Seit Monaten verbringt die achtjährige Manon ihre Nachmittage allein, unter einer riesigen Birke im Garten. Sie verschlingt ein Buch nach dem anderen und spricht mit Ameisen und Katzen, nur um an eines nicht denken zu müssen: das spurlose Verschwinden ihrer Mutter. Mit dem eigenen Kummer beschäftigt, vermögen Manons Vater Pierre und ihre Tante Sophie das stille Mädchen nicht zu trösten. Doch Manons Einsamkeit erweicht das Herz des mürrischen Nachbarn Anatole, der, seitdem er nicht mehr unterrichtet, sich von Kindern möglichst fern hält. Sie beginnen, gemeinsam den Kleinen Prinzen zu lesen und es erwächst eine außergewöhnliche Freundschaft. Als eines Tages überraschend Briefe der Mutter eintreffen, schmieden das Mädchen und der alte Mann einen kühnen Plan, der sie gemeinsam mit Pierre und Sophie auf eine abenteuerliche Reise quer durch Europa führt …
Bäume reisen nachts ist ein herzzerreißend schöner Roman über die Freundschaft ungleicher Menschen, über eine Familie, die sich neu erfindet, und den Mut eines kleinen Mädchens, Träume in Wirklichkeit zu verwandeln.
Aude Le Corff, 1977 in Tokio geboren, studierte Wirtschaft und Psychologie, bevor sie 2009 ihr mit dem Prix ELLE ausgezeichnetes Blog Nectar du Net begann. Bäume reisen nachts ist ihr erster Roman. Sie lebt mit ihrer Familie im französischen Nantes.
Aude Le Corff
Bäume reisen nachts
Roman
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Insel Verlag
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Les arbres voyagent la nuit bei Éditions Stock.
eBook Insel Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des insel taschenbuchs 4319.
© Insel Verlag Berlin 2014
© Éditions Stock, 2013
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Zitatnachweise am Schluss des Bandes
Umschlaggestaltung: glanegger.com, München
Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
eISBN 978-3-458-73654-7
www.insel-verlag.de
Für Charles
Für Martine
Die Wohnungstür fällt lauter ins Schloss als beabsichtigt. Manon bleibt reglos in der Diele stehen und lauscht. Obwohl sie den Fernseher nicht hört, weiß sie, dass ihr Vater im Wohnzimmer ist.
Sie passt auf, dass sie nicht auf die Parkettfugen tritt, und stellt ihre Ballerinas ganz gerade nebeneinander unter die Garderobe. An der Wand hängt das Aquarell eines einsamen Seglers auf ölglattem Meer. Auf einer Konsole trocknen Blumen in einer Vase vor sich hin, deren Wasser schon lange verdampft ist. Ihre verblassten Blütenblätter zerfallen im Staub.
Jeden Nachmittag betritt Manon nach der Schule zur selben Zeit dieselben Zimmer in derselben Reihenfolge.
Sie geht ins Wohnzimmer und stellt sich hinter ihren Vater, der zusammengesunken in seinem Ledersessel sitzt. Inzwischen hat sie sich daran gewöhnt, dass er kaum eine Regung zeigt und weiter auf das iPhone auf dem Fußboden starrt.
Die gerade, kräftige Birke vor dem Fenster lässt den unrasierten Mann noch niedergeschlagener erscheinen. Manon hüstelt halbherzig, um auf sich aufmerksam zu machen, auch wenn sie weiß, dass es eigentlich nichts nützt: Seit vier Monaten interessiert er sich nicht mehr für sie.
Als er sie endlich bemerkt, steht er schwerfällig auf und küsst sie auf die Stirn.
»Geht's gut?«, fragt er müde. Manon nickt, aber er hat sie schon wieder vergessen, sucht die Fernbedienung und macht keine Anstalten, ihr Gespräch fortzusetzen.
Das Mädchen steigt über die leeren Bierflaschen neben dem Sessel hinweg, geht zum Tisch und kontrolliert den Computer, wie eine Krankenschwester den Puls des Patienten. An manchen Tagen vergisst er zu essen und zu arbeiten.
