Für Nathaniel
Alles wird gut.
Sie bewegten sich aufwärts. Sie würden hier rauskommen. Jenseits der Metallwände des Aufzugs hörte Petra das Rattern und Klacken von Kabeln, die sie höher zogen.
Hoch, hoch, hoch, sang sie in ihrem Kopf. Ihr Herz trommelte gegen ihren Brustkorb. Sie starrte auf die Anzeige und wünschte sich, sie könnten noch weiter beschleunigen. Schweiß lief ihren Nacken hinab. Der Aufzug war vollgestopft mit verängstigten Teenagern, die in ihren Overalls mit Farbkennung gegeneinanderstießen. Sie zählte im Kopf noch einmal schnell durch: Sie waren alle da, niemand war zurückgeblieben. Nicht einmal Seth. Sie sah ihn in der Menge, immer noch in seinem Krankenhaushemd. Sie hatten ihn gerade noch rechtzeitig gerettet.
Hoch, hoch, hoch.
Bald würde der Aufzug ruckartig anhalten. Bald würden sich die Türen öffnen. Bald würden sie frei sein. Neben ihr drückte Anaya ihre Hand. Petra drückte zurück. Sie war so dankbar dafür, ihre älteste Freundin auf der ganzen Welt bei sich zu haben. Es spielte keine Rolle, dass Anaya nun anders aussah, sie war immer noch Anaya. Und sie, Petra, war auch noch dieselbe, trotz allem.
Ich bin immer noch ich: Sie klammerte sich an den Gedanken wie an ein Seil. Wie das Kabel an den Aufzug, der sie hier heraushob. Wenn es riss, war alles verloren.
Alles wird gut.
Aus der Tiefe kam ein rostiges Quietschen. Der Aufzug wackelte, und Petra drückte eine Hand an die Wand, als würde sie ihn beruhigen wollen. Ihn ein wenig ermutigen: Du schaffst das, Aufzug.
»Sind wir zu schwer?«, flüsterte sie Anaya zu.
Sie wusste nicht, wieso sie flüsterte.
»Das ist ein Lastenaufzug«, sagte ihre Freundin. »Das wird schon klappen.«
Nicht dass sie irgendetwas daran hätten ändern können. Sie bewegten sich weiterhin aufwärts, und das war alles, was zählte.
Hoch, hoch, hoch.
Auf dem Bedienfeld gab es nur zwei Tasten. Die obere leuchtete: ein blasses, flackerndes Licht, das sie nach draußen wies.
Der Aufzug kam mit einem Rütteln zum Stehen.
Petra drehte sich zu Anaya um: »Sind wir da?«
Ihre Freundin runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Zu früh.«
Zu früh? Petra kam es vor, als wären sie schon Ewigkeiten hier drin gewesen. Sie starrte die Tür an, wollte sie mit purer Willenskraft dazu bringen, sich zu öffnen. Aber nichts passierte.
»Hier stimmt etwas nicht«, sagte Anaya.
»Stecken wir fest oder so?«
Hektisch drückte Petra auf den oberen Knopf und schnappte nach Luft, als der Aufzug ein bisschen absackte. Unter ihnen erklang das qualvolle Geräusch von sich verbiegendem Metall. Es klang, als würde es zerkaut. Sie wollte nicht darüber nachdenken, welche Art von Zähnen durch Metall beißen konnte. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was passieren würde, wenn diese Zähne das Aufzugkabel durchbissen.
Ein weiteres Rucken nach unten. Der Aufzug wirkte plötzlich viel schmaler, die Luft dünner. Sie schluckte die Panik herunter, die ihren Körper erfasste.
»Wir müssen hier raus«, sagte sie und blickte zur Decke.
Der Aufzug erzitterte heftig und das Licht erstarb.
Das war kein normaler Regen.
Er kam wie eine plötzliche Sintflut, zerfurchte die Wasseroberfläche und trübte Anayas Blick auf die ramponierte Stadt jenseits des Hafens. Er prasselte auf das Feld von Deadman’s Island, wo sie mit Mom und Dad, Petra und ihren Eltern, Seth und Dr. Stephanie Weber stand. Und irgendetwas stimmte nicht.
Nur wenige Minuten zuvor hatte ihre ganze Aufmerksamkeit noch dem Stanley Park gegolten, wo das kryptogene Gras und die Ranken abstarben. Gestern waren sie mit einem experimentellen Herbizid eingesprüht worden und nun verwelkten sie und brachen zusammen. Bis jetzt war nichts in der Lage gewesen, diese Pflanzen zu töten. Sie hatten sich weltweit verbreitet und den normalen Pflanzenbestand verdrängt. Würgende Ranken waren in Häuser hineingewachsen, andere Pflanzen warteten unter der Erde darauf, Tiere und Menschen in die Falle zu locken und in ihren säuregefüllten Beuteln zu verzehren. Aber das Herbizid, das Dad und Dr. Weber entwickelt hatten – es wirkte! Und noch vor weinigen Sekunden hatte Anaya gejubelt – gemeinsam mit allen anderen auf der Militärbasis, die rausgekommen waren, um Zeugen dieses großartigen Triumphs zu werden.
Aber jetzt regnete es.
Größtenteils war es echter Regen. Sie konnte die Feuchtigkeit auf ihren Wangen spüren. Aber zwischen den Regentropfen waren einzelne, die zu groß waren, um normal zu sein. Sie sickerten nicht in die Erde, sondern sprangen auf und blieben auf dem Rasen liegen wie leuchtend-transparente Perlen.
»Hagel«, sagte Mom.
Ihre Mutter war Pilotin, und Anaya wusste, dass sie alle möglichen Unwettervarianten erlebt hatte. Hagel im Mai war ungewöhnlich, aber nicht unmöglich. Und Anaya wollte, dass es Hagel war. Aber nahe ihren Füßen zuckte eine der leuchtenden Perlen, schwoll an und –
platzte.
Sie schnappte nach Luft und trat einen Schritt zurück, als sich etwas Flinkes und Nasses aus dem Innern befreite. Es geschah so schnell, dass sie weder die Größe noch die Form des Dings erkennen konnte – nur, dass es zu groß schien, um aus einer derartig winzigen Kugel zu kommen. In Sekundenschnelle hatte es sich in die Erde gegraben und war verschwunden.
»Hast du das gesehen?«, schrie sie.
»Eier«, sagte Dad und kniete sich hin, während weitere schlüpften. Ihr sich windender Inhalt glitt ins Gras. Er sprang vor und fing etwas in der hohlen Hand, doch es spritzte sofort zwischen seinen Fingern hindurch und verschwand.
