Essays zum Fin de siècle
C.H.Beck
Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Joseph Roth, Karl Kraus, Sigmund Freud, Theodor Herzl: Die Reihe der jüdischen Schriftsteller und Intellektuellen, die das Wiener Geistesleben um 1900 und in den Jahrzehnten danach geprägt haben, ist lang. Egon Schwarz, der selbst als Kind jüdischer Eltern 1938 aus Wien nach Südamerika fliehen mußte, beleuchtet die sozio- und kulturhistorischen Gründe dieses Phänomens. Er legt hier eine Auswahl seiner Essays zur österreichischen Literatur vor. Sie gibt einen Einblick in das literarische, gesellschaftliche und politische Ambiente des Fin de siècle in Wien und die Rolle der Juden in dieser epochalen Umwälzung vor und nach dem Ersten Weltkrieg.
Egon Schwarz, geb. 1922 in Wien, konnte 1938 mit Mühe aus Österreich nach Bolivien in die Emigration entkommen. Als Maurer, Hausierer, Buchhalter und Bergarbeiter schlug er sich jahrelang mehr schlecht als recht durch, bis er schließlich doch seinen Lebenswunsch verwirklichen konnte und ein Studium begann. Neben Professuren in Harvard und St. Louis hatte er weltweit viele Gastprofessuren inne und wurde einer der renommiertesten Germanisten der USA. Heute lebt er in St. Louis und Örebrö (Schweden). Er erhielt den Forscherpreis der Alexander von Humboldt-Stiftung, 2008 den Cotta-Literaturpreis der Stadt Stuttgart und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Sein berühmter Lebensbericht Unfreiwillige Wanderjahre. Auf der Flucht vor Hitler durch drei Kontinente ist bei C.H.Beck lieferbar.
Jochen Bloss, geb. 1936 in Dresden, studierte Publizistik, Geschichte und Literaturwissenschaft in Berlin, München und Wien. 1963–1970 DAAD-Lektor an der Universität Sucre (Bolivien), 1971–2000 Leiter der Goethe-Institute in Còrdoba (Argentinien), Mexico City, Prag und Madrid.
Meinem Tausendsassa
Irène
Schmelztiegel oder Hexenkessel?
Juden und Antisemiten im Wien der Jahrhundertwende
Joseph Roth und die österreichische Literatur
Arthur Schnitzler und das Judentum
Franz Werfel: «Ich war also Jude!
Ich war ein anderer!»
Eine Darstellung der sozio-psychologischen Judenproblematik
Das jüdische Selbstverständnis jüdischer Autoren im Fin de siècle
Karl Emil Franzos: Der Pojaz (1905)
Aufklärung, Assimilation und ihre realistischen Grenzen
Die Vertreibung aus Wien, perspektivisch gesehen
Wie ein Wiener Gymnasiast in den Anden zum Pikaro wurde
Nachwort von Jochen Bloss
Anmerkungen
Nachweise
Personenregister
Um jedem Mißverständnis vorzubeugen, möchte ich gleich zu Anfang feststellen, daß ich ein unverwechselbares Produkt der Gesellschaft bin, die ich kritisch zu betrachten mich anschicke. Selbst der Wortschatz leitet sich von der Wiener Kultur um die Jahrhundertwende her, in der sich die österreichischen, deutschen und jüdischen Elemente bis zur Unauflöslichkeit vermischten. Alles das bestimmt meine Perspektive.
Außerdem bin ich nicht als Experte jüdischer Geschichte zu den Problemen gelangt, die uns hier beschäftigen, sondern von einer ganz anderen Seite her. Als Lehrer österreichischer Literatur habe ich nämlich sehr bald die unvermeidliche Entdeckung gemacht, daß im Wien der Jahrhundertwende der jüdische Anteil am literarischen, publizistischen, intellektuellen und allgemein kulturellen Leben so überwältigend war, daß es einfacher ist, die nichtjüdischen Figuren von Rang aufzuzählen als die jüdischen. Diese jedes Normalmaß weit hinter sich lassende Überrepräsentation drängte mich in historische und soziologische Nachforschungen, deren Resultate ich vorlegen möchte.[1]
Zunächst muß aber von der Besonderheit und Bedeutsamkeit dieses österreichischen Milieus die Rede sein. Selbstverständlich unterscheidet es sich nicht in jedem einzelnen Charakterzug von den übrigen europäischen Gesellschaften, insbesondere nicht vom Deutschen Reich, das aus sprachlichen Gründen Verwandtschaften mit Österreich aufzuweisen hat, einschließlich des ähnlich konstituierten jüdischen Faktors. Es bleiben aber zahlreiche und gleichzeitig wesentliche Aspekte übrig, durch die sich Österreich von den übrigen europäischen Staaten unterscheidet und zum lehrreichen Beobachtungsfeld wird. Mehr noch: durch bestimmte historische Umstände erhebt sich Österreich zum Paradigma für die gesamteuropäische Entwicklung, zum Kampfplatz sozialer Mächte, in deren Zusammenprall sich die Zukunft abzeichnet und aus deren Analyse sich wichtige Erkenntnisse gewinnen lassen.