Der Computer ist auf Standby geschaltet. Nach kurzem Zögern berührt sie eine Taste. Auf dem Monitor erscheint ein Foto: Ihre Mutter mit offenem Haar, wie sie barfuß über einen Strand läuft. Manon hat ihr angedeutetes Lächeln so lange erforscht, dass es jeden Sinn verloren hat: Sie sieht nicht fröhlich aus, eher ein bisschen traurig, vielleicht zwingt sie sich sogar zu lächeln.
Sie dreht sich wieder zu ihrem Vater um, der inzwischen den Fernseher angemacht hat. Er zappt von einem Kanal zum nächsten, das kann noch lange so weitergehen.
»Mach deine Hausaufgaben«, brummt er gereizt.
Manon geht zum Zimmer der Eltern. Sie öffnet die Tür, die über den weißen Teppich schabt, jeden Tag mit der Hoffnung, ihre Mutter zu sehen. Die aber hat nur einen Stapel Bücher und ein Armband auf dem Nachttisch zurückgelassen.
Sie darf auf keinen Fall nachlässig werden. Ihre Mutter kommt nur dann zurück, wenn Manon bestimmte Aufgaben gewissenhaft erfüllt:
– Auf der Straße niemals, nicht mal mit der Fußspitze, auf die Fugen zwischen den Steinplatten treten. Mittlerweile beherrscht sie es meisterhaft, die Fugen zu meiden und trotzdem schnell zu laufen.
– Im Garten den Katzen zweimal über den Kopf, dann fünfmal über den Rücken streichen, ohne die Reihenfolge durcheinanderzubringen. Wenn sie schnurren, ist es ein sehr gutes Zeichen.
Es dauert länger als vorgesehen, vielleicht war sie nicht sorgfältig genug, vor allem am Anfang.
Manon macht die Tür wieder zu.
Dann läuft sie den Flur entlang, der so düster ist wie ein Wald in der Dämmerung. Draußen scheint die Sonne, aber sie muss in ihrem Zimmer Licht machen, um überhaupt etwas zu erkennen. Die Fensterläden sind verschlossen. Niemand hat während ihres Schultags das Zimmer gelüftet. Das Bett ist ungemacht. Auf dem Teppich steht eine halbleere Flasche Milch, Manon hat am Vortag vergessen, sie in den Kühlschrank zurückzustellen.
Sie legt ihre Schultasche auf einen riesigen Sitzsack, öffnet mit gerunzelter Stirn eine Schreibtischschublade und betrachtet den Brief mit der vertrauten Handschrift. Sie muss sich überzeugen, dass er da ist, zögert aber, ihn in die Hand zu nehmen. Weil sie ihn wieder und wieder gelesen hat, verzerren sich die Wörter und verblassen.
Doch selbst wenn sie verschwinden würden, wüsste Manon sie auswendig. Jeden Abend presst sie das blaue Tuch an sich und wiederholt sie beim Einschlafen. Um die Wölfe zu täuschen, die im Zimmer lauern, verkriecht sie sich unter der Decke. Dort bekommt sie kaum Luft und es ist heiß, aber sie hat keine Wahl: Funkelnde gelbe Augen kreisen um ihr Bett. Wenn sie die Lider schließt, steigt sie über Millionen Fugen auf Himmelsbürgersteigen, ohne sie zu streifen. Und endlich verschlingt die Nacht die Wölfe, die schwebenden Fugen und die gewissenhaft gestreichelten Katzen.
Manon hat Hunger, aber es ist nichts zu essen da. Ihr Blick gleitet über die Bücherregale, den staubigen Schreibtisch, die Pferdeplakate.
Sie erstickt in der Wohnung, hier kann sie keine Hausaufgaben machen. Deshalb greift sie wie jeden Abend nach einem Buch und steckt das duftende Tuch, das ihre Mutter vor Monaten in der Diele zurückgelassen hat, unter ihr T-Shirt.
