Katie Cotugno
so geht liebe
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Astrid Finke
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Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel
How to Love
bei Balzer + Bray, an imprint of HarperCollins, New York
Copyright © 2013 by Katie Cotugno und Alloy Entertainment
Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,
unter Verwendung einer Illustration von © 2013 Alison Carmichael
Redaktion: Martina Vogl
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-12274-4
V002
www.heyne-fliegt.de
Für Jackie,
die alles zuerst gelesen hat
1 Nachher
Ich suche schon eine halbe Ewigkeit nach Sawyer, als ich ihn im Supermarkt auf dem Federal Highway vor der Slush-Maschine stehen sehe. Er starrt das gefrorene, neonbunte Gerühre durch die Scheibe an, als erwartete er, darin die Enthüllung der Geheimnisse des Universums zu finden.
Vielleicht tut er das ja auch.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Ich reiße die Augen auf. Ich brauche Kaugummi und eine Cola und eine Packung Zookekse für Hannah, aber ich weiß jetzt schon, dass ich mit leeren Händen aus dem Laden gehen werde. In fünfzehn Minuten fängt mein alberner Buchhaltungskurs an. Wasser vom Gewitter draußen tropft aus meinem praktischen, geflochtenen Zopf auf das schmutzige Linoleum. Um meine Füße herum bildet sich eine kleine Pfütze.
»Hallo, Reena.« Und schon hat er mich, wie immer, erwischt. Er setzt gerade vorsichtig einen Deckel auf seinen Plastikbecher, aber niemand hat sich je in seinem gesamten Leben an Sawyer LeGrande angeschlichen, und als er sich zu mir umdreht, ist er nicht eine Spur überrascht. Seine Haare sind ganz kurz rasiert.
»Hallo, Sawyer«, sage ich langsam, in meinem Kopf ist ein Rauschen und Tosen wie von Wellen. Ich stecke den Zeigefinger durch meinen Schlüsselring und drücke zu, das kalte Metall schneidet mir in die Handfläche, und ich denke mir, wie unfair es ist, dass er nach all der Zeit Gott weiß wo braun gebrannt und strahlend hier auftaucht und ich aussehe wie eine halb ertrunkene Proletin. Ich bin nicht geschminkt. Meine Jeans hat an beiden Knien große Löcher. Ich bin mindestens fünf Kilo dicker als bei unserer letzten Begegnung, aber ehe ich noch Zeit habe, vor Scham im Erdboden zu versinken, ist er schon an den Chips und Salzstangen vorbei und umarmt mich fest. Als würden wir das ständig machen.
Er riecht noch gleich, fällt mir als Erstes auf, nach Seife und Erde. Ich blinzle. »Ich wusste nicht«, setze ich an, wobei ich mir nicht ganz sicher bin, welche spezielle Unkenntnis ich zu gestehen beabsichtige: vielleicht einfach alle, sämtliche universellen Wahrheiten aus achtzehn Jahren, die jeder außer mir begriffen hat.
»Ich bin erst gestern zurückgekommen«, sagt er. »Ich war noch gar nicht im Restaurant.« Er verzieht den Mund zu einem seiner trägen, schiefen Grinsen, gegen die ich seit der siebten Klasse immun zu werden versuche. »Ich glaube, ich überrasche vielleicht viele Leute.«
»Ach, glaubst du das?«, fauche ich, ehe ich mich bremsen kann.
Sawyer hört auf zu grinsen. »Ich … ja«, sagt er. »Glaube ich.«
»Na klar.« Etwas Besseres fällt mir nicht ein. Besser gesagt fällt mir überhaupt nichts ein, was ja bei Sawyer schon immer so war, obwohl man meinen könnte, dass ich mittlerweile zumindest ansatzweise darüber hinausgewachsen wäre. Damals, als wir noch zusammen im Antonia’s arbeiteten, habe ich andauernd Teller fallen gelassen oder vergessen, welche Bestellung wohin kam, Rechnungen verwechselt. Als ich fünfzehn war, hat eine Frau an einem meiner Tische mal einen Sex on the Beach bestellt, und ich brauchte so lange, um den Mut aufzubringen, die Bestellung bei ihm an der Theke aufzugeben, dass die Frau sich bei meinem Vater über den schlechten Service beschwerte und ich nach Feierabend noch die Küche putzen musste.
»Meine Mutter hat es mir erzählt«, sagt er jetzt, verstummt aber und fängt noch mal neu an. »Also …«
Ich male mir aus, ihn endlos dort baumeln zu lassen, wie einen Gehenkten im Wilden Westen, aber am Ende bin ich diejenige, die zuerst einknickt. »Hannah.« Was seine Mutter ihm wohl sonst noch erzählt hat. Ich kann den Blick nicht von seinem Gesicht losreißen. »Sie heißt Hannah.«
»Ja. Ich meine.« Sawyer wirkt unbehaglich, als wartete er noch auf etwas anderes. Darauf, dass ich es einfach ausspreche vielleicht – willkommen zurück, wie war deine Reise, wir haben ein Baby gemacht –, aber ich halte den Kiefer fest geschlossen. Soll ihm doch ausnahmsweise mal nichts einfallen, denke ich zickig. Soll er doch zur Abwechslung mal schwitzen. Der Slush in seinem Becher ist knallgrün, wie ein Alien. Mein Zopf hat einen nassen Fleck auf dem T-Shirt hinterlassen. Sawyer tritt verlegen vom einen Fuß auf den anderen. »Das hat sie gesagt.«
Wir stehen da. Wir atmen. Ich höre das Brummen und Klappern des Supermarkts überall um uns herum, alles kalt und kühlschrankhell. Über Sawyers linker Schulter hängt ein riesiges grelles Poster von Würstchen im Schlafrock. Ich hatte mir diesen Moment anders vorgestellt.
