Gesammelte
Essays und
Reiseberichte
Aus dem Amerikanischen von
Thomas Görden
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Copyright © 2014 by Tom Kenyon
Eine Originalausgabe im AMRA Verlag
Auf der Reitbahn 8, D-63452 Hanau
Telefon: + 49 (0) 61 81 – 18 93 92
Kontakt: Info@AmraVerlag.de
Herausgeber & Lektor |
Michael Nagula |
Einbandgestaltung |
FranklDesign |
Layout & Satz |
Birgit Letsch |
Fast alle Texte übersetzte Thomas Görden – außer »Zu Gast im Haus der Fülle« (Sarah Heidelberger), »Immunität« (Ingrid Riedel-Karp), »Gefahr und Chance« sowie »Die Wirkung von Klang auf das Bewusstsein« (Michael Nagula).
Als Grundlage dienten die Originalmanuskripte des Autors.
ISBN Printausgabe 978-3-939373-99-5
ISBN eBook 978-3-95447-146-1
Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks.
Die Reise des Eingeweihten
Ein Vorwort von Tom Kenyon
Postkarte aus Fidschi
Eine Einleitung von Judi Sion
Mit den Krokodilen ringen
Das unerträgliche Licht der Bewusstheit
Synchronizitäten
Zu Gast im Haus der Fülle
Eine Botschaft der Hathoren
Der Mythos, der Held und die Lüge
Der Übergang ins holographische Universum
Immunität
Das Windrad unseres Geistes verlangsamen
Siddhis und die Kräfte des Bewusstseins
Gedanken und Gefühle vom Rand einer verrückt gewordenen Welt
Psychonavigation
Emotionaler Krebs
Das Haus der Beziehung
Im Mandala des Großen Mitgefühls
Weißgold-Alchemie
Eine Botschaft der Hathoren
Die Alchemie der Beziehung
Wenn unser Instinkt trügt
Gefahr und Chance
Gesang der Vier Elemente
Psychospirituelle Entgiftung
Was es mit Grenzen auf sich hat
Über die Hathoren
Die Wirkung von Klang auf das Bewusstsein
Deutsche Bibliografie und Diskografie
Die Autoren
Willkommen zu meiner Sammlung von Essays, die teilweise schon vor langer Zeit entstanden. Eingeleitet werden sie von einem Artikel meiner Frau Judi Sion, den sie schrieb, während wir uns zu Filmaufnahmen in Fidschi aufhielten. Wir verbrachten viel Zeit draußen auf einem Riff, wo es vor Leben nur so wimmelte. Unter anderem gab es dort Korallen in Felsblock-Größe, mit einem Durchmesser von gut und gern vier bis fünf Metern. Jeder Tag war ein neues Abenteuer, bei dem wir Fische sahen, die uns nie zuvor begegnet waren oder von denen wir gar nicht gewusst hatten, dass sie überhaupt existierten.
In der Hoffnung, das Riff und seine erstaunlichen Bewohner zu filmen, kehrten wir vor ein paar Jahren mit Unterwasserkameras nach Fidschi zurück. Doch durch den Klimawandel hatte sich die Unterwasserwelt verändert. Die meisten Korallen waren zerstört, und da die ungewöhnlichen Fische ihren Lebensraum mit seinen vielen Spalten und Winkeln verloren hatten, waren auch sie verschwunden. Wie uns die Einheimischen erzählten, war das Wasser wärmer geworden, was dazu führte, dass eine Seestern-Art mit dem ironischen und biblischen Namen »Dornenkrone« das Riff buchstäblich auffraß.
Die Welt wandelt sich, und dass die Ökosysteme dieses Planeten mit so alarmierender Geschwindigkeit verändert werden, hätten Wissenschaftler noch vor wenigen Jahrzehnten für unmöglich gehalten. Das erschwert heute die Erschließung der Welt und des eigenen Seins, aber geblieben ist uns die uralte Reise des Eingeweihten: Sie vollzieht sich jetzt vor dem Hintergrund rasanter Veränderungen und der daraus resultierenden Krisen.
Als Eingeweihten bezeichne ich jemanden, der danach strebt, sich bewusstseinsmäßig aufwärts zu entwickeln. Dabei spielt es keine Rolle, welcher spirituellen Tradition die entsprechende Person folgt oder ob sie überhaupt einer Tradition folgt. Alle, die daran arbeiten, die höheren Ausdrucksmöglichkeiten und Potenziale ihrer Existenz als menschliche Wesen zu leben, sind nach meinem Verständnis Eingeweihte.
Wenn Sie spüren, dass das Leben ein heiliges Wagnis ist und dass Ihre Existenz weit mehr als das für die Augen Sichtbare umfasst, dann sind Sie ein wahrer Eingeweihter.
In den Essays, die das vorliegende Buch versammelt, beleuchte ich die Reise des Eingeweihten auf der Grundlage meiner persönlichen Gedanken und Beobachtungen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, bei denen diverse spirituelle Traditionen ebenso Berücksichtigung finden wie die Neuropsychologie und die Quantenphysik.
Zwar werden die meisten Leute das für eine ungewöhnliche Allianz halten, aber ich betrachte Wissenschaft und Spiritualität als ausgezeichnete Verbündete. Diese ungewöhnliche Auffassung begründe ich damit, dass die Logik keineswegs der Erzfeind der spirituellen Befreiung ist, sondern ein notwendiger Bestandteil. Ich widerspreche ausdrücklich dem Heiligen Ignatius von Loyola, der sagte: »Wir müssen glauben ohne Vernunft.«
Die Reise des Eingeweihten erfordert alle uns verfügbaren Ressourcen, besonders in dieser apokalyptischen postmodernen Welt. Der Glaube kann uns dabei sehr weiterhelfen, aber es muss jene Art Glaube sein, der klare und direkte Nachforschungen nicht scheut.
Für mich steht außer Frage – ja, ich glaube felsenfest daran –, dass die Entdeckungen der Quantenphysik und der Neuropsychologie genutzt werden können, um die Schnittstelle zwischen den nichtlokalen Aspekten des Bewusstseins und unserer Alltagserfahrung besser zu verstehen. Und gerade unser nichtlokales Bewusstsein, jenseits der Grenzen von Zeit, Raum und Materie, ist der Schlüssel für unsere Reise als Eingeweihte.
Alle Ewigen Philosophien wie auch die meisten spirituellen Traditionen befassen sich mit diesem Territorium der Psyche. Dieser transzendente Aspekt unseres Seins ist das zentrale Merkmal authentischer spiritueller Erfahrung. Psychologen bezeichnen dieses Territorium menschlicher Erfahrung oft als das Transpersonale, womit gemeint ist, dass es sich jenseits der persönlichen Identität befindet. Dieser humanistische Ansatz besitzt einige Vorzüge, weil dabei spirituelle und religiöse Dogmen vermieden werden. Man umgeht sie, indem alle numinosen und spirituellen Erfahrungen unmittelbar und unvoreingenommen untersucht werden, ohne eine bestimmte spirituelle oder religiöse Richtung zu bevorzugen.