In einem dem jüdischen Beitrag zur deutschen Kultur gewidmeten Aufsatz schrieb ein Historiker, er «habe die Bedeutung des Wortes ‹deutsch› auf jene beschränkt, die im Deutschen Reich geboren wurden oder größtenteils gewirkt haben. Eine umfassendere Definition zugrunde legen, die deutschsprechende Juden des ganzen unter dem Ausdruck ‹deutscher Kulturbereich› verstandenen Gebiete miteinschlösse, hieße [seine] These verwässern. Offenkundig waren österreichische und tschechische Juden, Werfel und Schnitzler, Karl Kraus und Sigmund Freud, von unermeßlicher Wichtigkeit, und zwar nicht etwa für Österreich-Ungarn allein. Aber sie lebten und schufen unter Bedingungen, die sich von denen ihrer deutschen Glaubensgenossen radikal unterschieden. […] Und so habe [er] sie, wenn auch zögernd, unberücksichtigt gelassen.»[2] Ich sehe die Aufgabe nun gerade darin, diese so andersartigen Bedingungen zu ergründen.
Das erste ins Auge springende Merkmal der Monarchie war das Multinationale. Tschechen und Deutsche, Ungarn und Slowaken, Kroaten und Slowenen, Polen und Serben, Italiener und eben auch Juden lebten da nebeneinander, keinesfalls friedlich, aber immerhin unter einer zentralen Verwaltung und durch tausenderlei Fäden miteinander verknüpft. Was sie alle zusammenhielt, war ein dynastischer Staat uralter Prägung, ein erratischer Block in einer bereits nach ganz anderen Gesetzen sich entwickelnden Welt, Überbleibsel einer feudalen Vergangenheit, mit einer teils verknöcherten, teils undurchschaubaren Gesetzgebung, einer von vielen für irrational gehaltenen Organisation. Dazu kam, daß dieser Vielvölkerstaat ewig seine Form und Ausdehnung änderte, und man stets umlernen mußte, was zu ihm gehörte und was nicht. Kein Wunder, daß in einem Jahrhundert, in dem der Begriff der Nation mehr und mehr in den Vordergrund trat, Denker und Dichter immer wieder die Suche nach der Identität dieses Staates initiierten, daß allenthalben der Ruf «Was ist Österreich?» ausgestoßen wurde, nicht etwa als Frage, auf die eine Antwort erteilt werden konnte, sondern als Verzweiflungsschrei. Daß dieser gespaltene, durch ein verfilztes Verwaltungsnetz mühselig zusammengehaltene Staat sich länger als die anderen west- und mitteleuropäischen Länder gegen die neuen Mächte wehrte, die unter dem Namen Modernisierung zusammengefaßt werden können, läßt sich leicht einsehen. Und als dann die unvermeidliche industrielle Revolution und das ihr entsprechende Wirtschaftssystem endlich auch die Donaumonarchie ergriffen, glich der Zusammenstoß des Neuen mit dem Alten einer veritablen Explosion. So gewaltsam war das Aufbersten dieser Gesellschaft, daß man es mit einer Nova verglichen hat – eine glückliche Metapher, die sowohl der ungezähmten Wildheit wie auch der blendenden Schönheit des Vorgangs Rechnung trägt.
An diesem Prozeß waren nur, im Gegensatz zu anderen Staaten wie etwa Frankreich und Deutschland, große jüdische Volksmassen beteiligt, besonders nach der Einverleibung von Ungarn und Galizien in die Monarchie. Durch diese rein dynastische Regelung gerieten sie in den großen Wirbel. Ehe sie wußten, wie ihnen geschah, wurden sie mit unvorstellbarer Wucht in die westliche Zivilisation und die moderne Welt sozusagen hineingeschleudert. Das Resultat war auf der einen Seite die Zerstörung der alten, mehr oder weniger statischen ostjüdischen Kultur[3] und auf der anderen ein Antisemitismus von ungeahnter Virulenz. Die Keime des modernen, dem Hochkapitalismus entsprechenden Judenhasses sind überall in Europa anzutreffen; dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich bleibt die zweifelhafte Auszeichnung, die Wiege eines ganz neuartigen Antisemitismus gewesen zu sein, sozusagen das Laboratorium eines sozialen Experiments.
Ich fasse bereits vorwegnehmend zusammen, daß durch alle diese in anderen Ländern entweder nicht vorhandenen oder unvollständig ausgebildeten Umstände Österreich die moderne Entwicklung zerstörerischer erlebt hat und daß auch das weitere Schicksal der Juden sich hier mit erschreckender Deutlichkeit zu erkennen gibt. Ich betrachte es durchaus als folgerichtig, daß sowohl Hitler wie Herzl von hier ihren Ausgang genommen haben.