»Krasser Scheiß«, sagte Seth. »Was ist das?«
»Es sind Hunderte!« Petra schnappte nach Luft und stampfte mit dem Fuß auf.
Anaya zuckte zusammen, als ein Schuss erklang. Auf der anderen Seiten des Felds feuerte ein Soldat mit einer Pistole auf den Boden, bis jemand ihn anschrie, dass er aufhören solle.
»Sie sind überall!«, hörte sie einen anderen Soldaten rufen.
»Wir müssen Exemplare einfangen«, sagte Dr. Weber mit bemerkenswerter Ruhe.
Anaya entdeckte mehrere weitere zitternde Eier entlang der Grashalme. Sie entriss Petras Vater den Kaffeebecher und entleerte ihn. Dann ging sie in die Knie, nahm ein paar Eier auf und drückte den Plastikdeckel zurück auf den Becher.
»Gute Idee«, sagte Dad.
»Lasst sie uns ins Labor bringen«, sagte Dr. Weber. »Schnell.«
So schnell, wie er gekommen war, hörte der Regen auch wieder auf. Anaya rannte zum Hauptgebäude. Sie hatte das Gefühl, eine Granate zu umklammern. Durch die Becherwand spürte sie, dass sich etwas bewegte.
»Ich glaube, sie schlüpfen!«
Sie beschleunigte, rannte durch die Tür, den Flur entlang und in Dr. Webers Labor.
»Hier rein«, sagte Dr. Weber und öffnete ein großes Glasterrarium, das ein paar Proben des schwarzen Grases enthielt.
Anaya ließ den Kaffeebecher hineinsinken. In einer schnellen Bewegung zog sie den Becher wieder ab. Mehrere winzige, durchsichtige Kreaturen quollen heraus. Dr. Weber versiegelte das Terrarium. Die Dinger wanden sich am Boden und schienen sich durch das Glas hindurchgraben zu wollen.
»Sie wollen alle unter die Erde«, sagte Seth.
»Es sind Larven.« Dad lehnte sich näher heran. »Sie suchen einen sicheren Ort, um zu wachsen. Aber diese sind nicht alle gleich.« Er drehte sich zu Dr. Weber. »Stephanie, können Sie bitte einmal die Vergrößerungskamera anwerfen?«
Mit einem Joystick stellte Dr. Weber die kleinere Kamera ein, die über dem Terrarium angebracht war. Sie betätigte einen Schalter und auf dem Bildschirm tauchte eine Art Wurm mit einem flachen Kopf auf.
»Sieht ein bisschen aus wie die Larve eines Nagekäfers«, sagte Anaya.
Da sie mit einem Botanikervater aufgewachsen war, kannte sie alle möglichen Dinge – nicht nur seltsame Pflanzen, sondern auch die gruseligen Kreaturen, die sie fraßen. Sie wusste, dass ihr Dad sich freute, dass sie nie eins der Kinder gewesen war, die sich vor Insekten ekelten. Er hatte ihr beigebracht, in Ruhe und genau hinzusehen.
»Ja«, stimmte Dad zu. »Wie die flachköpfige Larve eines Nagekäfers.«
»Die Dinger stammen also von der Erde?«, fragte Seth hoffnungsvoll.
»Sie sind gerade in Regentropfen vom verdammten Himmel gefallen«, sagte Petra.
»Ich will einfach nur ganz sicher sein, das ist alles!«, antwortete Seth.
»Von der Erde stammen die auf keinen Fall«, sagte Dad. »Nagekäferlarven sind anders unterteilt als diese und sie haben keine seitlichen Flossenansätze.« Er zeigte auf die langen Gebilde, die sich seitlich am Körper der Kreatur abzeichneten.
»Die könnten fürs Graben sein«, bemerkte Dr. Weber.
Als der Wurm sein breites Maul öffnete, atmete Anaya scharf ein.
»Oh mein Gott«, sagte Petra.
Darin waren spiralförmige Klingen, die aussahen wie kleine Bohrmaschinen. Auf dem Bildschirm tauchte nun eine weitere Kreatur auf. Sie hatte einen überdimensionierten Kopf, der größtenteils aus einem Paar tiefschwarzer Augen bestand. Ihr schlanker Körper wirkte wie eine Kette aus gepanzerten Blöcken, aus denen jeweils dornenartige Haare wuchsen. Unter ihrem Kopf war ein großer Buckel und hinter dem durchsichtigen Fleisch erkannte Anaya etwas Dunkles, Gebündeltes.
Sie deutete darauf. »Was ist das?«
»Ich denke, das könnten Flügel im Anfangsstadium sein«, sagte Dad. »Dieser hier könnte also flugfähig sein. Was haben wir noch da drin?«
Dr. Weber ließ die Kamera aufmerksam über das Terrarium schwenken. Sie entdeckte ein paar weitere der seltsamen, gebuckelten Kreaturen, einige Würmer und dann noch ein larvenartiges Ding, das so unförmig aussah, dass Anaya nicht feststellen konnte, welches Ende hier welches war.
»Der kleine Racker ist ein echtes Rätsel«, sagte Dad, als die Kamera näher heranzoomte. Dad bezeichnete Pflanzen oder Insekten, die er untersuchte, gern liebevoll als Schlingel, Halunke oder Pfiffikus. »Der ist noch vollkommen undifferenziert.«
»Das heißt?«, fragte Sergeant Diane Sumner. Petras Mutter arbeitete für die Mounties und wollte Dinge immer so schnell wie möglich verstehen.
»Das heißt, es ist schwer zu sagen, was zum Teufel das ist«, antwortete ihr Ehemann, Cal Sumner, der als Krankenpfleger im Krankenhaus von Salt Spring arbeitete.
Anaya sah zu, wie das Larvending sich in plumpsenden Bewegungen zu einem Wurm bewegte, der damit beschäftigt war, seinen Kopf gegen den Boden zu hämmern. Sie wusste nicht, wo bei der Larve vorne oder hinten war, bis das Ding seinen Kiefer öffnete und den Wurm vollständig verschluckte.
»Ist das gerade wirklich passiert?«, fragte Petra voller Abscheu.
Die Larve wirkte aufgedunsen und stand für ein paar Sekunden still, vielleicht davon betäubt, dass sie etwas gefressen hatte, das so groß war wie sie selbst. Ihr Körper zuckte. Dann plumpste sie herüber zu einer der buckeligen Kreaturen und fraß sie ebenfalls auf. Sie verschlang alle übrigen Kreaturen im Terrarium. Ihr geschwollener Körper beulte sich aus, als wäre die Beute darin noch lebendig und würde verzweifelt einen Ausweg suchen. Dann hörte die Bewegung auf.