»Tja«, sage ich nach einer Minute. Ich versuche lässig zu klingen, und liege kilometerweit daneben. »War nett, dich zu sehen. Ich sollte besser mal holen, was ich kaufen wollte, oder …« Ich breche ab, zupfe mir ein einzelnes Haar von der Stirn, blicke hinauf in die summenden Neonlampen. »Sawyer, ich muss wirklich los.«
Sein Kinn zuckt, nur ein winziges bisschen. So was würde man nie bemerken, wenn man nicht seine gesamte Pubertät damit verbracht hätte, sein Kinn zu betrachten und dergleichen. »Reena …«
»Ach, komm, bitte nicht.« Ich möchte es ihm nicht leicht machen. Das sollte ich nicht müssen. Nicht, wenn er es war, der einfach verschwunden ist, ohne auch nur ein Ciao, bis dann, ich liebe dich. Nicht, wenn er es war, der einfach gegangen ist. »Egal, was du mir sagen willst, mach dir keinen Kopf. Alles ist gut, okay?«
»Nein, ist es nicht.« Er mustert mich, und ich erinnere mich so klar daran, wie er mit acht aussah, mit elf, mit siebzehn. Sawyer und ich waren nur ein paar Monate zusammen, aber ich war davor so lange in ihn verliebt gewesen, dass ich damals selbst dann nicht weitergewusst hätte, wenn wir überhaupt nie ein Paar gewesen wären.
Ich zucke die Achseln und lasse den Blick über das Eis schweifen, die Kautabakauslage, die Chipstüten. Dann schüttle ich den Kopf. »Doch, sicher.«
»Komm schon, Reena.« Sawyer schaukelt auf den Fersen zurück, als hätte ich ihn geschubst. »Lass mich hier nicht so im Regen stehen.«
»Ich soll dich nicht im Regen stehen lassen?« Das kommt lauter heraus, als ich wollte, und ich ärgere mich, weil ich ihm damit zeige, dass ich immer noch an ihn denke, dass ich ihn nicht abschütteln kann. »Alle dachten, du liegst tot in irgendeinem Straßengraben, Sawyer. Ich dachte, du liegst tot in irgendeinem Straßengraben. Möglicherweise bin ich also nicht die beste Adresse für dich, um sich über mangelndes Entgegenkommen zu beschweren.«
Das klingt böse und gefasst, und eine Sekunde lang wirkt mein großer Zauberer Sawyer so hilflos, so tieftraurig, dass es mir fast noch mal das Herz bricht. »Lass das«, fordere ich ihn leise auf. »Das ist unfair.«
»Was denn?« Er hat sich wieder einigermaßen gefangen. »Ich mach doch gar nichts.«
Ich verdrehe die Augen. »Sawyer, sei einfach …«
»Du siehst echt gut aus, Reena.«
Übergangslos ist er wieder der Löwenbändiger. Das Ganze ist so surreal, dass ich fast lachen muss. »Sei still«, sage ich und versuche, es auch zu meinen.
»Warum? Es stimmt.« Als hätte er einen sechsten Sinn dafür, dass er mich beinahe eingewickelt hat, grinst Sawyer. »Sehen wir uns demnächst mal irgendwo?«
»Bist du demnächst noch hier?«
»Ja.« Sawyer nickt. »Ich glaube schon.«
»Tja.« Ich zucke mit den Schultern wie jemand, dessen Hände nicht zittern, dessen Kehle nicht fest zugeschnürt ist. Ich hatte mich gerade erst endlich daran gewöhnt, dass er weg war. »Ich wohne hier.«
»Ich würde gern dein Baby kennenlernen.«
»Sie wohnt auch hier.« Mir ist bewusst, dass es noch andere Menschen in diesem Gang gibt, normale Supermarkteinkäufer, deren Welt an diesem schönen Tag keine scharfe und unerwartete Wendung genommen hat. Einer davon stupst mich aus dem Weg, um an die Cheetos zu kommen. Draußen gießt es immer noch wie verrückt, als wäre der Weltuntergang vielleicht nah. Ich atme so ruhig aus, wie es geht. »Tschüss, Sawyer.«
»Bis bald, Reena«, sagt er zu mir, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich es für ein Versprechen halten.
2 Vorher
»Gin«, verkündete Allie triumphierend, warf ihre letzte Karte auf meine gesteppte Tagesdecke und reckte siegreich das spitze Kinn. »Du bist erledigt.«
»Uff. Im Ernst?« Ich ließ mich auf den Rücken fallen und legte meine Füße auf ihren Schoß. Wir waren den Großteil des Nachmittags völlig in eine absurd komplizierte Version von Gin Rommee vertieft gewesen, deren strenges und verwickeltes Spezialregelwerk wir nie jemandem hatten erklären können – was eigentlich auch egal war, da wir ohnehin immer nur miteinander spielten. »Ich höre auf.«
»Man nennt das nicht aufhören, wenn man schon verloren hat.« Sie streckte die Hand zur Kommode aus und scrollte durch die Musik auf meinem Laptop. Aus dem Lautsprecher plätscherte der fröhliche Pop, den sie am liebsten mochte. »Man nennt das einfach … sich geschlagen geben.«
Ich lachte und trat ein bisschen nach ihr, nur sanft. »Doofie.«
»Selber Doofie.«
So blieben wir eine Weile, in gemütlichem und vertrautem Schweigen. Allie zupfte gedankenverloren an einem Faden im Saum meiner Jeans. An der Wand hing ein Poster von der Seufzerbrücke in Venedig, daneben eins von Paris in der Abenddämmerung – beide mit kleinen Fettflecken in den Ecken von der Klebepaste, mit der ich sie versetzt und wieder versetzt hatte, bis sie genau richtig hingen. Es war Frühling, fast schon Sommer, und wir waren in der neunten Klasse; die Welt kam uns unendlich vor und unfassbar klein.
