Cover

Ein typischer Kapstadt-Winter. Nicht viel los. Aber mit ausreichend Arbeit für Mace Bishop und Pylon Buso, die gegen Geld ihren Sicherheitsservice für Ausländer anbieten. Während sich Bishop um seine depressive Tochter kümmert, beschützt Buso einen deutschen Waffenspezialisten, dem ein paar osteuropäische Gangster auf den Fersen sind. Und ein Pärchen aus den USA, das in den lokalen Spielkasino-Markt investieren will. Aber dann wird die Frau entführt, und ein Reporter interessiert sich etwas zu sehr für die Balkan-Beziehungen des Waffenspezialisten. Plötzlich kommt Bewegung in das beschauliche Kapstadt-Dasein. Und im Hintergrund zieht die skrupellose Anwältin Sheemina February geschickt die Fäden …

MIKE NICOL lebt als Autor, Journalist und Herausgeber in Kapstadt, wo er geboren wurde, und unterrichtet an der dortigen Universität. Er ist der preisgekrönte Autor international gefeierter Romane, Gedichtbände und Sachbücher, zuletzt einer autorisierten Biografie über Nelson Mandela. Seine Rache-Trilogie wird parallel in Südafrika und England veröffentlicht. 1997 verbrachte er ein Jahr als Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms in Deutschland, 2002 hatte er eine Gastprofessur an der Universität Essen inne.

DIE RACHE-TRILOGIE BEI btb
payback.thriller
killer country-thriller
black heart.thriller

mike nicol

black heart

thriller

Aus dem südafrikanischen Englisch
von Mechthild Barth

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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »black heart«
bei Umuzi/Random House Struik, Kapstadt
und Old Street Publishing, London


Ein Glossar zu fremdsprachigen Begriffen findet sich im Anhang.


Deutsche Erstveröffentlichung August 2014

Copyright © 2011 by Mike Nicol

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Published by Arrangement with Mike Nicol

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: Getty Image/Allen Baxter

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

UB · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-12155-6
V002


www.btb-verlag.de

Mittwoch, 27. Juli

Schemenhafte Aufnahmen einer Überwachungskamera, schwarz-weiß. Ein Mann – recht groß, Anorak, Strickmütze, den Kopf gesenkt – läuft einen Gang entlang auf die Kamera zu. Es ist ein luxuriöser Korridor: Wände und Boden aus Marmorfliesen, drei große Fotografien von Stränden auf der rechten Seite. Links zwei Türen. Auf jeder die Apartmentnummer in Schwarz mit Schablone aufgemalt, fast die ganze Tür ausfüllend: 7, 8. Cooler Touch. Der Mann bleibt vor Nummer acht stehen, wendet der Kamera seinen Rücken zu. Sein Kopf ist nach vorne gebeugt, als würde er auf Geräusche in der Wohnung achten. Dem Zucken seiner Schultern nach ist er jedoch mit seinen Händen beschäftigt. Vierzig Sekunden vergehen. Die Tür springt auf. Der Mann rollt seine Strickmütze herunter, die zu einer Sturmhaube vor seinem Gesicht wird. Blickt zur Überwachungskamera hoch.

»Nette Geste«, sagte die Frau, die sich das Videomaterial auf ihrem Laptop ansah. Sie redete laut, obwohl sie allein war. Lächelte. Drückte mit einer behandschuhten Hand auf die Tastatur. Sah ihr eigenes Spiegelbild im Bildschirm: ihre hohen Wangenknochen, ihre nachgezeichneten Augenbrauen, die pflaumenfarbenen vollen Lippen. Ihr Latte-Gesicht über dem des Mannes mit der Sturmhaube. Sie schürzte die Lippen zu einem Kuss. Mmmh.

Er war gut, der Mann mit der Sturmhaube. Nur ein oder zwei weitere Leute, die sie kannte, wären in der Lage gewesen, das so schnell zu machen wie er. Sie lächelte. Hob die behandschuhte Hand, um sein Gesicht zu berühren. »Mace Bishop«, sagte sie. »Willkommen in meiner Welt.«

Sie drückte auf Wiedergabe. Der Mann war jetzt in der Wohnung. Die Aufnahmen der Überwachungskamera zeigten den leeren Gang, beide Türen waren geschlossen. Nach einer Minute schaltete sich der automatische Timer des Korridors ein, und die Lichter gingen aus. Sie wartete. Drei Minuten später gingen die Lichter wieder an. Nun war der Mann zu sehen, wie er die Wohnungstür schloss, ohne Eile, den Rücken der Kamera zugewandt. Lief den Gang entlang, am Lift vorbei zum Treppenhaus, fasste nach oben, um sich die Sturmhaube abzuziehen, und trat aus dem Sichtfeld der Kamera.

Er hatte sich genauso verhalten, wie es zu erwarten gewesen war. Hatte nicht widerstehen können, ihren Schlupfwinkel auszuspionieren.

Sie warf die DVD mit dem Videomaterial aus, die ihr die Sicherheitsfirma für den Apartmentblock als kleine Gefälligkeit überlassen hatte. Hatte den Leuten erklärt, dass es sich um einen Freund handelte, der ihr einen Streich spielen wollte.

»Toller Freund, muss schon sagen, toller Streich«, hatte der Boss der Sicherheitsfirma gemeint und sich keine große Mühe gegeben, seinen Blick von ihrem Dekolletee abzuwenden. »Sie kennen offenbar Leute mit interessanten Fähigkeiten, Miss February.«

»Da haben Sie recht«, hatte sie erwidert und war in ihrem langen Mantel hinausstolziert, wobei ihr die schwarzen Haare über den Kragen gefallen waren.

Sheemina February schob eine weitere DVD ein. Bilder ihres eigenen Überwachungssystems. Der vermummte Mann war in ihrer Wohnung zu sehen, aufgenommen von einer Infrarotkamera, die Farben gedämpfte Schwarz- und Blautöne. Die Sturmhaube dunkelblau, der Anorak schwarz, der Mann in Handschuhen, Jeans und Turnschuhen. Unauffällig. Regungslos lauschend.

Keine Pistole.

Was bedeutete, dass er nicht davon ausgegangen war, sie zu Hause anzutreffen. Er sondierte das Terrain. Vorsichtiger Mace. Berechenbarer Mace. Neugieriger Mace. Wie sie es vorausgesehen hatte. Ihn anlocken, um dann den Todesschuss abzugeben. Es war beinahe zu einfach.

