Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
Erste Stunde
Zweite Stunde
Dritte Stunde
Vierte Stunde
Fünfte Stunde
Sechste Stunde
Siebte Stunde
Achte Stunde
Neunte Stunde
Epilog
Glossar
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Nr. 2046
Neun Stunden zur Ewigkeit
Der Chronist von ES gibt den Startschuss – der Countdown zu einem kosmischen Ereignis
von Ernst Vlcek
Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Nach wie vor ist die SOL mit ihrer Besatzung in der Vergangenheit gestrandet, nach wie vor gibt es für das alte Generationenraumschiff keine Möglichkeit zur Rückkehr in die Gegenwart. Durch einen Abgrund von 18 Millionen Jahren von ihren Gefährten in der heimatlichen Milchstraße getrennt, kämpfen Atlan und seine Begleiter seit einiger Zeit in der Galaxis Segafrendo.
In Segafrendo tobt seit über tausend Jahren ein fürchterlicher Krieg. Die mörderischen Mundänen haben die friedliche Kultur der Galaktischen Krone so gut wie zerstört. In wenigen Jahren werden die Invasoren diese Galaxis komplett beherrschen und in die Mächtigkeitsballung der Superintelligenz K'UHGAR eingegliedert haben. Und die Menschen an Bord der SOL wissen, dass sie bei diesem Konflikt praktisch nichts ausrichten können.
Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Sie sollen einen Auftrag der Superintelligenz ES erfüllen. Schaffen sie das nicht, droht der Untergang der Menschheit in der Real-Gegenwart. Auf dem Planeten Auroch-Maxo-55 konnte man einen sogenannten Kym an Bord nehmen. Und der SOL gelang sogar die Flucht aus dem Orbit der vor der Vernichtung stehenden Wasserwelt.
Das Hantelraumschiff erreichte einen unglaublich wirkenden Kosmos: das INSHARAM. Der fremdartige Raum, der wie ein eigenes kleines Universum wirkt, ist so etwas wie eine Kinderstube. Hier reifen mächtige Wesen zu noch mächtigeren Entitäten heran – hier entstehen Superintelligenzen.
Und hier kommt es zu einem Ereignis von kosmischer Bedeutung: Es sind nur noch NEUN STUNDEN ZUR EWIGKEIT …
Atlan – Der Arkonide wird Zeuge eines kosmischen Ereignisses.
Mondra Diamond – Die ehemalige TLD-Agentin kämpft um das Schicksal ihres Kindes.
Delorian Rhodan – Ein Kind wird zum Zentrum des Geschehens.
Ronald Tekener – Als Vertreter Atlans geht der Smiler auf Mission.
Ruyde Kerima Bassa – Die Älteste der Evoesa erwartet Schlimmes für ihr Volk.
Das INSHARAM ist eine Stätte, wo gewisse Entitäten zu Superintelligenzen werden können. Es ist aber nicht so, dass Superintelligenzen nur im INSHARAM entstehen können.
Viele Superintelligenzen sind ohne die Unterstützung des INSHARAM ausgekommen. Das hängt immer von den Begleitumständen ab.
Aber K'UHGAR ist einst hier entstanden. Und ES auch.
DER CHRONIST VON ES
Erste Stunde
Déjà vu
Selten hatte sich der Arkonide in einem Raum aufgehalten, den er als fremdartiger empfinden konnte: In seinem Raumanzug schwebte er in einem sogenannten Psi-Ozean, der sich in einem eigenen kleinen Universum ballte, das sich weit außerhalb des »normalen« Universums befand.
Die Flüssigkeit bewegte sich träge, sie folgte wechselnden Schwerkraftverhältnissen, die für schwankende Strömungen sorgten. Atlan spürte trotz aller Schutzvorkehrungen, wie die flüssige Psi-Materie an seinem Anzug zerrte, wie sie ihn hin und her treiben ließ.
Und er sah das Wesen vor sich, das entfernt einer großen Seekuh ähnelte, wie sie in den Ozeanen der Erde lebten. Es schwebte ebenfalls durch die Flüssigkeit, ließ sich treiben und bewegen, schien damit aber keinerlei Probleme zu haben. Kein Wunder – dieses Wesen lebte in diesem seltsamen Umfeld, fühlte sich dort zu Hause.
