Capulon IV ist eine in ihren Traditionen erstarrte Welt. Kronprinz Joakal soll nach seinem 30. Geburtstag zum Absolutus, zum gottgleichen König, gekrönt werden. Der junge Herrscher allerdings plant durchgreifende Reformen. Er will drakonische und antiquierte Gesetze abschaffen. Und er hat die Aufnahme seines Planeten in die Föderation beantragt.
Captain Jean-Luc Picard erhält den Auftrag, das endgültige Abkommen zu unterzeichen. Mit auf der Enterprise reisen zwei Ordensschwestern nach Capulon IV: Mutter Veronica und Schwester Juliana. Sie sollen sich dort um den Aufbau von Kinderheimen kümmern. Doch Mutter Veronica kann in der fremden Umgebung ihre ungeliebten telepathischen Fähigkeiten kaum unter Kontrolle halten.
Plötzlich scheint Joakal einen Rückzieher machen zu wollen: Er findet Ausflüchte, hält den Captain hin. Und als dann Picard, Counselor Troi und Mutter Veronica auf den Planeten hinabbeamen, erwartet sie eine böse Überraschung …
Über das Buch
Zitate
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
REBECCA NEASON
DER KRONPRINZ
Star Trek™
The Next Generation
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Darum der Berufene also:
… Er verachtet schwer erlangbare Güter,
Er lehrt die Nichtgelehrtheit,
Er wendet sich dem zu,
Woran die Menschen vorbeigegangen sind …
… Sein und Nichtsein einander erzeugen.
Schwierig und Leicht einander zustande bringen.
Hoch und Nieder einander verkehren …
LAO-TSE: Tao-Te-King
Herr, mache mich zum Werkzeug Deines Friedens.
Wo Hass ist, lass mich Liebe säen.
Wo Zwietracht, da Vergebung.
Wo Zweifel, da Glauben.
Wo Verzweiflung, da Hoffnung.
Wo Finsternis ist, dort Licht …
FRANZ VON ASSISI
Es ist logisch, dass man Frieden anstrebt. Bevor man Frieden erringen kann, muss man die Beherrschung der eigenen Leidenschaft erlernen. Um die Herrschaft über die Emotionen zu erlangen, muss man zuvor die vielerlei Schimären des Geistes durchschauen …
SURAK vom Planeten Vulkan
Der junge Lieutenant auf der Transporterplattform starrte Troi aus nervösen, furchtsamen Augen, an.
»Es geht alles gut, Geoff«, beteuerte die Counselor, indem sie in ihren Tonfall mehr Zuversicht einfließen ließ, als sie wirklich empfand. Samantha Tuttle, die neue Transporterchefin, die an den Kontrollen stand, stieß ein Räuspern aus.
»Die Starbase sendet das Bereitschaftssignal, Counselor«, sagte sie zu Troi.
»Danke, Transporterchefin«, antwortete Troi, ohne den Blick von ihrem transferbereiten Patienten zu wenden. »Dr. Fletcher wartet schon auf Sie, Geoff«, erklärte sie ihm. »Alles ist arrangiert worden. In sechsunddreißig Stunden trifft die Skylark ein, mit der Sie nach Beta Arkturus heimfliegen können. Dr. Fletcher begleitet Sie. Er hat eine Kopie Ihrer Krankenakte. Die Ärzte in der Klinik sind auf Sie vorbereitet. Sie haben es fast geschafft.«
Trotzdem verminderte das Grauen in den Augen des jungen Mannes sich nicht im geringsten. Seine Zunge fuhr über die trockenen Lippen. Er rang um eine Antwort.
»Vielen Dank«, brachte er schließlich hervor. »Ich bedaure, dass ich … Ich war ein schlechter Patient.«
Troi schenkte ihm ihr gelungenstes professionelles Lächeln. »Sie sind ein einsichtiger Patient gewesen. Vergessen Sie nicht, es gibt keine Wunderheilungen. Alles braucht seine Zeit.«
Der Lieutenant nickte. Troi ging auf Abstand und trat zu Transporterchefin Tuttle, die noch auf das Zeichen zur Betätigung der Transporterkontrollen wartete.
»In ein paar Tagen sind Sie zu Hause, Geoff. Sind Sie soweit?«
Noch einmal nickte der Lieutenant. Troi berührte Tuttles Arm. Die Hände der Transporterchefin bewegten sich über die Schaltflächen. Ein Summen ertönte, Helligkeit strahlte; die Gestalt des Lieutenants löste sich auf.
»Leben Sie wohl, Geoff«, wünschte Troi ihm leise, als er verschwand. »Viel Glück für die Zukunft.«
»Die Starbase signalisiert, dass Lieutenant Salah angekommen ist«, teilte Tuttle der Counselor mit.
Troi sah sie an und lächelte matt. Dann wandte sie sich ab. Nun konnte die Counselor nur noch in ihr Quartier zurückkehren und ihre Aufzeichnungen um den letzten Vermerk über Lieutenant Salahs ergänzen.
Troi verließ den Transporterraum. Crewmitglieder grüßten sie, während sie den Korridor hinab zum Turbolift schlenderte. Sie nickte ihnen zu; aber eigentlich bemerkte sie sie nicht so richtig. Momentan war ihr Verhalten rein reflexmäßig und professionell geleitet; es stand in keinem Zusammenhang mit ihren Gedanken, die unverändert Geoff Salah galten. Sie hatte noch den Ausdruck kaum beherrschter Panik vor Augen, der sich im Laufe der vergangenen Wochen in seinem Gesicht festgefressen hatte.
Troi hatte immer gewusst, dass Starfleets Psycho-Profile keinen Anspruch auf Vollkommenheit stellen konnten, und sich damit abgefunden. Doch selbst in ihrem latenten Stadium hätte Salahs Phobie diagnostiziert werden müssen, überlegte sie zum hundertsten Mal, als sie den Turbolift betrat. Sie nannte dem Bordcomputer ihr Ziel.
Geoff Salah hätte nie an Bord eines Raumschiffs geschickt werden dürfen. Dennoch hatte man es getan. Und sie hätte fähig sein müssen, ihm zu helfen. Sie hatte versagt, und das schmerzte sie bitterlich.
Troi gelangte zu ihrem Quartier und ging hinein. Leise schloss sich hinter ihr die Tür. Erst jetzt ließ sie ihre Fassade professioneller Gelassenheit fallen. Ihre Schultern sackten abwärts, indem sie sich rücklings an die Wand lehnte, die Lider sanken ihr herab. Für einige wenige, kurze Augenblicke ähnelte Deanna Trois Haltung der Gestalt von Atlas, den die Last der ganzen Welt niederbeugte.
Zu guter Letzt nahm sie einen tiefen Atemzug und straffte die Schultern. Sie hatte noch mehr Arbeit zu bewältigen.
Die Counselor setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie drückte am Computerterminal eine Taste, schaltete den Apparat auf vocoderfreien Aufzeichnungsmodus; momentan mochte sie nicht einmal die angenehme Sprachprozessorstimme des Computers hören.
»Ergänzung zum Logbuch der Counselor«, fing sie an, »Sternzeit 45741.9. Wir haben gerade einen sechsstündigen Aufenthalt bei Starbase 212 beendet und die Passagiere an Bord genommen, die mit uns nach Capulon IV fliegen. Zudem ist hier …« Troi verstummte und atmete ein zweites Mal tief durch.