Der Mann auf dem Bildschirm trat mit einer Taschenlampe in ihr weitläufiges Wohnzimmer. Strich mit den Fingern über die Rückenlehne ihres weißen Sofas, lief über die weißen Flokatiteppiche zu ihrem Schreibtisch, öffnete Schubladen, wühlte in ihren Papieren. Ging weiter. Ließ den Lichtstrahl zu hastig über die Bilder an den Wänden gleiten, um sie wahrzunehmen. Hielt aber an der kleinen Vitrine mit messerscharfen Rasierklingen inne, die über ihrem Schreibtisch angebracht war.

Klingen, die einmal berühmte Männer rasiert hatten. Klingen, die sie aufgetrieben und für die sie viel bezahlt hatte. Eine Klinge hatte Cecil Rhodes gehört. Eine andere einem Mörder namens Joe Silver. Hatte seinen Namen eingraviert. Ein Historiker vermutete, dass es sich bei diesem Mann um Jack the Ripper handelte. Das gefiel ihr – der posthume Ruhm des Goldgräber-Zuhälters und Schiebers Joe Silver.

Jede der sechs Klingen ihrer Sammlung besaß eine Geschichte. Allerdings gab es jetzt nur noch fünf. Die fehlende Klinge, die ihres Großvaters, war dazu benutzt worden, um den Hals von Mace Bishops Frau durchzutrennen. Zuvor – ein Vierteljahrhundert zuvor – hatte ihr Großvater die Klinge benutzt, um sich damit die Pulsadern aufzuschneiden. Lieber sterben als aus seinem Haus geworfen werden. In gewisser Weise, glaubte Sheemina, war dieser spezielle Schlitzer ein Instrument der Geschichte – eine Manifestation des Schicksals. Schade, ein solches Familienerbstück zu verlieren, aber das ließ sich nicht vermeiden. Die Rasierklinge lag vermutlich in irgendeiner Kiste mit Beweisen und wartete auf einen Obduktionsbericht. Keine Sorge. Es gab sicher Möglichkeiten, die Klinge wieder zurückzubekommen.

Sie richtete den Blick erneut auf Mace Bishop. Wie er auf den leeren Fleck ihrer Halsdurchtrenner-Sammlung starrte. Wie ihm klar wurde, dass die Klinge, mit der seine Frau umgebracht worden war, einmal als Ornament an ihrer Wand gehangen hatte. Welche Gefühle löste das wohl in ihm aus? Zorn? Ließ es ihn rot sehen? Was dachte er, dieser Mann? Mace Bishop in ihrer weißen Festung, umgeben von ihren Dingen. Dieser Mann, der sie töten wollte. Getrieben von Rache. Hatte er auch nur die leiseste Ahnung, warum sie ihm wehtun wollte? Warum sie ihn in den Ruin zu treiben gedachte? Plante, sein Leben zu zerstören? Das würde er bald. Wenn sie ihr Ziel erreicht hatte, würde er wissen, warum.

Sie beobachtete ihn, wie sie das schon oft getan hatte, seit er bei ihr eingebrochen war. Beobachtete, wie er ihr Wohnzimmer verließ, ihr Schlafzimmer betrat. Das war der Moment, der sie angespannt werden ließ, aufgeregt. Der ihr Herz zum Rasen brachte. Der ein Kribbeln durch die Finger ihrer zerschmetterten Hand jagte. Die Hand, die er mit einem Holzhammer zertrümmert hatte. Damals.

Sie schlug die Beine übereinander.

Da war er, in ihrem Schlafzimmer. Der Lichtstrahl wanderte über ihr Bett. Über das Nachttischchen mit dem Digitalwecker. 04:20. Über das Telefon auf der Ladestation, das Foto in einem Silberrahmen. Das einzige Foto in der ganzen Wohnung. Es zeigte Mace Bishop in seiner Speedo nach einer Schwimmsession im Pool des Sportstudios. Eine von mehreren Aufnahmen, die sie heimlich von ihm gemacht hatte. Sie hatte das Foto dort in der Hoffnung platziert, dass es ihm den letzten Verstand rauben würde.

Aber er schaute gar nicht genau hin, sondern ließ den Strahl zu ihren Einbauschränken weiterwandern. Das Licht brach sich in ihrem Spiegel und löschte für einen Moment das Bild der Kamera. Dann sah sie ihn wieder, wie er die Türen zu ihren Kleidern, Hosen und Jacken öffnete. Wie er einen Blick auf die Schuhregale im unteren Teil des Schranks warf. Er strich über eines ihrer Abendkleider. Sie stellte sich vor, wie sie es trug. Wie seine Hand über ihren Rücken glitt. Manchmal dachte sie so an ihn: seine Hände fest auf ihren Brüsten, fest auf ihren Pobacken, sie entschlossen an sich ziehend. Sie schüttelte den Kopf, um das Bild zu verscheuchen. Vor Erregung leicht erhitzt.

Da war der Mann, den sie töten wollte, und er hatte die Hände in ihrer Unterwäsche. Zog einen ihrer Tangaslips hervor. Satin, rot. Hielt ihn hoch, zerknüllte ihn in seiner Faust. Er warf ihn wieder in die Schublade. Setzte sich auf den Rand des Bettes, hüpfte auf und ab, als ob er testen wollte, wie bequem es war. Fiel auf die Kissen zurück, ließ die Hand unter sie gleiten, fand ihr seidenweiches schwarzes Negligee. Hielt es hoch. Sein Lichtstrahl glitt von dem Kleidungsstück zur Fotografie auf ihrem Nachttischchen. Schade, dass sie seine Miene nicht erkennen konnte.

Er ließ das Negligee fallen und nahm das Foto, um es sich genauer anzusehen. Richtete die Taschenlampe auf das Glas. Starrte sich selbst an – diesen kraftvollen, triefendnassen Körper, diese knappe Badehose. Stellte das Foto vorsichtig auf den Nachttisch zurück. Sprang rasch vom Bett auf, schloss die Schubladen im Schrank, machte die Türen wieder zu. Stopfte das Negligee in die Tasche seines Anoraks und verließ eilig ihre Wohnung. Der Bildschirm wurde dunkel. Die Kamera schaltete sich aus.

Sheemina February holte einen Weißwein aus dem Kühlschrank. Nahm sich Zeit, ihn zu entkorken. Dachte darüber nach, wie es sie erregte, dass er ihre Unterwäsche genommen hatte. Es hatte etwas Heimliches. Aufregendes. Etwas Lustvolles.

Sex und Tod.