»Ist es gestorben?«, hörte Anaya Mom fragen.
»Was ist das für ein klebriges Zeug?«, fragte Seth.
Eine aschfahle Flüssigkeit quoll aus dem Fleisch der Kreatur. Zunächst dachte Anaya, dass sie verletzt wäre, aber die Flüssigkeit verhärtete sich schnell zu einer grauen, undurchsichtigen Ummantelung.
»Ein Kokon?«, fragte sie und kniff die Augen zusammen.
»Das Stadium der Verpuppung beginnt«, sagte Dad.
»Sieht eher nach einer Schale aus«, fügte Dr. Weber hinzu. »Hart.«
»Wie konnte es sich selbst in ein Ei verwandeln?«, fragte Petra. »Es ist doch gerade erst geschlüpft!«
»Was auch immer es ist«, sagte Dad, »dieser Störenfried ist auf jeden Fall noch nicht fertig.«
»Ich will ihn nicht sehen, wenn es so weit ist«, sagte Petra.
»Dr. Weber?«
Anaya drehte sich um und sah, wie eine Labortechnikerin am Platz nebenan auf ihren Bildschirm deutete. Er zeigte eine Wetterkarte, auf der ein großer weißer Wirbel über dem Pazifischen Ozean zu sehen war. Sein östlicher Rand lag über der nordamerikanischen Westküste, inklusive Vancouver.
»Das ist ja riesig«, sagte Mom.
»Das ist wie bei dem starken Regen vor ein paar Wochen«, sagte Seth.
Im Zeitraffer breitete sich der riesige Wolkenwirbel aus, schwoll an über ganz Nordamerika, blähte sich auf in Richtung Asien und trieb bis nach Südamerika.
»Nur dass es diesmal Eier regnet«, sagte Anaya. »Keine Samen.«
»Ist es so weit?«, fragte Petra. »Starten sie eine Invasion?«
Sie.
Anaya starrte die Kreatur hinter dem Glas an. »Das sind sie nicht, oder? Die Kryptogenen?«
So hatten sie sie genannt. Es bedeutete »Spezies unbekannten Ursprungs«. Das war vielleicht wissenschaftlicher als das Wort Aliens, aber es war nicht weniger beängstigend.
»Auf keinen Fall«, sagte Dr. Weber und nickte in Richtung Terrarium. »Diese Dinger sind keine höheren Lebensformen. Sie sind ovipar. Eier legend. Anscheinend Insekten. Es ist definitiv eine neue Invasion, aber noch nicht die große.«
»Nur ein weiteres Stück eines außerirdischen Ökosystems«, sagte Dad. »Zuerst haben sie die Flora geschickt, jetzt bekommen wir ein bisschen Fauna.«
»Treten Sie von den Arbeitsplätzen zurück!«
Anaya zuckte aufgrund der dröhnenden Stimme zusammen und fuhr herum.
Colonel Pearson kam mit großen Schritten ins Labor, hinter ihm schwärmten Soldaten aus.
»Was geht hier vor?«, fragte Dr. Weber.
Er weiß Bescheid, dachte Anaya und schluckte schwer. Pearson weiß, was wir sind.
»Ich will all Ihre Aufzeichnungen. Die Festplatten, alle externen Speichereinheiten«, befahl Pearson dem Laborpersonal.
Anaya sah, wie sie Dr. Weber nervös anblickten, während sie ihre Stühle zurückschoben und aufstanden. Soldaten übernahmen sofort die Computer, drückten auf Tasten, zogen Kabel heraus.
»Colonel Pearson«, sagte Dr. Weber. »Das ist absolut nicht zulässig.«
Ihre Stimme war voller Empörung, aber Anaya hatte das Gefühl, dass sie nicht als Gewinnerin aus dieser Schlacht hervorgehen würde.
»Dieses Labor«, sagte sie dem Colonel, »fällt unter den Verantwortungsbereich des Kanadischen Geheimdienstes.«
»Nicht mehr«, sagte Pearson. »Ich verlange einen vollständigen Bericht über das, was Sie herausgefunden haben. Und ich meine, über alles, Dr. Weber. Die Eltern werden erst einmal in ihrer Wohneinheit festgesetzt.« Er nickte dem Soldaten neben sich zu. »Bringt die Kinder nach unten in die Gefängniszellen.«
»Was soll das?«, fragte Sergeant Sumner in ihrer härtesten Polizeistimme.
»Komm mit«, sagte ein Soldat zu Anaya.
Sie machte instinktiv einen Schritt auf ihren Vater zu, aber der Soldat zog sie geschickt zur Seite und nahm Handschellen von seinem Gürtel.
»Das kann nicht Ihr Ernst sein!«, schrie Dad. »Handschellen?«
»Arme hinter den Rücken«, blaffte der Soldat sie herausfordernd an.
Sie war dazu erzogen worden, respektvoll und folgsam zu sein, aber in diesem Moment war sie einfach nur überwältigt von Verwirrung – und Wut.
»Das ist doch verrückt. Wir haben dabei geholfen, herauszufinden, wie man diese Pflanzen tötet. Und Sie nehmen uns fest?«
»Sie haben kein Recht dazu!«, protestierte Dr. Weber.
»Alles Recht der Welt, wie Sie wissen«, sagte Colonel Pearson.
Weil wir nur zur Hälfte Menschen sind, dachte Anaya.
Sergeant Sumner zog ihr Handy hervor und begann zu wählen. »Ich rufe meinen Vorgesetzten an.«
Pearson höchstpersönlich riss ihr das Handy aus der Hand. In schneidendem Ton befahl er seinen Soldaten: »Legt ihnen allen Handschellen an. Sofort!«
Anaya spürte, wie sich die stählernen Ringe kalt um ihre Handgelenke schlossen.
»Aua!« Petra schrie auf, als ein Soldat ihr die Arme auf den Rücken drehte.
»Das muss doch wirklich nicht sein«, sagte Mr. Sumner.
»Fassen Sie sie nicht an!«, hörte Anaya Seth rufen. Und dann schrie jemand vor Schmerz auf.
Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Seth die Verbände an seinem rechten Arm abgerissen hatte, sodass seine Federn zu sehen waren. Ihre Spitzen standen messerscharf ab. Sie waren länger als beim letzten Mal, als Anaya sie auf Cordova Island gesehen hatte. Ihre Farben schienen stärker zu pulsieren, sie explodierten geradezu in schillernden Mustern entlang seines Arms.
Auf dem Boden führte eine helle Blutspur zu dem Soldaten, der Seth hatte fesseln wollen.