»Hallo, ihr zwei.« Meine Stiefmutter Soledad tauchte im Türrahmen auf, die dunklen Haare ordentlich zu einem Knoten oben auf dem Kopf gesteckt. »Roger und Lyd können jeden Moment hier sein«, sagte sie zu mir. »Könntest du bitte nach unten kommen und den Tisch decken? Allie, Schätzchen«, fuhr sie fort, ohne extra auf meine Antwort zu warten – natürlich würde ich Ja sagen, ich sagte immer Ja. »Möchtest du mitessen?«
Allie runzelte die Stirn und schielte nach dem Wecker auf meinem Nachttischchen. »Ich sollte wohl lieber nach Hause gehen.« Sie seufzte. Ein paar Wochen vorher war sie schon wieder beim Klauen erwischt worden, eine Plastiksonnenbrille und ein Seidenschal bei Gap dieses Mal, und ihre Eltern hielten sie gerade an einer ziemlich kurzen Leine. »Aber danke«
»Ist gut.« Soledad lächelte und klopfte zweimal auf den Türrahmen, bevor sie sich umdrehte, sodass das zarte Metall ihres Eherings auf dem Lack klackerte. »Deck bitte einen Platz mehr, Serena«, rief sie über die Schulter. »Sawyer kommt heute Abend auch mit, glaube ich.«
Sofort sahen Allie und ich uns mit großen Augen an. »Ich kann doch bleiben«, erklärte sie hastig und schnellte hoch wie ein Präriehund. »Ich rufe meine … äh. Genau. Ich kann auf jeden Fall bleiben.«
Ich musste so heftig lachen, dass ich fast vom Bett fiel, und dachte, noch während ich mich zusammenzureißen versuchte, dass ich mich schminken musste. »Du bist so durchschaubar«, sagte ich, hievte mich hoch und ging so zwanglos in den Flur, als würde mein Herz nicht wie ein Presslufthammer gegen meine Rippen donnern. »Komm mit, du Nervensäge. Du kannst die Servietten falten.«
Zwanzig Minuten später rauschte Lydia LeGrande in die Küche wie ein Tropensturm, mit ihrem Selbstvertrauen und ihren klobigen Halsketten, und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wie läuft’s, Reena?« Ohne auf meine Antwort zu warten, stellte sie eine Platte mit edlem Käse auf dem Schrank ab und zog die Plastikfolie ab. Roger folgte mit einer Flasche Wein, er manövrierte seinen beträchtlichen Umfang mit erstaunlicher Gewandtheit und legte mir zur Begrüßung eine Hand auf den Rücken. »Hallo, Süße«, sagte er.
Die LeGrandes waren die engsten Freunde meiner Eltern, sie führten nicht nur das Restaurant mit ihnen zusammen, in dem wir alle arbeiteten, sondern begleiteten sie auch auf Urlaubsreisen zu den Keys oder zu Freiluftkonzerten im Holiday Park. Ihre Outburst-Spieleabende waren laut und legendär. Lydia war mit meiner Mutter aufs College gegangen. Über sie und Roger hatten sich meine Eltern überhaupt erst kennengelernt, und nachdem meine Mutter an multipler Sklerose gestorben war, als ich vier war, und mein Vater zu sehr damit beschäftigt war, Gott zu verfluchen, um an Dinge wie Pausenbrote und saubere Strümpfe zu denken, war Lydia diejenige gewesen, die Soledad einstellte, ohne sich zu dem Zeitpunkt darüber bewusst zu sein, dass sie eine zweite Frau für ihn gefunden hatte, wie sie auch die erste für ihn gefunden hatte. Gute zehn Jahre später kamen die LeGrandes immer noch oft zum Abendessen – aber meistens ohne ihren Sohn.
Heute allerdings war das Glück auf meiner Seite, oder die Monde eines weit entfernten Planeten standen günstig, denn tatsächlich schlich Sawyer hinter den beiden herein, mit Jeans und T-Shirt und seinen dunklen, gewellten Haaren. Um den Hals hatte er den winzigen Halbmondanhänger, den er immer trug, ganz angelaufen und dünn. »Du«, sagte mein Vater als Begrüßung zu ihm, als er aus dem Garten hereinschlenderte, wo er gerade den Grill angezündet hatte. Allie und ich deckten noch den Tisch, sie hielt ein paar Gabeln in der Hand. »Ich hab da eine Platte, die du dir anhören musst. Eine richtige Platte. Herbie Hancock. Komm mal mit.«
»Mein Sohn hat schlechte Laune«, murmelte Roger warnend, aber Sawyer gab nur Soledad einen Kuss, nickte meinem Vater zu und folgte ihm ins Wohnzimmer, wo die große Stereoanlage stand. Sawyer war sein Patenkind, er war damit aufgewachsen, durch die überfüllten Flure unseres Hauses zu streifen. Zehn Jahre vorher hatte mein Vater ihm das Klavierspielen beigebracht.
»Hallo, Reena«, sagte er abwesend und nickte mir zu, als er an mir vorbeiging – dicht genug, dass ich ihn riechen konnte, seifig und leicht warm. Ich hatte ihn ein paar Tage vorher bei der Arbeit gesehen. Zum Essen war er seit fast einem Jahr nicht gekommen.
Ich schluckte, mein Herz klopfte in meinem Brustkorb wie Kieselsteine an eine Fensterscheibe. »Hallo.«
Sawyer war zwei Klassen über uns, in der elften, wirkte allerdings viel älter, eher wie mein Bruder Cade. So war er schon immer gewesen, seit ich mich erinnern konnte, als hätte er bereits tausend unterschiedliche Leben geführt. Er arbeitete im Restaurant als Barkeeper und ließ sich in der Schule blicken, wenn ihm danach war, und mich ignorierte er größtenteils: nicht aus Boshaftigkeit, aber eben wie man einen Spruch auf einer Hauswand ignoriert, den man jeden Tag sieht. Ich war Teil der Landschaft, fiel nicht weiter auf, war so vertraut, dass ich mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen war.