Ohne ihrem Vater Bescheid zu sagen, geht sie in den Garten. Er hört sie hinausgehen, reagiert aber nicht.
Es gab eine Zeit, da kam Anatole pfeifend zu Fuß oder auf dem Fahrrad die Straße herauf. Heute wirkt sie auf ihn wie ein mit Steinen und Wurzeln übersäter Hochgebirgsweg. Er schimpft über die von gelben Mülltonnen blockierten engen Bürgersteige. Vor jedem Hindernis wirft er wütende Blicke nach links und rechts, sucht vergeblich einen Nachbarn oder Passanten, mit dem er seinen Ärger teilen könnte. Aber schon lange interessiert sich niemand mehr für ihn.
Anatole tritt auf Magnolienblätter. Die Straße gleicht einem Weg ins Paradies, offenbar hat sich alles verbündet, um ihn dorthin zu verfrachten. Denn sind die großen Blütenblätter einmal zu Boden gefallen, faulen sie rasch und sind so heimtückisch wie Bananenschalen.
Um ihm den Gnadenstoß zu versetzen, dröhnt aus einem Haus mit offenen Fenstern Musik von Geisteskranken. Die Wände mit dem rissigen hellen Putz sind von wildem Wein überwuchert. Ein junger Mann mit ungekämmter brauner Mähne lehnt am Fenster und nickt rhythmisch mit dem Kopf. Er folgt Anatole mit den Augen, zieht noch einmal kräftig an seiner Zigarette und schnipst sie ihm vor die Füße. Furchtbar, diese Alten, die pausenlos rumjammern! Jetzt, wo sie ihr Stück vom Kuchen gehabt haben, tun sie so, als würde alles Lebendige sie zur Verzweiflung treiben, sogar ein Schmetterling, der ihren Weg zu kreuzen wagt.
Anatole verzieht das Gesicht. Schon der unverschämte Blick dieses Drogensüchtigen hatte ihn gereizt, und die Kippe, die er wie eine Granate auf ihn abgefeuert hat, weckt pure Mordlust. Wenn er noch vierzig wäre und die entsprechende Kraft hätte, würde er den Bengel Respekt vor dem Alter lehren. Heute ist er dazu nicht mehr imstande. Der Haufen sterbender Zellen, den er mühevoll herumschleppt, ist so schlecht in Form, dass ihn schon der kleinste Schubser ins Jenseits befördern würde.
Der Aufstieg von der Bäckerei zu seinem Haus lässt ihm jeden Tag genug Zeit zu grübeln und sich über den allgemeinen Verfall aufzuregen.
Wer ihn für verbittert hält, irrt. Er sieht die Dinge einfach so, wie sie sind. Weil er zum Alleinsein verurteilt ist, verflucht er die Leute, die auf ihren freiwilligen Individualismus auch noch stolz zu sein scheinen.
Sein Leben liegt hinter ihm. Er hat es den anderen gewidmet, um selbst zusammengeschrumpft und runzlig zu enden, ausgestoßen von der Gesellschaft, die ihn nur noch als Last ansieht.
Was nützt ihm ein Leben ohne Ziele und Pläne, das mühsam und freudlos geworden ist? Die ständige Rennerei zu Physiotherapeuten und Ärzten, um für ein paar Minuten den Schmerz zu lindern, aber auch, um gelegentlich eine flüchtige Berührung auf seinem Körper zu spüren? Die Demütigung der erschlaffenden Schließmuskeln, die ersten Pannen in der Öffentlichkeit, wenn man die Augen vor den amüsierten Passanten senkt, denen nicht bewusst ist, dass sie auch bald an der Reihe sein werden?
