Anthony McCarten
funny girl
Roman
Aus dem Englischen von
Manfred Allié und
Gabriele Kempf-Allié
Titel des Originals: ›funny girl‹
Copyright © by Anthony McCarten
Die deutsche Erstausgabe erschien 2014
im Diogenes Verlag
Umschlagillustration von René Gruau
Copyright © René Gruau
Für Eva
All rights reserved
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2015
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24316 1 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60415 3
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Im Gedenken an Zainab Shafia
(1990 – 2009)
Verwende Scherze wie das Salz für deine Suppe.
Sprichwort
Wer zu viel lacht oder zu viel scherzt,
der verliert an Achtung, und wer beharrlich etwas tut,
wird genau dafür bekanntwerden.
Umar ibn al-Khattab
[6] ›funny girl‹ ist ein Roman. Alle Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt. Der Roman wurde jedoch inspiriert durch das Leben mutiger Menschen, die auf unterschiedlichste Weise sehr viel riskiert haben, um der Welt ihr wahres Wesen zu offenbaren.
Anthony McCarten
[7] Vorwort
AZIME: Ich heiße Azime. Na ja, eigentlich nicht. Den Namen habe ich geändert, damit meine Eltern nicht so viele neue Fensterscheiben bezahlen müssen. Ich komme aus Green Lanes, London. Genau genommen ist es da nicht besonders grün, aber es stimmt, ich komme von da. Meine Eltern stammen aus dem kurdischen Teil der Türkei, aber ich bin hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, und jetzt arbeite ich hier und bezahle meine Steuern, mit anderen Worten, ich bin Ausländerin.
Und ich bin Komikerin. Schön, dass Sie nicht lachen. Ich bin Ihnen wirklich dankbar dafür. Typisch, dass ich mir den einen Job ausgesucht habe, in dem es nicht hilfreich ist, wenn einen die Leute ernst nehmen.
Sie haben wahrscheinlich schon gemerkt, dass ich als Komikerin gerade erst anfange, und wenn’s nicht klappt, muss ich wenigstens meinen Eltern nicht erzählen, was ich mache. Wie ich schon gesagt habe: Die haben keine Ahnung, dass ich das hier mache. Meine Devise ist: Wenn dir etwas nicht auf Anhieb gelingt, dann verwische alle Spuren, dass du’s je versucht hast.
(Das Publikum hätte mittlerweile wenigstens einmal lachen sollen, aber sie sind wie vom Donner gerührt. Vielleicht liegt es daran, dass sie eine Burka trägt.)
[8] Meine Eltern sind ultrakonservativ. Sie sind Pessimisten. Das heißt, man kann sich gut Geld von ihnen borgen, weil sie nicht damit rechnen, dass sie es jemals zurückkriegen.
(Erste Lacher im Publikum. Endlich.)
Raten Sie mal, was ich hier drunter trage. Raten Sie mal. Läuft eure Phantasie schon Amok? Noch eine Burka – in einem etwas helleren Schwarzton. Die hier ist das neueste Modell. Und das seit dreitausend Jahren – so was nenne ich einen Klassiker.
(Gelächter.)
Warum sollte man etwas Bewährtes ändern? In der Türkei… In der Türkei… verstößt es gegen die Verfassung, wenn man sich so anzieht wie ich und bei einer Behörde arbeitet. Da ist es doch toll, in einem Land zu leben, wo eine Frau sich so unvorteilhaft anziehen kann, wie sie will.
Egal. Ich fange noch mal von vorne an. Ich bin Azime. Aus Green Lanes. Hartes Pflaster, dieses Green Lanes. Auf einem Quadratkilometer haben wir ungefähr zwanzig Prozent der Gewaltverbrechen von London und achtzig Prozent des Heroinhandels im ganzen Land. Und ich spreche jetzt nur über die Geschäfte von meinem Onkel Abdullah.
(Neuerliches Gelächter.)
Und wir haben null Komma sechs fünf Prozent der landesweiten Polizeikräfte, da ist also ganz schön was los.
Als mein Dad meiner Mum sagte, sie solle mich für den ersten Schultag fertigmachen, nannte sie mich eine schwarze Nutte und hat mir das Essensgeld gestohlen.
(Herzhaftes Gelächter.)
Damit ich mich besser verteidigen kann… damit ich mich besser verteidigen kann, hat mein Vater mir Boxen [9] beigebracht. Aber mit seinem ersten Schlag hat er mich k. o. gehauen. Danach war Selbstverteidigung irgendwie kein Thema mehr für mich.
(Verhaltenes Gelächter.)
Egal. Wie gesagt, eigentlich dürfte ich heute Abend gar nicht hier stehen. Es ist gegen meine Religion. Aber das gilt ja eigentlich für alles, oder?
Ich weiß, was Sie jetzt denken – ohne Sex, Schinken und Weihnachten –, wofür lebt man da eigentlich?
Manchmal bin ich so was von deprimiert – und ich weiß, was Sie jetzt denken: ›Super, das ist genau, was die Welt jetzt braucht. Noch so eine selbstmordgefährdete Muslimin.‹
(Verhaltenes Gelächter.)
Aber bevor Sie mich jetzt in eine Schublade stecken, möchte ich von meiner Familie erzählen… Die wären echt sauer, wenn ich sie nicht erwähnen würde. Tatsächlich würde mein Vater einen Herzanfall kriegen, wenn er wüsste, dass ich jetzt hier bin und was ich gerade mache. Mein Vater, Eliah – natürlich habe ich den Namen geändert, ich will das hier ja überleben –, der verkauft Möbel. Nur dumm, dass es Sachen aus unserem Haushalt sind.
(Gelächter.)
Wie gesagt, meine Mum und mein Dad stammen aus Türkisch-Kurdistan, deswegen verbringen wir den größten Teil unserer Urlaubsreisen beim Zoll.
(Gelächter.)
Green Lanes, Nordlondon. Heute wimmelt es da von Ausländern. Meine Haltung gegenüber Ausländern ist ambivalent. »Ambivalent«, das ist doch ein cooles Wort, oder?
(Gelächter.)
[10] Also, ich bin ambivalent gegenüber Ausländern, diesen wunderbar nützlichen Blutsaugern und Parasiten.
(Verhaltenes Gelächter.)
Ehrlich, ich finde schon, die können wertvolle Mitglieder unserer Gesellschaft sein – ich will sie bloß nicht zu Gesicht kriegen. Außer wenn ich in eins ihrer Restaurants gehe – dann will ich einen von ihnen sehen, aber sofort. Verstehen Sie, was ich meine?
(Gelächter.)
Oder bin ich die Einzige, die so denkt? Die sehen alle so komisch aus und sind blöd und uncool und machen verrückte Sachen, und dann sind sie auch so gewalttätig. Wie die einen ansehen, nur weil man mit dem Finger auf sie zeigt und sie auslacht. Und die Kinder von denen, die sind wirklich hässlich, finden Sie nicht auch? Kinder, um die sich keiner kümmert, und wenn sie dann größer werden, brechen sie in Ihre Wohnung ein und stehlen Ihr Smartphone. Verstehen Sie, was ich meine? »Was haben Ausländer und Spermien gemeinsam? Millionen kommen rein, aber nur einer von ihnen tut was.«
(Schallendes Gelächter. Ein paar Männer grölen, ein paar Frauen kreischen.)