»Ich bin Ruyde Kerima Bassa«, hatte sich das Wesen vorgestellt, nachdem der Translator erstaunlich schnell für eine Kommunikation gesorgt hatte, »die Älteste meines Volkes, der Evoesa. Wir sind die Hüter des INSHARAM.«
Atlan hatte sich einen Augenblick lang gewundert, warum der Translator die Ultraschallsprache so schnell entschlüsselt hatte. Noch während er die ersten Sätze mit der Evoesa wechselte, tippte der Arkonide eine kurze Frage in die kleine Tastatur seines Multifunktionsarmbandes.
»Diese Sprache wirkt streng schematisch, ist leicht zu entschlüsseln«, meldete eine kleine Leuchtschrift, die so auf die Innenseite von Atlans Helm projiziert wurde, dass seine Gesprächspartnerin nichts davon wahrnehmen konnte. »Wahrscheinlich mit Rechnerhilfe erzeugt.«
Der Aktivatorträger nickte. Irgendwie schien das zu passen. Während er mit einem Satz beginnen wollte, bemerkte er, dass ihn ein Alarmruf aus der SOL erreichte. Fee Kellind meldete sich.
»Der Kokon von ES wird gerade wieder aktiv«, flüsterte die Stimme der SOL-Kommandantin aufgeregt in seinem durchsichtigen Raumhelm. »Es wäre ratsam, dass du an Bord kommst.«
»Ich bin schon unterwegs«, sagte Atlan, ohne zu zögern. »Mit den Evoesa ist im Augenblick alles geregelt.«
»Heißen diese seltsamen Wesen so – Evoesa?«, fragte Fee Kellind, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie fragte sofort weiter: »Wie ist es gelaufen? Werden sich die Angriffe wiederholen?«
»War alles nur ein Missverständnis«, sagte Atlan. »Ich berichte gleich alles, wenn ich wieder an Bord bin. Ich komme sofort!«
Atlan bedauerte es aufrichtig, die Unterhaltung mit der Evoesa so abrupt abbrechen zu müssen. Die verschiedenartigen Wesen hätten einander noch viel zu berichten gehabt.
Die aktuellen Informationen von ES gingen natürlich vor, sie waren für den weiteren Verlauf der SOL-Mission unter Umständen von grundsätzlicher Bedeutung.
Also verabschiedete sich der Arkonide von der Evoesa mit dem Versprechen, dass sie ihr Gespräch bei der ersten sich bietenden Gelegenheit fortsetzen würden. Und das meinte er ernst.
»Wir werden hier draußen auf dich warten«, versprach Ruyde Kerima Bassa geradezu feierlich. »Friede sei mit dir.«
»Und mit euch«, reagierte Atlan.
Zum Abschied berührte er eine der vorderen flossenartigen Extremitäten Ruyde Kerima Bassas mit seiner Rechten. Es war wie ein Handschlag. Sie schien die Bedeutung dieser Geste instinktiv zu begreifen, denn sie zeigte keinerlei Befremden.
Als der Arkonide in seinem Raumanzug, der zum Taucheranzug geworden war, durch die psi-materielle Flüssigkeit des INSHARAM zurück zur SOL glitt, blickte er nicht zurück. Er wusste, dass ihn über hunderttausend Evoesa mit ihren seltsamen Sinnen beobachteten.
Und er fragte sich, ob die Evoesa alle zusammen die Kraft gehabt hätten, die SOL mitsamt ihrer Mannschaft zu vernichten. Atlan hoffte, dass er die Antwort darauf nie bekommen würde. Die Missverständnisse waren hoffentlich ausgeräumt, vielleicht würde man auch bald die seltsamen Wesen im INSHARAM besser verstehen.
Atlan erreichte das Hantelschiff und gelangte durch ein Mannschott an Bord. Sofort entledigte er sich des Raumanzugs, betrat einen Transmitter in der Nähe der Schleusenkammer und kam direkt in der Kommandozentrale des Hantelraumers heraus. Alle wichtigen Offiziere der SOL und die Aktivatorträger standen um den Kokon herum, den Lotho Keraete im Namen von ES dort installiert hatte.
Der Haluter Icho Tolot überragte alle anderen, obwohl er sich für seine Verhältnisse dezent im Hintergrund hielt. Der schwarzhäutige Riese wich zur Seite, als der Arkonide kam, so dass dieser ohne Problem zu dem Kokon treten konnte.