Ehe ich aber dieses jüdische Schicksal genauer betrachte, muß ich die Zeit und den Ort der Untersuchung näher begründen. Die Epoche um 1900 habe ich nicht willkürlich gewählt. Die Jahrhundertwende bietet sich aus inneren Gründen als prägnanter Moment an, von dem aus sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft plausibel aufgerollt werden können. Noch hielt diese im Innern gärende Welt zusammen. Noch vermochten die Völker und ethnischen Minderheiten im gleichen Raum nebeneinander zu bestehen, nicht in harmonischem Einverständnis, aber immerhin in einem gewissen, wenn auch noch so prekären Gleichgewicht. Schon waren die Anzeichen späterer Katastrophen den Einsichtigen erkennbar, für die Mehrzahl waren sie aber noch durch das ganze vielbesungene erotisch-sybaritische Leben, durch die Pracht und kulturellen Herrlichkeiten der Hauptstadt überglänzt. Denn daß es in dieser zentrifugalen Gesellschaft auf die Kaiserstadt ankam, daß hier das scheinbar ruhende Zentrum des Sturms war und die in alle Richtungen laufenden Fäden noch zusammenhielten, bedarf keiner weitausholenden Begründung. Der jüdische Werdegang in dieser Epoche ergibt sich aus der dialektischen Spannung zwischen Wien und den östlichen Provinzen, und wir werden den Blick auf beide zu richten haben. In manchen Hinsichten weisen natürlich Prag und Budapest ähnliche Züge auf, zu seiner vollen Entfaltung kommt das Syndrom aber nur in Wien.
Wir sind davon ausgegangen, daß um die Jahrhundertwende eine ungewöhnliche Konzentration jüdischen Talents in Wien stattgefunden hat. Um eine Ahnung von dem kulturellen Reichtum zu vermitteln, will ich einige der wichtigsten Namen der in dieser Stadt wirkenden Juden aufzählen, auf einige charakteristische Kategorien beschränkt und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. An Schriftstellern und Journalisten lebten und arbeiteten in der dem Ersten Weltkrieg vorangehenden Zeit in der Reichshauptstadt: Peter Altenberg, Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann, Stefan Zweig, Felix Salten, Joseph Popper-Lynkeus, Karl Kraus, Theodor Herzl, Hermann Broch. Hugo von Hofmannsthal müßte man hier nicht nennen, da man sich sonst dem Verdacht aussetzte, die Nürnberger Gesetze anzuerkennen, wenn er nicht seine ganze soziale Stellung den kommerziellen Leistungen und der auf ihnen beruhenden Nobilitierung seines jüdischen Urgroßvaters verdankt hätte.
Es ist oft betont worden, daß das jüdische Bürgertum Wiens einen ungemein rezeptiven Resonanzboden für kulturelle Leistungen und intellektuelle Neuerungen abgab. Die großen Zeitungen befanden sich in jüdischen Händen. Moritz Benedikt war Herausgeber der Neuen Freien Presse, Moriz Szeps derjenige des Wiener Tagblatts, beides Organe des österreichischen Liberalismus, die liberales Gedankengut verbreiteten und liberale Interessen vertraten. Vielleicht ist es nicht überflüssig darauf hinzuweisen, daß die Bedeutung des Wortes «liberal» im Europa von 1900 nicht mit der von heute zusammenfällt und in der Donaumonarchie noch andere Nuancen hatte als in Deutschland.
Vereinfachend ließe sich sagen, daß damit die politische Weltanschauung des kapitalistischen aufstrebenden Bürgertums gemeint ist und daß als Zentrum die Ideologie des Laissez faire zu gelten hat. Was in Österreich dazukam, war der hohe kulturelle Anspruch dieser Schicht. Wir wollen festhalten, daß die meisten der hier Genannten in dieser Weltanschauung verankert waren und daß die Zeitungen, zum großen Teil von Juden für Juden geschrieben, den aus ihr abgeleiteten Meinungen Ausdruck verliehen. Nicht vergessen darf man in diesem Zusammenhang auch Die Fackel von Karl Kraus, deren Abonnenten und Leser überwiegend dem Judentum angehörten.
Ebenso groß und glänzend wie die Kategorie der Schriftsteller ist die der Philosophen und Wissenschaftler. Namen wie Edmund Husserl, Hans Kelsen, Otto Weininger, Sigmund Freud bezeugen, daß auch auf dem Gebiet der praktischen und theoretischen Wissenschaft die Juden in allererster Reihe standen. Aus ähnlichen Gründen wie Hofmannsthal darf auch Ludwig Wittgenstein hier genannt werden, dessen Vater einer der jüdischen Industriemagnaten Wiens gewesen ist. Der Name Freud bezeichnet eine Institution für sich. Aus historisch rekonstruierbaren Gründen waren auch die meisten seiner Schüler und Praktiker der Psychoanalyse Juden.
Eine besondere Gruppe bilden die Austro-Marxisten, deren wichtigste Theoretiker und Führer wie etwa die nicht miteinander verwandten Max und Victor Adler und Otto Bauer jüdischen Ursprungs waren. Eine geringere, aber deswegen keine nebensächliche Rolle spielten jüdische Künstler und Musiker wie Arnold Schönberg, Gustav Mahler und Max Reinhardt.