»Einer meiner Patienten hat das Raumschiff verlassen. Aufgrund meiner Empfehlung hat Lieutenant Geoff Salah unbegrenzten Krankenurlaub und die Erlaubnis zur Rückkehr auf seinen Heimatplaneten erhalten. Es ist unwahrscheinlich, dass er je wieder auf einem Raumschiff tätig sein kann.«
Troi lehnte sich in den Sessel und schloss noch einmal die Augen. Sie fühlte sich gründlich ausgelaugt. Lieutenant Salahs plötzlich ausgebrochene Phobie hatte sein Leben ruiniert und ihn beinahe völlig um den Verstand gebracht. Trois wochenlange Bemühungen, ihm dabei zu helfen, dagegen anzukämpfen, hatten sie nachhaltig erschöpft.
Bei jeder therapeutischen Sitzung hatte seine wachsende Paranoia Trois Hirn härter bedrängt. Während die Anzeichen seiner Phobie sich häuften, hatte Troi selbst Angstzustände und Schlaflosigkeit, Konzentrationsmangel und bedrückende, wahnhafte Ahnungen nahen Unheils zu erdulden gehabt – ein empathisches Echo von Salahs Symptomen.
Sie war nicht einmal dazu in der Lage gewesen, Salah zu versichern, seine Ängste und Befürchtungen seien grundlos. Dass die Enterprise durchs Vakuum flog, so wie jedes Raumschiff, war die Realität. Die mit einem solchen Flug verbundenen Gefahren waren zu viele, als dass man sie alle hätte aufzählen können: Systemfehler, Lecks infolge Asteroideneinschlags oder feindlichen Feuers, unbekannte und manchmal feindselige Lebensformen, Ionenstürme, Novae und Supernovae und tausend sonstige Risiken. Sie gaben die Bedingungen ab, die man schlichtweg akzeptieren musste, wenn man sich für den Starfleet-Dienst entschied. Sie gehörten mit zum Abenteuerlichen der Raumfahrt.
Und genau sie waren die Begleitumstände, die Lieutenant Geoff Salah nicht mehr verkraften konnte.
Erneut verfolgte Troi der gespenstische Anblick seines gequälten, furchtgeplagten Gesichts. Gleich darauf überschwemmte eine weitere Woge abgrundtiefer Müdigkeit die Counselor. Niedergeschlagenheit kroch ihr mit ersten, noch hauchfeinen Fühlern ins Hirn.
Troi beendete die Aufzeichnung. Sie konnte sie später, wenn sie wieder besser mit sich selbst im reinen war, jederzeit ergänzen. Die Counselor atmete gründlich durch und danach langsam aus; dann rief sie an ihrem Terminal die Terminplanung des Nachmittags auf.
Die nächste, schon in wenigen Minuten fällige Sitzung sollte mit Bio-Tech Theodore Aske und Roberta Plummer, Leiterin des geowissenschaftlichen Labors, stattfinden. Sie betraf lediglich eine freiwillige voreheliche Beratung. Trois Lippen verzogen sich zu einem schwachen, nur andeutungsweisen Lächeln. Sie war darüber froh, dass ihr nun nichts Schwierigeres bevorstand. Bei den drei bisherigen Gesprächen mit Aske und Plummer hatte nichts darauf hingewiesen, dass sie etwas anderem als einer langen, glücklichen Ehe entgegensehen müssten.
Doch sobald sie den darauffolgenden Namen der Liste las, widerspiegelten Trois dunkle Augen neue Sorgen. Fähnrich Johann Marshall. Auch ihn hatte sie durch einen schweren Leidenszustand zu begleiten: Kummer, Schuldgefühle und Verbitterung.
Vor einem Monat hatte Marshall die Nachricht vom Tode seines Vaters erhalten und sich um Trost an Troi gewandt. Seither hatten seine düsteren, negativen Emotionen alle Beratungssitzungen mit ihm geprägt. Marshall leugnete, irgend etwas anderes als Verlust und Trauer zu empfinden. Oft saß er in Trois Büro nur da und sprach kaum ein Wort. Dann erfüllten die Emanationen seiner finsteren, grüblerischen Gefühle die Räumlichkeit und durchbebten Trois Bewusstsein.
Sie hätte sich mental abschirmen, eine undurchdringlich feste, geistige Mauer um ihr empathisches Talent errichten können. Aber sie erduldete diese Emanationen. Andernfalls müsste sie mit der Möglichkeit rechnen, irgendeinen wichtigen Hinweis darauf zu übersehen, weshalb die Selbstvorwürfe des Fähnrichs stärker als seine Trauer ausfielen. Bevor er diese Tatsache offen anerkannte, gab es für ihn keine Aussicht auf Heilung.
Im Fall Marshall wollte sie keinesfalls zu scheitern. Darum ließ sie ihre Empathie ungeschützt.
»Und wer hilft der Counselor?«, fragte sie laut, während sie aufstand und ihren Körper in die Haltung optimistischer Professionalität brachte: Schultern zurück, Brust nach vorn, Kinn erhoben. Gleichzeitig stellte sie sich mental darauf ein, ihr Büro aufzusuchen und energisch die restlichen Aufgaben des heutigen Tages zu erledigen.
Der an ihre Uniform geheftete Insignienkommunikator piepste. Leicht berührte sie ihn mit der Hand. »Hier Troi«, meldete sie sich.
Die Kom-Frequenz übertrug die wohlklingende Stimme Captain Picards. »Counselor, morgen Abend um neunzehn Uhr veranstaltete ich einen Empfang, um unsere Gäste an Bord zu begrüßen. Falls Sie keine anderen Pläne haben, wäre ich erfreut, wenn Sie auch teilnehmen.«
Allzeit bereit, das ist mein Schicksal, schoss es Troi durch den Kopf. Sie wusste, der Captain erwartete von ihr, dass sie sogar bei einem harmlosen geselligen Zusammensein wie einem Empfang die Emotionen der Anwesenden sondierte. Er verstand einfach nicht, wie viel er von ihr verlangte; niemand auf der Enterprise konnte nachvollziehen, wie sehr diese andauernd praktizierte Sensitivität die Counselor strapazierte.
Sie versuchte, sich nichts von ihren Gedanken anmerken zu lassen, als sie dem Captain antwortete. »Danke, Sir«, sagte sie lediglich. »Ich werde da sein.«
Picard trennte die Verbindung. Troi strebte zur Tür, die lautlos vor ihr aufglitt. Die Counselor beschloss, sich am heutigen Abend ihrer bevorzugten Eigentherapie zu widmen. Sobald sie dienstfrei hatte, wollte sie schnurstracks in den Gesellschaftsraum des zehnten Vorderdecks gehen und sich von Guinan den größten Schokoladen-Milcheisbecher der Galaxis servieren lassen …
Auf der Kommandobrücke fühlte Captain Jean-Luc Picard sich gerade einmal äußerst zufrieden mit seinem Leben, während er sich im Kommandosessel bequem zurechtsetzte. Seine Passagiere, Angehörige des Ordens der Kleinen Mütter, waren bemerkenswerte Individuen: Mitglieder einer jahrhundertealten konfessionellen Organisation. Picard war bekannt, dass zahlreiche Zeitgenossen, selbst wenn sie das Wirken der Kleinen Mütter respektvoll anerkannten, religiöse Verbände als anachronistisch erachteten.