Als Psychotherapeut, der seit Jahrzehnten auf diesem Gebiet tätig ist, hatte ich das Privileg, bei meinen Klienten Zeuge außergewöhnlicher Reisen zu werden, während denen sie sich in enorme Höhen ihres eigenen transpersonalen – spirituellen – Bewusstseins hinaufschwangen. Dieser Zeuge in mir hat viele der Gedanken und Beobachtungen geformt, die wie sonderbare Fäden in das Gewebe des vorliegenden Buches eingeflochten sind.
Als Michael Nagula, der Verleger des AMRA Verlags, mir den Vorschlag zu diesem Buch machte und mir eine Liste der Texte vorlegte, die er aufnehmen wollte, überkam mich das merkwürdige Gefühl, dass das ganze Buch eine Art Quilt ist, zusammengenäht aus unterschiedlichen Stoffstücken. Wie die einzelnen Flicken eines Quilts ist jeder Essay in sich abgeschlossen. Doch zusammengenommen geschieht etwas. Zusammengenommen ergeben die Einzelaspekte der spirituellen Reise eine Art facettenreicher Kohärenz!
Die Zergliederung in einzelne Facetten erklärt sich daraus, dass unterschiedliche Aspekte der spirituellen Reise behandelt werden. Die Kohärenz wiederum ergibt sich, weil alle Wahrheiten letztlich, jedenfalls meiner Meinung nach, miteinander verbunden sind.
Manche Essays befassen sich unmittelbar mit den numinosen oder lichterfüllten Bereichen der spirituellen Erfahrung, andere ergründen die Schattenzonen der menschlichen Psychologie. Ich bin der Ansicht, dass wir unbedingt den spirituellen Mut aufbringen sollten, uns mit unserem Schatten zu konfrontieren, denn wie der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung sagte: Wir laufen sonst Gefahr, vom Schatten vernichtet zu werden.
Das bringt mich zu meiner Eingangsbemerkung zurück. »Die Welt wandelt sich, und dass die Ökosysteme dieses Planeten mit so alarmierender Geschwindigkeit verändert werden, hätten Wissenschaftler noch vor wenigen Jahrzehnten für unmöglich gehalten.« Für alle, die aus dem massenhypnotischen Schlaf erwachen, ist offensichtlich, dass die Ökosysteme der Erde in großer Not sind. Als Spezies scheinen wir unfähig zu sein, den technologischen »Fortschritt«, den wir dem Planeten zumuten, in erträgliche Bahnen zu lenken. Es ist gut möglich, dass wir für diesen Größenwahn mit unserer Auslöschung bezahlen werden.
Vor diesem Hintergrund kultureller Dissonanz, also der kollektiven Leugnung des Ernstes unserer Lage, müssen Sie als moderne Eingeweihte Ihre Reise bestehen.
Sie müssen sich einen Pfad durch den kollektiven Irrsinn bahnen.
Der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell verglich die diversen Mythen und Religionen der Welt und entwickelte das Konzept des Monomythos und der, wie er es nannte, Heldenreise. Seiner Ansicht nach besteht unsere Reise, die Reise des Eingeweihten, darin, Kontakt mit den numinosen, lichterfüllten Bereichen unseres Seins herzustellen. Doch nachdem wir durch den Kontakt mit unserer spirituellen Natur, dem Transpersonalen, verwandelt wurden, kehren wir sozusagen zur Erde zurück. Dann leben wir unser Leben mit dem Wissen, das wir in den geistigen Welten erlangt haben. Und wenn unser Leben in dieser Welt endet, kehren wir dorthin zurück, woher wir kamen.
Ich persönlich glaube, dass Campbells Beschreibung der Reise zutrifft. Und es ist in der Tat ein heroischer Akt, in unserer derartig außer Kontrolle geratenen postmodernen Welt des 21. Jahrhunderts ein nach höherem Bewusstsein strebendes Leben zu führen.
Als ich in Vorbereitung auf dieses Vorwort einige Joseph Campbell zugeschriebene Zitate noch einmal las, sprang mir eines besonders ins Auge. Ich finde, es bringt eine geheimnisvolle Wahrheit über die menschliche Daseinserfahrung auf den Punkt. Und ich glaube, es ist eine sehr gute Idee, es Ihnen abschließend mit auf den Weg zu geben, bevor Sie sich dem wechselseitig erhellenden Flickenteppich dieses Essaybandes zuwenden.
»Schwierige Lebensphasen sind die beste Gelegenheit, unsere tiefen inneren Kräfte zu entdecken und zu entfalten.«
Zunächst ein Rat, nein, eher eine Warnung: Die folgenden Notizen haben absolut keinen spirituellen Wert, und das ist auch nicht beabsichtigt. Sie sind, im besten Fall, wie ich: ehrfurchtslos, kritisch und ein bisschen neben der Spur. Ein spiritueller Wert wird auch nicht versteckt angedeutet, denn er ist gar nicht gewünscht. Ich gebe zu, dass ich in Gleichnissen schreibe und Chiffren einflechte, wo ich nur kann, aber wie Sie diese lesen und ob Sie sie überhaupt erkennen, liegt ganz allein bei Ihnen.
Ich ziehe es vor, federleicht zu schreiben. (Meine Sprache wird so zu meinem stumpfen Instrument.) Ich mag keine Prediger. Fanatiker sind in jeder Sekte gefährlich. Es scheint nur so, als würden sie ihre exzessiv-zwanghafte Persönlichkeit in den Dienst eines Bewusstseins stellen, das sie Gott nennen. Würden sie diese Tendenzen statt in der Religion in anderen Lebensbereichen an den Tag legen, würden wir auf der Straße einen großen Bogen um sie machen und niemals Waffen oder Regierungsverantwortung in ihre Hände legen. Da bin ich mir sicher.
Ich schreibe, weil es mich nährt. Ich schreibe, wenn etwas in Reichweite ist, auf das ich Buchstaben aufbringen kann, sei es Papier, Tafeln, Jalousien, Computer, Muscheln, sei es Schreiben im Sand, auf Servietten in Cafés und auf Zeitungen, die in Flughäfen zurückgelassen werden. Selten hole ich diese Literatur ins Licht des Tages. (Gehen Sie bitte nicht davon aus, dass ich das Wort »Licht« irgendwie in einem spirituellen oder New-Age-Sinne verwende.)
Wenn wir unterwegs sind, schreibe ich ständig etwas, das ich Travelogues oder Reiseberichte nenne. Darin fange ich die vielleicht unbedeutendste Farbe aus der Palette des Tages ein. Ich beobachte die unterschiedlichen Muster auf Laub und Steinen. Unfähig, der Unterhaltung an dem Tisch zu folgen, an dem ich sitze, lausche ich auf die in der gegenüberliegenden Ecke. Das ist geradezu ein Hörzwang.
Und so notiere ich die Gespräche, die ich höre. Diese Notizen sammeln sich auf allerlei Discs und Sticks, die in Koffern und Schubladen herumfliegen. Ich habe ganze Stapel davon, so wie Tom stapelweise unveröffentlichte Songs ansammelt. Eines Tages.