Also. Ich heiße Azime. Einfach nur Azime. Ein Wort. Wie Madonna. Adele. Herpes – ein Wort sagt alles. Und ich weiß, was Sie jetzt denken: ›Was macht ein nettes… ein nettes, womöglich gutaussehendes… ein nettes, womöglich gutaussehendes Muslimmädchen… mit ein wenig traurigen Augen… – was macht die hier, steht vor uns Ungläubigen, Menschen ohne Moral, wo sie doch auch zu Hause bleiben und ein schweigendes Opfer häuslicher Gewalt sein könnte?‹
[11] Also, ich habe eine Mission. Ich will Vorurteile bekämpfen.
(Deutet auf einen Mann in der ersten Reihe.)
Schauen Sie sich diesen Kerl in der ersten Reihe an, verrenkt sich den Hals, um zu sehen, ob ich einen Rucksack habe. Deshalb habe ich eine Mission, Leute. Ich will euch bigotten Typen helfen, alles zu vergessen, was ihr über weibliche türkisch-kurdische Comedians zu wissen glaubt. Das habe ich mir vorgenommen. Den Leuten die Augen und die Herzen und die Taschen zu öffnen. Das ist mein Kreuzzug. Ich will euch zeigen, dass sogar Fatwa und Terrorismus und religiöser Extremismus ihre lustigen Seiten haben.
[13] 1
Nach ihrem Tod sprach man wochenlang in jedem türkischen Restaurant über sie, an der Bushaltestelle, in den Waschsalons, Wettbüros und verrauchten Cafés von Green Lanes, aber keiner wollte sie gekannt haben, keiner fragte nach den Einzelheiten. »Die Täter müssen sie schwer misshandelt haben. Nicht alle Verletzungen ließen sich durch den Sturz erklären, als man sie tot vor einem sechzehnstöckigen Hochhaus fand.« Die großen Zeitungen griffen den Fall auf, nannten sie »ein allseits beliebtes Mädchen, eine gehorsame Tochter und fromme Muslimin«, und bei so viel Anteilnahme hätte man gedacht, dass es rasch Antworten auf alle offenen Fragen geben würde: Wer hatte das Mädchen umgebracht, wer hatte sie vom Balkon im achten Stock gestoßen, wenn sie tatsächlich gestoßen worden war? Und warum war sie umgebracht worden, wenn sie denn umgebracht worden war?
Der Islamische Rat Großbritanniens wollte sich nicht äußern und erklärte lediglich, es sei »Aufgabe der Polizei«; allerdings werde man die Angelegenheit aufmerksam verfolgen. Amnesty International, zu einer Stellungnahme gedrängt, schrieb, entscheidend sei, dass diese »grausame Bluttat« nicht ungesühnt bleibe.
Aber was das kleine Grüppchen ihrer Freunde am [14] meisten quälte, war, dass niemand, kein Einziger – nicht ihre Familie, nicht die Polizei, nicht die Behörden, die wegen laufender Ermittlungen ihr Begräbnis sechs Wochen lang hinausgezögert hatten, oder die Honoratioren der geschäftigen türkisch-kurdischen Gemeinde –, dass niemand etwas unternommen hatte, um die Sache aufzuklären und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. »Wieder ein Todesfall mit ethnischem Hintergrund« war das Fazit der Zeitungen, und mit diesem Schlusswort senkte sich der unvermeidliche Staub des Vergessens auf die Angelegenheit.
»Mörder!«
Als er diesen Schrei über die gebeugten Häupter der Trauernden schallen hörte, fuhr der Vater des toten Mädchens, an den er gerichtet war, herum und suchte mit weit aufgerissenen Augen nach dem Ankläger. »Wer hat das gerufen? Wer hat das gerufen?«
Er riss sich vom Grab seiner Tochter los, wo er sich mehrfach verneigt und leise Klagelaute ausgestoßen hatte, bahnte sich einen Weg durch die dichtgedrängten Angehörigen, Freunde und anderen Trauergäste, bis er ganz hinten auf ein paar Fremde stieß. »Wer war das? Sagt mir, wer das war! Wer hat das gerufen? Sie war meine Tochter!«
Die Anklage war aus dieser kleinen Gruppe gekommen, den Schulfreunden des toten Mädchens, und keiner von den Jungs hatte vor, sich zu melden – schon gar nicht gegenüber diesem Mann, von dem sie überzeugt waren, dass er, auch wenn er die Tat vielleicht nicht mit eigenen Händen begangen hatte, der Schuldige war.
Willkürlich griff sich der Vater einen jungen Mann von gerade mal fünfzehn heraus, packte ihn am Revers seiner [15] billigen Lederjacke: »Warst du das? Das warst du, oder? Gib’s zu!«
»Er hat nichts gesagt!«, rief einer von seinen Freunden.
»Er war’s nicht!«, ein anderer.
»Lassen Sie ihn in Ruhe.«
Und dann: »Haben Sie nicht schon genug angerichtet? Schämen Sie sich nicht?«
Der Vater ließ den ersten jungen Mann los, als er das Wort »schämen« hörte, und stürzte sich auf einen anderen, gleichaltrigen, einen Jungen mit einem ersten Anflug von Bartwuchs, aus dessen Mund das Wort gekommen war. »Wer spricht hier von Schämen – dass ich mich beim Begräbnis meiner Tochter schämen soll? Wer wagt es, so was zu sagen? Für wen hältst du dich, dass du so was sagst? Meine Tochter! Sie war meine Tochter!« Plötzlich standen Tränen in den wütenden Augen des Vaters.
Aber die jungen Freunde des toten Mädchens blieben ungerührt, und aus einer ganzen Reihe von Kehlen kam leise und wie im Chor das Wort »Dreckskerl«.
Der Vater stürzte sich mitten in das Grüppchen, und ohne einen Gedanken daran, wie es auf Außenstehende wirken würde, begann er auf sie einzuschlagen, verteilte rechts und links Ohrfeigen an die jungen Gesichter, schlug ihnen um die flaumigen Wangen, als wollte er wegschlagen, was gesagt worden war, obwohl es doch, einmal ausgesprochen, auf ewig in der Welt sein würde.
Die Schlägerei war nicht mehr zu vermeiden. Andere Männer aus der Trauergesellschaft kamen gelaufen, entweder um dem alten Mann beizustehen oder den jungen Freunden des toten Mädchens, und mit der Feier – deren Stimmung von [16] Anfang an so fragil gewesen war wie ein Schmetterlingsflügel – war es vorbei.
Zwei junge Frauen, die ganz hinten in der Menge gestanden hatten, hielten es nicht mehr aus. Fast im Laufschritt verließen sie den muslimischen Teil des Friedhofs und hielten erst wieder inne, als sie an einige englische Eichen kamen; von da blickten sie mit tränenverschmierten Augen auf die Szene zurück, betrachteten voller Verachtung die Männer (die sich immer noch hin und her schubsten und in einem kurdischen Dialekt einfältige Drohungen und Beschimpfungen ausstießen) und voller Verzweiflung die Frauen, die, ganz wie man es erwartete, mit bereiften Armen fuchtelten und nach Mäßigung riefen (sie aber nicht erwarteten).
