quillan zögerte noch immer. Aus dem hinteren Bereich der Gruppe kam stockend eine flüsternde Stimme: »Unser Vater im Himmel – geheiligt sei DEIN Name …«
»Nein!«, unterbrach der Priester. Es klang, als erwachte er soeben langsam aus einem Schlaf. »Nicht das!« Dann befeuchtete er sich mit der Zungenspitze die Lippen und begann sehr stockend und verlegen: »Wahrlich, auch wenn ich durch das Schattental des Todes wandere, will ich kein Unheil fürchten, denn DU bist bei mir.« Father Quillan zögerte, befeuchtete sich erneut die Lippen und suchte offensichtlich nach weiteren frommen Worten. »DU hast mir ein Festmahl bereitet im Angesichte meiner Feinde … Und so sollen mich gewisslich Güte und Barmherzigkeit begleiten an allen Tagen meines Lebens …«
Pilya Braun trat zu Lawler, ergriff ihn an den Ellenbogen und drehte seine Handflächen nach oben, so dass sie die Feuermale sehen konnte. »Komm mit«, sagte sie leise. »Gehn wir runter, und du zeigst mir, welche Salbe ich dir da drauftun muss.«
In der kleinen Kabine voller Pülverchen und Tränklein sagte Lawler mit einer Kopfbewegung: »Das da drüben. Das Fläschchen dort.«
»Dies?« Pilya blickte ihn argwöhnisch an. »Das ist aber keine Salbe.«
»Das weiß ich. Träufle ein paar Tropfen in ein wenig Wasser und gib mir das zuerst. Danach die Salbe.«
»Was ist es denn? Ein Schmerzmittel?«
»Ja, ein Schmerzmittel.«
Pilya machte sich geschäftig daran, ihm die Droge zu mischen. Pilya war um die fünfundzwanzig, hatte goldene Haare, braune Augen, breite Schultern, kräftige Gesichtszüge, eine gutgeformte Brust und schimmernde olivdunkle Haut – eine attraktive kräftige Frau und – wie Delagard sagte – eine hart zupackende Arbeiterin. Und zweifellos kannte sie sich auf Schiffen aus. In Sorve hatte Lawler nie viel mit ihr zu tun gehabt; aber vor zwanzig Jahren hatte er ein paar Mal mit ihrer Mutter, Anya, das Bett geteilt, als er ungefähr so alt war, wie Pilya es jetzt war, und ihre Mutter damals eine schlanke Mittdreißigerin. Es war eine ziemlich dumme Geschichte gewesen, damals. Lawler bezweifelte, dass Pilya davon etwas wusste. Ihre Mutter war inzwischen tot, dahingerafft von einem Fieber nach dem Genuss von verdorbenen Austern, das war vor drei Wintern gewesen. Damals, als er das Verhältnis mit Anya hatte, war Lawler ziemlich heftig hinter den Weibern hergewesen – es war kurz nach dem Zusammenbruch seines einzigen Eheversuchs, der unter einem üblen Stern gestanden hatte. Aber seither hatte er sich schon ziemlich lange die Frauen vom Leibe gehalten, und in diesem Moment wünschte er sich, dass Pilya aufhören möge, ihn dermaßen bereitwillig und hoffnungsschwanger anzuglotzen, als wäre er die Erfüllung all dessen, was sie sich von einem Mann erwartete. Das war er nämlich nicht. Doch er war zu wohlerzogen – oder auch zu desinteressiert, um ihr das klarzumachen. Er wusste selber nicht, was von beidem zutraf.
Sie reichte ihm das Glas, das bis zum Rand voll von der rosafarbenen Flüssigkeit war. Seine Hände waren wie hölzerne Kloben, die Finger steif wie Stecken. Sie musste ihm beim Trinken helfen. Aber das Taubkrautdestillat begann sogleich zu wirken und nahm wie gewohnt die Bedrückung von seiner Seele, was angenehm war, und löste nach und nach die Schichten des Schocks nach dem grausigen Geschehen an Deck von ihm. Pilya nahm ihm das geleerte Glas aus den Händen und stellte es auf das Bord gegenüber seiner Koje.