Allie allerdings. Allie war schwer zu ignorieren.
»Hallo, Sawyer«, rief sie jetzt, und die lockigen Haare hüpften um ihren hübschen Kopf. Sie hatte sich umgezogen, sich ein Oberteil von mir geliehen. Ein schlichtes schwarzes mit Spaghettiträgern, nichts Besonderes. Ihre Schultern waren mit Sommersprossen bedeckt. »Lange nicht gesehen.«
Sawyer blieb stehen und betrachtete sie mit einem gewissen Interesse. Mittlerweile war Roger Soledad auf die Terrasse gefolgt, und Lydia machte sich wie üblich in der Küche zu schaffen, als wäre es ihre eigene, und durchwühlte die Besteckschublade nach passenden Messern zu ihrem Käse. Allie lächelte nur.
Ich beobachtete sie aufmerksam. Sie kannten einander, klar, von diversen Familienfeiern, Geburtstagen und Abschlussfeiern, aus dem Schulflur. Aber sie waren nicht befreundet, beim besten Willen nicht, weshalb ich so überrascht war, als er langsam und lässig zurückgrinste. »Das kann man wohl sagen.« Er hob das Kinn in ihre Richtung. »Lange nicht gesehen.«
3 Nachher
»Sawyer LeGrande ist hier?«
Ich bin stinksauer, als ich volle zwei Stunden früher als geplant ins Haus stapfe und mit der Anmut und Gelassenheit einer Handgranate in die Küche poltere. Vom Supermarkt aus bin ich in panischen Kreisen durch den immer noch biblischen Wolkenbruch gefahren, als würde etwas Schlimmes passieren, wenn ich anhielte, als würde das Schicksal diejenigen begünstigen, die in Bewegung bleiben, und die Würfel wären schon gefallen. Dreimal ist mir an der Ampel der Motor abgestorben.
»Was?« Soledad schreckt auf. Sie hat gerade Möhren geschnitten, und das Messer fällt scheppernd ins Spülbecken. Sie flucht leise auf Spanisch und steckt sich schnell den Daumen in den Mund. Hannah, die in ihrem Kinderstuhl sitzt und eine schmutzige Tomate aus dem Gemüsebeet meines Vaters zerquetscht, kreischt los. Sie ist klein und dunkelhaarig und temperamentvoll, meine Tochter; wenn sie wirklich will, kann sie ein Heulen von sich geben wie ein zehnmal so großes Geschöpf. »Mama«, weint sie, und das letzte a klingt, als hätte die Welt sie ganz schrecklich ungerecht behandelt. Ich nehme sie auf den Arm und laufe wie ein nervöses Raubtier auf und ab, wie eine Löwin oder Luchsin.
»Ist schon gut«, lüge ich und flüstere Unsinn, bis sie sich beruhigt. Wässriges Fruchtfleisch rutscht durch ihre runden Fäustchen. »Du hast dich erschreckt. Ich weiß. Ist schon gut.« Ich drehe mich wieder zu meiner Stiefmutter um, die immer noch das Blut von ihrem Finger saugt und mich fassungslos ansieht. »Sawyer LeGrande«, wiederhole ich, als gäbe es noch einen anderen Sawyer, den ich meinen könnte. »Stand einfach vor der Slush-Maschine.«
Soledad lässt sich einen Moment Zeit, um diese Information zu verarbeiten, dann: »Welche Geschmacksrichtung?«
Ich blinzle sie an. »Welche Geschmacksrichtung?«
»Das habe ich gefragt.«
»Was zum Henker ist das denn für eine Frage?«
»Vorsicht«, ermahnt sie mich, und ich sehe schuldbewusst Hannah an. Mein Kind läuft und plappert schon vor sich hin, saugt mit einer sagenhaften Gier alles um sich herum auf, und ich weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es in den Kindergarten geht und von seiner Erzieherin wissen will, warum das Essen heute so scheiße schmeckt.
»Verzeihung«, murmle ich und gebe Hannah einen Kuss auf den warmen, flaumigen Kopf, während sie mir ein bisschen Tomate ins Gesicht matscht. »Deine Mama hat ein schmutziges Mundwerk.«
»Hast du Buchhaltung geschwänzt?«, fragt Soledad, und ich will ihr gerade erklären, wo genau auf meiner Prioritätenliste derzeit das College steht, als mein Bruder durch die Hintertür hereinkommt, meinen Vater dicht auf den Fersen. Heute war eine Geschäftsführersitzung im Restaurant, fällt mir plötzlich ein.