Schon diese einfache Aufzählung genügt, um Staunen hervorzurufen und die Frage herauszufordern, wie es zu dieser unglaublichen Häufung jüdischer Geistigkeit in Wien kam. Wir sind nicht die ersten, die sich des Phänomens bewußt werden und auch nicht die ersten, die nach möglichen Erklärungen suchen. Die metaphysisch oder unkritisch national Ausgerichteten begnügen sich in der Regel mit dem alten Mythos der Gotteskindschaft des jüdischen Volkes, mit der Annahme einer naturgegebenen Begabung, die sich trotz allen Elends in der Geschichte der Juden immer wieder irgendwie durchsetzt. Schuld und Sühne, Berufung und Erprobung, Versklavung und Erlösung, alle solchen vagen und mythischen Vorstellungen lassen sich mühelos aus dieser einen Grundvorstellung der jüdischen Auserwähltheit ableiten. Natürlich erschöpfen sich die religiösen Argumente nicht in Allgemeinheiten. Zahllos sind die Versuche, eine Verbindung zwischen dem jüdischen Glauben und den weltlichen Erfolgen der Juden herzustellen. So soll z.B. das Verbot gegen göttliche Abbilder die Juden zum abstrakten Denken angehalten, ihre Einbildungskraft angeregt und dialektische Fähigkeiten erzeugt haben, die schließlich auch in den Bereichen des praktischen Lebens Erfolge gezeitigt hätten. Ähnlich wurde auch argumentiert, daß die Unerreichbarkeit des jüdischen Gottes den Gläubigen zu einer nie abbrechenden Suche nach ihm veranlaßt, wodurch wieder dämonisch anmutende Energien entfesselt werden, die, beinahe nebenbei, zu säkularen Leistungen führen mußten. Bemüht wird auch die ethische Orientierung des Judentums, die jüdische Weltfrömmigkeit, das jüdische Verlangen nach irdischer Gerechtigkeit, die lange Tradition des Lesens und Lernens, die unter den rechten Bedingungen in sozial wertvolle Tätigkeit kanalisiert werden können. Sogar die Beschaffenheit der hebräischen Schrift ist schon für die historische Stellung der Judenheit unter den Völkern verantwortlich gemacht worden: dadurch, daß der Leser des Hebräischen nur die Konsonanten vor Augen hat und die Vokale selbst dazudenken müsse, so daß je nach dem Kontext ein Wort diese oder jene Bedeutung zugewiesen bekomme, werde der Sinn für Wortspiele aller Art geweckt; dieser wiederum rege den Geist an, übe ihn in der Kunst der schnellen Verknüpfung und erwecke überhaupt jene Einbildungskraft, die auch im Alltag Überlegenheit über andere gewähre. All das erinnert ein wenig an die Hypothese, der Feudalismus verdanke sein Entstehen der Erfindung des Steigbügels! Das Bestreben, eine geschichtliche Kontinuität sondergleichen, den gänzlich disproportionierten Erfolg einer bestenfalls halbherzig geduldeten und letzten Endes wieder brutal verfolgten Minderheit zu erklären, verleitet zu idealistisch verstiegenen Theorien jeglicher Art.
Von sozio-historisch orientierten Denkern werden andere Erklärungsmodelle vorgezogen. Diese Verfahrensweise betont von Anfang an die von der Umwelt den Juden aufgezwungene Funktionsbeschränkung auf bestimmte handwerkliche und kommerzielle Berufe, also die über sie verhängte städtische Bürgerlichkeit in noch halb-feudaler Zeit. Bedenkt man, daß auch im Osten, aus dem sich das vom 18. Jahrhundert an aufstrebende Judentum der westeuropäischen Gesellschaften speiste, die Juden Kleinstädter waren, die in regem Handel und Verkehr mit einer bäuerlichen Landbevölkerung standen, so wird manches klar. Die Überlegenheit des schlauen, sprachgewandten, beweglichen, des Lesens und Schreibens mächtigen Händlers über den schollengebundenen, nur am Rhythmus der Natur geschulten Dorfbewohner, ist eine schon in antiken Zeiten und keineswegs auf Juden beschränkte Erscheinung. Die Phönizier und Armenier im Mittelmeerraum, die Chinesen in manchen asiatischen und die Inder in afrikanischen Ländern haben unter vergleichbaren Voraussetzungen ähnliche Schicksale erlebt. Durch sozioökonomische Veränderungen buchstäblich aus dem galizischen Schtetl gesprengt, gelangten diese kleinbürgerlichen Händler und Handwerker in eine dynamisch bewegte Welt, in der sie alle ihre Talente einsetzen konnten. An Entbehrungen, Fremdheit und Feindseligkeit gewöhnt, weder Sympathie noch Unterstützung gewärtigend, jahrhundertelang in Armut und Beschränktheit gehalten, eröffneten sich ihnen in dem alles Alte umkrempelnden Spekulationskapitalismus der Reichshauptstadt völlig neue Erwartungshorizonte. Nicht mit der Gesamtbevölkerung standen diese Neuankömmlinge in Konkurrenz, sondern bloß mit dem städtischen Bürgertum, das ähnliche Vorteile der Bildung und Gewöhnung im Verkehr mit der umliegenden Landbevölkerung aufzuweisen hatte. Erst diese Überlegung erklärt die enorme Überrepräsentation der Juden in gewissen Lebenssphären.