»Der Dreckskerl hat sie umgebracht«, zischte Banu. »Und jetzt spielt er den Unschuldigen.«
»Ich weiß.«
»Ihr eigener Vater. Hat sie vom Balkon geworfen.«
»Ich weiß, ich weiß. Der Dreckskerl.«
»Und ihr eigener Bruder hat ihm dabei geholfen. Hat geholfen, sie runterzuwerfen. Einer hat sie an den Armen gepackt, einer an den Füßen, und dann ab übers Geländer.«
»Habe ich auch gehört.«
»Eins, zwei drei… und schwuppdiwupp.«
»Ich weiß, ich weiß. Ich weiß. Aber keiner hat es gesehen, oder?«
»Keiner, aber alle wissen, was passiert ist. Dreckskerle.«
»Dreckskerle.«
Azime (oder Azi, wie die meisten sie nannten) und Banu waren Schulfreundinnen des toten Mädchens gewesen, [17] das heißt, bis die Eltern das Mädchen von einem Tag auf den anderen von der Schule genommen hatten, um sie »zu Hause zu erziehen«, was sich für ein Mädchen in Green Lanes im Londoner Stadtteil Harringay in der Regel mit »unbezahlte Arbeit im Familiengeschäft, bis ein Ehemann gefunden ist« übersetzen lässt. In diesem Falle war es aber die Strafe dafür, dass sie mit einem Jungen ausgegangen war, einem, der kein Kurde war, nicht einmal Muslim. Ein ganzes Jahr Strafe, wie sich herausstellte, ein Tagesgefängnis, achteinhalbtausend Stunden, die sie fast ganz auf ihrem Zimmer verbringen musste, das sie nur zu den Mahlzeiten verließ. Und nach diesem Jahr, das ihr letztes sein sollte, durfte sie als Belohnung wieder zurück auf die Schule.
Und nun war sie tot.
Banu und Azime zupften ihre Kopftücher zurecht und verließen den Friedhof mit seiner Moschee und der langen himmelwärts weisenden Fahnenstange, an der die Flagge mit dem kurzen Dolch und dem Stern darüber wehte; ließen die Trauergesellschaft zurück, die in ihrer Wut, ihrem Gebrüll und ihrer Gewalttätigkeit anscheinend vergessen hatte, dass es jemanden zu betrauern gab.
Sie gingen zu Azimes Haus, durch abstoßend hässliche Straßen. Die Häuser dieser Gegend verloren Jahr für Jahr weiter an Wert und dienten jetzt nur noch Einwanderern als notdürftige Unterkunft. Die Arbeitslosigkeit im Viertel lag bei siebzig Prozent, die anderen dreißig Prozent arbeiteten für den Mindestlohn (oder weniger), weshalb die Gegend ziemlich heruntergekommen wirkte. Schwarze Müllsäcke lagen vor den Geschäften, in denen man auf jede der 193 Sprachen des Viertels gefasst sein konnte. Azime und Banu kamen [18] an vertrauten Restaurants vorbei, an Waschsalons, Schnapsläden, Internetcafés, am häufigsten aber sahen sie in den Schaufenstern von Green Lanes das Schild: »Zu vermieten«.
Als sie an einem Jobcenter vorbeikamen, gestand Azime, dass sie sich auf die Suche nach einem richtigen Job gemacht hatte, einem außerhalb des Familienbetriebs. Sie sei für alles offen, trotzdem sei es unmöglich, eine freie Stelle zu finden. Die Mädchen machten halt an einer Falafelbude. Sie sahen zu, wie die würzigen Bällchen frittiert und dann, zusammen mit Salat, Knoblauchmayonnaise und Chilisoße und jeweils einer Peperonischote, in Fladenbrot gesteckt wurden.
»Was macht deine Mutter?«, fragte Banu.
»Total von der Rolle. Wie üblich.«
»Wie viele Heiratskandidaten hat sie diesmal für dich?«
»Diese Woche nur drei. Alles Männer so alt wie mein Vater oder noch älter. Die passenden Jungs in meinem Alter hat sie alle durch. Jetzt sucht sie in den Altersheimen.«
»Aber du hast alle abgelehnt, stimmt’s?«
»Ich bin zwanzig. Ich lasse mich mit niemandem verheiraten.«
Banu machte eine beleidigte Miene. »Na danke. Herzlichen Dank.«
Azime merkte, dass sie ihre Freundin, die schon vor über einem Jahr geheiratet hatte, gekränkt hatte. Sie wollte es wiedergutmachen. »He, warum haben Inder diesen roten Fleck auf der Stirn?«
»Halt die Klappe!«
»Weil«, und dabei tippte Azime ihr bei jedem Wort mit dem Zeigefinger auf die Stirn, »DU… NICHT… HIER… HER… GEHÖRST!«
[19] Banu unterdrückte ein Grinsen.
Also versuchte Azime es noch einmal: »Ein Mann kommt in ein Wäschegeschäft und will ein durchsichtiges Négligé, Größe vierundvierzig. Der Verkäufer sieht ihn an und fragt: ›Warum zum Teufel wollen Sie denn da durchschauen?‹«
Banus Mundwinkel zuckten ganz leicht, aber sie spielte weiterhin die Entrüstete. »Wie kannst du an so einem Tag lustig sein?«
»Man muss lustig sein, um so einen Tag zu überstehen.«
»Hör auf!«
»Kann ich nicht.«
»Natürlich kannst du das.«
»Ich hab’s versucht. Es geht nicht.«
»Azi, wir kommen gerade von einer Beerdigung.«
»Ich weiß, ich weiß.« Azime nickte und schien endlich den Ernst des Augenblicks zu erfassen. Aber dann fragte sie doch: »Wie nennt man einen Schwarzen, der ein Flugzeug steuert?«
»Hör auf! Hör bloß auf. Ich mein’s ernst.«
»Ein Schwarzer, der ein Flugzeug steuert. Na los, wie nennt man den?«
Jetzt zuckte Banu nur noch mit den Schultern. Sie gab auf. Was sollte man mit einem Mädchen wie Azime machen? Sie war unverbesserlich. Nicht zu retten. Hoffnungslos übergeschnappt. »Keine Ahnung. Weiß ich nicht. Sag’s mir – wie nennt man einen Schwarzen, der ein Flugzeug steuert?«
»Einen Piloten, du rassistische Kuh!«
Banu schlug die Hand vor den Mund, aber ihr Lachen konnte sie trotzdem nicht verbergen. Dieses verfluchte Lachen, das verräterische Zucken. Sie wünschte sich so sehr, [20] nicht zu lachen, aber sie war einfach nicht stark genug. Und kaum ließ ihr Kichern nach, da fing es von neuem an, als sie den Witz in Gedanken Revue passieren ließ, als die Bilder stärker, lustiger wurden, je mehr sie über diesen Witz nachdachte und ihr klarwurde, wie der Witz sie in die Falle gelockt und ihr gezeigt hatte, dass sie tatsächlich von einer rassistischen Vorstellung ausgegangen war. Sie merkte auch, wie das Lachen ihr Gesicht, ihren Hals von der Starre der Anspannung befreite, all den aufgestauten Druck eines ganzen Ehejahres herauskommen ließ, so dass sie vorübergehend wieder die Banu wurde, die Azime als Dreizehnjährige in der Schule kennengelernt hatte und die genauso frech und respektlos gewesen war wie sie und der womöglich noch öfter Bemerkungen entschlüpften, die sie sich besser verkniffen hätte. Von allen Zwängen befreit, stimmte Banu in Azimes Gelächter ein, bis sie sich schließlich wieder so weit gefasst hatte, dass sie hinzuzufügen konnte: »Jetzt hör endlich auf zu sagen, ich hätte zu früh geheiratet.«