Endlich zuhause. Was ein angenehmer Spaziergang mit einem Besuch beim Bäcker werden sollte, war heute ein Gewaltmarsch. Die Tage, an denen er seinen hageren Körper nur mit großer Mühe bewegen kann, werden immer häufiger. Mit dem frischen Baguette und der Zeitung unter dem Arm betritt er den Garten vor dem Mehrfamilienhaus und streift die duftenden Blätter einer Kletterrose. Eine weiße Katze rekelt sich im Gras und hebt gemächlich den Kopf, als er vorbeigeht. Sie schnuppert die warme Luft und lauscht, geblendet von der Sonne, seinen Schritten.
Anatole folgt dem mit grauen Schieferplatten gepflasterten Weg.
Unter der Birke sitzt ein Mädchen an den Stamm gelehnt und liest so vertieft in einem Kinderbuch, dass es ihn nicht bemerkt.
Jeden Tag fragt sich Anatole, was sie dort unter der Birke tut. Woran denkt sie, wenn sie selbstversunken vor und zurück schaukelt? Was erzählt sie den Ameisen mit so betrübter Miene? Und was lockt die Katzen zu ihr? Spüren sie ihre offensichtliche Traurigkeit?
Ein seltsames Mädchen. Ihre einzigen Freunde sind Katzen, Ameisen und Bücher. Nie lacht sie. Die Kleine ist viel zu ernst. Dass ein klappriger Alter wie er seine Tage mit Lesen und Grübeln verbringt, kann man ja verstehen, aber bei ihr ist es pure Zeitverschwendung.
Er öffnet die Haustür, ohne einen letzten Blick auf Manon zu wagen, die jetzt ihn beobachtet.
Sophie öffnet die Balkontür, um zu lüften. Sie hat heute viel zu viel geraucht, überall stinkt es nach kaltem Tabak. Draußen streicht eine Brise über ihr Gesicht und besänftigt sie ein bisschen. Ihr Blick fällt auf die Birke vor dem Haus. Sie ist riesig, aus der dritten Etage könnte man beinahe ihre Äste berühren, der Wipfel ist noch höher.
Sie lehnt sich auf die Brüstung und betrachtet die vielen weißen Streifen am Himmel. Vor fünfzehn Jahren hatte sie ihre Diplomarbeit diesem Thema gewidmet: Hundert Seiten über die Kondensation des Wasserdampfs, den die Flugzeuge in großer Höhe ausstoßen. Die Streifen verschwinden durch Sublimation. Sophie mag dieses Wort, es bringt einen Hauch von Poesie in das wissenschaftliche Thema.
Dann richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf die vertraute Gestalt am Fuß des Baums. Sophies Gesicht verfinstert sich. Wie lange soll das noch so gehen? Da kann Pierre sie auch gleich draußen schlafen lassen!
Sie zieht sich ins Wohnzimmer zurück, damit das Mädchen sie nicht bemerkt. Fast scheint es, als zeigte die Birke mit ihrem Ast anklagend auf sie.
Ihre Beine zittern, und sie ärgert sich über ihre eigene Feigheit. Zur Beruhigung zündet sie sich die nächste Zigarette an und läuft durch die Rauchschwaden im Zimmer auf und ab. Am liebsten würde sie eine Etage runterrennen und Manons Vater schütteln, aber ihre Besuche sind bisher wirkungslos geblieben. Vergebliche Liebesmüh. Pierre hört und sieht nichts mehr: Er ist wie aus der Welt gefallen.
Sophie lässt sich seufzend ins Sofa sinken. Die Kippe landet in dem Aschenbecher aus Salzteig, den ihr Manon zu Weihnachten geschenkt hat. Mit dem Absatz schiebt sie das Schminktäschchen und die Zeitschriften auf dem niedrigen Tisch beiseite, um ihre nackten Füße darauf abzulegen und bequemer nachdenken zu können.
Im Grunde war der Umzug aus der kleinen Wohnung neben der Kathedrale hierher eine der schlechtesten Entscheidungen ihres Lebens.