Tom hat gesagt, dass ich etwas für sein Buch schreiben muss. Ich wies darauf hin, wie sehr mich das in eine Zwickmühle bringt, weil mein Geist sich gerade mit ziemlich merkwürdigen Dingen beschäftigt, die in höflichen Unterhaltungen wohl nicht als besonders politisch akzeptabel durchgehen würden. Ich fühle mich in diesen Tagen nicht sehr spirituell. Und dem Rat der Hathoren zum Trotz (unseren Freunden aus der geistigen Welt, die Tom immer wieder channelt) fällt es mir ganz schön schwer, die Politiker unserer Zeit wertzuschätzen. Meine persönliche Spiritualität und politische Position könnte man derzeit irgendwo links von Zecharia Sitchin und rechts von David Icke verorten, wenn Sie verstehen, worauf ich hinaus will. (Mit anderen Worten, ich denke über genetische Manipulation nach und einen daraus resultierenden Fehler in unserer DNS, der uns dazu treibt, uns selbst aufzugeben, uns niederzuwerfen vor Gott, Göttin, Regierung, Religion, Meditation, Gebet, Ehre, Respekt, statt uns auf unsere persönliche Kraft zu besinnen und uns weiterzuentwickeln. Wir wurden dazu erschaffen, eine Sklavenrasse zu sein, und wir sind es noch immer.)
Mit anderen Worten: Mein Gott wohnt in meinem Bewusstsein und Herzen, und der Teufel wohnt im Weißen Haus. Wir geraten hier in gefährliches Schnorchelwasser, um eine Metapher aufzurühren, und ich bevorzuge das Riff vor mir. Daher schicke ich einfach diese Postkarte aus Fidschi, wo wir uns in diesem Monat aufhalten, in einem kleinen braunen Haus am Meer.
Tom hegte eine Fantasie über Fidschi, die mich gleich von Anfang an hätte beunruhigen sollen. Er hatte zuvor auch schon andere Fantasien. In seinem mentalen Bilderbuch war es so gewesen, dass man in Holland immer noch Holzschuhe trägt, und als er dann sah, dass es sie nur noch als Souvenirs im Miniaturformat gibt, war er enttäuscht. Dass in Griechenland die Windmühlen zahlreicher sind als dort, »wo sie hingehören«, deprimierte ihn noch mehr.
Diese Bilder, die wir in der Brieftasche herumtragen – die sorgfältig bewahrten Fotos aus Hochglanzbroschüren –, haben nur selten Ähnlichkeit mit der Realität.
In Fidschi waren wir aus zwei Gründen. Bei dem einen handelte es sich um Toms Fantasie über die tropischen Inseln. Dieses Bild kennen Sie sicher: Palmen, Kokosnüsse, die uns vor die Füße fallen, bereit, gegessen zu werden. Sanfte Brisen. Ein unberührtes Korallenriff, das nur darauf wartet, von uns erkundet zu werden. Exotisch verklärte Bilder von freundlichen, passiven Eingeborenen, die uns mit Palmwedeln Kühlung zufächeln und dabei komplexe polynesische Harmonien singen.
Und dann kam hinzu, dass sowohl Maria Magdalena wie die Hathoren uns geradezu gedrängt hatten, nach Fidschi zu reisen, weil dort »das Tantra noch mehr gesteigert würde«.
Nun weiß ich natürlich, dass die bessere (nun ja, schicklichere) Definition von Tantra lautet: »alchemistische Energie-Praktiken«. Aber nichtsdestotrotz war ich sehr erpicht darauf, nach Fidschi zu kommen.
Als wir dort landeten, wussten wir nichts über diesen Inselstaat, aber schnell wurde uns klar, dass wir ein falsches Bild von Fidschi hatten und möglicherweise zu wenig Geld in der Brieftasche.
Thailand hatte uns nicht besonders gefallen. Die Hitze dort war brutal, und die Schwüle raubte uns Energie und geistigen Fokus. Mit anderen Worten: Wenn man einmal um den Block ging, war man erschöpft und durchgeschwitzt. Ich stand in Thailand praktisch ständig unter der Dusche.
Bei der Ankunft in Fidschi begrüßte uns eine Schar von Einheimischen, von denen jeder die Vorzüge seines Hotels, seines Taxis oder seiner Holzschnitzereien anpries. Es gab keine komplexen polynesischen Harmonien, aber die Leute waren freundlich und höflich, warben unaufdringlich für das, was sie anboten.
Das Nadi-Hotel lockte mit klimatisierten Deluxe-Zimmern, also wählten wir es wegen der angenehmen Kühle, die es verhieß. Auch boten sie einen kostenlosen Transfer vom und zum Flughafen an. Da wir schon am nächsten Tag zu der Insel weiterfliegen würden, auf der wir ein Ferienhaus gemietet hatten, warum nicht vorher einen Blick auf das Großstadtleben auf Fidschis Großer Insel werfen? (Erst in letzter Minute hatten wir überhaupt herausgefunden, dass das von uns gebuchte Haus sich gar nicht auf der Insel befand, auf dem unser Flieger landete. Daran können Sie sehen, wie unschuldig und ingnorant wir waren! Ignoranz ist ein Segen, heißt es. Wer wusste schon, dass Fidschi aus über 300 Inseln besteht, von denen keine einzige Fidschi heißt?)
Hotels wie das Nadi-Hotel kann man auch in den USA immer noch finden – wenn man das heruntergekommenste Viertel einer hässlichen Stadt aufsucht und dort eine Absteige wählt, die besonders alt und verwahrlost aussieht.
Es war ein Humphrey-Bogart-Film, mit Katherine Hepburn in der weiblichen Hauptrolle. (Sie konnte es mit der schwülen Hitze und dem stickigen Dschungel aufnehmen.) Die Kulisse war African Queen, mit einem Hauch von Casablanca und einer Prise Key Largo.
Die Klangeffekte im Speiseraum beeindruckten, da brauchte es keine Nachbearbeitung. Nachdem sie unsere Bestellung aufgenommen hatte ... Huhn-Chow-mein-Curry sollte es sein, glaube ich – fragen Sie mich nicht ... verschwand der Kellner barfuß im Nebenraum. Als Nächstes hörte man ein Hackebeil durch die Luft surren, das sich tief in einen uralten Holzblock grub. Dieses Hackebeil ging offenbar glatt durch alle Knochen des Huhnes hindurch und ließ keinen von ihnen heil. So hatte man bei jedem Bissen Knochensplitter im Mund. Das Essen war voll davon. Sie waren zwischen den Nudeln und den ohnehin wenig appetitlichen Fleischstücken. Ich verzichtete dankend.
Die altersschwache Klimaanlage konnte nichts gegen die Schwüle ausrichten, sorgte aber im Zusammenspiel mit der ständig laufenden Klospülung wenigstens dafür, die Geräusche etwas zu überlagern, die aus der Bar auf der anderen Straßenseite drangen. Es gab dort eine »Liveband«, die eine schlechte Mischung aus hawaiianischer Musik, Calypso, Rock und Salsa spielte, mit etwas afrikanischen und indischen Beimischungen. Wir lagen die ganze Nacht wach, halbtot von der Hitze und dankbar für die lärmende Klimaanlage und das ständig laufende Wasser in der Toilette. Als sich Spencer Tracy schließlich von seiner Frau scheiden ließ und Katharine Hepburn heiratete, die Humphrey Bogart nie wirklich geliebt hatte, schlief ich endlich ein.