»Hab ich das? Wirklich? Habe ich das je gesagt?«
»Nein, aber du denkst es. Du denkst es die ganze Zeit.«
Worauf Azime mit einem Schulterzucken zurückgab: »Na, wenn’s dich glücklich macht…«
»Lass gut sein, ja?«
»Dann ist also alles in Ordnung?«
»Es ist alles in Ordnung. Ich bin glücklich. Er ist ein guter Ehemann.«
»Schön. Und fünfzehn Jahre älter.«
»Hör auf. Sonst sind wir die längste Zeit Freundinnen gewesen. Ich meine das ernst!«
»Schön. Ich sag doch, es ist schön.«
[21] »Verdammt noch mal, sag nicht dauernd schön!«, brüllte Banu. »Du treibst mich noch in den Wahnsinn, weißt du das?«
Azime seufzte: »Machen wir, dass wir hier rauskommen. – Du treibst mich in den Wahnsinn.«
An der nächsten Abzweigung trennten sie sich; Banu ging nach links, in eine Geschäftsstraße voller Frauen im Hidschab und Männern im weißen Kaftan mit Kappen auf dem Kopf unterwegs zur Moschee in der Wightman Road, in ihrem ganz eigenen Tempo; Azime hingegen wandte sich nach rechts und ging hinter sechs jungen britischen Frauen her, sechs identischen Teenagern, alle mit fast nichts an, unterwegs zum Alkoholrausch in einem der Nachtclubs in der City, zu dessen fernem, noch unhörbarem Puls die auf hohen Absätzen vorwärtsstakenden, kaugummikauenden Mädchen sich schon im Discobeat wiegten. ›Wie anders als diese Mädchen ich bin!‹, dachte Azime, von der Parfümwolke umweht, die die Mädchen hinter sich herzogen. ›Fast schon eine andere Spezies. Schaut mich an, eine zwanzigjährige Jungfrau, unberührt, ungeküsst! Während die da vor mir – klemm ihnen die Eileiter ab, und sie würden immer noch schwanger von Jungs, von denen sie nicht mal den Nachnamen kennen.‹
Zwölf Minuten später kam Azime zu Hause an, in einer ruhigeren Sackgasse mit der Bahnstrecke am Ende, und sah gerade noch, wie ihr Vater Aristot ihre kleine Schwester Döndü aus dem Wagen der Familie zerrte und vor sich her zur Haustür scheuchte. Dort stand bereits ihr Bruder Zeki, wie ein Gefängniswärter, der einen wieder eingefangenen entflohenen Sträfling in Empfang nimmt, und begrüßte seine kleine Schwester mit einer Extraohrfeige.
Im Wohnzimmer wollte Azime ihrer Schwester zu Hilfe [22] kommen, doch ihre Mutter Sabite fiel ihr ins Wort. Sie und Döndü könnten unter einer Brücke in Hackney schlafen, sagte sie, wenn sie sich nicht endlich zu benehmen lernten. Sabite hatte hohen Blutdruck, und wenn sie sagte, ihre Familie bringe sie noch um, meinte sie das wörtlich.
»Was habe ich denn getan?«, fragte Azime entrüstet.
»Genug!«, keifte Sabite und hielt sich beide Ohren zu, als brüllte jemand anderes und nicht sie selbst. »Sie sind besessen! Aristot! Alle beide! Cinli! Ein Fluch! Ein Fluch, mit dem jemand sie belegt hat. Vielleicht der schmutzige alte Mann, der auf den Stufen vor der Moschee sitzt.«
Döndü hatte mit ihren acht Jahren soeben ein Verbrechen begangen: Sie hatte mit der Schulklasse eine christliche Kathedrale besucht.
»Schluss jetzt mit den Flüchen!« Aristot hielt sich nun seinerseits die Ohren zu, und das aus einem besseren Grund als die Frau, mit der er seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet war. Dann zog er sich ins Fernsehzimmer zurück und rief ein wenig spöttisch: »Frieden jetzt hier im Haus! Aramî! Ich will das scheiß Fernsehen sehen. Aramî!«
»Aber wir sind hier in einem christlichen Land«, protestierte Azime, obwohl sie wusste, dass sie mit diesem Einwand in diesem Haus so viel erreichte wie mit einem Schreiben an den Buckingham-Palast. »Und es war ein Schulausflug. Zu einer langweiligen alten Kathedrale.«
»Es ist kein christliches Land«, stellte Sabite klar.
»Natürlich ist es das«, widersprach Azime.
»Ist es nicht!«
»Was denn dann?«
»Es ist keins!«
[23] »Es heißt Church of England.«
»Hat etwa Jesus Christus die Kirche von England begründet? Nein. Nein, nein, nein. Das war Heinrich der Wievielte. Ein Mann mit – Schlafzimmerkrankheiten!«
»Ich hasse dieses Haus!«, heulte Döndü.
»Fünf Tage!« Sabite wies zur Decke, in die Richtung, in der sich das Zimmer der Kleinen befand.
»Nein!«
»Dann eben sechs!«
Mit ihren zwanzig Jahren wohnte Azime noch immer bei ihren Eltern, die zwar aus der Türkei stammten, sich aber für waschechte Briten hielten. Der spärliche Lohn, den Azime für ihre Arbeit im väterlichen Möbelladen erhielt, erlaubte es ihr nicht, auszuziehen und vor der Heirat ein eigenes Leben anzufangen. Außerdem zog man, so eng wie die kurdischen Familien zusammenhielten, auch niemals richtig aus. Azime saß in diesem kleinen Winkel von London fest, und der Klammergriff von Familie und Gemeinschaft war zu stark, zu elastisch, zu selbstverständlich, zu umfassend, zu vielschichtig, zu verlockend. Einmal die Tochter von Aristot und Sabite Gevaş, immer die Tochter. Einmal eine Kurdin aus Green Lanes, immer eine…
Die Familie Gevaş.
Sabite: klein, abergläubisch, traditionsverbunden, furchteinflößend, misstrauisch gegenüber Humor, Lieblingssatz »Fünf Tage!«, begleitet von einer Bewegung ihres rechten Zeigefingers in Richtung des Zimmers, in dem das betreffende Kind diese Verbannungszeit verbringen würde.
Azimes Vater Aristot: groß, rundlich, Stirnglatze, stolz, geizig, ein Mann, der gern einmal lachte, aber genauso zu [24] mittelalterlichen Gedanken und zu Taten, die sich jeder Vernunft entzogen, fähig war wie seine Frau. Seine Lieblingsausdrücke: »widerlich« und »Blödes Arschloch«, beide gern gebraucht, der Erstere für die Sucht seiner Frau nach Schokolade, der Zweite für seine Kinder. (In puncto Schokolade war er allerdings nicht unnachgiebig, und es verging keine Woche, in der Sabite nicht eine Kommodenschublade aufzog und ein kleines süßes Geschenk für sich fand.)