Sie schenkte sich ein Glas ein. De Grendel Sauvignon Blanc. Probierte. Ließ den Wein einen Moment lang in ihrem Mund, ehe sie ihn schluckte. Dann machte sie es sich bequem. Die Sache war die: Warum hatte er so auf das Foto reagiert, als ob es kaum etwas bedeutete? Sie hatte einen Wutausbruch erwartet, zerschmettertes Glas, ein herausgerissenes Bild. Deshalb hatte sie es dort aufgestellt. Stattdessen wurde er zu Mr Ice. Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und spielte die Aufnahmen noch einmal ab.

Nachdem sie etwa bei der Hälfte angekommen war, klingelte ihr Handy.

»Mart«, sagte sie, als sie abhob.

»Wollte mich nur melden«, erwiderte Mart Velaze. Im Hintergrund hörte man Musik und Stimmen. Mart, der Behördenmann. Geheimdienst. Er hatte sie eines Tages überraschend angerufen, um sie zu informieren, dass ein gewisser Deal noch besser abgelaufen war, als sie das erwartet hatte. Ein Deal, bei dem es um Mace Bishop gegangen war. Mart, der in den letzten Tagen die Dinge auf geradezu vollkommene Weise erledigt hatte, der effiziente Mart, der sich um ihre Angelegenheiten kümmerte. Der Mann mit dem strahlend weißen Lächeln. Wobei man nie wusste, ob das Lächeln freundlich oder tödlich gemeint war. Der einzige Schwarze, dem Sheemina February begegnet war, der nie versucht hatte, sie auszutricksen. Was sie stutzig machte. Warum nicht? »Ich halte die Augen offen«, fügte er hinzu.

»Nicht nötig.«

»Gehört zum Service.«

»Nicht in diesem Fall.« Sie bedeutete ihm, es gut sein zu lassen, und bemühte sich um einen leichten Tonfall. »Wo sind Sie?«

»Nicht weit weg. In einem Café dem Strand gegenüber. Ich könnte vorbeikommen.«

»Besser nicht.«

»Falls was schiefläuft.«

»Es wird nichts schieflaufen.«

»In einer solchen Situation weiß man das nicht.«

»Man weiß das nie, Mart. Aber Sie können schon mal mit dem Zinken beginnen.«

»Er wird aufpassen. In der Todeszone.«

»Denken Sie etwa, ich nicht?«

Sheemina February wartete auf eine Antwort. Hörte die Musik im Hintergrund. Tina Turner mit der einzigen Tina Turner, die noch gespielt wurde: Simply the Best.

»Ich rufe Sie dann also an«, sagte sie. »Wie wir das vereinbart haben.«

»Okay«, erwiderte er. »Hauptsache, Sie sind die Erste. Geben Sie ihm keine Chance.«

»Ich bin ein großes Mädchen, Mart. Ich habe seit langem darauf gewartet. Jetzt werde ich die Nerven bestimmt nicht verlieren.«

Pause, in der Tina Turner zu Wort kam.

»Bis dann.«

Mart sagte: »In Ordnung.«

Sie legte auf. Brauchbarer Bursche, dieser Mart.

Er hatte ihr die Waffe besorgt. Der .38er Smith & Wesson neben ihrem Laptop. Der Revolver, der in den nächsten sechs, sieben oder acht Stunden immer in ihrer Reichweite sein würde – wie lange es auch dauern mochte, bis Mace Bishop auftauchte.

Sheemina February nahm den Wein mit auf den Balkon hinaus. Blickte über den Ozean – ein glasig wirkendes Meer, das donnernd gegen die Felsen unter ihr schlug. Die Sonne war fast untergegangen und ihre Wärme verschwunden. Morgen, wenn sie wieder aufging, würde alles anders sein.

Zwischen dann und jetzt musste sie nur noch auf ihn warten. Auf Mace Bishop. Warten machte ihr nichts aus, darin war sie geübt.

Dienstag, 12. Juli

1

Niemand wusste, wo er war.

Er hatte aufgepasst.

Er befand sich in einer Pension in Berlin – Knesebeckstraße, Seitenstraße des Kurfürstendamms – und hatte sich unter falschem Namen angemeldet. Als J. Richter. In einem dieser Familienhotels.

Die Pension Savigny betrat man durch eine unauffällige Tür und ging dann eine Treppe hinauf. Kein Lift.

Der Besitzer entschuldigte sich für das Zimmer. Hätte Herr Richter rechtzeitig angerufen, um zu reservieren, hätte er ihm ein besseres Zimmer anbieten können. Im Sommer sei das Hotel immer ausgebucht. Es wäre auch diesmal voll gewesen, wenn es nicht eine Absage gegeben hätte. Herr Richter habe also großes Glück gehabt.

Das Zimmer war lang und schmal. Über der Stadt donnerte es, gezackte Blitze tauchten die Häuser in ein weißes Licht. Er schloss die Vorhänge, schlüpfte aus seinen Schuhen und legte sich aufs Bett.

Er war auf der Flucht. Dumm gelaufen. Nur zwei Tage mehr, und er wäre untergetaucht gewesen. Wieder unterhalb des Radars. Was hatte ihn verraten? Der Tod seiner Mutter. Natürlich. Er hätte vorsichtiger sein müssen, hätte sich denken können, dass sie das erfahren würden. Eigentlich war er doch immer vorsichtig.

Alias J. Richter rieb sich die Augen. Er brauchte Schlaf. Es hatte keinen Sinn, sich zu überlegen, was er falsch gemacht hatte. Jetzt war es egal: Sie hatten ihn gefunden, und er war auf der Flucht. Schlimmstenfalls eine Unannehmlichkeit, die nach einem neuen Plan verlangte. Morgen würde ihm sicher etwas einfallen. Die Zeit war auf seiner Seite.

Er spürte die Schläfrigkeit hinter seinen Lidern. Auf der Flucht zu sein, hatte ihn noch nie am Schlafen gehindert. Damals nicht und heute auch nicht. Er schloss die Augen. Voll angezogen döste er ein.

Vierzehn Stunden zuvor war der Mann mit dem falschen Namen bei der Rückkehr von seiner morgendlichen Joggingrunde an der Haustür zum Wohnblock seiner Mutter überfallen worden. Zwei Männer hatten versucht, ihn in einen weißen Audi zu zerren. Ein Nachbar mit Besen in der Hand war ihm zu Hilfe geeilt und hatte mit dem Besen auf die Kerle eingedroschen. Die Männer gaben auf und brausten davon. Zu Richters Überraschung hatten sie ihn nicht mit Waffen bedroht. Sonst waren die Albaner nie so höflich.

»Verbrecher«, sagte sein Nachbar. »Wahrscheinlich Russen. Die wollen dann Lösegeld. Irgendwas. Und wenn es nur ein paar Hundert Euro sind.« Er bot einen Tee an. Meinte, sie sollten die Polizei rufen.