Als die helle Dreizimmerwohnung im Haus ihrer Schwester Anaïs, Manons Mutter, frei wurde, hatte sie die Gelegenheit beim Schopfe gepackt. Die fröhliche Stimmung während ihres Einzugs kommt ihr im Rückblick unwirklich vor. Manon war gerade in den Kindergarten gekommen. Sie sang vor sich hin, versteckte sich in den großen Kartons und jubelte vor Freude, wenn Sophie sie mit gespieltem Schreck entdeckte. Pierre neckte sie, während er ihre Schildkrötensammlung auf dem Kaminsims aufbaute. Ihre Schwester montierte Lampen, räumte Bücher in die Regale und stibitzte sich eine Zigarette. Sie freute sich, dass Sophie wieder Tür an Tür mit ihr lebte.
Das ist nun fünf Jahre her. Gefangen in ihrer hellhörigen Wohnung hat Sophie seither viel mitbekommen, ist immer tiefer in ihr Sofa gesunken und hat die Fernbedienung strapaziert, um die vertrauten Stimmen zu übertönen. Manchmal wurde ihr übel von dem unerträglichen Gefühl, erneut ihre Kindheit zu durchleben. Wenn sie Pierre am nächsten Tag im Treppenhaus traf, lächelten sie einander gequält an und wechselten ein paar Worte über das Wetter.
Dann saßen die Schwestern mit einem Kaffee bei der einen oder der anderen, und Sophie tröstete Anaïs, indem sie ihre Geschichten über all jene Frauen anhörte, die ihre Kinder nicht während der Schwangerschaft verloren hatten. Anaïs klammerte sich an diese Hoffnung, denn sie war besessen von dem Gedanken an ein zweites Kind.
Als Sophie wieder auf dem Balkon steht und auf den über ein Buch gebeugten Kopf starrt, erinnert sie sich an die ersten Tage nach dem Verschwinden ihrer Schwester.
Sophie läuft schnell, sie ist zu dünn angezogen und halb erfroren, als wollte sie sich für etwas bestrafen, als wollte sie mit dem Winter verschmelzen. Ein paar Flocken fallen auf ihr Gesicht. Die Welt gleicht einem seltsamen Universum aus weißen Dächern und Bäumen, in dem Leute unter dicken Kapuzen verborgen über vereiste Bürgersteige schlittern. Der Schnee erstickt den Verkehrslärm, Sophies Atem bildet eine Dampfwolke. Sie eilt durch die Straßen und hofft, dass die Kälte ihre Sorgen betäubt.
Im Park, der wegen Rutschgefahr geschlossen bleibt, ist der Teich zugefroren. Kinder beobachten durch die Gitter, wie Schwäne versuchen, auf dem Eis das Gleichgewicht zu halten. Ihr hilfloses Watscheln löst Lachsalven aus, die in Sophies Ohren unangenehm dröhnen. Jede Freudenbekundung ist ihr zuwider, die weiß getünchte Welt ein krasser Gegensatz zur Dunkelheit ihrer Gedanken.
Mit einer Zigarette in der zitternden Hand gelangt Sophie zur Place Général-Mellinet. Stalaktiten wachsen unter dem ausgestreckten Arm der großen, mit Eis überzogenen Statue, die unbeeindruckt (der General hat während der napoleonischen Kriege ganz andere Schneemassen gesehen) mit dem Finger in die Ferne zeigt.
Sophie beschließt, nach Manon zu sehen. Seit die Kleine und ihr Vater vor drei Tagen die Briefe von Anaïs gefunden haben, verkriechen sie sich in ihrer Wohnung und haben jede Verbindung zur Außenwelt abgebrochen.
Als sie das Foyer betritt, tauen ihre eisigen Hände prickelnd auf. Sophie geht die zwei Etagen zu Fuß. Sie klingelt einmal, zweimal, dreimal. Keine Reaktion. Dann öffnet sie die Tür mit ihrem eigenen Schlüssel.
Niemand im Wohnzimmer. Auf dem Tisch stehen Teller mit vertrockneten Ketchupnudeln, eine Tasse mit einem Rest Kakao, leere Bierflaschen.