Die Ehe von Sabite und Aristot war eine arrangierte Ehe und widerlegte das Vorurteil, dass solche Verbindungen zwangsläufig eine Katastrophe sein mussten.
Der Nächste in der Reihe, nach Azime, war Zeki: sechzehn, groß, dürr, launisch, unglücklich, aber nicht ungeliebt. Verstand sich als Gehilfe seines Vaters und als dessen rechte Hand (wenn auch niemals als solche gebraucht) und fand nichts dabei, die eigene rechte Hand gegen seine Schwestern zu erheben.
Und dann war da noch Döndü, die Jüngste, schelmisch, unberechenbar, acht Jahre alt, starrköpfig, und der Name (der so viel bedeutete wie »eisig«) passte genau. Jeden Tag riskierte sie neu den elterlichen Zorn, um zu beweisen, dass sie »unabhängig« war, was oft genug bedeutete, dass es ihr Zimmer war, auf das der mütterliche Zeigefinger deutete, wenn es »Fünf Tage!« hieß. Aber so lange noch keine unmittelbaren Entscheidungen anstanden – eines Tages gedachte sie Hirnchirurgin, Patentanwältin und Topmodel zu werden –, arbeitete sie erst einmal an einer Liste der Dinge, die sie auf gar keinen Fall werden wollte, wenn sie erwachsen war, und dazu gehörten Hausfrau, junge Mutter und verarmte, unterwürfige Sklavin.
[25] Das war die Familie Gevaş, und in einer seltenen Geste der Assimilation, weil die Kinder in England geboren waren und auf englische Schulen gingen, war Englisch nach und nach zur Umgangssprache im Haushalt geworden – selbst für Sabite, die am wenigsten Kontakt mit der umgebenden Kultur hatte.
»Sechs Tage? Das ist so was von unfair!«, schrie Döndü und stürmte aus dem Zimmer.
»Dann eben drei Wochen, wenn du nicht na rawa! Auf dein Zimmer! Nirgendwohin außer in die Schule, sechs Tage lang!«
Im Wohnzimmer nahm Aristot die Spitzendecke ab, die den an die Wand montierten Flachbildfernseher verhüllte. (Es gab kaum eine Fläche im Haus, die nicht mit einer Spitzendecke verhüllt war.) Sabite breitete stets dieses Tuch über das Gerät, manchmal sogar, wenn es eingeschaltet war, sah sich das Programm durch dieses Muster an und fand es angenehm, wie das Bild dadurch weicher wurde. Nach eigener Aussage tat sie das, weil ihr die Auswirkungen des Fernsehens auf das Familienleben zuwider waren, und mehr als alles andere verabscheute sie jene sexuell gefärbten Anzüglichkeiten, für die Briten mit ihrer schmutzigen Phantasie eine ganz besondere Vorliebe hatten. Immer ging es um Hintern. Immer Geschlechtsteile. Immer Zoten, die abstoßende glatzköpfige Männer erzählten, oft auch noch als Frauen verkleidet. Immer das Gelächter von Publikum, das man nie sah, weil es gar nicht da war. Lachen als Lüge. Und immer ging es um Sex, Sex, Sex – alles nur Blödsinn.
Aristot hingegen hatte überhaupt nichts gegen britischen Humor. Im Gegenteil, er genoss ihn, und wenn er sich abends [26] vor den Fernseher setzte und Entspannung meist bitter nötig hatte, dann zappte er sich durch die Kanäle, bis er genau den Blödsinn fand, den seine Frau so verabscheute. An diesem Abend setzte sich Azime neben ihn auf die Couch. Sie bemerkte ein Goldfischglas auf dem Bord über dem geliebten Fernseher ihres Vaters – und in dem Glas schwamm in trägen Kreisen ein Fisch.
»Was macht der denn hier?«, fragte sie. »Baba? Der Goldfisch? Wo kommt der her?«
Das Konservengelächter der Comedyshow war sehr laut. Aristot hob die Stimme, aber den Bildschirm ließ er nicht aus den Augen. »Deine Mutter. Sie sagt, ich sehe zu viel fern – ich sollte mir… sollte mir ein Hobby zulegen. Und das habe ich getan.«
»Einen Goldfisch?«
»Mein neues Hobby. Gerade jetzt sehe ich ihm zu.«
Ihr Vater konnte sehr lustig sein, meist unabsichtlich. »Das Schlimme an Statistiken ist, dass sie zu fünfzig Prozent von Idioten gemacht werden.« Oder: »Solange du nicht klügerer bist als ich, tust du, was ich dir sage!« Oder: »Geh sofort nach oben und zieh dich unverändert an!« Nicht unverzüglich, unverändert. Ein wahres Wort, wahrer als Aristot bewusst war. Aristot wollte, dass alles blieb, wie es schon immer gewesen war. Unverändert die Familie, unverändert die Gemeinschaft und die Rollen, die jeder spielte, unverändert die Liebe, die man nur in einem Dorf empfinden konnte, in dem sich nichts veränderte. Ein Leben in seliger gemeinschaftlicher Nostalgie. Alles Neue war eine Bedrohung, wie ein Terrorist mit einer Stange Dynamit. Das Neue nahm nur, es brachte keinen Gewinn. Und jedes blöde [27] Arschloch, das glaubte, es müsse sich mit der Welt von heute verheiraten, würde schon noch merken, dass es in der Welt von morgen Witwer war. An die Worte von Aristot Gevaş werdet ihr noch denken!
Ironisch war nur, dass er, um dem Neuen aus dem Weg zu gehen, das Alte hergegeben – seine Heimat verlassen und sein ganzes Leben geändert hatte. In London, fernab von Krieg und Krankheit, von ethnischen Säuberungen, erdrückender Armut, von all diesen gewalttätigen Veränderern, war es weitaus leichter, die alten Sitten zu bewahren. Das hatte er inzwischen begriffen: Manchmal musste man fast alles ändern, wenn man derselbe bleiben wollte.
Jetzt saß Azime neben ihrem Vater auf dem Sofa und sah ihm zu, wie er fernsah, wie er gehorsam mitlachte, wenn die Sendung Lachkonserven einspielte, und sein schwerer Kopf auf dem dicken Hals wackelte dazu; wie auf Kommando grölte er zu jeder Albernheit, die das Fernsehen brachte. Je hanebüchener die Gags, desto lauter sein Gelächter, und bald konnte auch Azime sich nicht mehr beherrschen und musste mitlachen; Vater und Tochter fanden alles dermaßen komisch, dass Sabite in der Küche anfing, Topfdeckel aneinanderzuschlagen, protestierende Beckenschläge, die ihnen zu verstehen gaben, dass sie mit ihren Nerven am Ende war. Aber nichts, was Sabite tat, konnte verhindern, dass ihr Mann und ihre Tochter es zum Schreien komisch fanden, dass der bescheuerte Besitzer eines bescheuerten Hotels in einem englischen Seebadeort von seiner Frau im Schrank eines Zimmers entdeckt (und für einen Perversling gehalten) wurde, das ein gewisser junger Herr gemietet hatte, wo doch der Hotelier nur hatte beweisen wollen, dass dieser Herr [28] entgegen den Regeln des Hauses eine Dame aufs Zimmer geschmuggelt hatte – Gäste waren nur erlaubt, wenn für sie extra gezahlt wurde, und das war nicht der Fall. Der Sketch hatte alles, was man für eine komische Szene brauchte: ein Missverständnis, eine peinliche Situation, etwas befreiend Absurdes und einen Ruch von unerlaubtem Geschlechtsverkehr.