»Du hast mich verletzt«, knurrte der Soldat und hielt sich die Hand.
Sofort zogen drei andere Soldaten ihre Waffen und richteten sie auf Seth.
Jetzt wissen es alle, dachte Anaya. Sie fühlte sich wie betäubt. Die letzte Woche hatten sie sich so sehr bemüht, die Veränderungen ihrer Körper geheimzuhalten: Seths gefiederte Arme, Petras wachsender Schwanz, die Krallen an ihren eigenen Füßen.
Seth erhob seinen federbewehrten Arm – bereit, erneut zuzuschlagen.
»Seth!«, schrie Dr. Weber. »Nicht!«
»Du Krypto-Freak!« Der verletzte Soldat spuckte auf Seth, und Anaya sah den Hass in seinen Augen – und die Furcht.
»Senke deinen Arm, Junge!« Pearson blaffte Seth an.
»Erschießen Sie ihn nicht!«, flehte Petra.
»Seth«, krächzte Anaya, die kaum noch atmen konnte. »Hör auf!«
Langsam ließ Seth den Arm sinken. Sofort rammten ihn zwei Soldaten gegen die Wand und legten ihm Handschellen an.
Anaya wurde unsanft in Richtung Ausgang geschubst.
»Hey!«, protestierte sie.
»Hören Sie damit auf!«, schrie Dad und wollte den Soldaten aufhalten. Doch zwei andere zogen ihn sofort zurück und drehten ihm den Arm so heftig auf den Rücken, dass er vor Schmerz zusammenzuckte.
»Sie dürfen das nicht tun!«, schrie Mom Colonel Pearson an. »Sie dürfen uns nicht einfach von unseren Kindern trennen!«
Ein Handgemenge entstand sich zwischen Petras Eltern und dem Soldaten, der Petra aus dem Labor eskortieren wollte. Anaya traute ihren Augen kaum, als Sergeant Sumner einem Soldaten tatsächlich ins Gesicht schlug. Sie wurde sofort weggezerrt und gefesselt, ebenso wie Mr. Sumner.
Anaya wurde durch die Tür in den Flur geschoben. Mit einem letzten Blick über die Schulter sah sie Moms wunderschönes Gesicht, das vor Angst zusammengepresst wirkte, und Dad, der wütender aussah, als sie ihn jemals erlebt hatte. Dann verschwanden sie aus ihrem Blickfeld. Es fühlte sich an, als ob eine unsichtbare Verbindung soeben gerissen wäre und ein Loch in ihrem Bauch hinterlassen hätte.
Neben ihr verzweifelte Petra: »Mom?«
In diesem Augenblick kamen Anaya die Tränen. Denn die Stimme ihrer Freundin war gefüllt von der kindlichen Hoffnung, dass ihre Mutter sie sogar jetzt noch irgendwie beschützen könnte. Anaya wusste, dass Petra sich nie besonders gut mit ihrer Mutter verstanden hatte, und dennoch war sie die Person, die Petra sich am meisten herbeiwünschte.
»Keine Sorge«, hörte Anaya Sergeant Sumner vom Labor aus rufen. »Wir bringen das in Ordnung. Die Polizei weiß, wo ich bin.«
»Sie machen einen großen Fehler«, schrie Seth, als er ebenfalls in den Flur geschoben wurde.
Die Soldaten eskortierten die Gruppe durch eine Brandschutztür und mehrere Treppen hinunter.
»Ich bin eine verdammte Heldin, okay?« Petra schrie so laut, dass ihre Stimme von den Betonwänden zurückgeworfen wurde. »Ich hab den Dreck gefunden, der die Pflanzen tötet. Und was habt ihr Typen Tolles gemacht, hm? Ihr könnt uns nicht so behandeln!«
Dann brach ihre Stimme, und sie weinte wieder und wiederholte immer wieder, sie wolle nach Hause, könnten sie sie nicht einfach nach Hause gehen lassen?
Anaya holte tief Luft, um nicht mehr zu zittern.
Sie gingen eine weitere Treppe hinab, dort erwartete sie ein Betonflur mit fensterlosen Türen.
Der Soldat öffnete eine davon und schob sie hinein, allein.
Es gab weder ein Fenster noch eine Uhr, und Petra hatte das Gefühl dafür verloren, wie lange sie schon hier drinnen war. Ihre Augen fühlten sich rau an vom Weinen. Und sie juckten, weil sie allergisch gegen ihre eigenen Tränen war, dank ihrer bescheuerten Wasserallergie. Ihr Gesicht sah wahrscheinlich fürchterlich aus.
Sie hatte keine Tränen mehr übrig, aber in ihr wanderte die Panik weiterhin umher wie ein hungriges Tier, das auf seine Chance lauerte.
Sie versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren, aber das war fast unmöglich. Sie saß in einer Zelle. Einer Gefängniszelle. Ein Metallbett mit einer dünnen Matratze. Eine Toilette ohne Sitz. Eine Neonröhre an der Decke. Und draußen wimmelte die Erde von diesen wuseligen Kreaturen. Sie mussten inzwischen überall sein. In was würden sie sich verwandeln, wenn sie ihre Entwicklung abgeschlossen hatten? Ihre Augen wanderten immer wieder zu den Ecken der Decke und des Bodens, als würde sie jeden Moment damit rechnen, dass eines der Wesen in ihre Zelle krabbelte.
Wo waren ihre Eltern? Zunächst hatte sie noch damit gerechnet, dass jeden Moment die Tür auffliegen und ihre Mutter hereinstürmen würde, um ihr zu sagen, dass alles in Ordnung war. Mom konnte eine mächtige Nervensäge sein, wenn sie etwas wirklich wollte. Sie würde ein paar Anrufe getätigt und ein paar Köpfe eingeschlagen haben und alles wäre wieder okay. Oder Dr. Weber würde ihre Beziehungen spielen lassen. Immerhin arbeitete sie für den Geheimdienst und der war bekanntermaßen noch einflussreicher als die Polizei. Aber mit zunehmender Zeit schwand ihre Hoffnung.
Sie wünschte, Anaya und Seth wären bei ihr. Vor allem Seth. Sie fühlte sich ruhiger, wenn er in der Nähe war. Und sicherer. Er hatte versucht, sie und Anaya zu beschützen, als ihnen Handschellen angelegt werden sollten. Wenn sie zusammen wären, könnten sie zumindest miteinander sprechen. Das würde Petra davon abhalten, innerlich durchzudrehen.
Wie hatte Colonel Pearson überhaupt alles über sie erfahren?