Auf diesem Bord hatte Lawler seine Reliquien von der ERDE aufgestellt, sechs kleine Fragmente aus einer einst existierenden Welt. Pilya hielt inne und besah sie sich eingehend: die Münze, die Bronzestatuette, den Tonscherben, die Landkarte, die Schusswaffe, den Steinbrocken. Vorsichtig berührte sie die kleine Statue mit der Fingerspitze, als befürchte sie, sich zu verbrennen.
»Was ist das da?«
»Das kleine Abbild eines Gottes, aus einer Gegend, die Ägypten hieß. Das war damals auf der Erde.«
»Auf der Erde? Du hast Sachen von der Erde?«
»Familienerbstücke. Das da ist viertausend Jahre alt.«
»Viertausend Jahre? Und das da?« Sie nahm die Münze. »Was bedeuten die Schriftzeichen auf diesem Stückchen hellen Metalls?«
»Auf der Seite mit dem Frauengesicht steht: In God We Trust. Und auf der anderen Seite, wo der Vogel ist, steht United States of America, hier oben, und drunter Quarter Dollar.«
»Was bedeutet das ›Quarterdollar‹?«, fragte Pilya.
»Das war so eine Art Währung damals auf der Erde.«
»Und ›United States of America‹?«
»Ach, das war so eine Gegend.«
»Du meinst, eine Insel?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Aber ich glaub eher nein. Auf der Erde hatten sie keine Inseln, wie wir sie kennen.«
»Und dieses Tier da? Mit den Flügeln? Solche Tiere gibt es doch überhaupt gar nicht.«
»Auf der ERDE gab es sie schon«, antwortete er. »Man nannte sie Adler, und es war so eine Art Vogel.«
»Was ist das, ein Vogel?«
Er zögerte. »Etwas, das in der Luft fliegen kann.«
»So was wie ein Luftgleiter«, sagte sie.
»Ja, so ungefähr. Aber ich weiß es wirklich nicht.«
Pilya stupste nachdenklich die übrigen Artefakte an. Dann sagte sie sehr leise: »Die Erde … also hat es diesen Ort einmal wirklich gegeben.«
»Aber sicher hat es sie gegeben!«
»Ich war mir da nie sicher, ob es nicht vielleicht bloß so ein Märchen war.« Sie wandte sich um, lächelte ihm breit und kokett entgegen und hielt ihm die Münze hin. »Schenkst du mir das, Doktor? Ich find es hübsch. Und ich hätte gern was von der Erde, ein Ding, das ich festhalten kann.«
»Das geht nicht, Pilya.«
»Bitte? Bitte, willst du's mir nicht geben? Es ist so schön!«
»Aber es ist ein Familienerbstück, seit Hunderten von Jahren. Ich kann es wirklich nicht weggeben.«
»Du darfst es dir anschauen, wann immer du Lust dazu hast.«
»Nein«, wies er sie ab. Und zugleich dachte er darüber nach, für wen er denn diese paar Reliquien aufbewahren sollte. »Es tut mir leid. Ich wollte, ich könnte es dir schenken, aber es geht nicht. Diese Dinge kann ich dir nicht geben.«
Sie nickte ergeben, machte aber nicht den Versuch, ihre Enttäuschung zu verhehlen. »Die ERDE«, sagte sie noch einmal und ließ das geheimnisvolle Wort genüsslich auf den Lippen zergehen. »ERDE!« Dann legte sie den Vierteldollar wieder auf das Bord zurück. »Du wirst mir einmal sagen, was diese anderen Erdendinge sind, ein andermal. Aber es gibt da bei dir jetzt einiges zu tun, und das hätten wir beinahe vergessen. Die Salbe für deine Hände … wo ist die Salbe?«
Er zeigte es ihr. Sie drückte einen kleinen Strang aus der Tube. Dann drehte sie ihm erneut die Hände mit den Handflächen nach oben, wie sie das schon an Deck getan hatte, und schüttelte betrübt den Kopf. »Na, da schau dir das an. Du wirst Narben davon behalten.«
»Vielleicht auch nicht.«
»Dieses Zeug – es hätte auch dich über Bord zerren können.«
»Nein«, sagte Lawler. »Das konnte es nicht. Und hat nicht. Gospo war außerdem von Anfang an ziemlich dicht an der Reling, und es hat ihn erwischt, bevor er begriff, was ihm da passiert ist. Ich war einfach in einer besseren Position, mich dagegen zu wehren.«
Er sah die Furcht in den bezaubernden goldgesprenkelten Augen der jungen Frau.