Manon und Pierre sind in ihren Zimmern.
Sophie begrüßt ihren Schwager durch die Tür hindurch. Mit Grabesstimme erklärt er, er werde gleich aufstehen. Aber nichts geschieht.
Nachdem sie angeklopft hat, tritt sie vorsichtig in Manons Zimmer. Die Kleine liegt unter der Bettdecke, ihr Kopf ist in ein blaues Tuch gehüllt. Unter dem Kopfkissen sieht ein Brief hervor.
Das Tageslicht wird von den Fensterläden gedämpft. Draußen fallen wieder Flocken, der Schnee liegt schwer auf der Birke. Manon reagiert nicht, als Sophie hereinkommt, und rührt sich auch nicht, als sie ihre bemüht fröhliche Stimme erkennt.
Ganz vorsichtig zieht Sophie an einer Ecke des Tuches. Mit einem Seufzer dreht sich Manon zur Wand. Ihr Haar wird schon etwas fettig.
Als Sophie sie leise fragt, wie es ihr gehe, antwortet sie mit erstickter Stimme: »Geh weg!« Sophie gibt sich nicht geschlagen und legt die Hand auf die Decke, unter der sich Manons Arm sofort verkrampft: »Wollen wir uns nicht unterhalten?« Manon antwortet scharf: »Bloß nicht! Lass uns in Ruhe, wir brauchen dich nicht.«
Sophie erstarrt. Noch nie hat Manon ihr solche Ablehnung entgegengebracht. Das dünne Stimmchen fordert mehr, als es fragt: »Gehst du jetzt endlich?«
Sophie kehrt zurück in die Gegenwart. Die Birke lässt wieder ihre zartgrünen Frühlingsblätter rauschen. Plötzlich ist ihr sehr heiß, der letzte Satz hallt in ihrem Kopf: »Gehst du jetzt endlich?«
Sie schüttelt den Kopf, fühlt sich grundlos schuldig. Wenn sie für ihre Schwester ein zweites Kind hätte austragen können, sie hätte es auf der Stelle getan. Das aber war unmöglich.
Sie sieht auf die Uhr. Genug gegrübelt.
Während Anatole auf den Fahrstuhl wartet, ärgert er sich über sich selbst. Ist es nicht lächerlich, dass er sich von einem kleinen Mädchen so einschüchtern lässt? Ausgerechnet er, wo er doch sein ganzes Berufsleben damit verbracht hat, ältere und schwierigere Kinder zu bändigen?
Ihn beeindruckt ihre Ernsthaftigkeit. Und er würde gern mehr von ihr wissen. Ihre Monologe mit den Katzen und Ameisen, ihr konzentrierter Gesichtsausdruck, wenn sie liest, ihr entrückter Blick, wenn sie in die Ferne starrt, all das berührt ihn. Er erinnert sich an eine blonde Frau, sie sah ein bisschen aus wie Grace Kelly, die das Kind an der Hand hielt: Seit Monaten hat er sie nicht mehr gesehen.
Während Anatole den Schlüssel ins Schloss steckt, hängt er weiter seinen Gedanken nach. Seine Schulterknochen knacken, als er die Jacke auszieht.
Im Wohnzimmer legt er die Zeitung sorgfältig auf das niedrige Tischchen. Er liebt Symmetrien, parallele Ränder, die Fernbedienung schön gerade. Dann setzt er sich in seinen Voltairesessel. Seit er vor fast zwanzig Jahren in Rente gegangen ist, verbringt er darin den größten Teil seiner Zeit. Wenn sie seinen Körper irgendwann in das Samt eines Sargs legen, dürfte die Umstellung nicht allzu groß sein. Bis dahin sieht er zwischen zwei Nickerchen fern oder liest in einem der Klassiker aus seiner Bibliothek.
An den Wänden hängen ein paar Vogelfotos, neben dem Fenster ein Aquarell, das ein Boot auf einem von Eschen gesäumten Teich zeigt. Hinter dem Kiel beginnt sich der zerrissene Film der Wasserlinsen wieder zu schließen.