»Ha! ha! ha! ha!«, donnerte Aristot. »Schau dir den Blödmann an! Schau dir das an! Ein totaler Blödmann, der Mann! So ein dummes Arschloch!«
»Ha! ha! ha!«, lachte auch Azime, als der Vater mit dem Finger auf den Fernsehschirm zeigte, auf ein Geschehen, das Millionen von Meilen vom Leben der Familie Gevaş aus Green Lanes entfernt war.
Während all dessen rüttelte oben in ihrem Zimmer eine in Tränen aufgelöste Döndü an der Tür, die Zeki von außen abgeschlossen hatte. Alle Kinderzimmer hatten Türen, die man nur von außen abschließen konnte.
»Ich hasse dieses Leben! Ich hasse dieses Haus!«, brüllte Döndü die teilnahmslosen Wände an. »Ich hasse, hasse, hasse es!« Und sie wünschte sich, dass sie sich in ein Insekt verwandelte, das aus dem Fenster krabbeln und für immer in der Nacht verschwinden könnte.
Im Zimmer nebenan kümmerte sich Zeki nicht um die Schreie seiner eingesperrten kleinen Schwester, sondern perfektionierte mit Hilfe eines Boxspiels auf seiner Wii-Konsole und eines alten Fernsehers seinen Aufwärtshaken, seinen Roundhouse-Kick, den Jab links und den Cross rechts – pschh! waaah! boooo! wummm! –, ein Schattenboxer mit Controllern in beiden Fäusten, sprang und duckte sich Zeki [29] in der Realität. Er tänzelte, wechselte die Schlaghand, wich mit seinem Avatar den Attacken des anderen aus, schlug die Gegner einen nach dem anderen k. o., todsichere Treffer auf Kopf und Körper, und stieg Schlag für Schlag höher in der imaginären Liste der Anwärter auf den Mittelgewichtstitel.
In der Küche machte Sabite derweil das Essen. Von Zeit zu Zeit hielt sie im Hacken und Rühren und Stampfen inne, griff sich zwei Topfdeckel und schlug sie wie ein Orchestermusiker zusammen, und dazu rief sie mit lauter Stimme: »Immer nur lachen, immer vergnügt! Es wird zu viel gelacht in diesem Haus!«
[30] 2
An ihrem Schreibtisch im väterlichen Möbelgeschäft schrieb Azime auf die Rückseite einer Rechnung (für einen Diwan, zwei Fernsehsessel und eine Ottomane zur sofortigen Auslieferung an ein Rentnerehepaar in Finsbury Park, dessen Kinder ausgeflogen waren und das deswegen jetzt die Chance hatte, Möbel aus anderen als aus praktischen Gründen zu kaufen) einen alten Witz, den sie später zu der Liste hinzufügen würde, die sie insgeheim in einem Ordner auf dem Bürocomputer mit der Bezeichnung »Couchgarnituren« führte: »Harte Arbeit mag sich langfristig auszahlen, aber Faulheit zahlt sich sofort aus.«
In diesem improvisierten Büro, nicht größer als ein Fahrkartenschalter und von den Möbeln selbst und den männlichen Angestellten durch eine Trennwand mit einem kleinen Plexiglasfenster separiert, sollte sie fleißig, fleißig, fleißig sein und freudestrahlend die Rechnungsbücher ihrer Familie führen. Aber wie konnte sie vor Freude strahlen? Fleißig sein? Tatsächlich fand Azime ihre Arbeit öde, öde, öde. Und so ließ sie jedes Mal ihre Pflichten ruhen und wechselte zu dem Ordner »Couchgarnituren«, wenn ihr eine neue Idee kam, und hier, wo sie die tollen Witze anderer Leute sammelte, trug sie auch ihre eigenen Einfälle und Beobachtungen ein.
[31] Bei Azimes eigenen Einfällen ging es meistens um alltägliche Dinge, Kleinigkeiten zu großen Fragen wie etwa Einkaufen, Schönheitspflege, ihr Gewicht, ihre Freunde, ihre Familie, oder einfach nur, wie es sich anfühlte, wenn man Azime Gevaş war, in diesem Augenblick, eine junge Frau, die für ihren Vater arbeitete, im Hinterzimmer eines hässlichen Möbelladens in Nordlondon an einem langweiligen Tag. Alberne Einfälle meistens, Bekenntnisse, kleine Beobachtungen, Dinge, die sie bedauerte oder die sie ärgerten – Sachen, die vermutlich nie wieder gelesen würden, weder von ihr selbst noch von sonst einer lebenden Seele: ein unsichtbares Logbuch, so nutzlos wie ein Strichcode auf einer Erdnuss, ein uneheliches Kind am Vatertag, eine Fliegentür an einem U-Boot, ein Schweineschnitzel in der Synagoge, Selbstbedienung im Bordell, ein Transvestit bei den Taliban.
Warum machte sie das überhaupt? Wenn ihre Gedanken so wertlos waren, warum hielt sie sie dann fest? Warum machte sie sich die Mühe und tippte den Schwachsinn überhaupt ein?
Insgeheim war sie seit zehn Jahren Comedy-Fan und versteckte in »Couchgarnituren«, neben ihren eigenen Ideen, eine Liste von Links zu bestimmten YouTube-Clips. Diese ultrageheimen Clips waren eine Art persönliche Hall of Fame ihrer Lieblingscomedians mit ihren besten Nummern. Oft hatte sie sie Döndü vorgeführt, die sie inzwischen auch auswendig kannte, so dass sie den Schwestern als eine Art geheimes Handbuch des Widerstands dienten, ein Ratgeber, wie man als Gevaş-Tochter überleben konnte. Inspiriert von Komikern wie Bill Hicks, Robin Williams, Woody Allen, Eddie Izzard, George Carlin und Eddie Murphy hatte [32] Azime begonnen, eigene lustige Ideen zu sammeln, obwohl ihr klar war, dass sie nie auch nur annähernd so klug, witzig oder radikal sein würde wie diese Giganten, selbst wenn sie bis an ihr Lebensende fleißig Einfälle in den »Couchgarnituren« notierte. Aber eins konnten ihre Einfälle immerhin beweisen: dass Azime Gevaş einen eigenen Kopf hatte, einen hoffentlich interessanten Kopf, der zumindest hin und wieder fähig war, denkwürdige, originelle und manchmal lustige Ideen hervorzubringen, die gut genug waren, irgendwo aufgezeichnet zu werden.
Ihr war bewusst, wie gefährlich es war, so einen Ordner auf dem Computer ihres Vaters zu haben, und achtete sorgfältig darauf, jeden Abend die Verlaufsliste ihrer Internetbesuche so sorgfältig zu säubern, wie ihr Vater das polierte Mahagoni seiner kitschigen Möbel.
