Andreas Gabriel
ÜBERS
W ASSER
Ein Mann, ein Boot –
unterwegs zu sich selbst
Andreas Gabriel
ÜBERS
W ASSER
Ein Mann, ein Boot –
unterwegs zu sich selbst
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Dieses Buch entstand in Zusammenarbeit
mit Klaas Jarchow Media, Hamburg
Redaktion: Matthias Michel
Copyright © by Ludwig Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik·Design, München
Bilder im Innenteil: © Andreas Gabriel
Satz: Leingärtner, Nabburg
ePub-ISBN: 978-3-641-12920-0
V002
www.Ludwig-Verlag.de
Für meine Familie
»Das wird er nicht schaffen!«
EIN NACHBAR
»Der will doch nur zu sich selber finden.«
DER NACHBAR DES NACHBARN
»Wie kann man bloß seine Familie
so verantwortungslos allein lassen?«
BEKANNTE EINES FREUNDES
»Ich bin mal gespannt, an welcher
Brandung es ihn zerlegt.«
EIN INTERNETKOMMENTAR
»Ich werde dich unterstützen, so gut ich kann,
aber ich finde nicht gut, was du da vorhast.«
MEIN VATER, DER DAS MEER KENNT
»Abenteuer beginnt dort,
wo die Planung endet.«
ICH, ANDREAS GABRIEL
INHALT
PROLOG
TEIL 1
»Na, auf dem Weg nach Amerika?«
»Erst mal Richtung Asien!«
Tönning – Köln – Würzburg – Budapest – Belgrad – Sfântu Gheorghe – Istanbul – Mykonos – Lavrio – Korinth – Trizonia
TEIL 2
Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde
ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde …
Schiavonea – San Remo – Marseille – Saintes-Maries- de-la-Mer – Estepona – Tarifa – Sancti Petri – Sagres – Porto – Peniche – Gijón
TEIL 3
Hoffnung ist so ein komischer Vogel, den ich an Bord nicht brauche
Laredo – Arcachon – La Rochelle – Les Sables d’Olonne – Saint-Malo – Le Havre – Oostende – Papendrecht – Cuxhaven – Büsum – Tönning
EPILOG: UND DAS WICHTIGSTE ZUM SCHLUSS
DANK
ANHANG
Übers Wasser – Tag für Tag
Ausrüstung
PROLOG
Die gestern noch alles erfüllende Gewitterluft hat sich verzogen. Der Himmel ist blau und nur wenige schnelle Wolken ziehen noch über mich hinweg. Sie scheinen ohne Regeln unterwegs zu sein, überholen mal langsam, mal schnell. Oder bleiben einfach stehen, wenn ihnen danach ist. Seit den frühen Morgenstunden sitze ich immer wieder mal auf der Bank vor dem Amt des Hafenmeisters. Ab und zu laufen Menschen an mir vorbei; ich muss aufpassen, dass ich nicht wie gewohnt mit meinen himmlischen Freunden dort oben quatsche. Vielleicht bin ich genauso zügellos wie die Wolken, doch jetzt bin ich wieder hier, in meiner alten norddeutschen Heimatwelt. In einer Welt, in der man nicht laut mit sich selbst spricht. Ich bin zurückgekehrt in eine Welt, in der man nicht mehr so einfach an eine Tür klopft, nur weil einem die Nähe der Menschen gut tut und man sie braucht, wie die Luft zum Atmen. Hier ist jeder für sich und geht seinen Weg.
»Hier, ein paar Gurken, habe ich dir mitgebracht.« Ein Hafenmonteur holt mich aus meinen Gedanken. »Aus dem eigenen Garten, mit Pferdedung und Elbwasser großgezogen.« Zum abertausendsten Mal bin ich überrascht. Viel muss ich ihm gar nicht antworten, mein starker Händedruck und mein Lächeln zeigen ihm viel deutlicher meine Dankbarkeit. Ich werde diese Gurken sehr genießen, mein Lieber. Dann schiebt er seine Handkarre weiter, hinunter auf die Steganlage, an der die Motorboote, die Segelboote und meine Karre nur darauf warten, wieder auf die See gelassen zu werden. Ja, der Wind nimmt ab. Ich spüre noch etwa fünf Windstärken und die Böen, doch er wird schwächer. Der Wind steht dem Ebbstrom entgegen, der sich aus Westen von der Nordsee seinen Weg in die Elbe hineinbahnt und gegen das auflaufende Wasser eine kurze, steile Welle vor den Molen erzeugt. Es ist warm und sonnig, und ich rede mir selbst gut zu: »«Warte Andreas, in einer Stunde kippt die Strömung, danach beruhigt sich das Wasser. Dann fährst du zu deiner Familie, ja, und dann hast du es tatsächlich geschafft! Du hast es überlebt!«
Es ist der Sommer 2013.
