Eins
Osterville, Cape Cod, Massachusetts
Ich stand vor dem großen Spiegel und erkannte die Frau nicht, die darin erschien.
»Ausatmen«, befahl Sophie, meine beste Freundin. »Wie viel Gewicht hast du seit der letzten Anprobe verloren?«
»Keine Ahnung.« Das Kleid hing an mir herab. »Könnten wir es nicht irgendwie ausstopfen?«
Sophie griff in ihr eigenes Kleid und zog zwei Gelkissen aus dem Mieder. »Hier, nimm die.«
Ich starrte wieder in den Spiegel und wartete, während sie die Knöpfe auf der Rückseite meines Kleids öffnete. Ich bot keinen schönen Anblick. Dass ich an meinem Hochzeitstag so aussehen würde, hatte ich mir nicht vorgestellt. Eine strahlende Braut sah anders aus.
»Ich kapiere einfach nicht, warum du dieses Kleid trägst.«
»Bitte nicht schon wieder! Mutter hat sich eben dafür entschieden.«
Sophie verdrehte die Augen. »Ich weiß, ich war dabei. Dieses Kleid hätte Rose gestanden und vielleicht sogar deiner Mutter, aber doch nicht dir! Das bist einfach nicht du!«
Ich holte tief Luft und schob die Einlagen in mein Korsett. Meine Brüste wurden zwar hochgedrückt, doch ein wirklich pralles Dekolleté bekam ich dadurch nicht. Sophie machte sich wieder an meinen Knöpfen zu schaffen. Ich wusste genau, was sie meinte. Das Kleid war viel zu verspielt und überladen, ich sah darin aus wie ein Kleiderständer im Baisermantel.
»Entschuldige, dass ich Rose erwähnt habe.«
»Ist schon okay.«
Sophie umarmte mich schnell. Zusammen blinzelten wir gegen die Tränen an. Ich trug viel zu viel Wimperntusche, um jetzt losheulen zu können.
»Seid ihr so weit?« Jane, meine Mutter, kam ohne anzuklopfen ins Zimmer gestürmt und musterte mich von Kopf bis Fuß. Ich hielt den Atem an.
»Du siehst …« Mutter trat auf mich zu und zupfte den Ausschnitt über meinem gepolsterten Busen zurecht. »… perfekt aus.«
»Danke.« Ein weiterer Blick in den Spiegel bestätigte mir, dass ihre Worte eine Lüge waren. Mutter stand neben mir und betrachtete unser Spiegelbild. Ich überragte ihre grazile Gestalt in dem zartlila Kleid, das ihr blondes Haar hervorragend zur Geltung brachte. Ähnlich war nur unser Mund, ich hatte ihre vollen Lippen geerbt. Rose war Mutters Ebenbild gewesen, klein, zierlich, hell, ich dagegen war eher ein dunkler, schlaksiger Typ.
»Ich wusste, dass ich mit dem Kleid richtiglag. Es steht dir viel besser als das, was du dir ausgesucht hattest.«
Ich nickte. Ihr zu widersprechen brachte zu diesem Zeitpunkt gar nichts; ich hatte viel zu lange damit gewartet.
Kein Lüftchen wehte durch die Blätter der Birken, von denen die Kirche eingerahmt wurde. Wäre nicht das Geplapper von drinnen zu hören gewesen, hätte man fast meinen können, die Zeit stünde still. Ich stand vor dem Eingang und versuchte zu atmen. Die Luft war schwül, drückend. Trotz des Dunstschleiers lag die Temperatur bei über fünfunddreißig Grad. Wie konnte es Anfang Juni in Cape Cod nur so heiß sein?
»Alles klar?«, fragte Dad, der von hinten an mich herantrat und meinen Ellbogen nahm.
Ich runzelte die Stirn, dann drehte ich mich um und grinste ihn an.
»Nervös?« Er schaute auf die Uhr. Es war Punkt drei. Jeden Augenblick würde die Musik wechseln und ich meinen letzten Gang als unverheiratete Frau antreten. Vorsichtig spähte ich durch die Tür und den Mittelgang entlang. Die Kirche war mit einer Unmenge von rosa Blumen geschmückt – Hunderten von Lilien, um genau zu sein. Der Altar war kaum zu sehen hinter den zahllosen Blüten, die in sämtlichen Nuancen dieser grauenhaften Farbe leuchteten. Blassrosa war vorherrschend. Ich hatte Rosa immer schon gehasst. Vielleicht hätte ich das sagen sollen, aber ich hatte es versäumt.