Anatole seufzt. Ein Leben am Lehrerpult, erklären, scherzen, zuhören, korrigieren, ein Leben lang geduldig die Liebe zur Literatur vermitteln, oft genug ins Leere, und das alles, um allein vor dem Fernseher zu enden.
Und nun plötzlich, da er nichts mehr erwartet, setzt sich ein kleines Mädchen unter die Birke und fängt an, mit den Katzen, dem Wind und den Wolken zu sprechen.
Er läuft durchs Zimmer, auf der Suche nach einer Idee. Sein Blick fällt auf den Schnitt eines großen illustrierten Buches. Natürlich! Warum ist er nicht früher darauf gekommen? Jetzt weiß er, woran ihn das kleine Mädchen erinnert. Anatole mustert den Einband: ein winziger Planet, Vulkankrater, eine Rose und ein blonder Junge inmitten der Sterne, blaue, verträumte Augen, sein im Wind wehendes Halstuch.
Er drückt das Buch an sich und geht, ohne noch einmal die Jacke anzuziehen, geradezu beschwingt die Treppe wieder hinunter. Im Garten zögert er erneut, das viel zu ernste Kind anzusprechen, das mit einem Stock Furchen für die Ameisen zieht.
Dann nimmt er seinen ganzen Mut zusammen, geht zu ihr und begrüßt sie mit zugeschnürter Kehle:
»Guten Tag. Ich wohne unter euch, im ersten Stock, ich glaube, wir haben uns schon mal getroffen.«
Sie nickt überrascht. Dann wandert ihr Blick zu dem Buch.
»Kennst du das?«, fragt der Alte.
»Der Kleine Prinz«, antwortet sie wie aus der Pistole geschossen.
»Hast du es gelesen?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Ich habe bei meiner Cousine die Bilder gesehen, als ich klein war. Ich erinnere mich an einen Jungen, der ganz allein auf seinem Planeten wohnt.«
»Ich sollte mich besser nicht neben dich setzen, sonst kann ich nachher vielleicht nicht wieder aufstehen. Aber wenn du willst, kann ich es dir auf der Bank vorlesen.«
Sie zögert einen Moment. Dann sammelt sie rasch ihre Bücher zusammen und klopft ihre Hose ab. Anatole beobachtet die beiden Katzen neben ihr, die beunruhigt ihren Bewegungen folgen. Er wird sich keine Freunde machen.
»Wie heißt du?«
»Manon. Und Sie?«
»Anatole.«
»Ein Junge in meiner Klasse heißt auch so.«
Er lächelt.
»Anscheinend kommen die alten Namen wieder in Mode.«
Das Mädchen folgt ihm durch den Garten. An der Mauer duftet Flieder. Die mit der Zeit verblichene Holzbank vor den alten Steinen und dem blühenden Strauch scheint auf sie zu warten. Manon setzt sich neben den alten Mann, der sich ungelenk wie ein Roboter niedergelassen hat. Sie wahrt einen gehörigen Abstand, um seinen alterssteifen Arm nicht zu berühren, und beobachtet ihn aus dem Augenwinkel: Seit Monaten ist es das erste Mal, dass jemand ihr Interesse weckt. Es ist auch das erste Mal, dass ihr jemand etwas vorlesen möchte.
Anatole räuspert sich und streicht mit seinen faltigen Fingern über den Einband. »Also dann«, sagt er und schlägt die erste Seite auf. Doch Manon unterbricht ihn, noch bevor er mit dem Lesen begonnen hat. Sie möchte gern mehr über den Alten erfahren. Bisher hat sie ihn immer nur schimpfen gehört. Sie fragt, was er gemacht hat, bevor er alt war.
Er lächelt unwillkürlich. Sein weißes Haar ist zu dünn gesät, um die braunen Flecken auf dem Schädel zu verstecken, und seine Stirn so runzlig wie die Rinde eines Rot-Ahorns. Während er die an einer Kordel hängende Brille aufsetzt, erklärt er, dass er Französischlehrer gewesen sei. Sie denkt einen Moment nach und fragt, ob er streng war.