»Die Damen.« Cade wirft mir einen kurzen Blick zu und steuert direkt den Kühlschrank an. Früher mal, vor langer Zeit, war er Verteidiger im Footballteam unserer Schule, und er isst immer noch, als müsste er sich Masse für ein Spiel anfuttern. »Ich habe heute Vormittag Aaron im Fitnessstudio getroffen.«
Ich übergehe seine Bemerkung – und die Erwähnung meines Freundes – einfach, als hätte ich ihn gar nicht gehört. »Wusstest du, dass Sawyer zurück ist?«, frage ich stattdessen. Ich möchte nicht so verrückt klingen, wie ich klinge, so nah an der Hysterie, deshalb hole ich tief Luft, schaukle Hannah auf der Hüfte und versuche, mich zusammenzureißen. »Und? Wusstest du es?«
»Nein«, sagt Cade sofort, weicht aber plötzlich meinem Blick aus. Es kribbelt in meinem Nacken. Stirnrunzelnd betrachtet er den Inhalt des Kühlschranks, als gäbe es da drin etwas echt Interessantes zu sehen. »Hast du den ganzen O-Saft ausgetrunken?«
»Kincade, ich frage dich noch mal …«
»Was?« Jetzt klingt er sauer auf mich, genervt. »Ich wusste es nicht, im engeren Sinne …«
»Cade!«
»Reena.« Mein Vater stellt sich zwischen uns, als wären wir sieben und zwölf statt achtzehn und dreiundzwanzig, als hätte er Angst, ich könnte auf freche kleine Schwester machen und Cade gegen das Schienbein treten oder an den Haaren ziehen. Als würde ich nicht hier stehen und mein eigenes Kind auf dem Arm halten. »Es reicht«, sagt er, und ich wende mich ihm zu. Mein Vater und der von Sawyer sind seit Kindertagen miteinander befreundet, führen seit über zehn Jahren gemeinsam das Restaurant, sind gegenseitig Patenonkel ihrer Söhne. Es ist absolut undenkbar, dass Sawyer LeGrande auch nur die Staatsgrenze zu Florida überschreitet, ohne dass mein Vater es erfährt.
»Was ist mit dir?« Ich bemühe mich, meine Stimme ruhig zu halten. Seine Haare werden langsam grau an den Schläfen. Hannah windet sich unglücklich in meinen Armen. »Du musst es gewusst haben.«
Mein Vater nickt. »Ja«, sagt er und sieht mir in die Augen. Was er nie tut, ist lügen.
»Und du hast mir nichts gesagt?«
Eine Minute schweigt er, als dächte er nach. Auf seinem Hemd sind dunkle Flecke vom Regen. »Nein«, erwidert er, als er so weit ist.
Nichts davon ist mir neu, aber trotzdem trifft es mich mit fast körperlicher Wucht, wie ein Kissenbezug voller Kleingeld oder eine von Gott gesandte vierzigtägige Sintflut. »Warum nicht?«, frage ich, und es klingt um einiges trauriger als beabsichtigt.
»Reena …«
»Soledad, bitte.«
»Ich habe es dir nicht erzählt«, sagt mein Vater langsam, und er ist geradezu der Inbegriff von Ruhe. »Weil ich gehofft habe, er würde nicht bleiben.«
Tja.
Alle drei sehen mich an und warten. Soledad hat sich eine Hand aufs Herz gepresst. Cade steht immer noch vor dem Kühlschrank, wuchtig und muskulös, wachsam.
»O-Saft ist in der Tür«, sage ich schließlich und bringe Hannah zu ihrem Mittagsschlaf ins Bett.
4 Vorher
»Wir werden langsam zu alt dafür«, verkündete Allie unvermittelt. Wir vertrödelten den Vormittag auf der Schaukel in der hinteren Ecke des riesigen, makellosen Gartens ihrer Eltern: nur wir zwei, genau wie immer. Allies maisgelbes Haar streifte das Gras, als sie sich zurücklehnte, so weit sie konnte.
»Wir sind schon zu alt dafür.« Ich lag kopfüber auf der Plastikrutsche, Knie abgewinkelt, und tastete ohne Erfolg nach einem Löwenzahn oder ein paar höheren Halmen zum Abzupfen. Allies Vater war fanatisch mit seinem Rasen. In jenem Sommer waren wir fünfzehn, durften noch nicht Auto fahren und bettelten ständig Allies ältere Freunde an, uns mitzunehmen. »Genau darum geht es doch. Also halt den Mund und schaukel.«
»Na schön.« Sie lachte. »Mach ich vielleicht auch.« Dann allerdings überlegte sie es sich anders, setzte sich auf und schüttelte sich leicht benommen. »Hast du Lust auf einen Kaffee?«
Ich zog die Stirn kraus. Sehr bald wäre es zu heiß, um weiter hier so zu liegen, aber Allie wollte eigentlich nur deshalb einen Kaffee, weil ihre Freundin Lauren Werner bei Bump and Grind arbeitete und Eiskaffees verschenkte, und ich konnte Lauren Werner nicht ausstehen. »Hast du denn Lust auf einen?«
Darüber dachte Allie kurz nach, die Augen hinter der riesigen Hornsonnenbrille zusammengekniffen. »Nein«, antwortete sie schließlich und seufzte theatralisch. »Ich will einfach nur irgendwo hin.«
Ich wollte gerade eine Nachmittagsvorstellung im Kino oder vielleicht lieber einen Kaffee im Buchladen vorschlagen, aber da tauchte ihre Mutter in der Küchenschiebetür auf, die Haare vom selben perfekten Blond wie die von Allie, aber zu einem kurzen und praktischen Bob geschnitten. »Hallo!«, rief sie uns zu. Sie lehnte im Türrahmen und kratzte sich mit dem nackten Fuß am anderen Knie. »Ich habe Muffins gebacken, falls ihr Hunger habt.«
»Fall nicht drauf rein«, sagte Allie sofort. »Die sind voller Leinsamenmehl.«
»Das stimmt nicht!«, rief ihre Mutter zurück. Mrs. Ballard hatte Ohren wie eine Fledermaus. »Probier einfach mal einen, Reena.«
»Okay«, willigte ich ein. Ich war generell umgänglich, und außerdem musste ich sowieso aufs Klo. Ich machte eine Rolle rückwärts von der Rutsche und spazierte durch das tiefe, leuchtende Grün des Rasens zum Haus. Selbst so früh am Tag war die Hitze wie eine Sirupwand. »Komme.«
»Bring Karten mit!«, rief Allie mir nach, sämtliche Pläne, den Garten zu verlassen, schlagartig vergessen. In jenem Sommer beschäftigten wir uns nur mit Alte-Leute-Kartenspielen: Bridge und Binokel, Ekarté und Schwarze Katze. Allie hatte sich das ausgedacht, das neueste einer langen Abfolge von Sommerthemen wie Mozartzöpfe flechten oder der Katharine-Hepburn-Filmkanon. »Und Zettel und Stift!«
»Sonst noch was« – ich warf ihr einen durchdringenden Blick über die Schulter zu –, »Eure Majestät?«
Allie grinste so breit und albern sie konnte, und schleuderte einen Flipflop vom Fuß in meine Richtung. »Bittebitte?«
»Mal sehen.«
Ich ging aufs Klo, holte die Karten aus Allies Zimmer und klappte das Schminkköfferchen auf der Kommode auf, weil ich den Risky-Business-Lipgloss suchen wollte, den sie sich ein paar Tage vorher im Einkaufszentrum besorgt hatte. Zuerst fand ich nur Lidschatten und ein paar Tampons und wollte schon aufgeben, als meine Fingerspitzen auf einen angelaufenen silbernen Halbmond an einer dünnen Schnur stießen, den ich – sofort, ohne jedes Nachdenken, so wie man sein eigenes Gesicht im Spiegel erkennt – als den von Sawyer LeGrande erkannte.