Picard war gegenteiliger Meinung. Als Kenner der Geschichte blieb er sich stets deutlich der Rolle bewusst, die Religion bei der Ausbreitung der Zivilisation gespielt hatte.
Gleichzeitig war er ein zu ehrlicher Laienforscher, um die vielen Gräuel, die im Namen der Religion verübt worden waren, zu übersehen oder abzustreiten. In der irdischen Geschichte war dergleichen allzu oft vorgekommen, ähnlich wie auch auf fremden Welten und manchmal sogar häufiger als andernorts. Doch waren es religiöse Organisationen gewesen, die in finsteren geschichtlichen Epochen das Licht des Rechts und des Lernens, den Kern der Zivilisation, bewahrt hatten; ohne sie wäre dies Licht vielleicht erloschen.
Die Kleinen Mütter blickten auf eine Geschichte zurück, die man als beispielhaft für das einstufen mochte, was religiöse Ordensgemeinschaften sein sollten und konnten. Schon als Schulbub hatte Picard von ihnen erfahren; seitdem hatte ihnen seine Bewunderung gegolten. Im Verlauf der Jahre hatte er immer auf Erwähnungen des Ordens geachtet, sowohl in Geschichtstexten wie auch in aktuellen Kommuniqués der Föderation.
Der Einsatz der Kleinen Mütter zugunsten der unerwünschten Kinder der Galaxis – ohne Berücksichtigung ihres körperlichen oder geistigen Zustands, der Herkunft oder des Heimatplaneten – genoss legendäres Ansehen und lieferte ein inspirierendes Vorbild. Picard freute sich darauf, einige von ihnen seiner Besatzung vorstellen zu können – und seine Crew, auf die er zu Recht stolz war, den Vertreterinnen der Kleinen Mütter.
Picard drehte sich um und sah, dass sein Erster Offizier ihn beobachtete. »Ihre Miene erinnert mich an die alte Redensart von der Schlange und dem Kaninchen«, sagte Riker. Ein Lächeln umzuckte seine Mundwinkel.
»Tja, Nummer Eins, ich bin wirklich sehr angetan … Sowohl von unseren Passagieren wie auch von unserem neuen Auftrag.«
»Trotzdem kapiere ich daran eine Kleinigkeit nicht, Captain«, gestand Riker. »Wir fliegen nach Capulon IV, um das endgültige Abkommen zwischen diesem Planeten und der Föderation zu unterzeichnen …«
»Ja.«
»Und warum nehmen wir zwei Nonnen mit?«
Einen Moment musterte Picard den Ersten Offizier; dann verzog er den Mund zu einem ansatzweisen, rätselhaften Schmunzeln.
»›Ein Mann, der seinem Traume folgt vor allen Dingen
Vermag wohl eine Krone kühn sich zu erringen;
Und Männer drei, bekränzt mit neuen Liedes Laub,
Die treten nieder ein Reich gar in den Staub.‹«
»Wie, Captain?«
»Ich habe das Gedicht eines irischstämmigen Poeten des neunzehnten Jahrhunderts namens O'Shaugnessy zitiert. Es bedeutet, dass eine kleine Gruppe von Individuen mit Weitblick und Entschlossenheit Geschichte machen oder ihren Lauf bestimmen kann. Nach dem, was ich über den jungen Monarchen auf Capulon IV gelesen habe, bin ich der Ansicht, er ist so ein Individuum. Ich vermute, Nummer Eins, der König hat vor, mit Hilfe dieser Nonnen kein Reich ›in den Staub‹ zu treten, sondern ein Reich aufzubauen.«
Joakal I'lium, König von Capulon IV, schritt zu seinen Gemächern im dritten Stockwerk des Palastes. Er bewegte sich auf eine unbekümmerte, raumgreifende Weise, die erkennen ließ, dass er im Leben kaum Hindernisse kannte.
Gekleidet war er in die Farben der Adelssippe I'lium. Ein langes, karmesinrotes Gewand mit weiten Ärmeln, goldenen Knöpfen und goldgelber Schärpe verlieh seinen schmalen Schultern Breite; die lockere, ebenfalls karmesinrote, in Knöchelhöhe in die Stiefel geschobene Hose ließ seine mittelgroße Erscheinung etwas höher wirken. Nach der Mode junger Männer trug er das schwarze Haar lang und nach hinten gekämmt. Strähnen des Kopfhaars umspielten den Stehkragen des Gewands sowie den gestutzten Kinn- und Schnauzbart, der die vornehmen Umrisse seiner Lippen verbarg. Dank der Frisur sah er jünger als seine neunundzwanzig Jahre aus.
Ihn begleitete Aklier, ein Mitglied des Ältestenrats. Er hatte eine Kleidung gleichen Schnitts an, aber im Orange und Braun seiner Adelssippe; zusätzlich hatte er die bis zum Knie reichende, ärmellose Männer-Langweste übergestreift.
Aklier war kleiner und stämmiger als Joakal. Im Alter von siebenundsechzig Jahren war die männlich-stolze Haltung, die man Joakal ansah, längst aus Akliers Gebaren verschwunden. Er hatte gebeugte Schultern; seine Schritte federten nicht mehr so auf dem Boden wie in früheren Zeiten. Haar und Bart zeichneten sich durch das dunkle Silbergrau ehemals schwarzen Haarwuchses aus. Obwohl der Vollbart viele der Falten in Akliers Gesicht verdeckte, wusste er selbst, dass es diese Falten gab; und er war sich darüber im Klaren, dass sie sich mit jedem verstreichenden Jahr tiefer eingruben.
Während die zwei Männer Seite an Seite den Korridor entlangschritten, dröhnten ihre Stiefel dumpf auf dem Steinboden. Das Geräusch durchdrang die Stille der späten Stunde. Joakal beachtete es kaum; ebenso wenig befasste er sich in Gedanken mit seinem Begleiter. Seine Überlegungen galten den Einzelheiten der bevorstehenden Krönung sowie der anschließenden Erfüllung seiner seit langem gehegten Träume und Pläne.
Seit neun Jahren, also seit dem Tod seines Vaters und der Thronbesteigung, fungierte Joakal als Vorsitzender des Ältestenrats. So sah es bei seinem Volk der Brauch vor. Nun erwartete ihn in Kürze die Reifeweihe. In siebenundzwanzig Tagen wurde er dreißig Jahre alt; und drei Tage danach sollte er zum Absolutus gekrönt werden.
Im Verlauf der vergangenen neun Jahre hatte Joakal immerzu von den Wandlungen geträumt, die er für sein Volk zu erwirken gedachte. In diesen und etlichen vorherigen Jahren hatte er sich in die Gesetze und die Historie des Volkes vertieft und Pläne geschmiedet. Noch verfolgte er seine Absichten nur im geheimen; denn ihre Verwirklichung verlangte eine neue Auslegung althergebrachter Maßgaben und eine neuartige Betrachtungsweise. Solche Vorstellungen konnte er erst als Absolutus durchsetzen.
Bald durften seine Träume wahr werden. Spätere Zeiten würden ihn als Joakal den Gerechten kennen, als Joakal den Gesetzgeber.