Alles hier Angeführte trifft auch auf andere westliche Gesellschaften zu. Was die Lage in Österreich von der Deutschlands und namentlich Frankreichs unterschied, ist das Vorhandensein einer Vielzahl von Ostjuden innerhalb der Reichsgrenzen, deren Zustrom keinerlei Grenzen gesetzt waren, ja auf die, wie wir noch sehen werden, enormer Druck zur Wanderung nach Westen ausgeübt wurde. In Wien angekommen, fanden sich die Weitgereisten in einen brodelnden Kessel von allerlei Minderheiten und Nationalitäten geworfen und einer wirtschaftlichen Expansion ausgesetzt, die ihnen die Entfaltung sämtlicher Talente ermöglichte, ja sie geradezu erforderte.
Mit dieser Massenankunft in der kaiserlichen Hauptstadt beginnt aber nicht erst die Geschichte der Juden in Österreich. Ein kurzer nur das Wesentlichste andeutender Überblick über ihre Ansiedlung und ihre Schicksale in früheren Epochen ist jetzt angezeigt. Die ersten Juden sollen mit den römischen Legionen in das später Österreich genannte Gebiet gekommen sein. Die erste Synagoge ist für das Jahr 1204 belegt. 1442 fand bereits eine große Judenverfolgung statt. 240 Menschen wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt, die übrigen ausgestoßen. Dies geschah unter Albrecht V., und schon damals bekam Österreich im jüdischen Volksmund den Beinamen Erez ha Damim, das blutbefleckte Land. Langsam geriet das Gemetzel in Vergessenheit, die Juden kehrten zurück, unter dem persönlichen Schutz des Kaisers, der sich ihrer besonderen Fähigkeiten bedienen wollte. Von ihrer allgemeinen Unbeliebtheit legt die Überlieferung beredtes Zeugnis ab, derzufolge manchen Gemeinden aus besonderer kaiserlicher Gnade das Privileg «de non tolerandis Judaeis» verliehen wurde, das Recht, die Aufnahme von Juden zu verweigern. Im Jahre 1536 wurde der gelbe Fleck eingeführt, und man fragt sich, woher diese Menschen ihren unverwüstlichen Optimismus, ihre unversiegliche Lebenskraft nahmen, immer wieder zu versuchen, in jenen ungastlichen Stätten ihr Auskommen zu finden. 1669 wurden sie wieder des Landes verwiesen, eine Verbannung, die nominell bis zum Revolutionsjahr 1848 in Kraft blieb. Ausgenommen von ihr waren bloß die Hofjuden, die unter bestimmten, vertraglich genau festgelegten, aber keineswegs freiheitlichen Bedingungen ihren Wohnsitz in Österreich nehmen durften. So z.B. war es jeweils nur dem ältesten Sohn gestattet, sich zu verheiraten, die Nachgeborenen mußten unvermählt bleiben. Aber schon längst vor der Märzrevolution 1848 bahnten sich grundlegende Veränderungen im jüdischen Schicksal an. Durch die Erwerbung Galiziens im Jahre 1772 verdoppelte sich über Nacht die Zahl der unter kaiserlicher Oberhoheit lebenden Juden und ihre Abwanderung nach Wien setzte sehr bald ein, noch verstärkt durch die Einverleibung der Bukowina im Jahre 1777 sowie Krakaus und Lublins im Jahre 1795.