Der Mann mit dem falschen Namen erklärte, das sei nicht nötig. Er würde später zur Polizei gehen und den Vorfall melden. Jetzt musste er sich erst einmal beruhigen. Wieder zu Atem kommen. Sich darum kümmern, dass seine Hände zu zittern aufhörten.

»Am besten trinken Sie einen Tee mit drei Stück Zucker«, sagte sein Nachbar. »Und einen Schnaps.«

Oben stellte Richter fest, dass man die Wohnung durchwühlt hatte. Zuerst wanderte er inmitten des zurückgelassenen Chaos herum, tatsächlich atemlos vor Schreck über den Angriff und zudem von der Stunde Joggen. Beherrsch dich, dachte er. Bleib wachsam. Fokussiert. Denk nach. Sie wollen doch, dass du fliehst.

Er hatte nicht vor, blindlings davonzustürzen. Das nächste Mal würden sie brutaler vorgehen.

Die Vormittagsstunden vergingen. Minute um Minute. Manchmal beobachtete er, wie der Sekundenzeiger der Standuhr seine Runden drehte. Ein leises Tick, Tick, Tick. Jede Viertelstunde schlug die Uhr. Er saß da und wartete. Versuchte zu lesen. Holte das Buch neben seinem Bett, machte es sich auf dem Ohrensessel seiner Mutter bequem. Fand die Seite, bei der er es zugeklappt hatte. Kapitel 31. »Er wusste, dass er träumte und nicht aufhören konnte.« Las bis zum Ende des Kapitels weiter. »Ed zog sich um und klebte seinen Ersatzschlüssel an die Tür. Ein Licht ließ er brennen.« Was in der Zwischenzeit passiert war, wusste er nicht. Seine Augen glitten über die Wörter, als würden sie keine Geschichte erzählen. Er legte das Buch beiseite. Irgendwie musste er sich betätigen.

Richter setzte sich ans Klavier. Seine Finger lagen flach auf den Tasten. Der deformierte kleine Finger seiner linken Hand war zu kurz, um das Elfenbein zu berühren, aber er hatte gelernt, das auszugleichen. Er konnte eine Jazzmelodie spielen, und fast niemandem fiel etwas auf. Er begann mit Gershwin. Summertime. Es war schon lange her, seit er das zum letzten Mal gespielt hatte. Zu lange. Er traf die Noten nicht richtig, und die Läufe wirkten ungreifbar, als würden sie ihn verspotten. Immer wieder spielte er die Melodie, bis er schließlich den Klavierdeckel zuknallte. Saß da und starrte das verschwommene Spiegelbild seines Körpers im lackierten Holz an. Eine halbe Stunde lang bewegte er sich nicht. Irgendwann erhob er sich, ging zum Fenster und sah auf die Straße hinaus. Der Wagen stand noch da. Den Nachmittag über schaute er regelmäßig nach.

Der weiße Audi parkte etwa hundert Meter entfernt in Richtung Fluss und rührte sich den ganzen Tag nicht von der Stelle.

Sie wollten, dass er handelte. Dass er in Panik geriet und davonlief. Das würde ihren Job einfacher machen, dann konnten sie ihn auf der Straße abfangen. Und ihn verschwinden lassen.

An einem gewöhnlichen Donnerstag in Frankfurt an der Oder.

Er beobachtete die Straße: Fußgänger, Rentner mit ihren Einkaufswägelchen, Jungen auf Skateboards, Mädchen mit dünnen Kleidchen und Handys. Verkehr. Ein Lieferwagen lud Gemüse, Obst und Kartons voller Milch vor einem Supermarkt aus. Städtische Arbeiter reparierten eine Wasserleitung. In dem kleinen Café gegenüber füllten sich zur Mittagszeit die Tische auf dem Bürgersteig. Um sechzehn Uhr dreißig schloss der Pächter sein Lokal.

Er überlegte, ob er jemanden anrufen sollte. Das Festnetz war bestimmt angezapft. Sein Handy auch. Aber es gab noch das Handy seiner Mutter. Ein altes Modell, sozusagen ein Ziegelstein. Für jeden Anruf musste man einzeln zahlen. Niemand würde das erwarten. Wenn er sich kurz hielt, würden sie es vielleicht gar nicht mitbekommen.

Er hoffte, dass die Karte aufgeladen war.

Er wählte. Auf Englisch sagte er: »Schnell. Sie haben mich gefunden. Ich werde später Hilfe brauchen.« Dann legte er auf. Schaltete das Handy wieder aus.

Er bezweifelte, dass die Männer im Audi das Gebäude abscannten, doch man konnte nie wissen. Viel war dafür nicht nötig. Falls sie den Anruf bemerkt hatten, wussten sie auch, wem er gegolten hatte. Keine schöne Vorstellung. Vielleicht war es ein Fehler gewesen. Aber er musste anrufen. Er musste reden, und wenn es nur ein paar Worte waren.

Und er musste sich beruhigen. Lief durch die Wohnung und berührte alle möglichen Gegenstände. Die Kerzenständer aus Messing. Die Reiseuhr. Die Art-déco-Figürchen. Kleine Büsten von Komponisten. Die Pfeifen seines Vaters auf einem Ständer. Die Kissen, die seine Mutter bestickt hatte. Die Familienfotos in Silberrahmen auf einem Silbertablett mit Griffen aus Elfenbein. Sein Vater im Alter von fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig, in den Armen mehrere Fische. Seine Mutter etwa im gleichen Alter in einer Krankenschwesternuniform. Die junge Familie in den sechziger Jahren am Strand, als er und seine Schwester noch Kinder waren. Der Tag seines Abiturs.

Er schenkte sich einen Wodka ein. Wünschte sich, seine Mutter hätte Whisky gehabt. Zwang sich dazu, sich hinzusetzen und den Alkohol langsam zu trinken.

Die lange Helligkeit im Juli war ein Nachteil. Aber der Mann namens Richter saß es aus. Mit Anbruch der Dämmerung schaltete er für die beiden Männer im Audi die Lichter in der Wohnung ein. Stellte sicher, dass sie seinen Schatten vor den Fenstern sehen konnten.

Ehe es ganz dunkel war und eine Viertelstunde bevor der Zug ging, verließ er die Wohnung. Blieb unter der Tür stehen und warf einen letzten Blick aufs Wohnzimmer. Ein gefühlvoller Moment. Dann zog er hastig die Tür ins Schloss. Sperrte ab.