Neben dem Altar stand John, mein Verlobter: groß, blond und absolut umwerfend, doch auch er hatte sich der Farbe nicht entziehen können: Der Kummerbund seines Smokings war auf die rosa Kleider der Blumenmädchen abgestimmt. Wie Aufziehpuppen wuselten sie um meine Knie herum, stark riechende rosa Lilien in den kleinen Fäusten.
Ich hielt meinen Brautstrauß ein Stück von mir weg. Der Duft von Lilien nahm mir jedes Mal den Atem, doch in der Hitze war es noch schlimmer. Als ich aufschaute, begegnete ich dem Blick meines Vaters.
»Woran denkst du, Jude?«
Ich beugte mich vor und lehnte für eine Sekunde meinen Kopf gegen seine Schulter. »An den Garten, den wir in Abu Dhabi angelegt haben.«
»Da war es auch so heiß wie hier im Moment.«
»Ja, das war es.« Abu Dhabi war etwas ganz Besonderes gewesen. Rose war noch wohlauf gewesen, als wir dort gelebt hatten, Mutter weniger hektisch und der Garten ein Traum. Ich meinte, den Duft von Wachsblumen und nachtblühendem Jasmin zu riechen. »Ich habe den Garten geliebt.«
»Ich auch.« Dad zog seinen Kummerbund zurecht. Für mich in meinem dünnen Kleid war die Hitze schon zu viel, für meinen Vater im Smoking musste sie schier unerträglich sein.
»Es war der erste, den wir von Grund auf gestaltet haben.«
»Das ist schon so lange her.« Er legte seine Hand auf meinen Arm.
»Fast zwanzig Jahre.« Die Musik setzte aus. Ich spürte, wie sich der Druck von Dads Hand verstärkte. Mein Mund wurde trocken.
»Bist du bereit?«, fragte er.
Ich nickte, doch dann sah ich Mutter, die wild Richtung Chorempore gestikulierte.
»Falscher Alarm.« Dad zückte ein Taschentuch und wischte sich die Stirn. Die Rosenknospe in seinem Knopfloch ließ schlaff den Kopf hängen. Ich berührte sie vorsichtig.
»Wir sind einfach nicht für diese Hitze geschaffen«, erklärte Dad und steckte sein Taschentuch ein, »weder die Rose noch ich.«
»Ich liebe Rosen.« In meiner Kehle bildete sich ein Kloß.
»Sie wäre entzückt gewesen.« Er ließ den Blick durch die Kirche schweifen. »Im Geiste ist sie bei uns.« Er nahm meine Hand und drückte sie. »Deine Mutter geht das Mittelschiff entlang. Ich sehe besser mal nach, was der Grund für die Verspätung ist.«
Rasch eilte er zu Mutter und geleitete sie zurück an ihren Platz. Die Kirche war gesteckt voll mit fünfhundert herausgeputzten Menschen. John und ich kannten vielleicht die Hälfte von ihnen, doch nur etwa hundert davon waren Freunde. Meine Eltern hatten sich nicht lumpen lassen, und ich hatte es nicht übers Herz gebracht, ihnen Zügel anzulegen. Schließlich war das ihr größter Traum. Seit nunmehr achtzehn Jahren war ich ihr einziges Kind, und das war das Mindeste, was ich ihnen schuldete. Sie würden niemals Rose’ Hochzeitstag erleben, das hier war ihre einzige Chance, eine Riesenparty zu schmeißen.
Meine Eltern standen neben der vordersten Bankreihe und steckten die Köpfe zusammen. Die versammelten Gäste tuschelten leise. Auch die sonst so schlichten Kirchenbänke waren hinter den üppigen Blumengirlanden kaum mehr zu erkennen. Kein noch so kleines Detail war der Aufmerksamkeit meiner Mutter entgangen.
Ich schloss die Augen, spielte nervös mit meinem Bettelarmband und fragte mich, was wohl los sein mochte. Der Höcker des Kamel-Anhängers war schon ganz flach, so oft hatte ich darüber gerieben und mir gewünscht, Rose wäre noch bei mir. Sie war sieben Jahre älter gewesen als ich, und ich hatte sie vergöttert. Wenn sie jetzt hier wäre, wenn die Nierenerkrankung ihr nicht das Leben genommen hätte, wäre ich bestimmt nicht derart aufgeregt, und Mutter hätte nicht so einen Wirbel veranstaltet.
Die Musik wechselte, und ich öffnete die Augen. Wo war Dad? Sollten wir nicht zusammen den Mittelgang entlangschreiten? Rasch suchte ich mit den Augen die Kirche ab. Da war er und beruhigte Mutter. Er drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe und zog sich zurück.