Nadi war alles in allem zutiefst deprimierend. Es war schmutzig. Es gab dort nichts, was uns Freude gemacht hätte. Nun waren wir also auf unserer Reise an einen Ort gelangt, wo es keine Cafés, keinen Tee und erst recht keine Internetcafés gab. Und das sollte nun die Große Stadt von Fidschi sein? Oh mein Gott, was hatten wir getan?
Wenige Wochen vor unserem Besuch war Fidschi von einem verheerenden Zyklon heimgesucht worden. Ein weiterer war angekündigt und schwebte drohend irgendwo draußen über dem Meer, als wir morgens von Viti Levu nach Vanua Levu aufbrachen. Zweifellos wartete er noch auf letzte Anweisungen, wo er zuschlagen sollte.
Ich hatte damit gerechnet, dass der Flug zwischen den Inseln etwa fünfzehn Minuten dauern würde. Hätte ich doch nur den Reiseführer studiert. Im Flugzeug saßen neun Passagiere, Pilot und Copilot. Die Leute hingen in der engen Kabine unter mächtigen Propellermotoren. Als Zugabe war ein weiterer Propeller oben hinter dem Rumpf angebracht. Ich hatte das Gefühl, Teil einer Fracht zu sein, die ein riesiger Storch unter dem Schnabel trägt. Zwei mitreisende Männer waren so dick, dass jeder zwei Sitze benötigte. Wir vermuteten, dass man sie aus Gleichgewichtsgründen genau in der Mitte platziert hatte. Es gab zwischen den Sitzen keinen Gang. Man stieg einfach in seinen Sitz, und wenn sich keine Tür in der Nähe befand, musste man über andere Sitze hinwegklettern. Wir saßen zwischen den beiden Propellermotoren und den Rädern. Unsere Sicht beschränkte sich daher auf die beiden dicken Männer vor uns, die Räder und dem, was durch die wirbelnden Propeller hindurch sichtbar war.
Auf dem Flug schlief ich ein, den Kopf gegen die dünne Außenwand des Flugzeugs gelegt. Ab und zu weckten Turbulenzen mich auf. Dann schaute ich hinaus, so gut es ging, und sah endloses blaues Wasser. Fidschi war viel größer, als wir je gedacht hatten. Ich mochte nicht mehr schlafen und las stattdessen im Reiseführer.
So stieß ich auf den Kali-Durga-Aspekt in der Geschichte Fidschis. Bis ins späte 19. Jahrhundert hatten die Fidschi-Insulaner Kannibalismus praktiziert. Damit meine ich nicht jene Notfall-Geschichten, wo in Schnee und Eis gestrandete Menschen gefrorene Leichen essen, um zu überleben. Nein, auf Fidschi ging das so: Wenn du nicht mit mir verwandt bist und mir in die Quere kommst, und vielleicht auch wenn du ein Verwandter bist, den ich nicht leiden kann – dann verspeise ich dich zum Mittagessen.
Bei diesen hübschen langen, handgeschnitzten Utensilien, die wir am Morgen in einem Kunsthandwerkerladen in Nadi gesehen hatten, handelte es sich um Nachbildungen jener Gabeln, mit denen die Priester und Häuptlinge einst ihre Opfer zu verspeisen pflegten.
Der Priester war offenbar so heilig, so tabu, dass nur eine Frau ihm seine Mahlzeiten bringen durfte. Sie musste ihn füttern, durfte dabei aber niemals seine Lippen berühren. Doch das Fleisch eines Feindes verzehrten der Priester und der Häuptling allein, ohne von Frauen bedient zu werden. Und sie benutzten dazu jene Holzgabeln, die eher wie Tintenfische geformt waren, mit langen Tentakeln.
Eines muss man ihnen aber lassen: Sie aßen auf, was sie töteten. Da wurde nichts verschwendet und weggeworfen. Sie grillten ihre Opfer oder verzehrten sie manchmal roh. Aus den Knochen fertigten sie Halsketten, Haarnadeln und Ohrschmuck. Kriegskeulen wurden mit Knochen verziert, und die Anzahl der Kerben auf ihnen dokumentierte, ob ihr Besitzer sich gut aufs Töten verstand. Die Knochen des Unterschenkels eigneten sich gut als Nadeln für das Segelnähen und als Schilfmesser. Geschlechtsorgane hängte man an Bäume. Steinreihen vor dem Haus zeigten an, wie viele Tote der Häuptling verspeist hatte. Einer der letzten Häuptlinge verzehrte im Laufe seines Lebens über 800 Opfer. Er war wirklich ein großer Häuptling!
Ein Junge galt erst als Mann, bekam seinen Erwachsenennamen und durfte heiraten, wenn er einen Feind getötet hatte. Was die Frauen taten, werde ich Ihnen nicht verraten. In jedem Dorf gab es einen Bure Kalou, einen Tempel, bei dessen Bau es üblich war, in den Löchern für die Eckpfeiler des Hauses vier starke Männer lebendig zu begraben.
Um diese Heiden zu bekehren, schickten im 19. Jahrhundert die Methodisten Missionare nach Fidschi. Und so kam es, dass im Juli 1867 der Geistliche Thomas Baker einen schwerwiegenden Fehler machte. Vielleicht strebte er nach einem Platz in den Geschichtsbüchern (oder wenigstens den Kochbüchern). Manche sagen, er sei einfach ungeduldig gewesen. Manche sagen, er hätte immer schon eine Neigung zum Märtyrer gehabt. Manche sagen, er sei ein Dummkopf gewesen. Niemand wird je genau wissen, was geschah, aber der Legende nach warnte man ihn, ins Nausari-Hochland auf Vitu Levu zu gehen. Doch er ließ sich nicht abhalten, offenbar von missionarischem Eifer erfüllt. Nun galt bei den Insulanern dort der Kopf des Häuptlings als heilig und durfte unter keinen Umständen berührt werden. Offenbar hatte Baker seinen Kamm in der Hütte des Häuptlings vergessen, und der Häuptling beschloss, ihn auszuprobieren. Als Baker zurückkam und sah, dass sein Kamm im Haar des Häuptlings steckte, verlor er die Beherrschung, zog den Kamm dem Häuptling aus den Haaren und nahm ihn wieder an sich. Das empörte die Dorfbewohner, worauf sie dem Missionar ein feuriges Ende bereiteten.
»Sie aßen alles auf«, erinnerte sich ein Augenzeuge. »Sie versuchten sogar, seine Schuhe zu verspeisen.« Aber Baker erwies sich als ziemlich zäh, oder jedenfalls einer seiner Schuhe, der als einziges Überbleibsel des Geistlichen heute im Fidschi-Museum besichtigt werden kann.