Azime Gevaş. Gerade zwanzig geworden. Eins siebzig. Fünfzig Kilogramm, etwas weniger als ein sorgfältig zusammengelegtes Familienzelt, etwas mehr als eine Schubkarre mit schmutziger Wäsche. Hübsches Gesicht. Besonderes Kennzeichen: große neugierige, mit Kholstift umrandete Augen, denen nichts entging, Augen, mit denen sie eine Welt betrachtete, die sie nicht ändern konnte. Und über diesen Augen dichte Augenbrauen, schwarz wie Lakritze. Eine Zahnlücke, die, anders als bei anderen Teenagern, nicht von Spangen korrigiert war. Unglücklich zu Hause, unglücklich bei der Arbeit, ruhelos am Tag, ruhelos nachts im Bett, frustriert über ihre Vergangenheit, frustriert beim Gedanken an ihre Zukunft – ein richtungsloses Leben, das nirgendwo hinführte. Angesichts dieser grausamen Symmetrien fragte sie oft Allah, was sie tun sollte. Er antwortete nie.
[33] Möbel, das war ihr Metier. Möbel. Bevorzugter Stil ihres Vater? Azime nannte es Bagdader Barock. Die Art von überreich verzierten Möbeln, die Türken bevorzugten. Traditionelle Formen. Möbel, die nach Azimes Meinung besser aussahen, wenn man die Plastikhülle drumließ. Aber ihr Geschmack entsprach nicht dem der Kundschaft ihres Vaters. Ihr Vater Aristot: der größte Händler für Bagdader Barock in ganz Nordlondon. Seine Kundschaft bestand aus anderen Türken, Kurden, Zyprioten, Arabern aller Art – fast alles Muslime, die Familien, knapp bei Kasse, die aber doch Sessel und Sofas für einen Thronsaal wollten. Sessel, von denen aus man nicht einfach seinen Kindern sagte, was sie zu tun hatten, sondern von denen aus man Dekrete verlas; von denen aus man nicht einfach die Kinder aufforderte, zu Bett zu gehen, sondern Sperrstunden festsetzte; von denen aus man Leuten nicht sagte, sie sollten den Mund halten, sondern Redefreiheit schlicht und einfach zum Verbrechen erklärte und stattdessen Kriegsrecht verhängte. Das waren Wohnzimmermöbel für Möchtegerndespoten. Und die Preise waren niedrig. Aristot verkaufte Möbel, die man sich leisten konnte: Er wusste, dass niemand sehnsüchtiger davon träumte, König zu sein, als ein Sklave.
Und auch wenn Gevaş’ Orientmöbel – einfach spitze! Gegründet 1986 all diese Träume zu erfüllen versprach, ging es der Firma schlecht. Die Träumer, die Lehnstuhlpotentaten, kamen nicht mehr, sie hielten ihre Pennys beisammen. Nicht einmal seinen Mitarbeitern, die in der Mittagspause Backgammon spielten, verriet Aristot, dass er bestenfalls noch ein halbes Jahr vom Konkurs entfernt war.
Nach der Arbeit ging Azime zu Deniz, ihrem einzigen [34] männlichen Freund, einem jungen Mann, der Komiker werden wollte und drei Straßen weiter in der Souterrainwohnung eines viktorianischen Backstein-Mietshauses wohnte. Deniz war Azimes bestgehütetes Geheimnis. Sie fürchtete, dass alle (außer Döndü vielleicht) etwas gegen ihn haben und ihn dafür hassen würden, dass er mit seiner eigenen traditionalistischen Familie gebrochen hatte, weshalb sich ihre Freundschaft im Verborgenen entwickelt hatte. Azimes Eltern und Freundinnen wussten noch nicht einmal, dass es ihn gab. Deniz war großartig. Ein komischer Kauz, aber großartig. Er konnte sie immer aufmuntern, und es waren eigentlich gar nicht mal seine Witze – er kannte nicht viele, und die meisten waren schlecht –, sondern das unglaublich freie, mutige, unbekümmerte, übermütige, vollkommen hemmungslose Leben, das er führte. Sein Leben war das Amüsante an ihm. Wenn man Deniz besuchte, kam man in eine Parallelwelt.
Sie klopfte mehrere Male. Sah, wie sich drinnen kaum merklich die Vorhänge bewegten: Deniz war also da. Die Tür öffnete sich, aber nur so weit wie die kurze Sicherungskette zuließ. Zwei Augen starrten durch den Spalt: »Ich musste mich erst vergewissern, dass du das bist.«
»Was ist los? Warum gehst du nicht an dein Handy?«, fragte sie.
Deniz’ Augen huschten nach rechts und links und suchten die Straße ab. »Lange Geschichte. Bist du allein?«
»Wieso gehst du nicht ans Handy?«
»Wieso? Weil ich meinen Tod vortäusche. Komm rein. Schnell!«
Er meinte es ernst. Deniz. Immer der Exzentriker. Immer [35] ein paar hundert Schritt hinter der Parade. Aber auch großartig, jedenfalls in Azimes bewundernden Augen. Bei aller Neigung zur Niedergeschlagenheit blieb er lässig, optimistisch, unbekümmert und einfallsreich. Und sie mochte seinen Kampfgeist, der angesichts seiner Lebensumstände nur umso bemerkenswerter war: als Kind liebloser Eltern in Green Lanes zur Welt gekommen; ein Einzelkind, das sich schon früh für witzig hielt, auch wenn kein anderer das so sah; schon früh schweres Asthma, was ihn zum Einzelgänger machte; mit acht zum ersten Mal mit einer Kindershow auf der Bühne, absurde Zaubertricks zur Musik aus dem Rosaroten Panther. Er zeigte dem Publikum, dass er nichts im Ärmel hatte, und tat dann so, als könne er einen seiner Finger verschwinden lassen: Er hielt die Hand hinter den Rücken, klappte einen Finger um und holte die Hand dann mit dem »fehlenden« Finger wieder hervor. Einfältiges Abrakadabra, für das er die Buhrufe, die er erntete, mehr als verdient hatte; selbst die anderen Kinder fanden, er sollte allmählich mal erwachsen werden. Mit fünfzehn war ihm klar, dass er sein Leben auf eigene Weise in die Hand nehmen musste. Und dass Erfolg, wenn überhaupt, erst im Erwachsenenalter kommen würde, wo Konformität und die richtigen Eltern und Sportlichkeit und Beliebtheit und gutes Aussehen und ethnische Herkunft nicht mehr alles waren; wo man gemein zu anderen sein konnte, selbstsüchtig, depressiv, korrupt, wo man als Fußgänger nicht mehr als vier km/h schnell sein musste und immer noch ein Siegertyp sein konnte, wenn man nur die richtige Idee hatte. Eine, die besser war als die der anderen. Anders ausgedrückt, beim Verschwinden würden ihm seine Kindheitsneurosen noch [36] einen Nutzen bringen, den sie bei ihrer Entstehung nicht gehabt hatten.