Ein Wagen fuhr draußen vor. Die Tür öffnete sich, und ein stämmiger Knöchel wurde auf dem Asphalt platziert. Ich sprang die Stufen hinunter, um Großtante Agnes aus dem Wagen zu helfen, doch sie scheuchte mich mit ihrem Gehstock weg und wartete auf den Fahrer, der bereits um den Wagen herum und ihr zu Hilfe eilte.
»Ich bin froh, dass ich nicht zu spät bin.« Der Fahrer reichte ihr ihren zweiten Gehstock, und Großtante Agnes kämpfte sich die Stufen der Kirchentreppe hinauf. Ich ging neben ihr her, bereit, sie falls nötig zu stützen. Mit vierundneunzig lebte sie noch in ihrer eigenen Wohnung, obwohl alle außer mir auf sie einredeten, sie solle endlich in ein Altersheim ziehen.
»Du musst nicht so ein Aufhebens um mich machen, Jude«, bellte sie mich an. »Es ist mir gelungen, bis zu deinem Hochzeitstag am Leben zu bleiben, also werde ich es auch noch bis in die Kirche schaffen.«
Ich bewunderte ihre Tatkraft, doch trotz ihres ausdrücklichen Wunsches, allein die Stufen hinaufzugehen, hielt ich Ausschau nach einem der Zeremonienmeister, die gleichzeitig als Platzanweiser fungierten. Es entsprach zwar nicht gerade der Tradition, dass die Braut ihre Gäste platzierte, doch Agnes war etwas Besonderes, also würde ich Mutters Unmut in Kauf nehmen und genau das tun.
An der Kirchentür blieben wir stehen. Meine Großtante holte tief Luft, während sie mich von Kopf bis Fuß musterte. »Nette Schuhe. Grässliches Kleid. Hat mit Sicherheit deine Mutter ausgesucht. Sie hatte schon immer einen ganz eigenen Geschmack.«
Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch dann klappte ich ihn wieder zu.
»Du bist ein liebes Mädchen, auch wenn du für meinen Geschmack immer ein bisschen zu fügsam warst. Ich frage mich, wo bei dir das Warren’sche Rückgrat geblieben ist!« Sie sprach sehr laut, und ich überlegte, ob sie vergessen hatte, ihr Hörgerät einzuschalten. Ich legte ihr eine Hand auf den Arm. »Wohlgemerkt, dein Vater hat auch keins, deine Mutter hatte ihn schon immer unter dem Pantoffel.«
Ich blickte mich verlegen um und hoffte, dass die Orgelmusik ihre schrille Stimme übertönte. Gerade als ich sie am Ellbogen in die Kirche führen wollte, kam mir Sophies Freund Tim zu Hilfe. »Ein gutaussehender junger Mann.« Agnes nahm seinen Arm und schritt mit ihm von dannen, dann drehte sie sich noch einmal zu mir um und zwinkerte.
Ich kehrte in den Vorraum zurück, wo Mutter mir einen empörten Blick zuwarf. Ein Schweißtropfen rann zwischen meinen hochgequetschten Brüsten hindurch. Endlich brachte eine leichte Brise die Birkenblätter zum Rascheln, doch nur ein Gewitter hätte dieser drückenden Atmosphäre dauerhaft Abhilfe schaffen können.
Wieder spähte ich den Mittelgang entlang und warf einen flüchtigen Blick auf John, der neben seinem Trauzeugen am Altar stand. Er wirkte so kühl, so förmlich. Sein Blick traf auf meinen. Er lächelte. Alles würde gut werden. Es war ganz normal, dass mir in einer solchen Situation die Nerven durchgingen.
»Jane hat gut daran getan, Judith mit John zu verheiraten. Immerhin hat sie seit Jahren darauf hingearbeitet«, hörte ich eine Frau über die Musik hinweg sagen.
»Ich weiß. Die Stewarts sind eine sehr angesehene Familie, und er ist bereits Partner in der Firma. Allerdings frage ich mich immer noch, was er in der jungen Warren sieht. Sie hat so gar nichts von Jane, nichts von ihrem Stil. Ein Glück, dass Jane sie unter die Haube gebracht hat.« Sie blickten zu meiner Mutter, die soeben ihren Platz in der ersten Reihe wieder einnahm.
Ich kannte keine dieser Frauen, doch sie kannten mich, genauer gesagt, meine Mutter. Mutter war überglücklich gewesen, als ich angefangen hatte, mich mit John zu treffen, und wenn ich es recht bedachte, hatte sie tatsächlich vom ersten Moment an auf diesen Tag hingearbeitet. Hatte ich John als meinen künftigen Ehemann auserkoren oder sie?