Er verließ den Block durch eine Hintertür, die in einen Park führte. Dort auf dem Rasen tummelten sich nur einige Grüppchen von Teenagern. Sie tranken Bier. Rauchten. Hörten dröhnender Rap-Musik zu. Drei Straßen vor dem Bahnhof kam er heraus. Es waren stille Straßen, durch die ein Mann unbemerkt hasten konnte. Er nahm den letzten Zug nach Berlin, so einfach ging das, und vom Telefon des Zuges aus reservierte er das Hotelzimmer. Hörte, wie der Mann an der Rezeption murrte: »Das ist aber spät für eine Reservierung.«

»Tut mir leid. Können Sie mir helfen?«

Tadelndes Zungenschnalzen. »Ja, gut. Wir haben noch ein Zimmer. Ein Einzelzimmer.«

»Mehr brauche ich nicht.«

Der Mann namens Richter stieg am Bahnhof Zoo aus, sperrte seinen Koffer in ein Schließfach und lief den Kurfürstendamm entlang, während das Gewitter donnernd näherkam. Kein Grund anzunehmen, dass irgendwer wusste, wo er sich befand.

Früh am nächsten Morgen ging er joggen. Die Knesebeckstraße entlang bis zum Ku’damm, dann den leichten Anstieg zum Halensee hinauf. Er lief schwerelos dahin, wenn er auch in der heißen, schwülen Morgensonne schwitzte. Das Gewitter hatte der Stadt keine Erleichterung verschafft. Am See beobachtete er die Schwimmer, bleiche Körper in braunem Wasser. Begriff nicht, was ihnen daran gefiel. Die meisten nackt. Ältere Menschen, von denen er nicht sagen konnte, wer Mann und wer Frau war.

Inzwischen hatten sich die Kerle in dem Audi sicher an die Verfolgung gemacht. Sie mussten herausgefunden haben, dass er den Zug nach Berlin bestiegen hatte, und waren nun wahrscheinlich hier, um die Flughäfen zu beobachten. Und die Bahnhöfe. Hauptbahnhof, Zoo. Richter beschloss, einen Bus und kleine Bummelzüge in eine andere Großstadt zu nehmen. Vielleicht nach Leipzig. Dort konnte er ein Auto mieten. Immer unterwegs sein. Es war das Beste, nicht stillzustehen. Vielleicht sollte er nach Wien fahren, den Flughafen dort überwachten sie bestimmt nicht. Von da konnte er nach Dubai fliegen. Von dort nach Johannesburg. Ja gut, wie der Hotelbesitzer gesagt hatte. Warum nicht? Am Mittwoch wäre er dann bereits zu Hause in Kapstadt. Ein anderer Mann.

Lächelnd überließ Richter die Schwimmer im Halensee ihrem Schicksal, joggte leichtfüßig zurück zur Kreuzung und rannte den breiten Bürgersteig entlang. Es kribbelte ihn weiterzukommen.

In der Pension duschte er, zog sich ein Polohemd, braune Chinohosen, Mokassins und keine Socken an. Steckte die Sonnenbrille in den Ausschnitt seines Hemds. Ein Mann, der geschäftlich in der Stadt zu tun hatte. Vielleicht in der Tourismusbranche arbeitete. Oder mit Sportaccessoires handelte. Ein bescheidener Mann, der originelle Pensionen mehr schätzte als große Hotels. Ein Mann, der im Frühstücksraum entspannt wirkte, wo er die hohen Stuckdecken und die Aufnahmen des alten Berlin an den Wänden bewunderte.

Auf Englisch riet er einem jungen amerikanischen Paar, eine Sauffahrt auf der Spree zu machen. Die zwei sahen wie Kinder aus, höchstens Anfang zwanzig. »Vor gar nicht langer Zeit patroullierten dort noch bewaffnete Boote«, erklärte er den beiden. »Jetzt ist das eine Touristenattraktion. Die Zeiten ändern sich.«

Das Paar lachte. Der jungenhafte Mann sagte: »Super. Vielen Dank, Mann.« Die Kindfrau zeigte ihre blitzend weißen Zähne.

Das Paar verabschiedete sich.

Richter lächelte. Was war super? Dass sich die Zeiten änderten? Die Grenzschutzboote? Der Ausflug? Vielleicht machte das George-Bush-Land die beiden so eigenartig.

Der Hotelbesitzer kam an seinen Tisch und schenkte noch einmal Kaffee nach. Fragte, ob der Herr das Zimmer für eine weitere Nacht zu buchen wünsche.

Richter meinte: Leider nein. Ein schönes Hotel – wies mit einer ausladenden Geste durch den Raum –, aber er befinde sich auf dem Weg nach Hamburg. Um das Wochenende dort mit der Familie zu verbringen. Mit der Brut seiner Schwester.

Ja gut, sagte der Besitzer, dann würde er die Rechnung fertig machen.

Eine Stunde später schlenderte der Mann mit dem Alias Richter die Knesebeckstraße entlang, Richtung Bahnhof Zoo. Ein Mann, der scheinbar viel Zeit hatte. Er behielt die Straße vor sich im Visier. Warf immer wieder einen Blick durch die Schaufensterscheiben, überprüfte die Leute hinter sich. Blieb plötzlich stehen, um in seiner Tasche nach etwas zu suchen, während er die Straße beobachtete. Zehn Schritte weiter machte er es wieder so. Und an der Eisenbahnbrücke. Man musste so vorsichtig wie möglich sein.

Was in dieser Hitze nicht so recht ging. Nicht, wenn man bereits nach fünfzig Metern Laufen in Schweiß ausbrach. Die Hitze ließ alles verschwimmen. Machte einen unaufmerksam. Es passierten schneller Fehler. Er nahm wohl besser einen Bus, um die Risiken zu verringern. Aber zuerst musste er zu seinem Koffer im Bahnhofsschließfach. Zu seinem Laptop. Zu den Dateien.

An der Ecke zur Kantstraße entriss ihm ein Mann plötzlich seine Reisetasche und warf sie auf die Rückbank eines weißen Audi. Stieß ihn hinterher. Richter landete der Länge nach auf den Sitzen. Der andere schob sich hinter ihm ins Auto. Presste eine Pistole in seine Nieren.

Langsam fuhr der Wagen los. Ein Fußgänger rannte neben ihnen her. Schlug gegen die Fensterscheibe, brüllte: »Halt! Halt!«

»Polizei!«, rief der Fahrer. Der Mann draußen blieb abrupt stehen und sah zu, wie sich das Auto in den Verkehr einordnete.