Bereits 1782 war die veränderte Situation soweit ins Bewußtsein der obersten Behörden gedrungen, daß Joseph II. sich veranlaßt sah, sein berühmtes Toleranzedikt zu verabschieden. Es war das erste seiner Art in Europa und traf einige weitreichende, auf radikalen Umschwung in der ostjüdischen Existenz abzielende Bestimmungen. So sah es z.B. vor, daß die Juden ihre Kinder in deutsche Elementarschulen zu schicken hatten, sich in der Landwirtschaft betätigen, aber in ihren Handelsgeschäften weder Hebräisch noch Jiddisch verwenden durften. Sie sollten die offizielle Erlaubnis erhalten, ein Handwerk auszuüben und die Universitäten zu besuchen, dafür aber ins Heer eingezogen werden, wo ihnen allerdings nur die niedrigeren Offiziersränge offenstehen sollten. Man weiß, wie gemischt die Öffentlichkeit auf die josephinischen Reformen reagierte und wie bald sie rückgängig gemacht wurden, ohne zu irgendeiner Wirkung gelangt zu sein. Sie waren aber symptomatisch. Die Zukunft gehörte ihnen. Was von den bewahrenden Mächten im Augenblick noch verhindert werden konnte, entpuppte sich als eine unaufhaltsame Entwicklung. Das Judenedikt bildete keine Ausnahme. Von einer dünnen Schicht Intellektueller begrüßt, von der Mehrheit als Gefährdung der Kultur abgelehnt, übte es zunächst kaum einen Einfulß aus, zeichnete aber den Weg vor, den die unter Habsburgischer Jurisdiktion lebenden Juden würden einschlagen müssen. Die Juden selbst reagierten ähnlich gespalten auf das Toleranzedikt Josephs II. wie ihre nichtjüdische Umwelt. Die modernisierenden Westler unter ihnen bejahten die theoretischen Voraussetzungen, auf denen es beruhte, und die praktischen Folgen, denen es zustrebte. Die bewußt an einer eigenen jüdischen Kultur festhaltenden Kreise wehrten sich mit Entschiedenheit. Ich zitiere aus der großen Vielfalt nur eine charakteristische Stimme:
«Nicht nur die Kaiserin Maria Theresia, eine engstirnige Katholikin, sondern auch ihr aufgeklärter Sohn, Kaiser Joseph II., erachtete die Juden als dem Staate schädlich. Sein Toleranzedikt, von dem sich wahrscheinlich der Beginn einer Wende in der Geschichte der Juden herschreibt, beruhte auf dem Vorsatz, die Juden zu reformieren und ‹dem Staate nützlich› zu machen. Dieses System, das auf die Verbesserung der Juden abzielte, wirkte jedoch möglicherweise noch verheerender auf sie als die vorangegangene Unterdrückung. Man räumte ihnen zwar gewisse Rechte ein, opferte aber dafür ihre nationale und religiöse Kultur.»[4]
Wir wollen an dieser Stelle wenigstens in schematischer Andeutung die Ursachen des ostjüdischen Aufbruchs nach Westen erwähnen, wie sie sich vom Standpunkt der Städtebewohner ausnahmen. Die Zwillingsmächte, die ihre Wanderschaft in Bewegung setzten, waren Verlockung und Bedrohung. Überbevölkerung, Cholera, Hungersnot erzeugten die erste Welle jüdischer Auswanderung nach Wien. Als wichtige Voraussetzung dafür darf man allerdings die Aufnahmewilligkeit der Hauptstadt nicht außer acht lassen, die eine Folge historischer Verwandlungen war. Kaiserliche Politik, geschickt Toleranz und Assimilationszwang verbindend, von denen die erste bald verschwand und der zweite allein weiterwirkte, wollte die Juden dem Staat nutzbringend einverleiben. Diese «Germanisierung» rief eine zweite, nun nicht mehr abflauende Flutwelle hervor. Die dem polnischen Adel gewährte Autonomie vollendete das begonnene Werk: die Leibeigenschaft wurde abgeschafft, eine Bewegung «nationaler» Industrialisierung in Galizien und den anderen polnischen Gebieten Österreichs begründet. Beides übte einen unwiderstehlichen Druck auf die Juden dieser Länderteile aus, zerstörte das Schtetl wirtschaftlich und kulturell und zwang viele Juden zur Auswanderung. Bis etwa 1910 ergoß sich der Menschenstrom nach Wien, dem aufnahmebereiten Großzentrum des Reiches, und nach seiner Saturierung weiter nach Westen, bis hinüber nach Amerika. Der hohe Grad an geistiger Bildung – wenn es auch eine nichteuropäische Bildung war –, die lange Bekanntschaft mit herben Lebensbedingungen und eine darin geschulte Wendigkeit ließ viele dieser Juden in den sich ständig erweiternden Sphären des Kapitalismus rasche Erfolge erzielen, wobei man aber nicht vergessen sollte, daß der Mehrheit ein entscheidendes Aufrücken in die höheren sozialen Schichten versagt blieb. Der typische Entwicklungsgang wiederholte sich jedoch so oft, daß er fast zum unausweichlichen Paradigma wird: Auszug aus dem östlichen Schtetl oder Ghetto, Einstieg in einen Zweig des Handels, Gewerbes oder der Industrie, Aufstieg zu Wohlstand, Übersiedlung nach Wien, manchmal mit Zwischenstationen in Böhmen, Mähren, der Slowakei oder Ungarn, Heirat mit der Tochter einer schon früher emanzipierten Familie, die, feiner gebildet als ihr Ehegatte, den Kindern eine geradezu fanatische Liebe zur deutschen Kultur und insbesondere Literatur einflößte. Herangewachsen widmen sich die Sprößlinge dieser Verbindungen dem Aufbau des väterlichen Geschäfts, aber ebenso häufig einem freien Beruf wie Medizin oder Jurisprudenz. Deren Kinder wieder werden Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller. Natürlich ist dieser Prozeß, wie das Endprodukt bereits zeigt, von einer geistigen Entwicklung begleitet: Verlust der Orthodoxie, ja fast des ganzen jüdischen Kulturerbes, Aufgabe der jiddischen Umgangssprache und der hebräischen Sakralsprache, Verfeinerung der Sitten, Anpassung an die westliche Welt, Assimilierung. Man steht vor einem gewaltigen Säkularisierungsvorgang, der zwei, drei, manchmal vier Generationen in Anspruch nimmt.