»Wenn nicht diesmal, dann wird es uns beim nächsten Mal kriegen. Wir werden alle sterben, ehe wir unser Ziel erreichen, wo immer das liegen mag«, sagte sie.
»Aber nein. Nein, alles wird gut verlaufen.«
Pilya lachte. »Du siehst immer in allem irgendeine gute Seite. Aber das wird trotzdem eine schlimme, eine kummervolle, eine tödliche Reise werden. Wenn wir jetzt kehrtmachen könnten, wieder nach Sorve zurücksegeln könnten, Doktor, würdest du das nicht auch lieber tun?«
»Aber, Pilya, wir können doch nicht zurück. Das weißt du doch. Genauso könntest du davon reden, dass man umkehren und zur Erde zurückkehren sollte. Es gibt keine Möglichkeit, wie wir jemals Sorve wiedersehen könnten.«
ERSTER TEIL
Die Insel Sorve
In der Nacht war ihm die klare schlichte Überzeugung gekommen, dass er der vom Schicksal auserwählte Mann sei, der den Dreh finden konnte, durch den für die achtundsiebzig Menschen alles so sehr viel einfacher und besser werden würde, die auf der künstlichen Insel Sorve auf dem Wasserplaneten Hydros lebten.
Die Idee war verrückt, und Lawler wusste das. Aber sie hatte seinen Schlaf gestört, und keine seiner gewohnten Methoden schien dagegen zu helfen, nicht Meditation, nicht das Einmaleins, ja nicht einmal ein paar rosa Tropfen seines Tranquilizers aus Algendestillat, von dem er letzthin möglicherweise doch ein wenig zu abhängig wurde. Von kurz nach Mitternacht bis fast zum Morgengrauen lag er wach und schlug sich mit dieser seiner brillanten, heroischen verrückten Idee herum. Dann, bei noch dunklem Himmel in den frühen Morgenstunden und bevor sich irgendwelche Patienten einfinden würden, die ihm den Tag komplizieren und die Reinheit seiner plötzlichen neuen Idee trüben konnten, verließ Lawler den Vaargh nahe der Inselmitte, wo er allein lebte, und begab sich hinab zum Uferkai, um zu erkunden, ob es den Gillies während der Nacht tatsächlich gelungen war, ihr neues Kraftwerk in Gang zu setzen.
Wenn ja, wollte er sie überschwänglich dazu beglückwünschen. Er würde seinen ganzen Wortschatz der Zeichen- und Gestensprache einsetzen und ihnen sagen, wie tief beeindruckt er von ihrer ehrfurchtgebietenden technischen Meisterleistung sei. Er würde ein Loblied auf sie singen, sie preisen dafür, dass sie mit einem einzigen meisterhaften Streich die gesamte Lebensqualität – nicht nur auf Sorve, sondern dem ganzen Planeten Hydros – verändert hätten.