»Wir fahren irgendwohin, wo wir in Ruhe reden können«, erklärte der Mann auf der Hinterbank auf Albanisch. »Und kein Herr Richter mehr. Verstanden?« Zwickte Richter in die Wange. »Wie nennen Sie sich denn gerade? Max Roland, oder? Wir haben viel zu besprechen, meinen Sie nicht, Max?«

»Tricky Max«, sagte der Fahrer und grinste ihn durch den Rückspiegel an. Fasste nach hinten, um seine linke Hand zu erwischen. Spielte damit. »Na, da haben wir’s ja, Max.« Reckte Max Rolands kleinen Finger in die Höhe. »Nur ein Knöchel. Daran sollen wir Sie erkennen.« Er hielt ein Foto hoch. »Falls Sie sich verkleiden. Aber dafür haben Sie sich offenbar viel zu sicher gefühlt.« Er warf die Aufnahme auf den Beifahrersitz. »Seien Sie nicht so enttäuscht, Max. Freuen Sie sich lieber, dass wir Sie erwischt haben, sonst hätten Sie echte Probleme mit den Jungs aus Den Haag bekommen.«

»Für immer weggesperrt«, meinte der Mann neben ihm. »Das wäre ein verdammt langweiliges Leben geworden.«

Die beiden Männer lachten.

Max Roland schluckte. Am liebsten hätte er sich übergeben.

Samstag, 23. Juli

2

»Mr Oosthuizen«, sagte die Stimme. »Ich glaube, Sie brauchen meine Hilfe.«

Magnus Oosthuizen warf einen Blick auf sein Handydisplay: Nummer unterdrückt.

»Wer spricht da?«, fragte er.

»Für den Moment ist es egal, wer ich bin«, erklärte die Stimme.

Eine weibliche Stimme, klar und direkt. Leichter Akzent auf den Vokalen, was sie zu voll, zu betont klingen ließ. Kapstadt. Wahrscheinlich coloured, vermutete er. Eine dieser gebildeten Frauen, die sich krampfhaft darum bemühten, die nasale Eintönigkeit ihrer Sippe hinter sich zu lassen.

»Wichtig ist, dass ich über Ihr Waffensystem Bescheid weiß und dass Sie da eine väterliche Hand brauchen. Oder sollte ich sagen, eine mütterliche? Im Ernst. Wie haben Sie es so lange ohne Hilfe mit der Regierung geschafft? Aber Ihnen ist ja sicher klar, dass es nicht mehr weitergeht.«

»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind«, sagte Oosthuizen. »Ich lege jetzt auf.«

»Wenn ich Sie wäre«, meinte die Anruferin, »wäre ich zumindest neugierig. Ich würde wissen wollen, wer diese geheimnisvolle Person ist, die meine Handynummer hat. Und woher sie von dem Waffensystem weiß. Woher sie weiß, dass ich früher einmal das Vertrauen der richtigen Regierungsleute besessen habe. Und ich würde wissen wollen, was sie mit der Formulierung meint, dass ›es nicht mehr weitergeht‹. Bei so viel Geld, das auf dem Spiel steht, wäre ich nervös. Ich würde zwar ein kleines Theater machen und mich aufregen, aber ich würde diese unerwartete Unterhaltung nicht … sagen wir mal … ergebnislos abbrechen.«

Magnus Oosthuizen schloss die Augen. Massierte sich das Nasenbein. Ihm lief ein kalter Schauder über den Rücken, und er drehte die Heizung höher. Diese feuchten Kapstadt-Winter krochen einem in die Knochen.

»Wer sind Sie?«

»Eines sollten Sie gleich über mich wissen, Mr Oosthuizen. Ich wiederhole mich nicht gerne.«

Oosthuizen stand von der Couch auf und stellte sich ans Fenster, blickte in den Garten hinaus. Ein langer heller Rasen, umrahmt von Lavendelbüschen. Am anderen Ende der Gärtner, der gerade Laub aus dem Pool fischte. Er sah so aus, als könnte er genauso gut eine Gondel durch venezianische Kanäle steuern. John, der Malawier. Die Bewegung hatte er sich wahrscheinlich in seiner Kindheit am See angewöhnt. Oosthuizen machte sich mit Vorliebe über seine Untergebenen lustig.

»Soll ich Ihnen behilflich sein, Mr Oosthuizen? Soll ich einige dieser nagenden Fragen für Sie beantworten?«

Nagend. Offenbar wirklich eine Frau, die sich nach oben gearbeitet hatte.

»Ja«, sagte er. »Von mir aus.« Er ließ sich wieder nieder. Chin-Chin, sein Chihuahua in einem karierten Jäckchen, kratzte mit der Pfote an seinem Hosenbein, um hochgehoben zu werden. Sah ihn aus riesigen Augen an. Wimmerte. »Ag, nein, Kleiner«, flüsterte er dem Hund zu und schob ihn weg. Chin-Chin kam zurück und schnappte nach seinen Fingern.

»Lassen Sie mich als Erstes einmal den Namen Mo Siq nennen.«

»Was soll mit ihm sein?«

Der Hund japste schrill und aufdringlich. Oosthuizen beugte sich herab, um ihn hochzuheben und auf seinen Schoß zu setzen.

»Ist das ein Chihuahua?«, wollte die Frau wissen.

»Ja.«

»Schreckliche Hunde«, meinte sie. »Typisch nördlicher Vorort.«

»Mrs«, sagte Oosthuizen, »ich …«

»Ms. Wir kommen später noch zu meinem Namen. Jetzt zu Mo Siq. Spitzenmann der Regierung bei Waffengeschäften, ehe er einem Attentat zum Opfer fiel. Davor Ihr Berater. Der Ihnen Vorschläge unterbreitete. Aufpasste. Als Insider tätig war. Keine Ahnung, wie es Ihnen gelungen ist, in den letzten Jahren ohne ihn zurechtzukommen, aber ich gratuliere noch im Nachhinein, Mr Oosthuizen. Sie haben das Schlangennest überlebt. Das war sicher schwer. Und verlangte geschicktes Jonglieren. Vielleicht sind Sie ja ein Jongleur. Bisher irgendwelche Fragen?«

»Woher haben Sie meine Nummer?«

Die Frau lachte. Ein leichtes, sanftes Lachen. »Das war kein Problem. Sie befindet sich auf Mos Laptop. Lassen Sie es mich so formulieren: Mos Laptop war eines der Dinge, die ich nach seinem Tod geerbt habe.«