Und er hatte noch ein großes Ziel: die schöne Elana, seine geliebte Elana. Den letzten Monat vor seiner Krönung verlebte sie auswärts, in ihrem Elternhaus; dort wollte sie darüber Klarheit finden, ob sie ihn heiraten oder in den Tempeldienst eintreten wollte. Auf alle Fälle hatte sie versprochen, am Tag der Krönung zurückzukehren und ihm ihre Entscheidung mitzuteilen.
Sie wird mich heiraten, dachte Joakal. Sie muss es. Joakal liebte sie zu sehr, als dass für ihn überhaupt etwas anderes in Frage kam. Ihr allein hatte Joakal bisher seine vielen Träume und Pläne anvertraut. Sie allein auf dem ganzen Planeten wusste, welche konkreten Maßnahmen er schon eingeleitet hatte, um einen ersten Traum zu verwirklichen. Sie würde an seiner Seite stehen, wenn er seine Antrittsrede hielt. Sie sollte an seiner Seite herrschen; gemeinsam könnten sie diese Welt in ein neues, ein goldenes Zeitalter führen.
Der junge König wandte sich an seinen Begleiter. »Haben Sie inzwischen eine Nachricht von dem Föderationsraumschiff erhalten?«, erkundigte er sich. »Dürfen wir sicher sein, dass es pünktlich eintrifft?«
»Wir haben keine Botschaft des Schiffs erhalten«, gab Aklier zur Antwort. »Andernfalls wären Sie unterrichtet worden. Aber ich bin der Überzeugung, dass es rechtzeitig ankommt.«
»Stellen Sie sich das alles einmal vor, Aklier«, meinte Joakal. In seinen Augen glomm der Glanz all seiner unausgesprochenen Träume. »Denken Sie nur einmal daran, was das für unser Volk bedeutet. Der Weg zu den Sternen wird uns aufgetan. Sämtliche Völker der Föderation werden unsere Brüder sein. Wir können von ihnen lernen, und sie von uns.«
Die Ankunft des Föderationsraumschiffs und der angekündigte Vertragsabschluss: ganz Capulon wusste darüber Bescheid. Doch wen das Schiff brachte und was diese Personen repräsentierten – daraus bestand das von Joakal gehütete Geheimnis. Den Aberglauben der Vergangenheit zu überwinden, die wissenschaftlichen Wunder von hundert Welten zu durchschauen: das war die Zukunft, die er Capulon IV zu erschließen beabsichtigte.
Dermaßen vertieft war er in seine Zukunftsvision, dass er nicht die verstohlenen Blicke bemerkte, die sein Begleiter den Türen zuwarf, die sie passierten. Ebenso wenig fiel ihm auf, dass plötzlich Schweißperlen auf Akliers Stirn schimmerten.
Unverdrossen ging Joakal seines Wegs. Hinter ihm öffnete sich an gutgeölten Angeln lautlos eine Tür. Eine Gestalt schlüpfte hervor.
Unvermittelt packten Hände Joakals Schultern und rissen ihn herum. Ein erstickter Aufschrei entfuhr ihm. Er sah eine Faust auf sich zusausen. Kurz bevor sie ihn traf und die Welt vor seinen Augen in Schmerz und Dunkelheit zersprang, erblickte Joakal noch das Gesicht des Angreifers.
Sein eigenes Gesicht.
Troi beugte sich näher zum Spiegel, während sie die letzte Haarnadel in ihre Frisur schob. Dann klippte sie sich die Ohrringe an die Ohrläppchen und tat einen Schritt rückwärts, um sich von ihrer Erscheinung einen Gesamteindruck zu verschaffen.
Nicht übel, versicherte sie sich, indem sie sich ein wenig von einer zur anderen Seite drehte. Für den Empfang des heutigen Abends hatte Troi sich aus dem Mode-Bordkatalog ein neues Kleid ausgesucht, dessen Stil und Farbe ihr zusagte. Der hochgeschlossene Rücken und der leicht herzförmige Stehkragen verliehen ihrem Hals ein anmutig langes Aussehen; das dunkle Granatrot des Kleids passte wunderbar zu ihrer Haut. Gar nicht übel, befand sie nochmals, während sie mit der Hand über das hautenge Oberteil strich, das in Bauchhöhe in den weiten Faltenwurf überging. Sie glättete einen winzigen Kniff im Stoff.
Troi schaute auf die Chronometeranzeige: 18:45. In zehn Minuten wollte Will Riker kommen, um sie zum Empfang zu begleiten. Troi schlenderte zum Nahrungsspender.
»Heiße Schokolade«, orderte sie. Doch als der Apparat das Getränk fabriziert und sie ein Schlückchen genommen hatte, zog sie eine Grimasse. Die dickliche, süße Brühe besserte ihre Laune so wenig wie der riesige Eisbecher am Vorabend; genauso wenig wie das doppelt lange Körpertraining, bei dem sie am Morgen im Sportstudio geschwitzt hatte. Noch immer plagte sie die Sorge um Lieutenant Salah; unvermindert bedrückte sie ihr Unvermögen, ihm zu helfen. Und nach wie vor fühlte sie sich ungeheuer müde.
»Also, was will ich eigentlich?«, fragte Troi sich laut und begann auf und ab zu gehen. Gerade sie müsste sich über ihre Gefühle im Klaren sein; ausgerechnet sie sollte dazu in der Lage sein, sie zu definieren und zu analysieren.
Na gut, dachte sie und beschloss, eine Technik anzuwenden, die sie öfter ihren Patienten empfahl. Ich stelle eine Liste auf. Punkt eins: Arbeit, Beruf. War sie noch von dem überzeugt, was sie tat? Ja. Troi wusste, der Entschluss, Psychologin zu werden und in Starfleet-Dienste zu treten, war richtig gewesen. In dieser Hinsicht empfand sie keine Zweifel und kein Bedauern.
Punkt zwei: ihre Dienststelle. Wäre sie lieber woanders tätig, auf einer Starbase oder einem Planeten, vielleicht sogar beim Starfleet-Oberkommando oder an der Starfleet-Akademie? Nein. Sie arbeitete gern auf der Enterprise und mochte die Menschen an Bord.
Punkt drei: Privatleben. Nein – in diesem Bereich neigte sie am wenigsten zu Veränderungen. Zu Ehe und Kindern war sie vorerst nicht bereit. Sie wäre unehrlich, hätte sie behauptet, niemals daran zu denken; um konkrete Absichten handelte es sich jedoch nie. Diese Entscheidung hob sie sich auf für eine spätere Phase ihres Lebens. Gegenwärtig hatte sie Freunde, ihr nahestehende und geschätzte Freunde und Bekannte wie Will Riker und Beverly Crusher, Captain Picard, Geordi, Worf und Data; und etliche mehr. Das verhinderte, dass sie unter Einsamkeit litt.
Einsamkeit. Das Wort veranlasste Troi stehenzubleiben. Sie war nie einsam. Und eben da verbarg sich das Problem. Nie war sie allein. Sogar in ihrem Quartier spürte sie ringsum die Anwesenheit von rund fünfzehnhundert Menschen. Sie nahm Liebe und Hass, Kummer und Sorgen, Freude und Triumph nicht nur der Crewmitglieder wahr, sondern auch ihrer Ehepartner und Kinder. All das glich in ihrem Hirn einem ununterbrochenen weißen Rauschen.