Und dann wollte er sagen: »Mein Vater, der große Doktor Bernat Lawler, an den ihr alle euch noch gut erinnert, hat diesen Augenblick vorausgesehen. ›Eines Tages‹, sagte er oft zu mir, als ich noch ein Junge war, ›werden unsere Freunde-die-Dwellers, die Inselsassen, eine stetige, zuverlässige Stromversorgung aufbauen. Und dann wird hier eine neue Ära beginnen, und die Sassen und die Menschen werden in herzlicher Eintracht zusammenarbeiten …‹«
Etcetera, etcetera. Er würde seine Lobsprüche geschickt verflechten mit dem nachdrücklichen Hinweis, wie unabdingbar das Zusammenleben in Harmonie der beiden Rassen sei, verflechten und sich nach und nach zu dem klaren Vorschlag durcharbeiten, Hydraner und Menschen sollten doch nun endlich die frühere abweisende Kühle aufgeben und im Namen eines weiteren gemeinsamen technologischen Fortschritts an einem Strang ziehen. Er wollte den geheiligten Namen des geliebten verstorbenen Dr. Bernat Lawler so oft wie möglich erwähnen, wollte sie daran mahnen, wie dieser zu seinen Lebzeiten unermüdlich mit seiner erstaunlichen ärztlichen Kunst dem Wohl und der Gesundheit von Sassen und Menschen gleichermaßen gedient hatte, nicht wenige Wunderheilungen vollbracht hatte, sich selbstlos für beide Inselrassen aufopferte – er würde immer dicker auftragen, bis die Luft vor Gefühlsüberschwang bebte und die Gillies, von der neugewonnenen interrassischen Liebe zu Tränen gerührt, freudig auf Lawlers beiläufig gemachten Vorschlag einsteigen würden, dass es ein guter Anfang wäre, wenn man die Neue Ära damit eröffnen würde, dass die Sassen den Menschen die Möglichkeit einräumten, das neue Kraftwerk so umzurüsten, dass es neben Elektrizität auch Trinkwasser produzieren könne. Und danach dann sein fundamentaler Vorschlag: Die Menschen würden die Meerwasser-Entsalzungs-Fabrik eigenständig entwerfen und errichten, den Kondensator, die Transportpipelines, kurz, das gesamte System … und es dann ganz in die Hände der Gillies übergeben … Hier habt ihr es, ihr braucht es nur anzuschließen. Es kostet euch gar nichts, und wir werden in Zukunft nicht länger auf das in den Zisternen gesammelte Regenwasser angewiesen sein. Und so werden wir fürderhin und in alle Zukunft die besten Freunde sein, ihr Sassen und wir Menschen …
Dies war die Phantasievorstellung, durch die Lawler aus seinem Schlaf gerissen worden war. In der Regel neigte er keineswegs dazu, sich auf derart realitätsferne Unternehmungen einzulassen. Seine jahrelange Praxis als Arzt – und auch wenn er nicht ein medizinisches Genie war wie sein Vater, so war er doch ein hart arbeitender und einigermaßen erfolgreicher Allgemeinpraktiker und leistete unter den gegebenen Umständen ziemlich viel – hatte ihn zum Realismus erzogen und zu einer recht pragmatischen Einstellung gegenüber fast allen Dingen. Dennoch war er in dieser Nacht irgendwie zu der Überzeugung gelangt, dass er das einzige Wesen auf der Insel sei, dem es möglicherweise gelingen konnte, diese Gillies, diese ›Kiemlinge‹, zu überreden, die Angliederung einer Meerwasser-Entsalzungsanlage an ihr Kraftwerk zu erlauben. Ja, er würde erfolgreich sein, wo alle anderen versagt hatten.
Eine recht kleine Chance, das wusste er. Doch in den frühen Morgenstunden neigen Chancen manchmal dazu, üppiger auszusehen als im klaren Licht des Vormittags.