Das Bouquet in Wasserfalloptik, mein Brautstrauß, reichte bis zum Fußboden. Mit dem Gefühl, gar nicht ich selbst, sondern eine mir völlig fremde Person zu sein, blickte ich auf meine Hände, die so sehr zitterten, dass ich das rosa, an Zuckerwatte erinnernde Blumenkunstwerk fallen ließ. Eines der Blumenmädchen bückte sich sogleich und hob es für mich auf. Ich streckte die Hand danach aus. Das alles fühlte sich nicht richtig an. Das war nicht ich. Die ganze Sache war verkehrt. Ich ließ meine Hand sinken, dann rannte ich, so schnell es meine eleganten Brautschuhe zuließen, davon, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzudrehen.
Die steigende Flut rollte über meine rot lackierten Zehennägel und durchweichte den strahlend weißen Tüll meines Hochzeitskleids. Tränen traten mir in die Augen und ließen alles zu einem verwaschenen Rosa verschwimmen, das mich an die verhassten Lilien erinnerte. Seit meiner Flucht aus dem Vorraum der Kirche waren einige Stunden vergangen, und inzwischen hatte das salzige Wasser des Golfstroms dem Rock die Steifheit genommen, weshalb er nun gegen meine Beine klatschte. Endlich fühlte ich mich wohl in dem verdammten Kleid.
Eine Möwe schoss im Sturzflug ins Wasser. Ich wischte mir die Augen, damit ich sehen konnte, ob sie erfolgreich gewesen war. Sie war es, und ich lächelte. Wenigstens einer hatte bekommen, was er wollte. Andererseits … Die Möwe hatte gewusst, was sie wollte, ich nicht. Das war ein großer Unterschied. Ich hatte lediglich herausgefunden, was ich nicht wollte, und das im denkbar ungünstigsten Moment.
Es kostete mich einige Mühe aufzustehen. Meine Beine fühlten sich taub an. Ich hatte aufgehört, die Stunden zu zählen, die ich hiergesessen und aufs Wasser gestarrt hatte. Es hatte mir keine Antworten auf meine Fragen gegeben, und jetzt musste ich zurück und mich den anderen stellen. Die Sonne war untergegangen. Eigentlich hätte ich längst auf dem Weg nach Boston in Erwartung meiner Hochzeitsnacht sein sollen, unsere Flitterwochen hatten wir in Maine verbringen wollen. Doch stattdessen stand ich hier neben einem leeren Strandwächterturm.
Ich blickte wieder aufs Meer hinaus und wurde mir der Ungeheuerlichkeit dessen bewusst, was ich getan hatte. Ich musste mit John reden, doch mir fehlten die Worte, um auch nur ansatzweise wiedergutzumachen, was ich ihm angetan hatte.
So gut ich konnte, klopfte ich mir den Sand ab und wünschte, ich hätte ein Handy bei mir, doch alles, was ich trug, waren ein durchweichtes Kleid, ein Schleier und ein Paar nutzlose Highheels. Ich kam nur langsam voran, da das Kleid meine Bewegungsfreiheit stark einschränkte. Das hatte mich von Anfang an gestört, aber Mutter war so aufgeregt gewesen, dass ich sie einfach nur hatte glücklich machen wollen. Dies hatte gewissermaßen nicht nur mein Tag, sondern auch ihrer werden sollen.
Meine Beine schmerzten. Der Weg kam mir endlos vor. Ein Auto hupte, als es an mir vorbeirauschte. Ich wusste, dass ich einen außergewöhnlichen Anblick bot, und je eher ich mich umzog, desto besser. Als das Haus in Sicht kam, blieb ich stehen.
Die Beete im Vorgarten waren ein üppiges Meer aus Blumen aller Farben: Knallorangefarbene Taglilien buhlten mit sanft getönten hellen Pfingstrosen um Aufmerksamkeit. Dad hatte sein ganzes Herzblut investiert, um den Garten für meinen großen Tag schön zu machen. Mein großer Tag … Ich kniff die Augen zusammen. Die glücklichen Momente, in denen John und ich mit Dad zusammengearbeitet hatten, schienen Jahre her zu sein, dabei war es erst vor ein paar Wochen gewesen.