Selbstverständlich hatte Troi als Counselor des Raumschiffs die dienstliche Pflicht, sich aller mentalen Vorgänge bewusst zu sein; nicht nur in Bezug auf die geistige und emotionale Verfassung der Crew, sondern auch zum Schutz gegen etwaige unsichtbare Gefahren, die den Geist der an Bord befindlichen Menschen bedrohen mochten. In dieser Beziehung verließ der Captain sich auf sie; und ebenso jeder andere auf dem Raumschiff.
Was ich brauche, überlegte Troi, ist Urlaub. Ich muss mir einmal eine gewisse Zeit gönnen, in der niemand sich auf mich verlässt. Ich muss mein Dasein wieder in einen normalen Blickwinkel rücken.
Der Türmelder summte. »Herein«, rief sie. Die Tür glitt auf. Davor stand Commander Will Riker. Er wirkte in seiner Paradeuniform auf männliche Weise attraktiv. Zärtlichen Blicks betrachtete er Troi, schaute langsam an ihr hinauf und hinab. Schließlich stieß er einen gedehnten Pfiff der Anerkennung aus.
»Deanna, du siehst hervorragend aus«, sagte er.
»Danke, Will.«
Riker streckte ihr den Arm entgegen; Troi ging zu ihm und hakte sich ein. Während sie gemeinsam durch den Korridor zum Turbolift strebten, schwelgte Troi in der vertrauten Nähe von Rikers Emotionen. Sein Gefallen an ihr und seine Zuneigung waren für ihre ermattete Seele der reinste Balsam.
Wir sind unterwegs zu einem Empfang, rief sie sich mehrmals in Erinnerung. Es ist lediglich eine gesellschaftliche Veranstaltung. Keine Gefahren lauern, keine Risiken sind zu beachten. Keine verfeindeten Würdenträger sind da. Es geht um keinerlei heikle Verhandlungen. Wir fliegen in friedlicher Mission durch einen bekannten Teil des Weltraums. Andere Raumschiff kommen ohne betazoidische Counselor zurecht. Vielleicht kann ich meinen Geist einfach einmal für ein Weilchen gegen alles abschirmen und den Abend genießen. Sozusagen einen Kurzurlaub einschieben.
Troi wandte den Kopf und lächelte Will Riker an. Die Herzlichkeit in seinen Augen, als er ihr Lächeln erwiderte, erfüllte sie mit Freude.
Die übrigen Gäste hatten sich schon versammelt, als Troi und Riker den Speisesaal auf Deck 8 betraten. Troi sah, dass sämtliche männlichen Offiziere ihre Paradeuniform angelegt hatten; Beverly Crusher dagegen hatte, wie Troi, Zivilkleidung vorgezogen. Die Bordärztin stand neben dem Captain. In ihrem orientalisch geschnittenen Hosenanzug aus zartgrüner chinesischer Seide wirkte sie regelrecht exotisch.
Um die Stimmung im Saal zu erfassen, hätte Troi nicht ihres betazoidischen Wahrnehmungsvermögens bedurft. Neben Dr. Crusher hatte Captain Picard seine seltene, breite Schmunzelmiene aufgesetzt. Er strahlte so offensichtlich Stolz und Vergnügen aus wie Beverly heitere Gelassenheit. Links vom Captain entfaltete Geordi seine ganze Neigung zur Geselligkeit. Troi fragte sich, welche Anekdote er wohl erzählte, während er lebhaft mit den Armen fuchtelte.
Bei ihm hielt sich Worf auf, bewahrte jedoch ein wenig Abstand. Der Blick des Klingonen schweifte unablässig durch den Saal; sein angespannter Körper bezeugte pausenlose Handlungsbereitschaft. Unterdessen beobachtete Data die Anwesenden mit einer Miene neugieriger Fasziniertheit.
In der Mitte dieser Gruppe standen zwei Nonnen. Beide trugen die gleiche Art von knöchellanger Kutte aus dickem braunen Stoff, um die sie in Taillenhöhe eine geflochtene Kordel geschlungen hatten. Auf dem Kopf hatte jede einen kurzen, weißen Schleier. Als Schuhe benutzten sie Sandalen.
Die eine Nonne hatte an einem Lederriemen ein hölzernes Brustkreuz um den Hals hängen. Sie stand gesenkten Kopfs da und hielt den Blick nach unten gerichtet, als wäre sie insgeheim in Andacht versunken.
Innerlich atmete Troi vor Erleichterung auf: Hier war alles, wie es sein sollte. Also konnte und durfte sie sich tatsächlich für eine Weile etwas Entspannung gönnen. Indem sie lächelte, umgab sie ihre Psyche mit mentaler Abschirmung und betrat den Saal. Der Captain blickte hoch und sah sie.
»Gut, da kommen ja die Counselor und Nummer Eins«, sagte Picard. »Ich bin froh, dass Sie da sind. Hierher mit Ihnen, ich mache Sie gleich mit den Kleinen Müttern bekannt.«
Unverändert Arm in Arm, folgten Troi und Riker der Aufforderung des Captains. Er stellte ihnen die Nonnen vor. Die Nonne mit dem Kreuz war Mutter Veronica, eine Äbtissin des Ordens. Die andere Nonne nannte sich Schwester Juliana. Sie flogen nach Capulon IV, um für ihre Ordensgemeinschaft erste Kontakte zur Regierung zu knüpfen; in wenigen Wochen sollten dort weitere Ordensfrauen eintreffen.
Der Empfang lief in schönster Reibungslosigkeit ab. Troi musste die Weise bewundern, wie der Captain den Gastgeber spielte. Mit zeitlich geschickt gestellten Fragen und Bemerkungen gewährleistete er den Fortgang einer interessanten Konversation; gleichzeitig behielt er die Teller und Trinkgefäße der Gäste im Auge und sorgte unauffällig dafür, dass man ihre Weingläser nachfüllte, Essenstabletts herumreichte und Delikatessen in Reichweite abstellte.
Troi saß am Tisch Mutter Veronica gegenüber. Die Nonne war während der Mahlzeit schweigsam geblieben. Troi war aufgefallen, dass sie kaum mehr als einen Löffelvoll gegessen hatte. Für den geübten Blick der Counselor erregte die Nonne einen sorgenschweren, erschöpften Eindruck.