Ich blinzelte. Ich schluckte. Ich stand, ich weiß nicht wie lange, da, während im Hintergrund leise die Klimaanlage brummte und meine nackten Füße in den blassgrauen Teppichboden sanken, auf dem noch die Saugspuren von Valencia, der Putzfrau der Ballards, zu sehen waren. Endlich ging ich nach draußen, einfach an Mrs. Ballard vorbei, die einen Pappteller mit zwei Leinsamen-Blaubeer-Muffins in der Hand hielt, bei deren Anblick mir plötzlich ein bisschen schlecht wurde.
Allie hob den Kopf, als ich näher kam. Inzwischen hing sie an den Ringen, machte einen Überschlag nach dem anderen wie früher, als wir klein waren, und ihre gebräunten Beine flogen in die Luft. »Wo sind die giftigen Muffins?«, fragte sie. Dann, als sie mein Gesicht sah: »Was ist denn?«
Ich hielt die Kette mit dem schaukelnden Anhänger hoch, als wäre sie radioaktiv. »Hast du das gestohlen?« Selbst in meinen eigenen Ohren klang ich schrill.
Allie ließ die Ringe los. Ihre ganze Miene veränderte sich in einer Weise, die ich noch nie erlebt hatte, beinahe anklagend, gleichzeitig auf der Hut. »Hast du in meinen Sachen gewühlt?«
»Wie bitte?« Ich war erschrocken. Wir wühlten andauernd gegenseitig in unseren Sachen, Allie und ich, kein Problem. Sie hätte aus dem Stand heraus den Inhalt meiner Schreibtischschublade aufsagen können. »Ich hab nach dem Risky Business gesucht.«
Allie kniff die Augen zusammen. »Ach so«, sagte sie und wirkte mit einem Schlag wieder normal. Sie zog die Tube aus ihrer Shortstasche. »Hier.«
»Danke.« Ich malte mir etwas auf die Lippen und starrte sie weiterhin an. Der silberne Halbmond schlug mir gegen die Fingerknöchel, und als ich ihr den Lipgloss zurückgab, nahm sie den Anhänger ebenfalls und ließ ihn verschwinden wie eine Taschenspielerin.
»Also?«, hakte ich nach. »Hast du den geklaut?«
»Ob ich ihn geklaut habe?«, wiederholte sie. »Für was hältst du mich? Für eine irre Kleptomanin?«
»Als ob du noch nie was geklaut hättest.«
Allie legte den Kopf schief, ihre Miene sagte auch wieder wahr. »Den Lipgloss hab ich gestohlen«, gab sie zu.
»Was? Im Einkaufszentrum? Ich dachte, du hättest ihn bezahlt.«
»Das hab ich nur zu dir gesagt.« Sie zuckte die Achseln. »Da hast du gerade an den Parfüms gerochen.«
Ach, verdammt noch mal. Ich ließ mich mitten auf den Rasen fallen, legte mich auf den Rücken und sah in den klaren, erbarmungslosen Himmel. Die Luft fühlte sich an wie eine nasse Decke. »Du musst dir das abgewöhnen.«
»Ich weiß.« Sie legte sich neben mich. Eine Minute lang sagte keiner von uns beiden etwas. Ich hörte ihren Magen knurren und Wespen in der Nähe summen.