Nach der Landung erwartet uns Gopan. Er ist Inder und Fidschianer, bewegt sich langsam, aber zuverlässig; er wird immer pünktlich sein. Gopan und die Gezeiten sind wohl das Zuverlässigste auf Fidschi, wie wir bald herausfinden sollten.
Unsere Herberge besteht aus zwei kleinen Häusern. Sie tauchen inmitten einer verheerten Landschaft auf, wo umgestürzte Palmen und Regenwaldbäume sowie auf den Kopf gestellte Mangroven den Eindruck erwecken, Gott hätte Mikado gespielt und sich dann davongemacht, ohne aufzuräumen. Wir hatten nicht gewusst, dass der Zyklon auf Vanua Levu solche Schäden angerichtet hatte.
Aber von diesem kleinen Flecken Land ging etwas außerordentlich Magisches aus. Er steht auf einer Klippe, die über einem Strand aus Bimsstein aufragt. Der Untergrund bestand aus reiner Lava, abgeflacht durch Äonen der Verwitterung und bedeckt von üppiger Tropenvegetation, Kokospalmen, Ingwer, lachsfarbenem Hibiskus und anderen Blütenpflanzen, deren Namen ich nicht kenne, die ich aber niemals vergessen werde.
In der kurzen Dämmerung vor Einbruch der Dunkelheit sah ich am ersten Abend vor dem blassen Leuchten am Horizont einen Schatten über den Himmel huschen. Es war ein riesiger Flughund. Ich ging nach draußen, um ihn zu beobachten. Direkt über meinem Kopf führte er seine Flugkünste vor, stieg immer wieder steil auf und stieß hinab. Fledermäuse üben eine große Faszination auf mich aus, und in meiner schamanischen Tradition stehen sie für Sha-Transformation. Dieser Bote hier hatte eine Spannweite wie ein Habicht oder ein kleiner Adler.
Die Milchstraße floss über den Himmel, und da waren Sterne, die ich nie zuvor gesehen hatte.
Nach Tibet haben wir Thailand durchquert, von Nord nach Süd, einen Monat in Australien verbracht, und mehrere Wochen in Neuseeland. Tibet war für uns beide eine tief bewegende Erfahrung, nicht in Worte zu fassen. Wir wussten, dass individuelle Kontemplation dringend angesagt war, um das alles zu verarbeiten, doch dazu fanden wir keine Zeit oder Gelegenheit. Ständig waren wir von einem Hotelzimmer, einem Flugzeug ins nächste gewechselt, was eine ganz eigene Strenge und Konzentration erforderte. Doch nun, am Rand des Ozeans, mit dem Wind als Konstante, würden wir gewiss Zeit zum Nachdenken finden.
Schließlich gab es weiter nichts zu tun. Die Telefonverbindungen waren unterbrochen, so dass wir keinen Internetzugang hatten. Fernsehen gab es auch nicht. Es gab keine Kinos und keine richtigen Restaurants.
Tatsächlich gab es auch kein richtiges Essen. Der Wirbelsturm hatte einen großen Teil der Ernte vernichtet. Auf dem Markt gab es lediglich Kartoffeln, ein paar halb verfaulte Papayas, Zwiebeln, Knoblauch, Kohl, zähe Gurken, schrumpelige Möhren und genauso unansehnliche Auberginen, und Ananas. Sonst nichts. Und kein Mineralwasser. Ich fing an, Trinkwasser abzukochen.
Die beiden Hütten, die »Haus« genannt werden, was aber etwas übertrieben ist, stehen auf einer Klippe aus Lava, ungefähr zehn Meter über einem Bimssteinstrand. Ein Korallenriff umgibt eine Seite der Bucht. Oben von der Klippe kann man aber nur über eine frei schwebende Leiter hinunter zum Strand gelangen. Man muss gleichzeitig die Leiter nach unten schieben und den Stein, an dem sie befestigt ist, anheben und in einen Winkel bringen, dass man, Gesundheit und Leben riskierend, hinunter auf den zerklüfteten, scharfkantigen Lavaboden klettern kann.
Also saßen wir an unserem ersten Tag auf Vanua Levu herum, starrten auf das berühmte Tauchgebiet Hole in the Wall, zu dem wir aber nicht gelangen konnten, weil uns der Abstieg über die Leiter zu gefährlich erschien.
Die Nacht brach herein. Der Markt hatte an diesem Tag schon früh geschlossen, und der Spinat, den wir am Tag zuvor gekauft hatten, erwies sich als irgendein Unkraut, das die Einheimischen gepflückt und zusammengebunden hatten. Das »Gluten«, das Tom der Spaghettisauce beigemischt hatte, um etwas Eiweiß hinzuzufügen, war eingeschrumpelt, sah unappetitlich aus und schmeckte nicht.
Das Leben im Paradies war nicht so wie erwartet.
Die Stromversorgung war halbwegs wiederhergestellt, aber niemand konnte die vernichtete Ernte wiederherstellen. In den ersten paar Tagen funktionierte das Telefon sporadisch. Fröhlich rief ich zu Hause an, während ich aufs Meer hinausblickte. Wir hatten dieses Haus gemietet, weil der Eigentümer angeboten hatte, dass wir seinen Internetzugang nutzen konnten. Ohne Internet bin ich verloren, und wir befanden uns im finalen Produktionsstadium dreier CDs und des nächsten Newsletters.1
Der einzige Internetservice befindet sich in Savusavu, beim Savusavu Real Estate, und kostet 35 Cent pro Minute, die teuerste Sache in ganz Fidschi. Der Computer ist langsam und schrullig, mit einer schlechten Tastatur. Außerdem treffen sich dort die Frauen aus ganz Savusavu, um schnatternd den neuesten Klatsch auszutauschen. Kinder tollen herum und setzen sich dir aufs Knie. Manche Kinder ziehen sich einen Stuhl heran und starren dich an, während du die Tastatur bedienst. Die Männer kommen herein, schwadronieren lautstark und wild gestikulierend. Man kann dort keinen klaren Gedanken fassen. Ich versuchte, eine Aufnahme für die CD zu bearbeiten, und am Ende presste ich meine Finger so fest in die Ohren, dass es wehtat. Ich gab auf. Ein Nachmittag kostete mich 72 Dollar, ohne dass ich etwas Nennenswertes zustande brachte.
Der Markt war ein Witz. Ich weiß nicht, warum die Händler überhaupt kamen. Warum nahmen sie sich nicht für den Rest der Saison einfach frei? »Wegen Zyklon geschlossen. Wir öffnen wieder, wenn es in der nächsten Erntesaison etwas zu verkaufen gibt.«
Unsere Ernährungslage wurde kritisch. Wir hatten uns ausgemalt, in Fidschi gesund zu essen – unbelastetes Essen, bestehend aus köstlichem Obst und Gemüse. Doch es gab fast nichts Essbares. Kein Salat. Kein Brokkoli oder anderes Gemüse. Fast kein Obst. Kein Huhn. Kein Fisch.