Schwester Juliana hingegen, die ihren Platz an Trois linker Seite hatte, enthüllte ein putzmunteres Wesen. »Unser Orden ist achtzehnhundertdreiundsiebzig, nicht achtzehnhundertvierundsiebzig gegründet worden, Captain«, sagte sie. »Im Oktober. Am vierten Oktober. Dem Festtag des heiligen Franz von Assisi, nach dessen Ordensregeln wir uns richten.«
Schwester Juliana unterbrach ihren Exkurs und lachte. »Sie müssen entschuldigen, Captain«, meinte sie. »Ich halte Geschichte eben für ein faszinierendes Thema. Ich werde jedes Mal mitgerissen, wenn ich darüber rede.«
Picard lächelte. »Ich habe selbst großes Interesse an Geschichte. Abgesehen von der Arbeit, die Sie leisten – und der ich übrigens die größte Hochachtung entgegenbringe –, weckt an Ihrem Orden unter anderem eines mein Interesse: die Tatsache, dass er so viele Jahrhunderte überdauert hat. Sogar heute, da die Religion in der Gesellschaft keine so erhebliche Bedeutung mehr hat, könnte man den Eindruck haben, dass Ihr Orden gedeiht.«
»Es ist nicht immer leicht für uns gewesen«, antwortete Schwester Juliana ernst. »Oft war unser Orden kurz vor dem Aussterben. Sobald eine Ära religiöser Apathie anbrach, schrumpfte unsere Zahl. Aber ein paar von uns sind immer übriggeblieben, um die Tätigkeit fortzusetzen.«
Sie neigte den Kopf ein wenig seitwärts und musterte den Captain. »Wenn Sie äußern, Religion habe in der Gesellschaft ›keine so erhebliche Bedeutung mehr‹, muss ich Sie fragen, in welcher Gesellschaft? Bei den Vulkaniern, deren disziplinierte Schule reiner Logik, das Kolinahr, mit ihren mystischen Katra-Lehren koexistiert? Bei den Bajoranern, die einmütig behaupten, während der langen Jahre der cardassianischen Herrschaft hätte ausschließlich ihr spiritueller Glaube sie als Gemeinschaft zusammengehalten? Ich könnte noch Dutzende derartiger Beispiele anführen.«
»Vielleicht hätte ich sagen sollen«, räumte Picard ein, »dass Religion auf der Erde nicht mehr so wichtig wie früher ist.«
»Oh, nun hören Sie aber mal auf, Captain«, widersprach Schwester Juliana. »Das müssten Sie eigentlich besser wissen. Nur weil wir keine Glaubenskriege mehr kennen, sollten Sie nicht meinen, es gäbe keinen Glauben mehr, oder? Religiöse Überzeugungen, alle damit verbundenen Mythen und Praktiken, begleiten die Menschheit seit ihren Anfängen. Als jemand die erste Gottesgestalt an eine Höhlenwand malte, waren die Mythen dieser Gottheit schon seit langem an den Lagerfeuern erzählt und geglaubt worden. Ich bin eher der Ansicht, wir haben gelernt, dass Religion eine Sache des Herzens ist, eine persönliche Angelegenheit, keine Sache der Politik. Wir haben endlich gelernt, tolerant zu sein.«
Picard lächelte ihr zu. »Mit Ihnen zu diskutieren, macht großen Spaß, Schwester Juliana.«
Troi sah, wie Schwester Juliana dem Captain für das Kompliment mit einem Nicken dankte. Dann warf die Nonne über den Tisch hinweg Mutter Veronica einen kurzen Blick zu, als läge ihr daran, die Äbtissin in das Gespräch einzubeziehen. Doch allem Anschein bemerkte Mutter Veronica es nicht; auf jeden Fall blieb sie in ihrer Haltung kontemplativer, innerer Zurückgezogenheit.
»Aber zurück zu unserem vorherigen Thema«, sagte Schwester Juliana nach nahezu unmerklich flüchtigem Stocken. »Unser Orden ist also achtzehnhundertdreiundsiebzig« – sie schenkte Picard ein andeutungsweises Lächeln – »auf der Erde gegründet worden. In Spanien. Einer der vielen Bürgerkriege der damaligen Epoche zerriss das Land. An uns und unserem Wirken gab es großen Bedarf. Zahlreiche Dörfer wurden zerstört, die Familien so vieler Kinder getötet … Die ersten unserer Schwestern nahmen diese Kinder im Kloster auf. Dann bauten sie ihnen Schlaf- und Krankensäle, damit sie ein Dach überm Kopf hatten und gepflegt werden konnten. Trotz der Kriege, die ringsum tobten, schafften sie es, dass die Kinder in einer liebevollen Atmosphäre aufwuchsen. Unser Orden erhielt die Bezeichnung Mütter der Hoffnungslosen …«
Kurz schwieg die Nonne. »Wenn Sie sich in der Weltgeschichte auskennen, Captain«, meinte sie danach, »wissen Sie, dass in den beiden darauffolgenden Jahrhunderten immer neue und schrecklichere Kriege ausbrachen. Und nicht nur in Spanien. Manche dieser Kriege nannte man begrenzte Kriege oder innere Machtkämpfe, andere waren globale Konfrontationen. Alle haben sie heimat- und schutzlose Kinder zurückgelassen.«
»Ihre Betätigung gilt also hauptsächlich verwaisten, vom Krieg traumatisierten Kindern?«, erkundigte sich Riker.
»O nein, Commander«, antwortete Schwester Juliana. »Das war nur bei der Gründung unseres Ordens der Fall. Heute schließt unsere Tätigkeit – unsere Mission, um den kirchlichen Fachausdruck zu gebrauchen – alle Kinder ein, denen ein liebevolles Zuhause fehlt. Jedes dieser Kinder, egal wie es in Not geraten oder wie seine Situation ist, wird von uns mit der gleichen Zuneigung aufgenommen. Und es gibt wenig, was wir während der Jahrhunderte nicht gesehen hätten: Heimatlose, Verwaiste, Missbrauchte und Kranke, manchmal Todkranke, Rebellische, die sich in Wirklichkeit nach Geborgenheit sehnen, Autisten, die sich hinter seelischen Mauern verstecken, Geistesgeschädigte, körperlich Benachteiligte … Sie alle finden in unseren Einrichtungen eine dauerhafte Zuflucht.«
»Aber auf der Erde und den meisten Föderationswelten sind die ursächlichen Probleme längst behoben worden«, sagte Dr. Crusher. »Unser Heimatplanet wird nicht mehr von Kriegen beunruhigt. Die medizinischen Wissenschaften können die Mehrzahl der körperlichen Defekte erkennen und beseitigen, in vielen Fällen schon vor der Geburt. Gewiss, in der Vergangenheit hat es vielfach erschreckende geistige Zustände gegeben, etwa Autismus. Aber unsere psychologischen Wissenschaften haben gelernt, dergleichen zu überwinden.«
Schwester Juliana lächelte leicht traurig. »Sie sind Idealistin, Doktor«, entgegnete sie. »In Heilberufen ist das eine vorteilhafte Eigenschaft. Auf der Erde gibt es keine Kriege mehr, ja. Aber wie war es im Krieg gegen die Cardassianer? Auch cardassianische Kinder können Furcht leiden, zu heimatlosen Waisen werden und in Not geraten. Und auf vielen Welten unserer Galaxis hat man zu Kindern nicht das gleiche Verhältnis wie wir Menschen. Darum hat unsere Ordensgemeinschaft, sobald andere bewohnte Welten entdeckt wurden, ihre Mission von der Erde zu den Sternen ausgedehnt. Sie wären sicherlich überrascht, wüssten Sie, wie viele Welten uns darum ersuchen, dort eine unserer Institutionen zu errichten.«
»Unterhalten Sie denn auf der Erde keine Häuser mehr?«, fragte Picard. »Ich dachte, ich hätte gelesen …«
»O doch, Captain, auch dort sind wir noch vertreten«, unterbrach ihn Schwester Juliana. »Unser Gründungskloster steht auf der Erde. Daran wird sich nie etwas ändern. Aber inzwischen stehen unsere Klöster auch auf vielen anderen Planeten. Wir selbst stammen von Perrias VII.«
Captain Picard runzelte ein wenig die Stirn. »Perrias VII«, wiederholte er versonnen. »Der Planet gehört nicht der Föderation an.«
»Ja, stimmt, Captain«, bestätigte Schwester Juliana. »Das nicht. Aber wir sind ja auch niemandes Botschafterinnen, keine Starfleet-Funktionärinnen, und wir verfolgen keine politischen Ziele. Wir greifen da ein, wohin die Not uns ruft.«
»Auf welche Weise erreicht so ein Ruf Sie?«, fragte Commander Riker.