Sie hatten sich so bemüht, ihr Geheimnis zu bewahren. Es musste die Sozialarbeiterin gewesen sein, diese hinterhältige Carlene. Sie war mit im Raum gewesen, als Dr. Weber ihnen das erste Mal von ihrer kryptogenen DNA erzählt hatte. Carlene hatte versucht, es zu verbergen, aber sie hatte entsetzt ausgesehen. Und das zurecht. Versuch du mal, außerirdische DNA in dir zu tragen, Carlene.
Petras Schwanz wurde in der Leggins unangenehm zusammengequetscht. Er war inzwischen lang genug geworden, dass sie ihn praktisch in ein Hosenbein runterschieben musste. Dort hinterließ er eine Beule. Manchmal zuckte er sogar von selbst. Deshalb hatte sie begonnen, einen Rock zu tragen, um sicherzugehen, dass man ihn nicht sah.
Und ihre Beine. Ihre Haut war ganz schuppig geworden und hatte sich dann abgeschält und babyzarte Haut darunter hinterlassen. Sie hatte nichts gegen die weiche Haut, auch wenn es ziemlich seltsam war. Ein bisschen, als hätte sie Delfinhaut. Und es war nicht mehr nur an ihren Beinen.
Sie hob ihr Top an und sah, dass ihr Bauch rau wurde. Ihre Finger wanderten herum zu ihrem unteren Rücken: das Gleiche. Es kostete sie Überwindung, die Stellen anzufassen. Als wäre sie eine seltsame Art Reptil.
Würde sich ihre gesamte Haut ablösen? Auch in ihrem Gesicht?
Ich werde jetzt nicht darüber nachdenken.
Und ihr Schwanz, wie lang würde das Teil noch werden?
Hör auf.
Wenn Dr. Weber ihn nur einfach abgehackt hätte, als sie gefragt hatte.
Als die Zellentür aufschwang, machte ihr Herz einen hoffnungsfrohen Satz, aber es war nur eine Wache mit einem Essenstablett.
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte Petra.
Keine Antwort.
»Wo sind meine Eltern?«
Nichts.
»Die Dinger, die mit dem Regen gekommen sind, sind die jetzt überall? Was passiert da draußen?«
Stille.
»Warum antworten Sie mir nicht?«, forderte Petra.
Die Soldatin hatte offensichtlich klare Anweisungen, nicht mit ihr zu sprechen. Sie vermied sogar jeglichen Augenkontakt. Inzwischen musste jeder auf der Militärbasis wissen, dass sie, Seth und Anaya kryptogene Hybriden waren.
»Das hier verstößt ziemlich sicher gegen das Gesetz«, sagte Petra. »Nur, damit Sie es wissen.«
Die Soldatin schloss die Tür hinter sich ab. Nachdem sie gegessen hatte, übermannte Petra eine bleierne Müdigkeit. Trotz der harten Matratze schlief sie ein. Als sie aufwachte, stand ein weiteres Tablett mit Essen an der Tür. Mittag- oder Abendessen? Wie lang würde man sie hier einsperren? Petra lief hin und her. Sie benutzte die Toilette. Sie kratzte an der schuppigen Haut auf ihrem Bauch herum und berührte die neue, weiche Haut darunter. Wenn sie doch nur ihre Kleidung wechseln könnte. Eine weitere Mahlzeit wurde gebracht. Sie machte sich noch mehr Sorgen, schlief noch ein wenig.
Ihre einzige Möglichkeit, die Zeit zu messen, waren die Essenstabletts. Fünf Stück. Sie ging davon aus, dass sie bereits fast zwei Tage in der Zelle verbracht hatte.
Als sich die Tür das nächste Mal öffnete, traten zwei Soldatinnen in den Raum. Das war neu.
»Dreh dich um, damit ich dir Handschellen anlegen kann.«
»Warum?«, fragte sie.
Keine Antwort.
»Wohin gehen wir?«
Keine Antwort.
»Ihr seid scheiße«, sagte Petra.
Aber sie fühlte sich geradezu freudig erregt, als sie den Flur entlanglief. Immerhin war sie aus der Zelle raus. Und auf dem Weg irgendwohin. Sie blickte auf die fensterlosen Türen und fragte sich, ob Seth und Anaya hinter einer davon waren. Es hatte keinen Sinn, zu fragen. Sie wurde in einen großen, weißen, fensterlosen Raum geführt.
In einer Ecke richtete ein Mann eine Videokamera auf einem Stativ aus. Zwei Soldaten standen links und rechts des Eingangs. In der Mitte des Raums, hinter einem Tisch, saß Colonel Pearson. Neben ihm war Dr. Weber.
Bei ihrem Anblick musste Petra unwillkürlich lächeln. Dr. Weber trug keine Handschellen. Das machte Hoffnung. Immerhin gehörte sie zum Geheimdienst. Sie würde sich für sie, Seth und Anaya einsetzen. Vielleicht hatte sie Pearson bereits überzeugt, dass sie völlig unschuldig waren.
Auf der anderen Seite von Dr. Weber saß ein Mann, den Petra noch nie zuvor gesehen hatte. Seine Militäruniform war nicht mit farbigen Streifen geschmückt wie die von Pearson. Er hatte einen großen Kopf, hängende Wangen und große Tränensäcke unter Augen, aus denen keinerlei Wärme drang. Im Grunde sah er aus wie ein korrupter römischer Imperator. Oder zumindest wie der Schauspieler, der so einen in der TV-Serie spielte, die ihre Familie so gern mochte. Auf seinem Namensschild stand Ritter.
Petra blickte Dr. Weber an und fragte: »Wo sind meine Mom und mein Dad?«
Es war Pearson, der antwortete. »Wir befragen sie einzeln.«
»Was ist mit Seth und Anaya?«, fragte sie.
»Sie werden ebenfalls festgehalten.«
»Sie können nicht einfach Leute einsperren!«
Petra versuchte, den starren Blick des Colonels zu entschlüsseln, aber schließlich wandte sie den Blick ab und blickte Dr. Weber an, die ihre Lippen zusammengepresst hatte und entschuldigend lächelte.
»Setz dich«, sagte Pearson und machte eine Kopfbewegung zum freien Stuhl.
Sie warf einen Blick über die Schulter zu den Soldaten an der Tür – bewaffnet, als wäre sie gefährlich – und dann zum Typen hinter der Kamera. Die rote Aufnahmeleuchte erwachte zum Leben.
Sie setzte sich. Das war eine Vernehmung. Ihr Mund war auf einmal staubtrocken. Sie musste so ruhig und sympathisch wirken wie möglich. Schauspielern konnte sie. An der Schule hatte sie immer Hauptrollen bekommen. Sie würde alle davon überzeugen, dass sie hilfsbereit und freundlich war. Eine freundliche Außerirdische. Halb-Außerirdische. Sie würde ihnen alles erzählen, was sie wissen wollten. Sie versuchte, ihre Augen so groß und unschuldig wie möglich erscheinen zu lassen.