Meine eigene »Karre« ist eine andere als die des Hafenschraubers. Karre nenne ich meinen Kajakmaran. Eigene Erfindung. Zwei handelsübliche Kunststoff-Kajaks, Zweisitzer, habe ich mit zwei Beams, Querverbindungen aus Aluminium, zu einem Katamaran zusammengefügt. Plus Seitenschwertern, einer Doppelruderanlage von einem Segelkatamaran, zwei kleinen Masten mit »Optimisten«-Jollensegeln, einer Mittelverbindung mit einem Streifen Stegprofil zur Stabilisierung – das ist mein Boot, meine kleine Yacht, meine Karre eben. Ein kleiner Außenborder ist mittig in Griffweite von den Sitzplätzen angehängt – für die Einfahrten in die Häfen, die Tage ohne Wind und die Kurse direkt gegen den Wind. Die Sitzöffnungen in den Kajaks sind geschlossen, die vorderen mit einem stabilen Deckel, die hinteren mit den üblichen Spritzdecken. Mein Platz ist – backbord oder steuerbord – auf zwei flachen Fendern, Kunststoffkissen zum Abhalten und Schutz des Bootes vor den Kaimauern. Nur wenn ich mich auf meiner Karre in der Mitte hinstelle und auf die Zehenspitzen gehe, erreicht mein Kopf gut zwei Meter Höhe. Im Normalfall aber sitze ich auf Meereshöhe, eigentlich so gut wie im Wasser. Denn immer wieder gehen während der Fahrt die Wellen über die Kajakschwimmkörper und auch über mich hinweg. Nichts ist mir näher als das Wasser.
Ich habe so viel Wasser durchfahren, Wellen durchschnitten, Gischt und Salz abbekommen, dass ich inzwischen instinktiv fast jeden Spritzer mit der Hand abzuwehren versuche. Es ist vollkommen paradox. Ich habe nur mit der Hilfe des Wassers diese Reise machen können, ich wollte unbedingt auf das Wasser, aber nichts scheue ich nun mehr als das spritzende Wasser. Obwohl es immer noch mein Element ist, und das Element meiner Karre.
Fast habe ich den Endpunkt meiner Reise erreicht, bald schließt sich der große Kreis über 15 000 Kilometer durch und um Europa. Von meinem Heimatort Tönning in Nordfriesland über Kanäle, Rhein und Donau auf das Schwarze Meer, durch Ägäis, Mittelmeer, Atlantik und Biskaya an die französische Küste, durch den Ärmelkanal und die Nordsee zurück nach Norddeutschland. Ich bin kurz davor, mein Ziel zu erreichen: meinen Ausgangspunkt.
Auch das ist paradox. Nichts hat mich mehr angetrieben als das Bild meiner Rückkehr. Die Wiedereinfahrt in den Hafen vom Tönning an der Eider, auf der Halbinsel Eiderstedt. Wo meine Freundin lebt, meine Kinder, meine Eltern, meine Freunde. Am Wasser, wo ich aufgewachsen bin. Wo ich im Watt den Geruch des Schlicks aufgenommen habe und nie mehr verlieren werde. Wo Robben und Seevögel leben. Wo ich mit meinem Vater die ersten Bootstouren auf die Nordsee machte. Wo ich mein erstes eigenes Boot hatte. Von wo es mich so stark fortgezogen hat. Um zurückzukehren. Kein Bild hat mich stärker vorangetrieben als das Bild meiner Rückkehr, die nun nur noch wenige Tage bevorsteht. Es ist seltsam, aber so war es.
Noch sind ein paar Meilen zu segeln, 20 oder 30 Seemeilen. Heute will ich über die Sände nach Büsum übersetzen und danach in Ruhe die restlichen Meilen bis zur Eidermündung zurücklegen. Seit gut einer Woche mischt sich in die große Vorfreude eine Ungewissheit, eine unbestimmte Angst davor, dass jetzt bald etwas zu Ende geht. Etwas, das über drei Jahre mein ausschließlicher Antrieb war. Eine Reise zu den Menschen in Europa, und eine Reise zu mir selbst. Nur mit meiner Karre. Ohne Geld. Angewiesen auf die Hilfe der Menschen unterwegs. Auf Gaben, wie die vom Hafenschrauber hier in Cuxhaven – vier kleine grüne Gurken aus dem eigenen Garten, mir im Vorübergehen in die Hand gedrückt.
Es war eine ungeheuerliche Anstrengung, mit Tiefen und Höhen. Nur ein einziges Mal mit der ernsthaften Überlegung aufzugeben. Nur einmal. Selten mit Angst, aber oft in Gefahr. In Nebel und Sturm, in stechender Hitze und brutaler Kälte. Und in Nässe. Immer wieder diese Nässe.
Aber mit wunderbaren Menschen. Unvergesslichen Begegnungen und Zuwendungen. Mit täglich neuen Eindrücken – so vielen, dass es nötig war, ab und zu Pausen einzulegen. Weil ich übervoll war von Eindrücken, die Intensität dieser Reise zu viel wurde. Ich musste die Tour unterbrechen, weil mein Speicher voll war. Und weil der Körper über seine Grenzen geführt worden war. Meine Haut war von Sonne und Salz zu brüchigem Pergament geworden, meine Füße waren wund.
Drei Jahre auf dem Wasser quer durch Europa und an Europas Küsten zurück. Auf einem Gefährt wie ein polynesischer Einbaum-Ausleger. Mit täglich neuen Anlandungen an Stränden und in Häfen, die ich vorher nicht kannte. Wo ich nicht wusste, was mich erwartet. Europa umsonst. Angewiesen auf das Verständnis und die brüderliche Versorgung durch andere Menschen, angewiesen aber auch auf eine innere Ruhe, auf Gelassenheit und Gottvertrauen.
Diese unglaubliche Reise wird bald, sehr bald Geschichte sein. In nur noch ein paar Tagen, ein, zwei oder drei, werden die Karre und ich wieder zu Hause sein. Nach einer Reise, die so verlief …
TEIL 1
»Na, auf dem Weg nach Amerika?«
»Erst mal Richtung Asien!«