Erneut lächelte Schwester Juliana. »Ach, da gibt's die verschiedensten Wege. Manchmal geschieht es, dass die Regierung eines Planeten uns zu kommen bittet, wie es bei Capulon VI der Fall ist. So etwas passiert allerdings seltener, als wir es gerne hätten. Meistens erfahren wir mündlich davon, dass Bedarf besteht. Durch Gerüchte oder Nachrichtenmeldungen … Bisweilen aber auch durch anonyme Mitteilungen. Irgendwie werden wir informiert.«
Während Schwester Juliana weiterredete, wurde Troi sich einer vagen Wahrnehmung des Unbehagens bewusst. Sie glich einem immer stärkeren Jucken zwischen ihren Schulterblättern; oder einem stetigen, monotonen Taktschlag, der zu unterschwellig fiel, um richtig gehört, jedoch zu vernehmlich, um ignoriert werden zu können. Auf einmal war es für Troi vorbei mit der lockeren Stimmung. Plötzlich befand sie sich wieder im Dienst.
Langsam senkte sie ihre mentalen Schilde. Unverzüglich stürmten fremde Emanationen auf sie ein; verzweifelte seelische Wirrnis bombardierte ihren Geist. Sie fühlte sich, als wäre sie mitten in einen explodierenden Stern versetzt worden.
Zuviel … zu viele … Die Gedanken durchdrangen Trois empfängliches Bewusstsein. Fort … fort …, hallten sie. Zu viele …
Auf der anderen Seite des Tischs saß Mutter Veronica mit gesenktem Kopf da. Sie hatte sich zu einer steifen Haltung verkrampft. Ihre Wangen waren kalkweiß.
Sie ist Telepathin, erkannte Troi.
Die Stimme in ihrem Kopf gewann an Stärke. Mutter Veronica hat keine Möglichkeit zur mentalen Abschirmung, begriff die Counselor. Sie fühlte die wachsende Verzweiflung im Gemüt der Frau. Ohne mentale Schilde konnte ein Telepath nicht überleben.
Scharf richtete Troi den Blick auf die Nonne; gleichzeitig konzentrierte sie ihren Geist auf sie. Obwohl Troi selbst keine echte Telepathin war, konnte sie mit Telepathen auf psychischer Ebene kommunizieren; und zwar um so leichter, wenn sie so starke telepathische Schwingungen empfing, wie Mutter Veronica sie aussandte.
Beruhigen Sie sich, übermittelte Troi ihr. Ich kann Ihnen helfen.
Ruckhaft hob Mutter Veronica den Kopf. Sie erwiderte Trois Blick. Schlagartig empfand die Counselor den ganzen Schrecken, der die Seele der Nonne erfüllte.
Seien Sie unbesorgt, versuchte Troi es ein zweites Mal. Haben Sie keine Furcht.
Mutter Veronica sprang auf; ihr Stuhl schrammte über den Fußboden. In hastiger, abgehackter Gebärde riss sie die Hände an die Schläfen hoch.
»Es tut mir sehr leid …«, stammelte sie. »Ich muss mich zurückziehen … Habe Kopfweh. Bleiben Sie alle bei Tisch, ich bitte Sie.« Sie entfernte sich mit der Schnelligkeit eines flüchtenden Tiers vom Tisch zum Ausgang.
»Ich werde mal sehen, ob ich etwas für sie tun kann«, sagte Dr. Crusher. Sie machte Anstalten zum Aufstehen. Doch ehe sie ihren Platz verlassen konnte, hatte sich Troi schon von ihrem Stuhl erhoben.
»Nein, Beverly, ich gehe«, stellte sie klar. Die Bordärztin warf ihr einen Blick der Verwunderung zu, aber nickte. Ganz wie die übrige Besatzung vertraute auch die Erste Medo-Offizierin der Counselor voll. Troi war erleichtert; jetzt etwas zu erklären, hätte zu lange gedauert.
Troi eilte zum Speisesaal hinaus. Als sie den Korridor betrat, sah sie Mutter Veronica auf den Turbolift warten. Rasch folgte Troi der Nonne. Sobald Mutter Veronica sie erblickte, schrak sie regelrecht zurück und prallte rücklings gegen die Wand.
Troi verlangsamte ihre Schritte. Gedämpft sprach sie die Nonne an, setzte ihre Stimme als Mittel ein, um sie zu beschwichtigen, zu besänftigen.
»Beruhigen Sie sich«, wiederholte Troi, was sie der Nonne vorhin mental nahegelegt hatte. »Haben Sie keine Furcht. Ich verstehe, was in Ihnen vorgeht. Ich weiß, wie anstrengend es sein kann, ständig die Gedanken anderer Leute im Kopf zu haben. Ich kann Ihnen beibringen, sie abzublocken. Erlauben Sie mir, Ihnen behilflich zu sein.«
Jetzt stand Troi vor Mutter Veronica und konnte ihr aus der Nähe in die Augen sehen. Die Nonne erinnerte sie an ein in einer Falle gefangenes Tier: Sie war voller Entsetzen und ohne Hoffnung.
»Gestatten Sie mir, Ihnen zu helfen«, bat Troi noch einmal.
Langsam schüttelte Mutter Veronica den Kopf. »Nein«, äußerte sie leise. Die Turbolift-Kabine traf ein. Die Äbtissin floh geradezu in den Lift. »Kümmern Sie sich nicht um mich«, sagte sie, während die Türflügel zuglitten.
Troi blieb noch für einen Moment am Lift stehen und betrachtete die geschlossene Tür. Mutter Veronica benötigte Hilfe – und zwar bald, bevor sie den Verstand verlor. Die Counselor atmete tief ein und bedächtig aus; dann kehrte sie dem Turbolift den Rücken zu. Sie musste zurück zu dem Empfang. Die anderen Teilnehmer erwarteten sie; vor allem der Captain, der bestimmt über Mutter Veronicas Zustand in Kenntnis gesetzt werden wollte.
Was sollte sie ihm sagen?, überlegte sich Troi. Was zu sagen hatte sie das Recht? Mutter Veronica war kein Crewmitglied. Ihre Situation verursachte niemandem außer ihr selbst Unannehmlichkeiten. Solange sie nicht um Hilfe ersuchte, genoss sie das volle Recht auf Privatsphäre, auf die eigene Lebensführung und die Unantastbarkeit des Geistes. Bevor sie Beistand akzeptieren mochte, konnte Deanna Troi, ausgebildete Psychologin und Counselor an Bord eines Starfleet-Raumschiffs, Betazoidin und Empathin, nichts tun.
Wieder gab es jemanden, der Deanna Troi brauchte; und erneut hatte sie versagt.
Am nächsten Morgen trat Captain Picard um 10 Uhr 30 auf Deck 16 aus dem Turbolift. Er hatte den Kleinen Müttern eine Besichtigung des Raumschiffs versprochen und beschlossen, sich persönlich als ihr Führer zu betätigen. Es überraschte ihn, dass im Korridor nur Schwester Juliana auf ihn wartete.
»Guten Morgen, Captain«, grüßte Schwester Juliana ihn, als er auf sie zutrat.