Mitarbeiter vom Partyservice kamen aus dem Haus, und ich versteckte mich im Schatten einer großen Kiefer. Als sie wieder drinnen waren, humpelte ich auf den Rasen und betrachtete die eine Konstante in meinem rastlosen Leben: das Holzhaus mit den dunkelgrünen Fensterläden. Früher waren wir jeden Sommer hierhergekommen, und als Dad in Rente ging, war es zu unserem festen Zuhause geworden. Ich wollte nicht hineingehen. Mutter würde außer sich sein, wie sollte sie auch nicht?
Das Haus kam mir so friedlich vor, wie ich da auf dem Rasen stand, doch das konnte täuschen. Aus dieser Perspektive wirkte es auch nicht so, als würde es direkt am Wasser stehen, vielmehr dachte man, es läge im Wald. Doch wenn man eintrat, stellte man fest, dass es auf den Eel River hinausging. Ursprünglich hatte es mein Urgroßvater in den 1920ern als Sommerhaus errichtet, mit reichlich Platz für Bedienstete. Damals kamen Sommerhäuser gerade groß in Mode, und alle Welt reiste mit dem Zug und Überseekoffern nach Cape Cod.
Ich hatte sie enttäuscht, die alte und die neue Generation, weil ich nicht durch den Mittelgang der Kirche geschritten war. Das war mir absolut klar, doch wie sollte ich es ihnen erklären, ohne sie noch mehr zu verletzen? Im Haus waren inzwischen sämtliche Lichter angegangen, was fröhlich wirkte. Alles war bereit für die große Party, meine Party, nur ich war nicht da. Der Gedanke daran, was all das gekostet hatte, trieb mir die Tränen in die Augen.
Doch es waren nicht die Ausgaben, derentwegen ich draußen im Dunkeln stehen blieb, auch nicht die Furcht vor Mutters gewaltigem Verdruss, sondern vielmehr die Angst vor Dads enttäuschtem Blick. Wie konnte ich meinem Fels in der Brandung erklären, warum ich davongestürzt war?
Ich ging zu meinem Wagen. Er stand abseits und wartete auf meine Rückkehr aus den Flitterwochen. Was John wohl gerade machte? Vermutlich ertränkte er seinen Kummer im Alkohol. Das klang verlockend, doch bevor ich es ihm gleichtun oder überhaupt irgendetwas tun konnte, musste ich mich von diesem verfluchten Kleid befreien. So leise ich konnte, schlich ich zur Seitentür. Die Mitarbeiter des Partyservice waren damit beschäftigt, Stühle zu stapeln, jemand erteilte lautstark Anweisungen, dennoch konnte ich die Stimme meiner Mutter vernehmen. Ich verharrte reglos und lauschte.
»Was hat sich das Kind bloß dabei gedacht?« Wenn sie verärgert war, trat ihr englischer Akzent noch deutlicher hervor.
Kind? Mit dreißig war man doch kein Kind mehr. Ich wollte mich gerade zeigen, als sie fortfuhr. Wie erstarrt blieb ich stehen.
»Was für eine unglaubliche Dummheit!«
»Jane«, schnitt Dad ihr das Wort ab.
»John am Altar stehen zu lassen, war eine völlig überdramatisierte, idiotische Aktion!« Mutter verstummte. Nach einem kurzen Augenblick fuhr sie fort: »Hast du Marys Gesicht gesehen? Da stand ihr geliebter Sohn vor dem Altar wie der letzte Trottel, und unsere Tochter war der Grund dafür. Ich bezweifle, dass sie jemals wieder ein Wort mit uns wechseln wird.«
»Es war schrecklich.« Dads Stimme brach.
»Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so geschämt.« Jane seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich mich je wieder irgendwo blicken lassen soll.«
Ich konnte meinen Vater nicht sehen, daher wusste ich nicht, ob er ebenso empfand wie sie. »Du bist müde. Du hast so viel Arbeit investiert, um diesen Tag für sie unvergesslich zu machen.« Seine Stimme klang schleppend. »Wo zum Teufel mag sie nur stecken?«
Jane seufzte wieder. »Ich bin mir sicher, es geht ihr gut und sie denkt wieder einmal nur an sich selbst und nicht an John und seine Eltern oder gar an uns. Ist sie nicht immer schon so gewesen? Ich bin schrecklich enttäuscht.«
»Ich auch.«
»Rose hätte so etwas niemals getan. Sie war stets so umsichtig, so rücksichtsvoll und nicht im Mindesten egoistisch.« Mutter schluchzte.
Ich blieb, wo ich war. Konnte mich nicht rühren. Die Worte meiner Mutter hallten in meinem Kopf wider. Sie hatte recht. Rose hätte so etwas niemals getan.