Was es auf der Insel bislang an Elektrizität gab, stammte aus unhandlichen, wenig effizienten Chemobatterien, aus Säulen von Zink-Kupfer-Scheiben, getrennt durch in Sole getränkte Streifen aus Kriechkraut. Die Gillies – die ›Kiemlinge‹, ›Sassen‹, also die Hydraner, die dominante Spezies auf der Insel, beziehungsweise der Welt, auf der Lawler sein ganzes Leben zugebracht hatte – arbeiteten schon, soweit er sich erinnern konnte, an einer verbesserten Methode der Gewinnung von Elektroenergie, und nun endlich, so wenigstens dampfte es aus der Gerüchteküche im Ort, stand das neue E-Werk kurz vor der Fertigstellung und sollte ans Netz gehen heute oder morgen, aber ganz bestimmt nächste Woche! Und wenn den Gillies dies tatsächlich gelingen sollte, bedeutete das für beide Rassen eine einschneidende Veränderung. Die Kiemlinge hatten sich auch schon (allerdings wenig begeistert) bereit erklärt, den Menschen einen Teil der neuen Elektrizität zur Nutzung abzugeben, was nach jedermanns Ansicht grandios von ihnen war. Noch viel großartiger aber wäre es, jedenfalls für die achtundsiebzig Menschen, die auf der kleinen engen Insel Sorve ein karges Leben von minderer Qualität fristeten, wenn die Gillies sich erweichen ließen und den Menschen gestatteten, dass ihre Fabrik auch zur Wasserentsalzung benutzt werde, damit die Menschen nicht weiter auf die gnädige Willkür der sorvesischen Regenfälle angewiesen wären, was die Trinkwasserversorgung anging. Es musste schließlich auch den Kiemlingen einleuchten, dass für ihre menschlichen Metöken das Dasein unendlich viel leichter sein würde, wenn diese zuverlässig mit einer unbegrenzten Trinkwasserversorgung rechnen konnten.
Aber natürlich hatten die Gillies bisher noch durch nichts erkennen lassen, dass sie sich darüber Gedanken machten. Sie hatten noch nie besonderen Eifer bewiesen, dem Häuflein Menschen in ihrer Mitte irgendwelche Erleichterungen zu verschaffen. Trinkwasser war für Menschen lebensnotwendig, doch den Gillies konnte das piepsegal sein. Was Menschen möglicherweise brauchten, sich wünschten oder zu erhalten hoffen mochten, das berührte die Gillies nicht im geringsten. Und so war es denn die Vision gewesen, dass er – im Alleingang und durch seine Überzeugungskraft – das alles ändern könne, was Lawler in der verflossenen Nacht den Schlaf gekostet hatte.
Aber – zum Teufel damit! Wer nichts wagt, kann nichts gewinnen.
Lawler war in der Tropennacht barfuß und trug nur einen gelben Sarong aus Wasserlattichfasern um die Hüften. Die Luft warm und schwer, die See ruhig. Die Insel – dieses Geflecht aus lebendem, halb-lebendem und ehemals lebendem Gewebe, das auf der Oberfläche des weltumspannenden weiten Ozeans dahintrieb – schwankte nahezu unmerklich in der Dünung unter seinen Füßen. Wie alle bewohnten Inseln auf Hydros war auch Sorve ein wurzelloser, frei wandernder Herumtreiber und zog überall dorthin, wo ihn die Strömungen, die Winde und die gelegentlichen Flutwellen hintreiben mochten. Lawler spürte, wie die dichtverflochtenen Ruten des Bodens unter seinen Schritten nachgaben und sich dehnten, und er hörte die See wenige Meter weiter unten klatschen. Aber seine Bewegungen waren leicht und mühelos, und sein langer schlanker Körper passte sich automatisch dem schwankenden Rhythmus der Insel an. Es war für ihn etwas ganz Natürliches.
Die milde Nacht war allerdings trügerisch. Fast das ganze Jahr hindurch war Sorve alles andere als ein angenehmer Aufenthaltsort. Das Klima wechselte zwischen Heißtrocken- und sanft Nasskalten-Perioden, dazwischen nur ein kurzes sanft-sommerliches Zwischenspiel, wenn Sorve in milden feuchten Äquatorialbreiten dahintrieb … die kurze Illusion eines angenehmen, leichten Lebens. Und das war sie jetzt, die ›gute‹ Zeit im Jahr. Es gab Nahrung im Überfluss, und die Lüfte wehten süß. Die Inselbewohner genossen es. Der Rest des Jahres bedeutete eher einen Kampf ums Überleben.