»Guten Morgen, Schwester«, antwortete er. »Kommt Mutter Veronica nicht mit?«
»Nein, leider nicht«, gab Schwester Juliana mit einem Aufseufzen Auskunft. »Das Reisen strengt sie sehr an. Ich bin schon früher gereist, aber Mutter Veronica noch nie. Sie ist im Alter von vier Jahren in unseren Konvent aufgenommen worden. Jemand hatte sie nachts auf unseren Stufen ausgesetzt. Dies ist das erste Mal, dass sie das Kloster verlässt.«
»Weshalb gerade jetzt?«, fragte Picard, während er mit seiner Begleiterin durch den Korridor zum Turbolift zurückstrebte.
Schwester Juliana zuckte mit den Schultern. »Mutter Veronica hat einen ausgeprägten Ordnungssinn und ein großes Organisationstalent. Das macht sie zu einer ausgezeichneten Vorsteherin unserer Gemeinschaft. Reisen bedeutet andauernde Veränderung. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb es sie so zermürbt.«
»Aber wenn das Verlassen ihres Heimatplaneten ihr solche Unannehmlichkeiten verursacht, wäre sie Ihrem Orden daheim doch sicher besser dienlich.«
Schwester Juliana blieb stehen und drehte sich dem Captain zu. Einen Moment lang las sie in seinem Gesicht. »Gehorchen Sie, wenn man Ihnen befiehlt«, fragte sie, »die Enterprise zu verlassen?«
»Selbstverständlich. Als Starfleet-Offizier stehe ich unter Gehorsamspflicht.«
Schwester Juliana ging weiter. »Auch wir haben unsere Pflicht, Captain«, sagte sie. »Wir haben auch Gehorsam geschworen. Sie sollten sich durch Mutter Veronicas gegenwärtige Indisponiertheit nicht dazu verleiten lassen, sie zu unterschätzen. Sie hat eine außergewöhnliche Begabung für die Arbeit mit Kindern. Ganz besonders mit traumatisierten Kindern. Dort, wohin wir fliegen, wird sie gebraucht.«
Sie und der Captain gelangten zum Turbolift und warteten auf die Liftkabine. Captain Picard wechselte das Gesprächsthema. »Sind Sie mit Ihrer Einquartierung zufrieden?«, erkundigte er sich.
»Unsere Unterkünfte sind mehr als zufriedenstellend, Captain«, lautete Schwester Julianas Antwort. »Für unsere Ansprüche sind sie regelrecht luxuriös. Speziell eingerichtete Einzelkabinen und eine Kapelle … Das ist sehr großzügig und gütig von Ihnen. In dieser wunderschönen Kapelle zu beten, ist eine wahre Freude. Ich bin schon auf drei Raumschiffen und zweimal auf einer Starbase gewesen, aber nirgends so verwöhnt worden.«
»Danke für das Lob«, sagte der Captain. »Die Kapelle ist eine Kopie der Dorfkirche in meinem Heimatort auf der Erde, in Frankreich. Ich habe sie für Sie replizieren lassen.«
Der Lift traf ein. »Wo würden Sie mit dem Rundgang am liebsten anfangen?«, wollte Picard erfahren, als er und Schwester Juliana die Liftkabine betraten.
»Stimmt es, Captain, dass Sie ganze Familien an Bord haben, sogar Kinder?«
»Das ist wahr.«
»Dann möchte ich gerne bei ihnen anfangen. Bei den Kindern.«
Der Captain und sein geistlicher Gast brachten den Vormittag mit der Besichtigung der Schulräumlichkeiten und Spielzimmer zu. Überall nahm Schwester Juliana mitten zwischen den Kindern Platz und beantwortete ihre zahlreichen Fragen. Es beeindruckte Picard, wie die Nonne und die Kinder sich augenblicklich bestens verstanden.
Während er die Begegnungen verfolgte, wurde ihm bewusst, wie stark sich im Laufe der Jahre, seit er Captain der Enterprise war, seine Einstellung zu Kindern verändert hatte. Als er das Kommando antrat, hatte er die Erlaubnis der Anwesenheit kompletter Familien mitsamt Kindern auf Fernraumschiffen für eine der weniger klugen Entscheidungen Starfleets gehalten.
Heute war ihm klar, dass er sich geirrt, Starfleet recht gehabt hatte. Lebenspartner und Kinder an Bord zu haben, machte seine Crew glücklicher. Es verbesserte die Qualität der dienstlichen Pflichterfüllung und verstärkte das Gemeinschaftsgefühl. Längst hatte Picard die Kinder der Enterprise akzeptiert.
Nach dem Gang durch die Schulräume geleitete Picard Schwester Juliana auf eines der Holodecks und erklärte ihr einige der Programme, die man am häufigsten für Familienausflüge und das Spielen ›im Freien‹ benutzte. Der Captain plante, der Nonne anschließend die medizinischen Einrichtungen zu zeigen.
Während Picard und seine Begleiterin sich der Krankenstation näherten, kam plötzlich ein junger Fähnrich in den Korridor. Sobald er den Captain und die Nonne auf sich zustreben sah, wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Im ersten Moment wirkte er, als müsste er in Ohnmacht fallen. Er schüttelte sich und eilte in die entgegengesetzte Richtung. Noch mehrmals warf er kurze, furchtsame Blicke über die Schulter.
Ein Zuruf lag Picard auf der Zunge. Wäre er allein gewesen, hätte er den Fähnrich zurückgepfiffen. So jedoch konnte er sich nur fragen, ob er oder die Nonne den jungen Mann dermaßen erschreckt hatte.
Darüber muss ich mit der Counselor reden, nahm er sich vor.
Deanna Troi saß in ihrem Büro und wartete auf Fähnrich Marshall. Wiederholte blickte sie auf das Wandchronometer. Mittlerweile hatte der Fähnrich 15 Minuten Verspätung. So etwas sah Marshall gar nicht ähnlich. Manchmal hockte er nur da und sprach während der ganzen Sitzung kein Wort; doch er erschien zu jedem Termin, und zwar immer pünktlich.
»Computer«, sagte Deanna laut. »Fähnrich Johann Marshall lokalisieren.«
»Fähnrich Marshall befindet sich im Gesellschaftsraum des zehnten Vorderdecks.«
Da stimmt eindeutig etwas nicht, dachte Troi, während sie zur Tür ging.
Sie traf Marshall an, wie er in einer der entferntesten Ecken des Gesellschaftsraums saß und die vor ihm abgestellte Tasse anstarrte. Schon am Eingang spürte Troi den inneren Aufruhr, der in ihm tobte. Sie schaute hinüber zur Bar. Guinan erwiderte ihren Blick.
»Er ist seit einer halben Stunde hier«, sagte Guinan halblaut. »Eine Tasse Kaffee wollte er. Aber er hat sie nicht angerührt. Er guckt sie bloß an.«
Troi nickte. Indem sie sich innerlich auf die Emotionen des jungen Mannes einstellte, schlenderte sie zu seinem Tisch. Er blickte nicht hoch, als sie ihn erreichte; seine Augen blieben auf die schwarze Flüssigkeit in der Tasse gerichtet.
»Johann«, sprach Troi ihn leise an. Beim Klang ihrer Stimme zuckte der Fähnrich zusammen; dann blinzelte er und hob endlich doch den Blick.