Colonel Pearson sagte: »Dr. Weber hat mich über alles aufgeklärt, und ich habe Dr. Ritter hinzugezogen, der eine Task Force südlich der Grenze anführt.«
Das bedeutete, in den USA. Petra wollte fragen, was für eine Task Force das denn sein sollte und was für eine Art Doktor Dr. Ritter war, aber sie beschloss, besser erst einmal den Mund zu halten.
Dr. Ritters große, fleischige Hände klopften auf eine beige Aktenmappe vor ihm.
»Wir haben ein paar neue Testergebnisse«, sagte er. Es klang, als würde er auf etwas herumkauen, aber Petra merkte, dass er einfach so sprach. Vielleicht hatte ihn die Allergie gegen das schwarze Gras besonders hart getroffen und er bekam nur schlecht Luft.
Aus der Mappe zog er ein großes, glänzendes Foto und schob es zu ihr herüber.
Schon bevor sie es richtig erkennen konnte, bekam Petra Gänsehaut. Es war offensichtlich die Aufnahme eines Schädels. Darauf waren die hellsilbernen Schichten eines Gehirns zu sehen. Es wirkte wie eine riesige, leuchtende Walnuss.
»Bin ich das?«, fragte sie mit trockenem Mund.
Dr. Weber nickte. »Das ist von dem MRT, das wir letzte Woche gemacht haben. Bevor wir ins Öko-Reservat geflogen sind.«
Petra spürte, wie Panik ihr die Brust zuschnürte. Niemand zeigt dir ein Bild von deinem Gehirn, außer etwas ist nicht in Ordnung. Sie konnte nicht noch eine abgedrehte Besonderheit an ihrem Körper ertragen. Sie versuchte sich vorzustellen, dass es nur ein Bild aus einem Buch wäre. Es funktionierte nicht.
»Die interessante Region liegt hier«, sagte Dr. Ritter und deutete mit dem Finger. »Der Okzipitallappen. Dort liegt das Sehzentrum.«
»Warum ist es verschwommen?«, fragte Petra und blickte automatisch Dr. Weber an.
»Manchmal gibt es kleinere Störungen«, antwortete diese. »Oder zumindest dachte ich das anfangs. Aber als ich Seths und Anayas Scans angeschaut habe, gab es dort genau dieselbe verschwommene Region.«
Petra schluckte. »Wieso?«
»Was auch immer dort war, störte die Radiowellen«, erklärte Dr. Ritter mit seiner nasalen Stimme. »Zum Glück hat die gute Frau Dr. Weber ein paar zusätzliche Scans mit einer anderen Frequenz durchgeführt. Die wiederum sind glasklar geworden.«
Ritter zog ein weiteres Foto aus seiner Mappe und legte es über das erste. Dieses bestand aus vier Großaufnahmen, alle aus leicht unterschiedlichen Winkeln.
»Hier«, sagte Ritter und deutete auf eine silberne Form.
Petra beugte sich vor, eine bleierne Angst erfüllte ihren Magen. Verborgen in den Tiefen ihres Gehirns saß etwas, das aussah wie ein Meerespolyp mit wehenden kleinen Ärmchen.
Sie kannte sich mit dem Gehirn nicht aus, aber sie wusste instinktiv, dass dieses Ding nicht dorthin gehörte. Ihr Bewusstsein versuchte verzweifelt, sich an einen anderen Ort zu versetzen. Weit weg von diesem Raum – am besten so hundert Kilometer.
»Ist das ein Tumor?«, hörte sie sich selbst voller Hoffnung fragen.
Wer hätte gedacht, dass ein Gehirntumor mal die beste unter mehreren Optionen sein könnte.
»Nein«, antwortete Dr. Weber sanft.
Sie wollte zu ihren Eltern. Sie wollte nichts mehr sehen und hören. Es gab außerirdische DNA in jeder einzelnen ihrer Zellen. Ihr wuchs ein Schwanz, ihre Haut löste sich ab – und jetzt dieses Ding, das wie ein kleines Wesen in ihr lebte.
»Ich muss mich übergeben«, murmelte sie.
Dr. Weber wollte sich aufrichten, aber Colonel Pearson hielt sie zurück und nickte einem der Soldaten zu. Schnell schob dieser einen kleinen Mülleimer neben Petra. Sie beugte sich zur Seite und würgte. Doch es kam nicht mehr heraus als strähnige Flüssigkeit. Sie spuckte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihre Nase lief. Als sie sich das letzte Mal hatte übergeben müssen, war ihre Mutter da gewesen, um ihre Haare zurück zu halten, ihr über den Rücken zu streicheln und beruhigend auf sie einzureden.
Wenn sie damit gerechnet hatte, dass wenigstens Colonel Pearsons Gesichtsausdruck freundlicher werden würde, lag sie falsch. Dr. Ritter hustete etwas Schleim hoch und faltete seine fleischigen Hände.
»Alles in Ordnung, Petra?«, fragte Dr. Weber sanft.
»Was ist das?«, fragte sie. »Dieses Ding in meinem Kopf.«
Dr. Weber drehte sich zum Colonel. »Es ist offensichtlich, dass diese Kinder vollkommen unschuldig sind und keinerlei Gefahr für –«
»Für mich ist das alles andere als offensichtlich«, sagte Dr. Ritter. Er presste mit seinem dicken Finger auf die Fotos ihres Gehirns. »Das ist ein Sender.«
Verwirrt blickte Petra Dr. Weber an, die zögernd nickte.
»Er produziert Radiowellen. Deshalb waren die MRT-Ergebnisse teilweise verschwommen.«
»Und Seth und Anaya haben auch so einen?«
»Korrekt«, sagte Ritter. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete sie. Sein Blick war so intensiv, als wollte er sich in ihren Schädel bohren.
»Moment«, sagte Petra. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich denen Nachrichten sende, oder?«
»Wir wissen, dass du es tust«, antwortete Pearson.
»Wann?«
»Am Morgen, als das schwarze Gras abzusterben begann. Am selben Morgen, als der Regen fiel. Ungefähr um fünf Uhr morgens hat mein Kommunikationsteam starke Radiowellen festgestellt, die aus dem Innern der Basis kamen. Knapp zwei Minuten lang. Wir haben das Signal zu seiner Quelle zurückverfolgt: zum Apartment, in dem ihr alle geschlafen habt.«
»Wie hätte ich ein Signal senden können, wenn ich doch geschlafen habe?«, fragte Seth verwundert.