»Allie?«, fragte ich schließlich bemüht ruhig, um nicht zu zeigen, dass ich innerlich leicht hysterisch war. Sie war seit unserem vierten Lebensjahr meine beste Freundin. »Woher hast du die Kette?«
Allie seufzte wie eine flatternde weiße Fahne, als würde ich die Wahrheit sowieso aus ihr herausfoltern und es wäre leichter, sie mir freiwillig zu erzählen. »Nicht geklaut.«
Eine Sekunde lang bekam ich keine Luft, mir wurde schwindlig, obwohl ich auf dem Rücken lag. »Dachte ich mir schon.« Und im selben Moment wurde mir bewusst, dass das stimmte. »Hat er sie dir geschenkt?«
Allie nickte. Sie drehte sich auf die Seite und stützte sich auf einen spitzen Ellbogen, um mir ins Gesicht zu sehen. »Ich wollte es dir sagen. Ich wusste nur nicht, wie.«
Ich drückte mir die Handballen in die Augen und sah bunte Farben wie bei einem Feuerwerk, als würde in meinem Kopf etwas explodieren. »Sawyer LeGrande hat dir die Kette geschenkt«, wiederholte ich und musste fast loslachen, so lächerlich klang es laut ausgesprochen. »Seit wann hast du was mit Sawyer LeGrande zu tun?«
Meine Stimme hatte wieder diesen merkwürdigen Klang, diese verrückte Schrillheit, aber Allie zog nur die Schultern hoch. »Seit ein paar Wochen.«
»Ein paar Wochen?«
»Drei vielleicht.«
»Drei?« Ich setzte mich schnell auf, und jetzt war mir wirklich schwindlig. Im Garten war es sehr, sehr heiß. »Und darüber reden wir erst jetzt?«
»Ach, komm, Reena.« Jetzt erhob auch sie sich, mit roten Wangen und einer Spur von Angriffslust im Tonfall. »Als wäre es so wahnsinnig leicht, dir was zu erzählen. Besonders so was.«
»Das stimmt nicht«, sagte ich. »Das stimmt nicht, und es ist unfair, mir …«
»Entschuldige«, lenkte sie sofort ein. »Du hast recht. Es tut mir leid. Ich hätte es erwähnen sollen.«
»Es erwähnen sollen?«
»Kannst du bitte mal aufhören, alles zu wiederholen, was ich sage?«
»Ich wiederh…« Gerade noch rechtzeitig verstummte ich. »Allie, das ist nicht irgendjemand, das ist Sawyer Le…«
»Was willst du wissen?«
Was ich wissen wollte? Ich starrte sie dümmlich mit offenem Mund an. Ich hatte keine Ahnung, welche Fragen ich stellen sollte. Absurderweise und leicht panisch spürte ich, dass ich möglicherweise gleich in Tränen ausbrechen würde.
»Komm schon«, sagte sie sanft und stupste mich mit dem Knie. Allie hasste es, wenn Leute böse auf sie waren, sie konnte es fast nicht aushalten. »Sieh mich nicht so an. Nicht du.«
»Ich sehe dich überhaupt nicht irgendwie an«, erklärte ich. »Ich … sehe dich nur an.«
»Dein Gesicht macht was Komisches.«
»Gar nicht wahr!« Ich lachte, ein seltsames kleines Bellen, das nicht mal in meinen Ohren auch nur annähernd wie mein normales Lachen klang. »So sehe ich eben aus.«
»Nein, so siehst du nicht aus«, widersprach sie. »Hör schon auf. Sawyer und ich machen nur manchmal was zusammen. Er ist mit Lauren befreundet. Ich hab ihn eines Tages im Bump und Grind getroffen, und er hat gefragt, ob ich, du weißt schon …«
»Ob du was genau?«
»Ob ich mal was mit ihm machen will! Ist doch keine große Sache.« Plötzlich betrachtete Allie mich etwas eingehender, als wäre ihr gerade ein Gedanke gekommen. Ihre Ohren waren von der Sonne gerötet. »Das ist doch jetzt nicht wirklich schlimm für dich, oder?«, fragte sie. »Ich meine, ich weiß, dass wir immer Witze machen, wie toll er ist und so, aber du bist doch nicht echt, also … Ich meine, wenn du ihn ernsthaft magst …«
»Aber nein!«, wehrte ich sofort ab, als könnte ich die Lüge, wenn ich sie mit genug Nachdruck vorbrachte, wenigstens ein bisschen wahrer machen. Tief drinnen wusste ich, dass Allie recht hatte: Ich war berühmt dafür, meine Gefühle für mich zu behalten. Falls Allie nicht klar war, wie stark – wie gewaltig – das war, was auch immer ich für Sawyer empfand, dann war das sehr wahrscheinlich meine eigene Schuld, weil ich mir nie etwas anmerken ließ.
Jetzt allerdings, als ich dort im Garten saß wie schon an hundert anderen Sommertagen, war es zu spät, es ihr zu erzählen. Es ging nicht mehr, nicht, wenn Sawyer sich bereits für sie entschieden hatte. Nicht, wenn sie beide sich bereits füreinander entschieden hatten. Das Einzige, was mir noch übrig blieb, war, mich mit der Lüge selbst zu schützen.
»Ist schon okay«, fuhr ich fort und zuckte lässig die Achseln. »Tut, was ihr nicht lassen könnt.« Wahrscheinlich hätte ich weitergeredet, mich vielleicht angeboten, ihnen beim Aussuchen des Hochzeitsporzellans zu helfen, aber Gott sei Dank stand da Mrs. Ballard wieder in der Küchentür, mit einer Stimme wie eine Hupe quer durch den leeren Garten.
»Hey, ihr zwei!« Dieses Mal klang sie gereizt, ungeduldig. Ich fragte mich, wie viel sie wohl mitgehört hatte. »Wollt ihr die jetzt oder nicht?«
»Nein, Ma!«, schrie Allie und drehte sich dann erwartungsvoll wieder zu mir um. Doch ich war schon dabei aufzustehen, wischte mir die Shorts ab und verzog mein Gesicht zu einer Maske von lockerer, künstlicher Gelassenheit.
»Ich schon«, sagte ich, obwohl ich eigentlich keinen Appetit hatte. Ich lief über das Gras, die Sonne brannte mir auf den dunklen Haarvorhang. »Bin schon unterwegs«, rief ich und ließ Allie hinter mir zurück.
5 Nachher
Nachdem ich Hannah abends ins Bett gebracht habe, gehe ich in den Garten, um vielleicht noch ein bisschen zu lesen. Draußen ist es schwül und sumpfig, es wimmelt vor Mücken, aber offen gestanden ist es nicht schlimmer als an jedem anderen Tag, und überhaupt fühle ich mich im Haus eingesperrt.