Anatole spürt die Sorge hinter der Frage. Er möchte Manon gern beruhigen, und taucht tief in seine Erinnerungen ein: Er sieht sich, wie er mitten im Winter mit lauter Stimme undisziplinierte Schüler hinaus auf den eisigen Hof schickt und ihnen verbietet, wieder reinzukommen, bevor die Kälte sie zur Vernunft gebracht habe. Dann antwortet er etwas unbehaglich: »Nicht so sehr, nein.« Manons Gesicht entspannt sich.
Nun endlich richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf die Illustration der ersten Seite, einen verbeulten braunen Hut. Der Autor, Antoine de Saint-Exupéry, war ein Erwachsener, der nie vergessen hat, dass er ein Kind war, bevor er erwachsen wurde. In einer Welt voller Kriege und Enttäuschungen, in einer Welt, wo Fantasie von einem gewissen Alter an nicht mehr gefragt war, blieb er immer ein bisschen Kind. Er trug immer diese Zeichnung bei sich, die er als kleiner Junge gemacht hatte und die niemand deuten konnte: Was aussieht wie ein unförmiger Hut, dessen Rand auf der einen Seite viel länger ist als auf der anderen, stellt in Wirklichkeit eine Boa da, die einen Elefanten verdaut.
Anatole freut sich, dass er Manon ein kleines Lachen entlockt. Der Zeichner des Hutes, der keiner ist, verlor den Mut. Die Großen, die nichts begriffen, empfahlen ihm, sich lieber für Geografie, Rechnen und Grammatik zu interessieren. Also gab er seine Laufbahn als Maler auf und wurde Pilot.
Aber er fühlte sich immer einsam. Bis zu einer Panne, die ihn eines Tages zwang, in der Sahara zu landen. Am nächsten Morgen kam ein seltsamer Junge mit einem ungewöhnlichen Wunsch zu ihm:
»Bitte … zeichne mir ein Schaf.«
Die tiefe, ruhige Stimme des Lehrers betont jede Silbe, wie ein Theaterschauspieler. Manon hängt an seinen Lippen.
Als der Pilot das Einzige zeichnet, was er kann, nämlich einen zerbeulten Hut, und der blonde Junge ruft: »Nein! Ich will keinen Elefanten in einer Boa, ich brauche ein Schaf«, unterbricht ihn das Mädchen aufgeregt: »Er ist der Erste, der es versteht!« Anatole räuspert sich und liest weiter. Eine Katze schmiegt sich an Manons Beine, sie streichelt sie, ohne das Buch aus den Augen zu lassen. Anatole verbirgt seine Verwunderung darüber, dass sie dem schnurrenden Tier zweimal über den Kopf und fünfmal über den Rücken streicht und diese Bewegungen unablässig wiederholt.
Manon erfährt, dass der Kleine Prinz von einem Planeten kommt, der nicht größer als ein Haus ist und auf dem es drei Vulkane gibt, die er jeden Tag putzt. Das Schaf, das er sich wünscht, soll die Affenbrotbäume fressen, die seinen Planeten bedrohen. Der Kleine Prinz hat eine Rose zurückgelassen, die ihm sehr fehlt, die einzige, die es geschafft hat, bei ihm zu wachsen. Diese Blume ist der Mittelpunkt seines Lebens. Aber sie war zu anspruchsvoll, weshalb er weggefahren ist, um andere Welten zu erkunden.
Manon ist verzaubert. Aber es wird spät: Anatoles Abendessen beginnt Punkt neunzehn Uhr. Er klappt das Buch zu. Als ihn seine kleine Nachbarin enttäuscht ansieht, schlägt er ihr vor, am nächsten Tag nach der Schule weiterzulesen. Ihre Wangen röten sich, während sie nickt und ein Lächeln andeutet.