Colonel Pearson beobachtete ihn still und abwartend von seinem Platz am Tisch im weißen Befragungsraum aus. Dr. Ritter tat dasselbe, seine Augen wirkten kalt und konzentriert in dem faltigen Gesicht.
Erwarteten sie, dass er seine eigene Frage beantwortete? Seit sie ihm diese Fotos gezeigt hatten – dieses Ding in seinem Gehirn –, waren Seths Gedanken auseinandergefallen wie die Teile eines Puzzles. Er versuchte verzweifelt, sie wieder zusammenzusetzen.
Ein Sender in seinem Gehirn.
Ein Funksignal, das um fünf Uhr morgens von seinem Kopf aus gesendet wurde.
Während er schlief …
Und träumte.
Er hatte definitiv geträumt. Er konnte sich lebhaft an den Traum erinnern. Im Laufe der Jahre hatte er so viele in der Art gehabt, aber dieser war einzigartig gewesen. Er war geflogen und hatte seine eigenen gefiederten Arme gesehen. Unter ihm sprang Anaya in weiten Sätzen über ein Feld; in einem See schoss Petra durch das Wasser. Er war überwältigt von einem unglaublichen Gefühl von Geschwindigkeit und Sinnhaftigkeit. Und kurz bevor der Traum endete, hatte er diesen altbekannten Druck gespürt, der sich in seinem Kopf aufbaute – und dann plötzliche Erleichterung, all der Schmerz war aus ihm heraus in den Himmel geschossen.
War das das Funksignal gewesen? Das, von dem Pearson behauptete, dass seine Männer es bemerkt hatten?
»Wie ich schon sagte«, erklärte Dr. Weber den beiden Männern, »weiß keiner der drei irgendetwas von dem Funksignal.«
Seth war so froh, dass sie hier war. Als er in den Raum gekommen war und sie gesehen hatte, hatte ihn ein Gefühl von Erleichterung durchfahren. Sie war hier, um für ihn zu kämpfen, um zu verhindern, dass diese Militärtypen dachten, er sei eine Art gefährlicher Mutant.
»Kommunizierst du mit ihnen, Seth?«, fragte Dr. Ritter näselnd.
»Nein!«
Dr. Weber sagte: »Meine Theorie ist, dass Seth und die anderen seit ihrer Geburt biologische Daten an die Außerirdischen gesendet haben, mithilfe derer diese dann bestimmen konnten, ob sie auf der Erde überlebensfähig sind.«
»Was nur bedeuten kann, dass sie auf eine Kolonisierung hinarbeiten«, sagte Colonel Pearson. »Also eine Invasion.«
»Aber nur, wenn die Verhältnisse stimmen«, sagte Dr. Weber. »Die Kinder hatten es nicht gerade leicht. In der Pubertät haben zwei von ihnen heftige Allergien entwickelt. Seth hat seine gesamte Kindheit unter leicht brüchigen Knochen gelitten, was zu einigen Verletzungen führte. Erst mit dem ersten großen Regen wurde die Umwelt für die Kinder erträglicher.«
»Und die Kryptogenen«, sagte Ritter, »betreiben im Grunde Erdumformung mit unserem Planeten, also passen ihn an ihre Bedürfnisse an. Wenn sie mithilfe dieser Hybriden biologische Daten gesammelt haben, wie Sie vermuten, könnten sie auch andere wichtige Daten erfassen. Womöglich sind sie aktiv daran beteiligt.«
»Ich bin an überhaupt nichts beteiligt«, beharrte Seth.
»Es scheint außerdem klar zu sein«, fuhr Dr. Ritter fort, »dass das Gebilde in ihren Gehirnen nicht einfach nur ein Sender ist. Es ist auch ein Empfänger.« Sein emotionsloser Blick ruhte auf Seth. »Dr. Weber hat uns gesagt, dass du hochinteressante Träume hast.«
Seth blickte zu ihr hinüber und fühlte sich betrogen. Warum hatte sie ihnen von seinen Träumen erzählt? Sie waren persönlich und gehörten nur ihm. Und ihm gehörte nicht viel. Er wollte sie nicht teilen, besonders nicht mit Dr. Ritter.
Colonel Pearson fragte geradeheraus: »Hast du an dem Morgen geträumt, als der Regen fiel?«
»Schon in Ordnung, Seth«, sagte Dr. Weber. »Du musst nichts verbergen.«
Bis jetzt war es darum gegangen, alles zu verbergen. Seine Federn, Anayas Krallen, Petras Schwanz. Niemand durfte etwas davon erfahren. Noch vor ein paar Tagen hatte Dr. Weber davon gesprochen, sie von der Basis wegzubringen – zu ihrer eigenen Sicherheit, damit die Armee nicht hinter ihr Geheimnis kam.
Und nun forderte sie ihn auf, die Wahrheit zu sagen. Oder wollte sie eigentlich, dass er sich unschuldig gab und Ritter und Pearson so wenig wie möglich verriet? Er fühlte sich schrecklich verwirrt.
Ritter drehte sich genervt zu Dr. Weber um. »Sie haben gesagt, Sie würden ihn dazu bringen, zu kooperieren.«
Seth runzelte die Stirn. Hatten sie einen Deal abgeschlossen? Zweifel schossen ihm durch den Kopf. Hatte er alles missverstanden? Er hatte angenommen, dass sie auf seiner Seite stand. Aber warum haute sie dann nicht auf den Tisch und forderte, dass sie ihn gehen ließen – oder zumindest seine Handschellen abnahmen? Und wieso trug sie keine Handschellen? Für wen arbeitete sie eigentlich?
»Was ist hier los?«, fragte er.
Seine Stimme klang gebrochen. An diesem Morgen auf dem Feld – war das wirklich erst achtundvierzig Stunden her? – hatte sie ihn gefragt, ob sie seine Pflegemutter sein dürfe, und er hatte Ja gesagt. Er wünschte sich mit aller Kraft, dass sie sich wieder in diese Person verwandelte. Die Person, die bereit war, ihm ein Zuhause zu geben – und der er vertrauen konnte.
»Seth«, sagte sie ruhig, »Es regnet gerade buchstäblich neue Lebensformen auf diesen Planeten. Der Colonel und Dr. Ritter wollen so viel wie möglich darüber wissen, mit was wir es da zu tun haben. Ich habe zugestimmt, ihnen bei diesen Befragungen zu helfen, damit ich dabei sein und mich für euch einsetzen kann. Sie haben mir versprochen, dass ihr alle drei sicher sein werdet.«
Ritter räusperte sich. »Falls sie mit uns kooperieren. Und wenn Sie uns nicht helfen können, Dr. Weber, werden Sie aus dem Raum abgeführt.«
Angst durchfuhr Seth. Er wollte nicht, dass Dr. Weber ging. Auch wenn er nicht sicher war, auf welcher Seite sie stand.