An den Abenden verbringe ich viel Zeit hier im Garten, da ich wegen des Babys ans Haus gekettet bin. Ich mache es mir auf einem Liegestuhl bequem, ab und zu flitzt eine Eidechse am Orangenbaum hoch, und in der feuchten Luft rollen sich die Seiten meiner Bücher auf. Ich lerne oder klicke auf Facebook herum, unterhalte mich mit Soledad, wenn sie in Plauderlaune ist. Früher habe ich manchmal hier draußen geschrieben, bevor ich endlich kapituliert und aufgehört habe, mich selbst zu quälen – der leere Bildschirm wie ein stummer Vorwurf des Menschen, der ich damals in der Schule war. Alles, was ich einmal vorhatte und nicht getan habe.
Heute allerdings ist mein Vater schon vor mir da und arbeitet in dem Beet, das er angelegt hat, als Cade und ich noch klein waren, zupft die Blattläuse von den Tomatenpflanzen. Durch das Fenster hört er Sarah Vaughan. In den Falten seiner Handflächen klebt Erde.
Beinahe drehe ich mich auf dem Absatz wieder um und gehe – ich bin immer noch wütend auf ihn wegen vorhin, ganz klar, aber das ist nicht alles, bei Weitem nicht. Von der Sekunde an, als ich Sawyer sah, wusste ich, dass sein Auftauchen alle möglichen schlimmen Erinnerungen für meinen Vater aufrühren würde, und allein schon, wenn ich hier neben ihm stehe, spüre ich erneut das vertraute Brennen von Frustration und Scham. Einen Moment lang bin ich wieder sechzehn, schwanger und hoffnungslos, jeder sorgsame Plan für meine Zukunft weggeweht wie Spreu im Wind.
Trotzdem: Das war vorher.
»Wie geht’s?«, frage ich und laufe über die Terrasse zu ihm. Der Schiefer fühlt sich warm unter meinen Füßen an.
Mein Vater dreht sich kurz zu mir um, dann zurück zu seinen hohen, dürren Pflanzen. Sein Arzt sagt, Gartenarbeit sei gut für sein Herz, aber deshalb macht er das nicht. »Ganz gut, denke ich.« Er seufzt und reibt mit dem Daumen über ein behaartes grünes Blatt. »Ich mache mir Sorgen wegen Fäule.« Er geht zu den Zucchini, den leuchtend gelben Sommerkürbissen. Ganz am Schluss sind Soledads Rosensträucher dran, wie immer, die er zurückschneidet, damit sie nicht an der Hauswand hochklettern und wie in einem Märchen alles überwuchern.
Früher einmal hatten wir hier einen kleinen Swimmingpool, aber mein Vater ließ ihn abbauen, als wir noch klein waren, angeblich wegen der Instandhaltungskosten und der Ertrinkungsunfallstatistiken. »Außerdem«, sagte er damals, »dürft ihr gern zu Roger und Lydia gehen und dort den Pool benutzen, wann immer ihr wollt.«
Es stimmt, dass Cade und ich als Kinder stundenlang dort vom Sprungbrett gehüpft sind und im klaren blauen Wasser Purzelbäume geschlagen haben. Ich stelle mir vor, jetzt mit Hannah und unseren Badesachen dort aufzutauchen. Wir wollten nur mal ein bisschen planschen. Allein schon Lydias Gesichtsausdruck könnte es wert sein.
»Was denn?«, fragt er, während er sich den Paprikaschoten zuwendet. Die Gartenschere klappert in seiner Hand.
Ich schrecke auf. »Hm?«
»Du hast gegrinst.«
»Ach.« Ich habe gar nicht bemerkt, dass er mich ansieht. Aber ich habe den leisen Verdacht, dass er von dem Bild vor meinem geistigen Auge nicht so amüsiert wäre wie ich. »War keine Absicht.«
Als ich meinem Vater erzählte, dass ich schwanger bin, hat er elf Wochen lang nicht mit mir gesprochen. Ich mache ihm daraus keinen großen Vorwurf: Seine eigenen Eltern starben, als er sieben war, und er wuchs bei den Nonnen der Gemeinde Saint Tammany in Lousiana auf. Er war wild entschlossen, Priester zu werden, bis er meine Mutter traf, und noch heute geht er jeden Freitag zur Beichte und trägt einen Christophorus-Anhänger unter seinem Hemd. Im Herzen ist er Musiker, aber er hat die Seele eines sehr, sehr ernsthaften Ministranten, und dass er mich nicht in ein Kloster geschickt hat, bis das Baby kam, ist wahrscheinlich ein Beweis für die Barmherzigkeit des Gottes, zu dem wir in meinem Elternhaus immer gebetet haben.
Es wurde besser, als Hannah auf der Welt war, besser, vermute ich, als mein Bauch nicht mehr so sichtbar, so aufdringlich dick war, und im Laufe des letzten Jahres haben mein Vater und ich einen etwas wackeligen Waffenstillstand geschlossen. Dennoch ist seine Wut auf Sawyer noch fast bodenlos, und es überrascht mich nicht, dass ich einen Teil davon abbekomme, nun, da mein ehemaliger Freund zurück ist.
Buße. Genau.
»Ich wollte hier draußen ein bisschen lesen«, sage ich schließlich, weil mir nichts Besseres einfällt. Immer noch halte ich mein Buch unter den Arm geklemmt.
Mein Vater runzelt die Stirn. »Dazu ist es schon ein bisschen dunkel, Reena.«
Geh weg, bedeutet das. Ich weiß nicht, was mich dazu bringt, einen Versuch zu wagen. »Zum Blattläuse-Abzupfen ist es auch schon ein bisschen dunkel«, bemerke ich.
Er seufzt erneut, als wäre ich absichtlich schwierig, als würde ich ihn absichtlich falsch verstehen. »Tja«, sagt er nach einer Weile, und als er sich endlich ganz zu mir umdreht, ist es so still, dass ich das ewige Zischen des Rasensprengers aus dem Nachbargarten höre. »Da hast du wahrscheinlich recht.«