»Sie haben es gestohlen.«

»Geerbt, Mr Oosthuizen. Sie sind sich offenbar bestimmter Verhältnisse nicht bewusst. Also …« Sie hielt inne, und er hörte, wie Flüssigkeit in ein Glas gegossen wurde. »Prost, Mr Oosthuizen …« Er hörte sie einen Schluck trinken. »Nichts geht über einen guten Sauvignon Blanc.« Noch ein Schluck. Oosthuizen warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Wein um elf Uhr vierzig an einem Dienstagvormittag. »Also, Mr Oosthuizen, was Sie von mir wissen wollen sollten …« Ihre Stimme wurde nun geschmeidiger, öliger. »… ist, was ich weiß und was Sie nicht wissen.«

»Hören Sie, Ms …«

»Nein, jetzt hören Sie mir zu, Mr Oosthuizen. Es wird sich für Sie lohnen. Ich weiß, dass die Europäer ein Budget auf einem Unterkonto als Teil ihrer Ausschreibung für das Waffensystem haben.«

»Das ist kein Geheimnis.«

»Mit Unterkonto meine ich Gelder, die nicht zimperlich erworben wurden. Bestechungsgelder. Ohne Gegenleistungen in Form von Edelstahl. Auch keine Aluminiumhütten. Keine Kondomfabriken. Geld in den Hosentaschen der Regierungsleute. Ich meine Konten auf den Caymans. Oder auf den Kanalinseln. Island, Barbados – wo auch immer sie ihre Hosentaschen haben. Die Art von Hosentaschen, die Sie nicht füllen können, Mr Oosthuizen. Weshalb Sie mich brauchen.«

»Und was können Sie tun?«, schnaubte Oosthuizen verächtlich und wand sich, um den Hund von seinem Gemächt zu schieben. Chin-Chin beschwerte sich lautstark.

»Eine ganze Menge«, erwiderte die Stimme. »Glauben Sie mir. Zum Beispiel Ihren Wissenschaftler Max Roland am Leben halten. Ihn gegen einen anderen austauschen. Ihnen sogar helfen, ihn nach Hause zu bekommen.«

»Wo sind Sie?«, fragte Oosthuizen.

»In der gleichen Stadt wie Sie. Wie wäre es mit einem Drink heute Nachmittag? An der Waterfront? Im Den Anker? Wir haben viel zu besprechen. Kommen Sie vorbei.«

»Wie soll ich Sie erkennen? Ich weiß nicht einmal Ihren Namen.«

»Sie werden mich nicht erkennen. Und meinen Namen wissen Sie tatsächlich nicht. Das ist natürlich alles sehr geheimnisvoll, aber so bin ich nun mal, Mr Oosthuizen. Das ist mein Stil. Sagen wir siebzehn Uhr? Ich bin die Blondine mit der Rose. Keine Sorge, ich erkenne Sie.«

3

Sheemina February legte auf.

Mr Magnus Oosthuizen. Einer jener Menschen, die alles überlebten. Wie sie selbst. Wie sie war auch er jemand, der das System zu nutzen verstand. Allerdings hatte er keine Ahnung, dass ihn das System bald in die Mangel nehmen würde. Und den attraktiven Max Roland obendrein. Den Frauenschwarm.

Sie legte das Telefon beiseite und trat mit ihrem Glas Wein auf den Balkon hinaus. Legte ihre steife linke Hand auf das Chromgeländer. Blickte über das Meer, das vom letzten Sturm noch immer aufgepeitscht war, von braunem Schaum durchzogen, und gegen die Felsen drei Stockwerke unter ihr schlug. Sie hätte die unterste, tiefste Wohnung auch kaufen können. Hatte diese an einem ruhigen Tag mit einem leisen Plätschern besichtigt. Bezaubernd. Verführerisch. So nahe neben dem Meer zu sein. Der Balkon dort gab einem das Gefühl, auf einem Boot zu sein. Aber sie kannte das Meer bei Kapstadt, wusste, wie es ansteigen und mit welcher Wucht es zerstören konnte. Noch war nichts passiert, doch höchstwahrscheinlich würde es das eines Tages tun.

Sie trank einen Schluck Wein. Behielt ihn einen Moment lang im Mund, um den Geschmack voll auszukosten.

Das Traurige an der Sache war, dass sie ihr Nest verlassen musste. Ihre weiße Festung, diese Felsenhöhle. Eine luxuriöse Höhle in einem Kliff voll teurer anderer Höhlen, die Filmstars, reichen Geschäftsleuten, Kartelltussen und erfolgreichen Models mit zu viel Geld, das sie viel zu schnell verdient hatten, gehörten.

Aber damit ihr Plan aufging, musste sie die Wohnung verlassen und untertauchen. Wie die Schwarze Witwe, die sich versteckte und auf ihr Opfer wartete. Auf ihr Opfer Mace Bishop.

Sie liebte die Wohnung seit vielen Jahren. Gestattete niemandem, sie zu betreten. Nicht einmal ihren jeweiligen Liebhabern. Sie betrachtete sie als Festung und als Zufluchtsort. All das hatte sich jedoch verändert, seit sie zu einem Spinnennetz geworden war.

Sie drehte sich zum Wohnzimmer hin. Zu den weißen Sofas zwischen den weißen Flokatiteppichen auf dem Eschenparkett. Auf den meisten Oberflächen standen weiße Votivkerzen, die sie abends anzündete. Ein weiß getünchter Esstisch und ebensolche Stühle. Ihr Nest. Ihr großes Reich aus Weiß.

Sie hingegen trug Schwarz: Stiefel, Hose, Rollkragenpulli. Einen schwarzen Lederhandschuh an ihrer gequälten Hand, wenn sie ausging. Ein langer schwarzer Mantel gegen die Kälte. Manchmal ein Paschmina-Schal, der lose herabhing. Um des Flairs willen. Für ihre Eleganz. Schwarz, um das Eisblau ihrer Augen zu verstärken. Schwarz in dieser hellen, weißen Welt. Außer ihren kurzen blonden Haaren. Doch die waren nur vorübergehend blond, eine Art Verkleidung. Weder ihre Farbe noch ihr Stil. Nur eine Zwischenlösung. Wenn sich die Zeiten wieder geändert hatten, würde sie zu ihrem schwarzen Bob zurückkehren.

Sie trank einen weiteren Schluck Wein. Was für ein Wunder das Leben doch war.