»Ja«, platzte er heraus, »ich habe an dem Morgen geträumt. Kurz bevor ich aufgewacht bin.«
»Beschreibe den Traum.«
Er erzählte ihnen von den Federn an seinen Armen. Wie er durch die Luft gesegelt war. Er erzählte ihnen, dass er gesehen hatte, wie Petra schwamm und wie Anaya sprang.
»Ich denke, wir sollten uns daran erinnern, dass es Träume sind«, sagte Dr. Weber. »Wir haben keine Ahnung von ihrer Bedeutung – falls sie überhaupt eine haben.«
Ritter ignorierte sie. »In diesen Träumen, bist du dir bewusst, dass du mit den Kryptogenen kommunizierst?«
»Nein.«
»Aber du spürst ihre Anwesenheit?«
»Manchmal, ja. Es ist, als ob jemand zuschaut.«
»Du fliegst in deinen Träumen. Wohin?«
»Auf sie zu, schätze ich.«
»Warum solltest du das tun wollen?«
Seth zögerte. »Weil es sich so anfühlt, als würde ich zu einem guten Ort fliegen.«
Das war wahrscheinlich ein Fehler. Er wünschte, er könnte den letzten Satz zurücknehmen.
»Sprichst du in deinen Träumen? Kommen Worte vor?«
»Nein.«
Ritter beugte sich über den Tisch vor. Seth konnte hören, dass aus seinen Nasenlöchern ein leichtes Pfeifen entwich.
»Was sagst du ihnen?«
»Ich habe es Ihnen doch gesagt: nichts!«
Im Laufe seines Lebens hatte Seth genau so sehr viel Zeit verbracht: Auf einem Stuhl in einem beschissenen Raum sitzen, Fragen beantworten und mit Leuten sprechen, die sich hin und wieder Notizen machen. Er musste persönliche Sachen erzählen, davon, wie er sich fühlte und was er in letzter Zeit gemacht hatte. Dabei versuchte er sie stets von den selben Dingen zu überzeugen. Dass er gut erzogen war.
Und vor allem, dass er ein braver Junge war. Eine gute Wahl. Dass er nicht gefährlich war. Dass er es verdiente, dass jemand sich um ihn sorgte.
Sein Blick wanderte zu Dr. Weber. Ob sie sich noch um ihn sorgte?
Ritter lehnte sich zurück und blickte zur Decke. »Ist das nicht unheimlich praktisch«, fragte er und kaute dabei auf jedem Wort herum, als wäre es eine Delikatesse, »dass genau in dem Moment, als wir herausfinden, wie wir die Pflanzen bekämpfen können, eine neue Welle kryptogenen Lebens vom Himmel fällt?« Er fixierte wieder Seth. »Vielleicht schauen sie zu. Oder jemand hält sie auf dem Laufenden.«
»Ich nicht«, sagte Seth und spürte Hass gegenüber Ritter. »Außerdem haben Sie doch unsere Signale abgefangen, oder etwa nicht? Sollten Sie nicht wissen, was ich gesagt habe?«
»Die Übertragung war kodiert«, antwortete Ritter.
»Wow«, machte Seth. »Trotz all Ihrer modernen Technologie und so?«
»Seth«, warnte Dr. Weber. »Ich glaube nicht, dass uns Sarkasmus hier weiterbringt.«
»Solltest du nicht auf meiner Seite sein?«, fragte Seth und war selbst überrascht von der Wut in seiner Stimme. Dann richtete er sich auf, als Ritter seine fleischige Handfläche auf den Tisch knallen ließ.
»Was – berichtest – du – ihnen?«
»Nichts!«
»Wie sehen sie aus?«
»Ich hab sie noch nie gesehen!«
Ritter griff in einen kleinen Aktenkoffer auf dem Boden und zog Seths Skizzenbuch heraus. Die einzige Erwachsene, der Seth jemals dieses Buch gezeigt hatte, war Dr. Weber. Weil er ihr vertraut hatte. Ritter knallte es auf den Tisch.
»Das ist privat«, sagte Seth und erhob sich ein Stück von seinem Stuhl.
»Setz dich hin, Seth«, sagte Pearson.
Die Soldaten an der Tür machten ein paar Schritte auf ihn zu, die Hände an den Waffen.
Seth setzte sich. Die Soldaten zogen sich zurück.
»Du scheinst die Situation nicht zu verstehen«, erklärte Colonel Pearson. »Du wirst als Gefahr für die nationale Sicherheit gemäß dem Kriegsrecht festgehalten.«
»Ich habe nichts getan! Außer dabei zu helfen, Leute zu retten – und die Erde zu sammeln, die die Pflanzen tötet!«
»Du sendest Informationen an eine feindliche Macht.«
»Sie haben gerade gesagt, Sie wissen nicht einmal, was ich sende!«
Seth zuckte zusammen, als Ritter das Skizzenbuch öffnete und darin herumblätterte. Sein leerer Blick streifte über die Bilder wie schmierige Finger.
»Anscheinend hast du sehr genaues Wissen darüber, wie die Kryptogenen aussehen. Und sag mir nicht, dass du dir das alles ausgedacht hast.«
»Einiges schon«, beharrte Seth. »Ich hab das Zeug schon als Kind gezeichnet. Aber manches davon stammt aus meinen Träumen.«
»Eine fliegende Kreatur, eine, die im Wasser, und eine, die an Land lebt«, bemerkte Ritter. »Eine mit Federn, eine mit Schwanz, eine mit Krallen und Fell.«
»Wir können nicht wissen, ob die Kryptogenen tatsächlich so aussehen«, sagte Dr. Weber.
Ritter schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Ich denke, Seth weiß eine ganze Menge über sie.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Seth.
»Ich habe gehört, dass deine Federn sehr eindrucksvoll sind. Glaubst du, du wirst richtige Flügel bekommen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Seth.
»Hoffst du es?«
Alle Instinkte rieten ihm, nichts zu sagen, nur mit den Schultern zu zucken. Seth blickte Dr. Weber an. Sie hatte ihm geraten, die Wahrheit zu sagen. Vielleicht war es ihr egal, was mit ihm passierte. Also warum nicht? Wenn sie die Wahrheit wollte, würde sie die Wahrheit bekommen.
Er sagte: »Ja.«