Es gibt kein Telefon, und deshalb kann man nicht mal eben das Taxi bestellen, das die einzige Transportmöglichkeit in die fünfzehn Kilometer entfernte Kleinstadt ist. Kein Telefon bedeutet kein Internet. Man kann also in unserem Domizil nichts tun. Wir haben kein Auto, und man kann hier nirgendwo eines mieten. Der Fernseher funktioniert nicht. Der Videorekorder funktioniert nicht. Bei den Büchern, die in der Küche im Regal stehen, handelt es sich ausschließlich um Liebesromane und Spionagethriller. So etwas mag ich nicht lesen. Es gibt sechs alte Ausgaben von The Sun, und drei Ausgaben des Smithsonian. Ich hatte sie bereits in den ersten Tagen komplett gelesen. Bei unserer Abreise werde ich in der Lage sein, auswendig aus ihnen zu zitieren.
Es gibt keine tollen Restaurants, für die man sich in Schale werfen könnte, um gut essen zu gehen. Andererseits ist es aber sowieso zu heiß, um sich allzu sehr zu bekleiden.
Da sind also nur wir beide, Tom und ich, umgeben von Palmen. Überall fallen Kokosnüsse herunter. Sie plumpsen aufs Dach und schlagen Dellen in den Erdboden vor dem Schlafzimmerfenster. Nachts umkreisen die Flughunde das Haus und locken uns, hinauszugehen und zu spielen. Wir sitzen in der Hollywoodschaukel auf der Veranda. Meine Beine sind zu kurz und reichen nicht bis zum Boden. Ich halte das eine Ende einer brennenden Moskitospirale in der Hand. Tom schiebt die Schaukel an. Wir tragen Sarongs und fluchen, wenn wir uns richtig anziehen müssen, weil in der Stadt etwas zu erledigen ist.
Irgendwie sind wir dabei, uns von ganz Fidschi ausgerechnet in dieses winzige Stückchen Land zu verlieben. Vielleicht ist es der Wind, der hier weht, am Nagaga Point. Er weht unaufhörlich, aber nicht heftig, sondern beruhigend. Er rauscht in den Palmblättern und mischt sich mit dem Tosen des Ozeans. Nachts hört man gelegentlich Insektenlaute, aber ansonsten ist es vor allem diese beständig wehende Brise, die die Hitze wegweht und meine Gedanken in Bewegung hält.
Heute haben wir uns dann doch die Leiter hinuntergewagt und ließen uns von der Schönheit des Riffs bezaubern, solange wir das aushalten konnten, ohne zu tauchen und es unmittelbar zu erleben. Das Meer übt eine zwanghafte Faszination auf mich aus. Ich habe mein College extra ausgewählt, weil es nahe am Meer liegt. Dabei bin ich keine besonders gute Schwimmerin, so dass ich nie viel Zeit im Meer verbringe. Nun, ehrlich gesagt, ich kenne alle notwendigen Bewegungen genau, und es sieht geradezu professionell aus, wenn ich »so tue«, als könnte ich schwimmen. Aber ich halte dabei die Luft an. Ich bin einfach unfähig, den Kopf ins Wasser einzutauchen und auszuatmen, dann den Kopf wieder hochzunehmen, einzuatmen, und immer so weiter. Sobald ich den Kopf unter Wasser tauche, atme ich ein, unvermeidlich. Bis zum heutigen Tag schockiert es mich jedes Mal, dass ich beim Schwimmen nicht richtig atmen kann und Wasser schlucke. Und so strample ich prustend und spuckend herum. Schmeckt blöd. Sieht blöd aus.
Im Schwimmunterricht am College versuchte ich es mit einer Nasenklammer, aber diese Dinger waren einfach ein schrecklicher Anblick. Ich wollte nicht, dass mich jemand damit sah.
Vom Erzengel Michael erhielt ich einmal eine mögliche Erklärung für mein bizarres Schwimmverhalten. Er sagte: »Du kommst von einem Ort, wo alle Wesen in blauer, reiner flüssiger Liebe schwimmen.« Wer würde das nicht einatmen wollen?
Vor ein paar Jahren brachte mir jemand bei, wie man schnorchelt, und das verschaffte mir einen völlig neuen Zugang zum Meer. Endlich war ich frei. Der Schnorchel war eine Offenbarung für mich, und mit Flossen lässt es sich komfortabel manövrieren. Mit ihnen kann ich unter Wasser fliegen.
Also ließen wir gestern die Leiter hinab und starrten auf die scharfkantige Lava in der Tiefe. Tom ging zuerst. Er trug die Tasche mit unserer Schnorchelausrüstung. Wir passten nur gerade eben durch das Loch in der Plattform. Die Leiter schwankte und knarzte, während wir Sprosse für Sprosse hinabkletterten. Sie hing senkrecht und war erkennbar von Hand gebastelt. Die Sprossen sahen irgendwie angeklebt aus, nicht mit Bolzen gesichert. Ich betete, dass ein Superkleber die Sprossen hielt, die mich hielten. Meine Muskeln sind nicht mehr so stark wie vor dem Unfall. Sie schmerzen stechend und fühlen sich an wie stark beschädigte Gummibänder, die jeden Moment reißen können. An Land bewege ich mich viel unsicherer als früher.
Die Szenerie ändert sich täglich, je nach Wasserstand. An diesem Tag können wir das Wasser unmittelbar von den Lavafelsen erreichen, was aber eine ziemlich heikle Angelegenheit ist.
Wir waren kaum im Wasser, das an dieser Stelle nur knapp einen Meter tief war, als uns klar wurde, dass es eine Initiation werden würde, in die tiefere und ruhigere Zone des Riffs zu gelangen.
Dass Wasser war zwar nicht tief, verhielt sich aber wie die alte Waschmaschine meiner Mutter. Es rollte und brodelte und zerrte an uns. Als Kind schaute ich zu, wie die Wäsche im Kreis herumgewirbelt und von der Zentrifugalkraft gegen die Wand der Trommel gedrückt wurde. Die Wand dieser Wäschetrommel bestand aus harten Korallen und war lebendig. Ich wollte nicht vom Wasser gegen sie gedrückt werden und wollte ihr nicht ihr Leben nehmen.
Aber ich war das Wäschestück, das gerollt und geschleudert wurde. Ich kämpfte mit dem Ozean. Ich stritt mich mit ihm. Ich weiß, er ist ein Mann. Er hört auf niemanden, und er ist so stark, von brutaler Kraft. Also behandelte ich den Ozean so, wie ich früher Männer behandelt hatte. Ich versuchte, schlauer zu sein als er. Ich ließ ihn in dem Glauben, er hätte mich in seiner Gewalt, doch dann, wenn die Welle vorüber war, nach der Explosion, wich ich aus, während er nicht hinschaute. Wenn er wieder aufwachte, war er wütend und setzte mir erneut nach. Ich ließ es geschehen, zwanzig Meter schleifte er mich mit sich, doch wenn die Welle ausrollte, wich ich wieder aus und kam ein weiteres Stück voran.