Eine rasche Übersicht soll diese schematische Geschichte der Juden in Österreich ergänzen und vollenden. Im Jahre 1803 lebten 332 jüdische Familien in Wien. Die Verfassung von 1848 gewährte den Juden alle Bürgerrechte, wurde aber schon nach kurzer Geltung im Jahre 1851 außer Kraft gesetzt. Erst diejenige von 1867 verbot jede Diskriminierung in Glaubenssachen. Aber lange vorher, schon von der Märzrevolution an, setzte eine stetig wachsende Besiedlung des Gebiets um Wien durch die Juden ein. Die folgenden Angaben beziehen sich auf Niederösterreich einschließlich Wiens. Im Jahre 1776 belief sich die jüdische Gesamtbevölkerung dieses Distrikts auf 337 Personen. Bis zum Jahr 1846 war sie auf 197 geschützte Familien und 3739 Einzelpersonen angestiegen, die anderen Gesetzen unterlagen. Von da an aber setzt sich das Wachstum sprunghaft fort. Die Tabelle[5] zeigt das Anwachsen der jüdischen Bevölkerung in ihrem Verhältnis zur Gesamtbevölkerung Wiens und Niederösterreichs:
Die allermeisten dieser Juden waren von Galizien, Ungarn und der Bukowina angewandert. Ihr prozentualer Anteil an der Bevölkerung Niederösterreichs hatte sich in vier Jahrzehnten um das Zehnfache, ihre absolute Zahl um das Zwanzigfache vermehrt.
Im Jahre 1900 betrug der jüdische Bevölkerungsanteil in der Stadt Wien 8,77 Prozent. Mit 175 318 im Jahre 1910 war die jüdische Gemeinde in Wien, mit der alleinigen Ausnahme Warschaus, die größte nicht nur in der Monarchie, sondern ganz Europas.
Zum Schluß noch einen Blick auf den Anteil der Juden am beruflichen und wirtschaftlichen Leben. Vom Umsatz gesehen ergibt sich folgendes Bild. Der Alteisenhandel befand sich zu 100 Prozent in jüdischen Händen, Reklame und Werbungswesen zu 90 Prozent, Möbel 85, Schuhe, Zeitungen, Rundfunk, Schönheitspflege 80, Banken 75, Wein, Textilien 73, Kinos, Holz, Versicherungen, Schlachtvieh, Kleidung 70. Vom Gesichtspunkt der Einzelberufe nimmt sich die jüdische Beteiligung folgendermaßen aus: 35 Prozent der Schuhfabrikanten waren Juden, Modisten 34 Prozent, Photographen 34, Apotheker 26, Rechtsanwälte 62, Juweliere 55, Buchhändler 76, Kürschner 67, Hutfabrikanten 45, Benzin- und Ölvertriebe 64, handwerkliche und wissenschaftliche Berufe 70, Ärzte und Zahnärzte 51, Universitätsdozenten 23, an der medizinischen Fakultät 45.[6]
Unablässig strömte Verstärkung aus den Provinzen hinzu. Vergeblich suchten die religiösen und kulturellen Führer des Judentums die erhaltenden Kräfte zu stärken. Keine Gewalt konnte sich auf die Dauer der unaufhaltsamen Germanisierung der Juden widersetzen. Möge das Zeugnis eines Historikers die zahllosen Klagen der anderen stellvertretend mitenthalten: «Jede Woche kamen zahlreiche Rabbiner als Kandidaten für den einen oder anderen rabbinischen Posten nach Wien und hielten Probepredigten. Große und interessierte Zuhörerschaften sammelten sich zu diesen Predigten, als handelte es sich um Theatervorstellungen. Trotz allen Anscheins aber kümmerte sich das jüdische Wien, das kulturelle, das gebildete Wien nicht eigentlich um Rabbiner oder überhaupt um das Judentum. Das eigentliche Interesse der Wiener Juden – und nur in ihr waren sie enorm aktiv und prominent – galt der allgemeinen, nicht der jüdischen Kultur.»[7]
Die massenhafte Einwanderung von Juden aus dem Osten, einzigartig in ihren Dimensionen, in eine wesentlich noch christlichtraditionelle Gesellschaft, erzeugte als Gegenbewegung einen Antisemitismus ganz eigener Prägung. Furcht, Haß und Neid auf eine fremdstämmige Minderheit ergeben eine der anthropologischen Konstanten im Verhalten der Völker. Dies erklärt den endemischen Charakter des Judenhasses im sogenannten Abendland, und es sei an dieser Stelle erwähnt, daß bereits im antiken Mittelmeergebiet Ansätze dazu vorhanden waren. Der Historiker wird bei jedem Ausbruch dieser Krankheit die Konstitution des Volkskörpers und die besonderen Umstände der Ansteckung und des Verlaufs zu untersuchen haben. Die alte medizinische Erkenntnis, es gebe keine Krankheiten, sondern bloß Kranke, läßt sich mutatis mutandis auch auf die