Sheemina February lächelte ihrem Spiegelbild in den Scheiben des Panoramafensters zu. Strich sich ihre blonden Haare aus dem Gesicht. Manchmal spielte einem das Leben in die Hände … in die Hand. Magnus Oosthuizen und Max Roland waren Topkandidaten für die Dienste von Mace Bishop. Wie praktisch. Und das zu einer Zeit, in der Mr Bishop vor Trauer kaum aufrecht stehen konnte, vor Trauer um seine hinreißende Frau Oumou. Und zugleich langsam seine Tochter verlor. Den armen Mann hätte es zu keinem ungeeigneteren Moment treffen können. Vorausgesetzt, es gelang ihr, ihm das Ganze zuzuschieben – was ihr sicher gelingen würde. Magnus Oosthuizen würde formbar sein wie Ton. Wie der Ton, den die entzückende Oumou für ihre kleinen, niedlichen Töpfereien verwendet hatte.

»Du bist eine perfekte Vermittlerin, Sheemina«, sagte sie laut. »Du solltest Provision verlangen.«

Sie ging in die Wohnung zurück und schloss die Schiebetür. Auf ihrem Laptop waren Bilder zu sehen, die Mart Velaze von Max Roland geschossen hatte. Fotos von einem nackten Max Roland. Der Hintergrund war weiß gefliest. Die Hände hielt Max Roland über den Kopf, die Handgelenke waren mit Plastikriemen an einen Duschkopf gefesselt. Die Haltung brachte seinen Körperbau wunderbar zur Geltung: die Linien seiner Arme, seiner Brust, seines flachen Bauchs, seiner kräftigen Oberschenkel. Allerdings waren seine Waden zu dünn. Ein reizender Körper, dessen Waden verbessert werden konnten. Ein Läufer, wie man ihr gesagt hatte. Manchmal hatten Läufer überraschend schmale Waden. Auch Schwimmer. Mace Bishop etwa. Für einen Langstreckenschwimmer hatte er schmale Waden. Je länger sie den Körper von Max Roland betrachtete, desto stärker erinnerte er sie an Mace Bishop. Vielleicht lag daran seine Anziehungskraft.

Sie beugte sich näher über den Laptop.

Eine Serie von vier Fotografien, die innerhalb einiger Stunden gemacht worden waren. Auf dem ersten Bild steckte noch Kraft in Max Rolands Körper. Sein Gesicht spiegelte Resignation wider, die Füße standen fest auf dem Boden. Auf dem zweiten: Sein rechtes Knie war angewinkelt, um eine Stütze an der Wand zu finden. Etwas begann in seinem Gesicht – eine Anspannung um die Augen, ein leichtes Öffnen der Lippen. Das nächste Bild zeigte, wie er sich mit einer Hand an den Duschkopf klammerte, als ob er versuchte, sich aufrecht zu halten. Der Mund stand leicht offen. Sie vermutete, dass er keuchte. Sheemina February zoomte auf seine Nasenlöcher, die sich mehr und mehr weiteten. Seine Lippen waren außerdem trocken. Auf dem dritten Bild konnte sie seine Zungenspitze sehen. Und seine Augen wirkten jetzt wild – schwarze kleine Pupillen, die nach links starrten. Auf dem vierten Foto war er nass, die blonden Haare klebten auf seiner Kopfhaut, Tropfen hingen in seinen Brusthaaren. Die Augen geschlossen, der Mund offen. Man hatte das Wasser aufgedreht, um ihn wiederzubeleben, doch es hatte nichts genutzt. Er baumelte an dem Duschkopf, sein ganzes Gewicht zerrte an seinen Handgelenken, sein Körper wölbte sich nach vorne. Seine Füße unter ihm zuckten. Er musste große Schmerzen haben. Sheemina February nahm an, dass es maximal vierundzwanzig Stunden gedauert hatte, um ihn in diese Verfassung zu bringen. Wahrscheinlich mit Hilfe von etwas, was man auf den Bildern nicht sah. Ein paar Schläge mit einem Elektroschocker wirkten oft wahre Wunder.

Sie stellte sich Mace Bishop in diesem Zustand vor. In dieser Position?

Sie zoomte auf Max Rolands Genitalien. Bild eins: Hier war der Hodensack noch fest und der Penis zurückgezogen. Erinnerte sie an eine Muräne. Nummer zwei dann: Der Sack war eingefallen, das Glied durch die Haltung nach vorne gedrückt. Auf dem dritten Bild: herabhängend, dünn und nutzlos. Schließlich wie eine verschrumpelte Frucht, die zu lange am Baum gehangen hatte – violett angelaufen, von Wespen und Fliegen zerstochen.

Sheemina February schloss die Datei und öffnete das Dokument mit den Informationen über Max Roland. Eine Stunde lang las sie darin und war so absorbiert davon, dass sie sogar vergaß, sich Wein nachzuschenken.

Danach machte sie sich zu Mittag einen Salat und trank noch ein Glas Sauvignon Blanc. Max Roland und Magnus Oosthuizen würden zweifellos perfekte Klienten für Mace Bishop sein. Wie seltsam die Welt doch funktionierte. Und wie angenehm es manchmal sein konnte.

Sie holte die Fotografie von Mace Bishop aus ihrer Handtasche, die sie dort in einer Plastikhülle aufbewahrte. Mace in einer schwarzen Speedo, wie er gerade dabei war, in den Pool zu springen, in dem er dreimal die Woche seine Bahnen zog. Wo sie hinging, um ihn zu beobachten, wenn sie das Bedürfnis danach verspürte. Um ihn zu beobachten, ohne dass er etwas merkte. So wie auch das Foto heimlich entstanden war. Er hatte insgesamt eine gute Figur. Vielleicht schon ein wenig zu kräftig um die Taille, aber ansonsten fit. Sie hielt das Bild mit den Fingern ihrer rechten Hand hoch.

Um sechzehn Uhr fünfzehn verließ Sheemina February ihre Wohnung. Durch eine Fernbedienung aktivierte sie vom marmorgefliesten Flur aus die Alarmanlage. Fuhr mit dem Lift zwei Etagen hinauf und lief dann die Treppe zur Dachgarage hoch. Drei Autos in den Buchten für Besucher. Außerdem der Mercedes ihres Nachbarn und der BMW der Witwe unter ihr. Daneben ihr großer BMW X5. Der Wind zerrte an ihrem Mantel, und die Kälte der Seeluft ließ sie zittern. Mit der behandschuhten Hand zog sie den Mantel fester um sich. Atmete tief ein, nahm den kräftigen Geruch des Meeres in sich auf.

Fünfundzwanzig Minuten später setzte sich Sheemina February an einen Restauranttisch, der sich der Eingangstür gegenüber befand. Auf die Tischdecke legte sie eine Rosenknospe. Sie hatte noch viel Zeit. Bestimmt würde auch Magnus Oosthuizen frühzeitig eintreffen. Er war diese Sorte Mensch. Vorsichtig. Misstrauisch.