Ohne Eile schritt Lawler um das Reservoir herum und über die Rampe zur Unterterrasse hinab. Von dort fiel die Insel sacht bis zum Ufer ab. Er kam an den verstreuten Gebäuden des Werftgeländes, von wo aus Nid Delagard sein maritimes Imperium regierte, und an dem Gewirr unbestimmt kugeliger Strukturen der Hafenfabriken, in denen Metall – Nickel, Eisen, Kobalt, Vanadium, Zinn – aus dem Gewebe von niederen Seegeschöpfen vermittels langsamer und ineffizienter Prozesse gewonnen wurde. Zwar konnte man kaum etwas deutlich sehen, doch nach vierzig Jahren auf dieser einen kleinen Insel bereitete es Lawler keinerlei Schwierigkeiten, sich auch im Dunkeln überall zurechtzufinden.
Der große zweigeschossige Schuppen, in dem das Kraftwerk eingerichtet wurde, lag direkt rechts in geringer Entfernung vor ihm dicht am Gestade. Er strebte in diese Richtung.
Noch war der Morgen nicht heraufgezogen. Das Firmament war noch tiefschwarz. In manchen Nächten funkelte Sunrise, der Bruderplanet von Hydros, wie ein großes blau-grünes Auge im Himmel, doch in dieser Nacht stand Sunrise auf der anderen Seite des Planeten und verstrahlte sein helles Licht über die unerforschten Gewässer der anderen Hemisphäre. Allerdings, einer der drei Monde war sichtbar, als winziger scharfer weißer Lichtpunkt dicht über dem östlichen Horizont. Und natürlich schimmerten überall die Sterne, eine Kaskadenflut von glitzerndem Silberstaub, eine allumfassende Puderschicht von Helligkeit. Diese Myriaden Haufen ferner Sonnen bildeten einen sinnverwirrenden Hintergrund für die eine und einzige gewaltige Konstellation in der Nähe, das hellstrahlende Hydros-Kreuz – zwei flammende Sternketten, die einander rechtwinklig kreuzten, ein doppelter Lichtgürtel, einmal von Pol zu Pol, und der andere rund um den Äquator.
Lawler sah in diesem Hydros-Kreuz seine heimatlichen Gestirne, denn es waren die einzigen Sterne, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er war ein echter Hydraner … in der Fünften Generation. Nie war er auf einem anderen Planeten gewesen und würde auch niemals einen besuchen. Und die Insel Sorve war ihm so vertraut wie seine eigene Körperhaut. Und trotzdem stolperte er zuweilen ohne Vorwarnung in bestürzende Zustände der Verwirrung, während derer sich das Gefühl der Vertrautheit vollkommen auflöste und verschwand und er sich hier wie ein Fremdling vorkam: Tage, an denen er glaubte, er sei gerade erst auf Hydros angekommen, als wäre er vom Himmel gestürzt wie eine Sternschnuppe, ein Ausgestoßener aus seiner wahren, weit entfernten Heimat. Manchmal sah er im Geiste seine verlorene Mutterwelt leuchten, die ERDE, hell wie ein Stern, und auf ihr die riesigen Landmassen inmitten der großen blauen Meeregolden-grün, die ›Kontinente‹ genannt wurden … und dann dachte er: Dort bin ich zuhaus, dort ist meine wahre Heimat. Lawler fragte sich oft, ob auch manche von den anderen Menschen auf Hydros jemals hin und wieder von ähnlichen Gefühlen befallen wurden. Wahrscheinlich schon, aber niemand redete jemals darüber. Sie waren ja schließlich allesamt hier ›Fremde‹, und diese Welt gehörte den Gillies. Er und alle Seinesgleichen waren hier nichts weiter als uneingeladene Gäste …
Nun war er am Gestade angelangt. Das altvertraute grobe, seiner Textur nach wie alles auf dieser künstlichen Insel ohne Erdkrume und Vegetation holzähnliche Geländer schmiegte sich unter seine Hand, als er zum Uferwall hinaufkletterte.