Sozialwissenschaften anwenden. Der moderne Antisemitismus, mit dem wir es hier zu tun haben, zeichnet sich durch dreierlei aus: daß sich die hergebrachten religiösen und ökonomischen Ideologeme mit sozial-darwinistischen, biologistischen vermischen; daß sich aus diesen Elementen eine Weltanschauung bildet, die einer Massenbewegung als politisches Kampforgan dient; und daß sich die von der industriellen Revolution Bedrohten und Benachteiligten ihrer bemächtigen, um den Erfolgreichen und Besserweggekommenen Macht und Privilegien zu entreißen. Es handelt sich dabei im Grunde um die Verwandlung einer in der Anlage bereits vorhandenen, aber statisch bewahrenden Haltung in eine dynamisch-aggressive, eine Mobilisierung, die ganze Institutionen erfassen kann wie z.B. den Katholizismus in Österreich. Mit dieser Definition sind wir aber beim Präfaschismus angelangt, und auch wenn man diesen Begriff noch so vorsichtig handhabt, kann es nicht zweifelhaft sein, daß der österreichische Antisemitismus unserer Periode präfaschistische Züge trug. Gemeint sind damit nicht nur die weithin sichtbaren Bewegungen Georg von Schönerers, Karl Luegers und der Alldeutschen, sondern das schwer faßbare Kleingewächs von Grüppchen, Publikationen, Konventikeln und diffusen irrationalen Fanatismen wie etwa der Klüngel um Lanz von Liebenfels mit seiner Zeitschrift Ostara, aus der Adolf Hitler viel gelernt hat. Es ist kein Zufall, daß in diesem Raum schon vor der Jahrhundertwende eine aus linken und rechten Elementen gemischte Bewegung entstand.
Auch in dieser Hinsicht bewährt sich also die These vom paradigmatischen Charakter der österreichisch-ungarischen Entwicklung.
Eine recht frühe Äußerung dieses neuen Antisemitismus ist der Waidhofener Beschluß von 1882. Die deutsch-österreichische Studentenschaft mit ihren schlagenden Verbindungen gehörte zu den radikalen Gegnern der Juden. Von dem Ort, wo ihre Vertreter zusammentrafen und ihre neue Politik den jüdischen Kommilitonen gegenüber formulierten, hat die symptomatische Waidhofener Erklärung, die ich hier wiedergebe, ihren Namen erhalten: «Jeder Sohn einer jüdischen Mutter, jeder Mensch, in dessen Adern jüdisches Blut rollt, ist von Geburt aus ehrlos, jeder feineren Regung bar. Er kann nicht unterscheiden zwischen Schmutzigem und Reinem. Er ist ein ethisch tiefstehendes Subjekt. Der Verkehr mit einem Juden ist daher entehrend; man muß jede Gemeinschaft mit Juden vermeiden. Einen Juden kann man nicht beleidigen, ein Jude kann daher keine Genugtuung für erlittene Beleidigungen verlangen.»[8]
Keinem Feinhörigen wird die charakteristische Mischung von aristokratischer Pseudo-Poesie und dem modernen Klang der Rassentheorie in dieser Rhetorik entgehen.
Charakteristisch ist auch das veränderte Verhalten des Katholizismus. Nach langer zäher Weigerung seiner konservativen Würdenträger schwenkte auch er ein. 1889, bestimmt nicht zufällig dem Jahr nach der Übernahme des Wiener Bürgermeisteramtes durch Karl Lueger, entfesselte der Osservatore Romano, das offizielle Presseorgan des Vatikans, eine Hetzkampagne gegen die Juden, mit dem Hauptvorwurf, sie seien dem Ghetto zu dem alleinigen Zweck entflohen, um die Pest der liberalen Gesinnung weiterzutragen.
Der Zeitpunkt ist gekommen, wo wir uns zur Veranschaulichung von Theorie und Geschichte besonderen Menschen der Zeit zuwenden wollen, in denen alle diese Haltungen, Ambivalenzen und Widersprüche sich zur glaubwürdigen Persönlichkeit vereinigen. Ich habe vor, einige Miniaturporträts von namhaften jüdischen Persönlichkeiten zu entwerfen, in denen sich der Geist der Wiener Jahrhundertwende verkörpert. Nicht um ausgewogene Biographien kann es sich hier handeln, sondern bloß um Illustrationen ganz bestimmter historischer Mächte. Um diese in den Griff zu bekommen, muß ich das verfügbare Material scharf begrenzen und nur soviel hervorholen, daß die grundlegenden Fragen nach Herkunft und Einstellung zum Judentum beantwortet werden können. Wir suchen das Typische, nicht das Individuelle.
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