Mit fünfzehn war er zwei Meter groß, mit 22 zwei Meter fünf. Eine schockierende Größe für jemanden, der so exzentrisch war und eine so übergroße Persönlichkeit hatte. Er konnte es gar nicht abwarten, einen Beruf zu ergreifen, und dachte zunächst an eine Karriere beim Film; er fand, dass er genau das richtige Aussehen für einen jugendlichen Liebhaber und dazu außerordentliches Einfühlungsvermögen besaß. Niemand teilte diese Meinung. Aber das hinderte ihn nicht, es zu versuchen. Es war praktisch unmöglich, einen Mann wie Deniz aufzuhalten. Er klopfte an Türen, von denen jeder vernünftige Mensch gewusst hätte, dass sie sich nie öffnen würden.
Die Niederlagen kamen Schlag auf Schlag. Er nannte das Unterhaltungsgeschäft »eine Kultur der Zurückweisung«, schloss aber aus diesen Zurückweisungen nur, dass er etwas Unorthodoxes und folglich doppelt Lohnendes tat. Schließlich gab er die Schauspielerei auf, erklärte sie zum Tummelplatz für zweitrangige Talente und verschrieb sich einer extremeren Idee: der des schrägen Komikers. Er wollte eher interessant sein als einfach nur lustig – es sollte eine absurde, eigentümliche, ja unverständliche Komik werden, die dem Humor ganz neue Bereiche eröffnete, und das war im wahrsten Sinne des Wortes kein Witz.
»Wieso willst du deinen Tod vortäuschen?«
»Damit ich aus meinem T-Mobile-Vertrag rauskomme. Ich habe festgestellt, dass ich aus dem Vertrag nur rauskann, wenn ich tot bin. Steht alles im Kleingedruckten. Lies mal deinen eigenen Vertrag. Wenn du beweisen kannst, dass [37] du tot bist, bist du raus. Aber die Arschlöcher sind gar nicht so leicht zu überzeugen. Komm rein.«
Deniz’ Wohnung war dunkel, und das war gut so. Er bekannte sich zum Leben im Chaos, als sei häusliche Ordnung eine Form der Lüge, als gebe sie eine falsche Vorstellung davon, wer er war. Alte Kaffeetassen setzten Schimmel an. Kleidungsstücke lagen zwischen den Überresten von Mahlzeiten aus Take-aways. Aber diese schäbige Einzimmerwohnung war der Ort, wo dieser junge Mann kurdischer Herkunft, dessen Grinsen zu breit für sein schmales Gesicht war, seine Erfolgsrezepte sammelte, Pläne für die Zukunft schmiedete – die eigene Garderobe, die zwei Flaschen Mineralwasser neben dem glühbirnengefassten Spiegel; den Hinweis »Mr Ali Bin Ramezanzadeh, fünf Minuten bis zum Auftritt, Sir« überbrachte der Inspizient persönlich; oder in einem anderen Tagtraum schrie Deniz von einem geöffneten Fenster seines prachtvollen Hauses am Holland Park die Paparazzi an: »Lasst mich in Ruhe! Lasst mich endlich in Ruhe!« Das war der Ort, wo er solche Dinge träumte, während Feuchtigkeit sich an der Decke sammelte und die Rohre dermaßen verkalkten, dass man drei Minuten für ein Glas Wasser brauchte oder neunzig, um sich ein Bad einzulassen. In einem abgewetzten Lehnstuhl, dessen Armlehnen von Ellbogen blank poliert waren, noch um halb sechs Uhr abends im Schlafanzug, zündete er sich theatralisch eine Zigarette an, der Fürst der Erwerbslosen – so etwas wie Hartz der Vierte persönlich.
»Womöglich steht das Haus unter Beobachtung«, mutmaßte Deniz. »Die sind gnadenlos.«
»Du bist zum Schreien.«
[38] »Für dich ist das lustig. Für mich ein Alptraum.«
Azime küsste ihn auf die stopplige Wange und setzte sich aufs Sofa. Sie liebte ihn. Wenn Deniz da war, konnte sie einfach nicht lange unglücklich sein, egal, wie schlecht es ihr den Tag über gegangen war. Sie erinnerte sich an den Tag vor drei Jahren, an dem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er war in einem County-and-Western-Outfit den Stanford Hill herunter auf sie zugekommen, wie einer, der seine eigene Welt fest im Griff hat. Sie hatte ihn nach dem Weg gefragt, in der Annahme, dass er sich in der Gegend bestens auskannte. Er hatte sie sechs Häuserblocks weit begleitet – so kurz war ihr ein Weg noch nie vorgekommen. Sechs Monate später hatte sie ihn in einem Waschsalon wiedergesehen – und auch hier war ihr ein Waschgang noch nie so kurz vorgekommen.
»Die können alles nachverfolgen«, sagte Deniz, »deshalb kann ich mein Mobiltelefon jetzt natürlich nicht mehr verwenden. Sämtliche Anrufe werden protokolliert. Ich habe jetzt das Telefon von einem Freund.«
Azime musste lächeln. »Und wie überzeugst du sie von deinem Tod?«
»Ich habe einen Totenschein gebastelt, mit gefälschter Unterschrift, und den habe ich an die Telefongesellschaft gefaxt. Hast du dir schon mal deinen Handyvertrag angesehen? Wenn du kündigst, bevor die Laufzeit um ist, holen sie sich ihr Geld auf jede nur erdenkliche Art zurück, und dann verlangen sie noch eine Riesensumme wegen vorzeitiger Kündigung. Ich wehr’ mich einfach nur, Mann.«
»Wie viel schuldest du ihnen?«
»Darum geht es doch nicht.«
[39] »Wie viel?«
»Fünfundzwanzig Pfund.«
»Mehr nicht? Und dafür bist du gestorben? Deniz, bezahl doch einfach die Rechnung!«
»Ich wehre mich im Namen des kleinen Mannes. Biete Big Brother die Stirn.«
»Und das im Schlafanzug?«
»Jawohl, im Schlafanzug. Ist doch egal. Aber ich seh’s ja ein. Ich ziehe mich an. Geh nicht weg. Wir machen einen Ausflug in meinem nagelneuen Auto.«
Er stand auf und ging ans andere Ende des Zimmers. Deniz hatte ein Auto? Mit seinen zwei Metern und fünf bewegte er sich mit der trägen Anmut eines Mannes, der keine träge Anmut hatte. Alles an ihm – sein Fernseher, sein Toaster, sein Liebesleben (so hoffte wenigstens Azime) – war in Auflösung, und keiner wusste, ob es je repariert würde. Aber sie hatte kein Mitleid mit ihm, nicht solange er sich so hartnäckig weigerte, Selbstmitleid zu haben.
Angezogen tauchte er wieder auf, und sie fuhren spazieren. Ein miserabler Autofahrer. Behinderte andere, fuhr dicht auf. Azime machte das nichts aus. Mit Deniz am Steuer zog die vertraute, dann die weniger vertraute Umgebung am Wagenfenster vorüber wie eine Art Festzug, sie lachten und redeten über den großen Erfolg, der ihm binnen kurzem sicher war, beide überzeugt, dass er ein Glückskind war, und atmeten die Abgase, die durch den rostzerfressenen Boden seines frischerworbenen, aber schrottreifen hornissengelben Renault Clio kamen. Typisch Deniz, dass er, selbst als der Schalthebel sich weigerte, in den dritten Gang zu gehen, und der Motor an der Ampel ausging, noch tat, als [40] sein,