Ich sagte mir, dass dies eine Parabel auf das Leben war. War das Schlimmste vorüber, durfte ich mich nicht ausruhen, denn sonst würde ich an Boden verlieren, sozusagen. Ich paddelte und paddelte und blies immer wieder das Wasser heraus, das unvermeidlich in meinen Schnorchel lief, wenn die Wellen über mir zusammenschlugen. Paddeln und blasen. Paddeln und blasen. Gleite mit der Welle und schwimme friedlich. Dann weiche der Strömung aus und paddle wie verrückt. Es war ein Kampf, und am Ende ließ der Ozean mich nur ziehen, weil er wusste, dass mir noch der Rückweg bevorstand, ein erneutes Kräftemessen mit ihm. Er lachte und zog sich auf die andere Seite der Insel zurück.
Die tiefen Teile des Riffs sind ehrfurchtgebietend für uns Menschen. Aber um zu dieser Tiefe zu gelangen, musste ich erst über einen Friedhof aus zerstörten Korallen hinwegschwimmen, wo vor Jahrtausenden Feuer auf Wasser getroffen war.
An den Klippen, wo die Lava zuerst das Meer berührt hatte, gibt es ein erstarrtes Gemisch aus geschmolzenen Korallen und gequirlter Lava. Und auf den sich daran anschließenden ersten etwa achthundert Metern besteht der Meeresboden aus toten Korallen in verschiedenen Stadien des Zerfalls. Winzige Fische in allen Farben schwimmen dort herum.
Dass die Welt unter Wasser auf mich viel faszinierender und aufregender wirkt als die Umgebung, in der ich tagtäglich herumlaufe, liegt vermutlich an ihrem Anderssein, ihrer Fremdartigkeit. Und das, worin ich tagtäglich herumlaufen muss, ermüdet mich – der Schmerz, die Verwirrung, die Entfremdung, die Gier, das Konsumdenken, die Arroganz der Menschheit, das Töten, die Weigerung, mit anderen zu teilen. Warum bringen wir unseren Kindern bei, zu teilen, wenn sie in einer Welt aufwachsen, in der das Teilen gar keine Rolle spielt?
»Es ist genug für alle da«, sagen wir zu ihnen. Aber dann müssen sie ganz andere Regeln lernen, um zu überleben.
Und, weiß Gott, im Meer frisst der größte Fisch alles auf, oder der schlaueste. Es gibt immer einen noch größeren Fisch, und wenn du klug bist, vergisst du nie, über die Schulter zu schauen.
Aber ich liebe die Welt dort unten trotzdem.
Es gibt viel mehr Fische als menschliche Ethnien. Ihre Farben und Markierungen wurden von einem meisterhaften Visagisten und Kostümdesigner gemalt. Manche tragen Lippenstift, Lidschatten und Rouge. Manche zeigen Kriegsbemalung wie Kämpfer aus uralter Zeit. Manche sind Sträflingsfische in schwarzweißen Uniformen. Wie eine ganze Strafkompanie huschen sie vorbei, die ein unsichtbarer Wärter dicht beieinander marschieren lässt.
Das Schnorcheln über einem Korallenriff ist, als schwebte man direkt über Rentiergeweihen. Braune Stämme verzweigen sich zu grünen Ästen, aus denen es violett und manchmal himmelblau herauswächst. Manche Stämme sind weiß mit waldgrünen, himmelblauen oder sogar kürbisgelben Spitzen. Es ist ein ganzer Wald aus Geweihen.
Dann gibt es die »Korallenköpfe«. Manche »Gehirne« haben eine Furche in der Mitte, ganz wie unser Gehirn, und die Hirnlappen sind zimtfarben und violett. Andere Korallen sehen aus wie riesige Backenzähne mit Löchern, in denen sich Fische verstecken.
Gestern sah ich meine erste lebende Molluske, ein riesiges altes Ding, ein brauner und weißer Muskel, der in einer monströsen Schale zitterte, die einen Durchmesser von gut dreißig Zentimetern hatte. Ich schwebte über ihr und starrte auf ihre entblößten Körperpartien. Sie zuckte und bebte ein wenig, zog offenbar in Erwägung, sich in ihre Schale zurückzuziehen. Doch ihre Schale war so uralt und mit Seetang und Schlamm überkrustet, dass sie sich kaum zuklappen ließ, wie eine sich sehr langsam bewegende Zugbrücke. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass ich keine Bedrohung darstellte, und klappte ihre Schale wieder ganz auf, um ihren Geschäften nachzugehen. Eine Ewigkeit lang, wie es schien, lag ich über der Molluske im Wasser und beobachtete sie. Ich versuchte, mir ihre genaue Position am Riff einzuprägen, damit ich sie später Tom zeigen konnte. Aber ich fand sie nicht wieder, so perfekt war sie inmitten der Korallen getarnt.
Könnte ich mein Leben noch einmal leben, würde ich der John Muir des Meeres werden.2 Ich würde so mitreißend, so voll Liebe über die Schönheit der Riffe schreiben, dass niemand es mehr wagte, unachtsam mit ihnen umzugehen. Doch trotz John Muir werden weiterhin Baumriesen gefällt, obwohl die Wälder unsere Grüne Lunge sind.
Mit einer Schüssel Kartoffelbrei setze ich mich mitten in der Nacht an den Computer. Es ist lange her, dass ich auf solche Art aufwachte, und ich weiß um die Gefahren, die es mit sich bringt, in einem dunklen Zimmer zu schreiben. Der leuchtende Monitor wird Insekten anlocken, viele Insekten. Sie werden auf ihm herumkrabbeln, Buchstaben verschnörkeln, so dass ich denke, ich hätte etwas geschrieben, aber sie werden sich weigern, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Wie nennt man das, wenn man etwas Unmenschlichem menschliche Eigenschaften zuschreibt? Politik?
Ich schalte das Licht neben mir ein. Wenn ich ihnen etwas anderes anbiete, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten können, werden sie mich vergessen, die hier sitzt und mitten in der Nacht schreibt. Das ist angewandte Politik.
Und so verlassen sie meinen Monitor und schwirren zur neuesten und hellsten Lichtquelle in der Umgebung. Dabei krabbeln sie so dicht an der Glühbirne herum, dass sie bestimmt nichts sehen können.
Das, was mich heute Nacht taub macht, wird »weißes Rauschen« genannt: die Wellen, die sich auf der Lava brechen, der Wind, die Klänge der Nacht, Geschöpfe, die ich noch nie zu Gesicht bekommen habe, singen mir etwas vor.
Zum Frühstück werden wir Hash Browns essen. Zum Lunch wird es Ananas Smoothie geben, zum Abendessen vielleicht Spaghetti. Oder Kohl. Am folgenden Tag könnten wir dann Ananas Smoothie frühstücken, mittags Kohl und abends Kartoffeln essen.
Es ist Zeit, zurück ins Bett zu gehen. Den Insekten ist die Lampe langweilig geworden. Sie interessieren sich wieder dafür, was ich tue.