Hier veränderte sich die Topographie der Insel, die von der künstlichen Erhebung im Zentrum graduell bis zum darum herum gelagerten Meeresbollwerk abgefallen war, abrupt, und der Boden wölbte sich nach oben und bildete einen Meniskus, einen halbmondförmigen Rand, der den inneren Straßen Schutz bot, außer gegen die allerschwersten Sturmfluten. Hier fasste Lawler das Geländer und lehnte sich nach vorn über das dunkle schmatzende Wasser hinaus, als wolle er sich dem allumschlingenden Ozean zum Opfer anbieten.
Trotz der Dunkelheit besaß er ein klares Bild von der komma-förmigen Inselgestalt und seiner exakten Position am Ufer. Von einer Spitze zur anderen war die Insel acht Kilometer lang, ihre größte Breite betrug etwa einen Kilometer, gemessen vom Rand der Bucht bis zur Spitze des hinteren Bollwerks gegen die offene See. Lawler stand fast im Mittelpunkt der inneren Krümmung der Bucht. Rechts und links von ihm ragten die zwei gebogenen Inselarme hinaus, der rundlichere Teil, den die Gillies bewohnten, und der schmalere zugespitzte Sporn, auf dem dichtgedrängt das Häufchen Menschen hauste.
Direkt vor ihm lag umschlossen von diesen zwei ungleichen Landzungen die Bucht, das lebendige Herz der Insel. Die gillianischen Erbauer der Insel hatten hier einen künstlichen Boden errichtet, ein Unterwasserschelf aus Holzkelp in Verbundbauweise, das von Arm zu Arm an der Insel befestigt war, so dass sich eine konstante flache, fruchtbare Lagune vor ihr bildete, sozusagen ein privater Teich. Die ungezähmten bedrohlichen Räuber, die im offenen Meer ihr Unwesen trieben, kamen niemals in diese Bucht; möglicherweise hatten die Gillies vor langer Zeit einen Vertrag mit ihnen geschlossen. Ein Geflecht schwammiger bodenbedeckender Nachtalgen, die ohne Licht auskommen konnten, verbanden die Unterseite des Buchtgrundes fest und schützten und erneuerten sie durch ihr stetiges unbeirrbares Wachstum dauerhaft. Darüber lagen Sande, die von Stürmen vom gewaltigen unerforschten Ozeanboden weit draußen herangespült worden waren. Darüber erhob sich ein Dschungel von hundert oder mehr nutzbaren Meerespflanzen, zwischen denen allerlei Seegetier umherschwamm. Verschiedenartige Schalentiere besetzten die tieferen Bereiche, filterten das Meerwasser durch ihr weiches Gewebe und sammelten dabei wertvolle Mineralien an, welche die Insulaner verwerten konnten. Zwischen ihnen lebten frei schwimmende maritime Würmer und Schlangen. Rundliche und schlanke Fische weideten dort. Lawler sah in eben diesem Augenblick eine Herde riesenhafter phosphoreszierender Meerestiere sich da draußen tummeln und Wellen bläulich-violetten Lichts pulsen: die großen als ›Mäuler‹ bekannten Tiere, oder vielleicht auch die sogenannten ›Plattformen‹, es war noch zu dunkel, sie zu unterscheiden. Und jenseits des hellgrünen Wassers der Bucht lag der weite Ozean und wogte bis an den Horizont und darüber hinaus und hielt die ganze Welt in seinem Griff, eine behandschuhte Hand, die einen Ball umfängt. Wie Lawler so hinausstarrte, spürte er wie immer die unermessliche Wucht und Kraft und Schwere des Ozeans.
Er betrachtete das Kraftwerk, das isoliert und massig auf dem kleinen stumpfnasigen Kap hockte, das sich in die Bucht vorschob.
Tatsächlich waren sie natürlich nicht mit dem Bau fertig geworden. Die klobige Struktur, gegen den Regen von Festons geflochtenen Strohmatten geschützt, lag noch immer dunkel und still da. Davor bewegten sich schattenhafte Gestalten. Die hängeschultrigen Silhouetten waren unverkennbar gillianisch.