Die Seesterne hier am Riff sind königsblau. Viele besitzen eine ausgeprägte Persönlichkeit und sind völlig unbescheiden. Überall lassen sie ihre Arme herumbaumeln, schlingen sie wie ein betrunkener Cowboy ganz rücksichtslos um die Hirnlappen einer Koralle: »Hallo, Madam, wollen Sie meine Sporen sehen?«
Sie übersäen den Meeresboden, drapieren sich auf Korallen und tauchen auf, wo man sie am wenigsten erwartet. Unter einem Stein, dort wo man sich festklammert, um dem Brandungssog und der aufkommenden Angst zu widerstehen. Heute fand ich auf dem sandigen Boden ein abgerissenes Seestern-Bein wie eine Sonde, die nach ihrem Mutterschiff sucht. Der Seestern wird ein neues Bein nachwachsen lassen, aber das verlorene Bein wird sich wohl kaum einen neuen Seestern wachsen lassen können. Ich nehme es mit zu unserer Unterkunft, um die wachsende Sammlung auf der Veranda zu ergänzen.
Auf dem Rückweg vom Riff hat es mir der Ozean heute wieder einmal gezeigt, zerrte mich hierhin und dorthin. Ich kämpfte und ließ mich treiben, kämpfte und ließ mich treiben, und dabei dachte ich viel über das Leben nach. Das Leben ist wirklich so. Aber etwas wurde mir sonnenklar: Wenn ich nicht ab und zu den Kopf aus dem Wasser hebe, bekomme ich gar nicht mit, dass ich mich in eine ganz andere Richtung bewege als beabsichtigt. Mehrfach erwischte ich mich dabei, dass ich in Richtung offenes Meer schwamm statt zurück zum Strand, weil ich in den heftig an mir zerrenden Wellen und Strömungen die Orientierung verloren hatte. Das war eine gute Lektion darin, sich immer wieder über eine Situation zu erheben, um aus einer anderen Perspektive seinen Standort zu bestimmen.
Meine Lehrer nennen das: den Ort des Adlers aufsuchen. Sie sagten mir, ein Adler könne nicht über einen Kieselstein hinweglaufen. Am Boden fehlt ihm die visuelle Perspektive. Er muss sich in die Luft schwingen und den Kieselstein von oben betrachten. Dann kann er auf der anderen Seite des Steins wieder landen. Auf dem Boden erscheint der Stein dem Adler riesig, erst aus der Luft sieht der Vogel ihn im richtigen Größenverhältnis.
Ra stieg aus dem Meer auf, in voller Gestalt, Blut und Licht verströmend. Ich stolperte schlaftrunken nach nebenan und dachte darüber nach, wie viele Jahre es her war, dass ich die Geburt der Sonne miterlebt hatte, noch dazu auf einer tropischen Insel. Ich bin traditionell kein Morgenmensch. Aber das Bett in der Schlafhütte steht so, dass mir die Morgensonne jeden Morgen die Lider öffnet und in mich einströmt. Ich erlebe Ras Aufgang und Untergang hier bewusst mit, denn er steigt sehr auffällig in den Himmel, um am Abend wieder im Meer zu versinken.
Gestern war hier am Riff der bislang erstaunlichste Tag.
Zwei Tage lang hatten wir uns nicht hinausgewagt. An dem einen Tag herrschte große Anspannung. Ich spürte den Zorn des Ozeans. Er jagte mir Angst ein, und obwohl ich, schwimmend, paddelnd und keuchend, nach Kräften versuchte, den Korallenfriedhof hinter mir zu lassen, konnte ich diesmal dem Griff des Ozeans nicht entkommen. Und ich fühlte mich schuldig, als Tom, der sich friedlich mit einem kleinen braunen und violetten Fisch unterhielt, dessen Familie ich bereits gut kannte, dieses Gespräch abbrach, um mit mir zurückzuschwimmen.
Das sind die verwirrenden Momente in heiligen Beziehungen. Ich kam an diesem Tag einfach nicht gegen die Strömung an. Es gelang mir nicht, eine friedvolle Kommunikation herzustellen. Der Ozean siegte an diesem Tag, und ich wusste, dass ich zurückschwimmen musste, bevor mich völlig die Kräfte verließen.
Ich bemerkte zunächst nicht, dass Tom mit mir umgekehrt war. Dabei wollte ich nicht, dass er seine Kommunikation mit den Fischen mir zuliebe abbrach. Aber dann hob ich den Kopf und sah seinen Schnorchel aus dem Wasser ragen. Da war er, schwamm dicht bei mir, kam mit mir zurück. Ich finde es wundervoll, dass er mich begleitete. Er weiß, dass er es nicht hätte tun müssen.
Am nächsten Tag kletterten wir die Leiter hinunter und gingen über die rasiermesserscharfe Lava zu der einzigen – winzigen – Stelle, an der man ins Wasser steigen kann. Aber gewaltige Brecher krachten gegen die Steine und rollten über das Riff. »Heute ist kein guter Tag, um ins Wasser zu gehen.« Mein Magen krampfte sich zusammen und warnte mein Herz. Wieder fühlte ich mich schuldig. Ich zeigte auf die Brandung auf der anderen Seite des Riffs.
Bin ich ein Orakel, das Gefahren vorausahnt? Oder habe ich einfach nur Angst, mich in dunkle Wasser zu wagen? Ich zweifle an der Richtigkeit meiner Entscheidung, aber Tom stimmt mir zu. Also gehen wir zurück über die scharfkantige Lava. Der Wind umtost uns, scheint uns mit seinen Peitschenhieben zu verspotten.
Ein fast voller Mond schwebt zwischen den Palmblättern. Ich gebe ihm die Schuld an der Wut des Ozeans. Es ist nun fast die Zeit der Mondgöttin. Sie steigt auf und schwillt an, und sie ruft alles zu sich, was unter ihrer Macht steht, wozu auch die Gezeiten zählen, und sie erheben sich höher als sonst, um sie willkommen zu heißen.
Und so kam der gestrige Tag. Wir hatten uns zwei Tage lang ausgeruht und Kraft gesammelt. Wir überquerten die Lava und glitten ins Wasser. Zur Sicherheit blieben wir diesmal dichter zusammen. Und wären wir nicht so dicht zusammen geschwommen, hätten wir das folgende Erlebnis nicht teilen können.
Im Meer war es der perfekte Tag. Ich sah meine alten Freunde, die kleinen braunen und violetten Fische mit den leuchtend blauen, violett umringten Augen und dem zartlila Lippenstift. Ich sehe jedes Mal hellere und größere Fische, und noch mehr Neonfische. Aber diese kleinen Burschen, wie Mönche in braunen Kutten, sind wirklich neugierig. Sie starren uns an und huschen nur davon, wenn wir mit dem Finger auf sie zeigen. Wenn man nicht den Finger in ihre Richtung streckt, bleiben sie. Wenn sie vor dem Zeigefinger flüchten, und wir drehen uns um und schwimmen ein Stück weiter, drehen sie sich ebenfalls um, schwimmen hinter uns her und beobachten uns. Sie umkreisen uns und schauen uns an, Auge in Auge. Das sind die Erleuchteten des Meeres. Ich weiß, dass sie wissen. Und ich weiß, sie wissen, dass ich nicht weiß.
Aber an diesem Tag erwarteten mich nicht nur einer, sondern gleich zwei Bonuspunkte!