Das Kraftwerk sollte aus dem Temperaturgefälle der See Elektrostrom erzeugen. Dann Henders, der als einziger Mensch auf Sorve überhaupt etwas von Technik verstand, hatte es Lawler erklärt, nachdem er einem der Kiemlinge eine bruchstückhafte Projektbeschreibung entlockt hatte. Durch Schrauben wurde dabei warmes Oberflächenwasser aus der See hereingepumpt und gelangte in eine Vakuumkammer, in welcher sich der Siedepunkt beträchtlich verringerte. Das heftig kochende Wasser sollte sodann Dampf von geringer Dichte abgeben, durch den die Turbinengeneratoren betrieben wurden. Daraufhin sollte kaltes Meerwasser, das aus den tieferen Schichten vor der Bucht herangepumpt wurde, den Dampf wieder zu Wasser kondensieren, das dann durch Abflüsse am anderen Ende der Insel wieder ins Meer gelassen werden sollte.
Die Gillies hatten praktisch das Ganze – die Röhren, Pumpen, Ventilatoren, Turbinen, Kondensatoren und die Vakuumkammer selbst – aus den unterschiedlichen Organoplastikmaterialien hergestellt, die sie aus den Rohstoffen von Algen und anderen Wasserpflanzen produzierten. Anscheinend hatten sie bei der Konstruktion kaum Metalle verwendet, was angesichts der schwierigen Metallgewinnung auf Hydros nicht besonders überraschen konnte. Und das Ganze war sehr einfallsreich, besonders wenn man bedachte, dass die Gillies mit Technologie wenig an den Kiemen hatten, jedenfalls verglichen mit anderen intelligenten Spezies der Galaxis. Irgendein aus der Art geschlagenes Genie unter ihnen war wohl auf den Gedanken gekommen. Aber Genialität her oder hin, es ging das Gerücht, dass es erbärmlich lang dauerte, bis sie die Sache funktionabel hinkriegen würden, und noch habe das Werk ja nicht einmal ein erstes Watt produziert. Und die meisten unter den Inselmenschen zweifelten daran, dass dies je der Fall sein werde. Wahrscheinlich, überlegte Lawler, hätte sich die Geschichte für die Gillies ziemlich vereinfachen und beschleunigen lassen, wenn sie Dann Henders oder sonst einen technisch-orientierten Menschen in den Planungsstab zugezogen hätten. Aber natürlich hatten die Gillies eben keineswegs die Gewohnheit, sich bei den unwillkommenen Fremdlingen, mit denen sie widerwillig ihre Insel teilten, Rat und Hilfe einzuholen, selbst dann nicht, wenn es ihnen selbst zum Vorteil gereicht hätte. Eine Ausnahme hatten sie nur gemacht, als eine Epidemie von Finnenauszehrung ihre Nachkömmlinge zu dezimieren begann und Lawlers heiligmäßiger Vater ihnen mit einem Impfstoff zu Hilfe kam. Doch das war vor vielen Jahren geschehen, und was immer die Leistung des verstorbenen Dr. Lawler an Goodwill und Freundschaftsgefühlen gezeugt haben mochte unter den Gillies, war längst schon und ohne sichtliche Sedimentrückstände verdunstet.
Dass das E-Werk offenbar noch immer nicht in Betrieb war, bedeutete für Lawlers grandiosen Plan, der ihm in dieser Nacht gekommen war, gewissermaßen einen Rückschlag.
Was sollte er jetzt tun? Hingehen und trotzdem zu den Kiemlingen reden? Ihnen die beabsichtigte floskelstrotzende Ansprache halten, sie mit erhaben tönender Rhetorik einseifen, dem nächtlichen Impuls bis zum Ende nachgehen, ehe der anbrechende Tag ihn jeglichen Quäntchens von Plausibilität beraubte?
»Im Namen der gesamten Humangemeinschaft auf der Insel Sorve möchte ich – wie ihr wisst, der Sohn eures geliebten Dr. Bernat Lawler, der euch während der Finnseuchen-Epidemie so selbstlos gedient hat – euch aus vollstem Herzen gratulieren zu der Vollendung eures genialen und wundervoll nützlichen …«