Neben den Aktivatorträgern Ronald Tekener und Dao-Lin-H'ay standen die Wissenschaftler Myles Kantor und Tangens. Die beiden Forscher, sonst häufig sehr uneins in ihren Ansichten und Methoden, wirkten angespannt, die Erwartung und die Neugier standen beiden ins Gesicht geschrieben.
»Ich dachte, ihr seid damit beschäftigt, den Kym zu untersuchen«, sagte Atlan ohne Vorwurf zu den Wissenschaftlern.
»Das hier konnten wir uns beim besten Willen nicht entgehen lassen«, antwortete Tangens mit schiefem Grinsen. Er wies auf den Kokon. »Es sieht ganz so aus, als ob wieder einmal deine rechte Hand gefragt sei.«
Nun erst fand Atlan Gelegenheit, seine volle Aufmerksamkeit dem Kokon zu widmen. Dieser hatte noch immer weder seine Form, seine Größe oder seine Konsistenz verändert. Er war nach wie vor dasselbe achtzig Zentimeter lange Ellipsoid, das Lotho Keraete hinterlassen hatte.
Nur die Lade war ausgefahren. Jene Lade, in der sich eine negative Handform befand, die exakt auf Atlans Rechte abgestimmt war. Er hatte sie bereits zweimal benutzt. Beim ersten Mal, das war noch in der NACHT gewesen, hatte ihnen die Stimme von ES den Auftrag zur Bergung eines Kym-Jorier gegeben. Nach der Bergung des Kym hatte ES sie auf dieselbe Weise ins INSHARAM weitergeleitet.
Und nun waren sie hier, die Lade stand wieder offen und lud Atlan erneut ein, seine Hand hineinzulegen.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte der Arkonide ergeben.
Mit einem kurzen Achselzucken legte er seine Hand in die Lade. In der Kommandozentrale herrschte erwartungsvolle Stille. Alle hielten gespannt den Atem an.
Plötzlich erfüllte ein homerisches Gelächter die Zentrale. Es war dasselbe Gelächter, mit dem ES in der Vergangenheit immer wieder seine Auftritte angekündigt hatte.
Atlans Hand zuckte unwillkürlich zurück. Dem Arkoniden war sofort klar, dass es diesmal anders als bei den beiden vorangegangenen Malen sein würde.
Atlan hob den Blick, schaute um sich, als erwarte er irgendwo ein Zeichen von ES. Doch diese Reaktion verstärkte nur das homerische Gelächter, das von überall zu kommen schien. Atlan war leicht irritiert, er fühlte sich von der Superintelligenz in diesem Augenblick geradezu zum Narren gehalten.
»Da! Da!«, rief Fee Kellind plötzlich und deutete auf eine Stelle über dem Kokon. »Da tut sich etwas!«
Im selben Moment verstummte das Gelächter.
Atlan folgte der Richtung ihres ausgestreckten Zeigefingers und entdeckte über dem Kokon ein Flimmern. Das intensiver werdende Flimmerfeld erinnerte an einen zehn Zentimeter hohen Kreisel, der sich in rasender Rotation befand. Es verdichtete sich immer mehr, und aus dem rotierenden Kreisel schälte sich die Form einer humanoiden Gestalt von gerade zehn Zentimetern Größe.
»Wie niedlich!«, kommentierte Ronald Tekener amüsiert. »Das könnte ein Siganese werden.«
Aber der Smiler irrte. Was die Größe betraf, so stimmte sie mit einem Siganesen zwar überein, als aber das wirbelnde Flimmerfeld verpuffte, hatte sich zugleich die Gestalt eines Weißbärtigen manifestiert. Der Weißbärtige besaß jedoch keine lindgrüne Hautfarbe, sondern war vom Typus her eher ein Terraner – und zwar ein normal proportionierte Terraner, nur eben bloß zehn Zentimeter groß.
»Es wurde Zeit, dass du auftauchtest, Atlan«, begrüßte der Weißbärtige den Arkoniden mit volltönender Stimme, während er mit verschränkten Armen auf dem Kokon stand. »Ich habe mit meinem Erscheinen nur auf dich gewartet. Denn dies ist ein wichtiger Augenblick. Für ES und die Menschheit. Es ist der Tag der Entscheidung.«
Atlan war so irritiert, dass er die Inhaltsschwere dieser Worte gar nicht sofort begriff. Denn wiederum hatte er das Gefühl, dass er das Gesicht dieses alten, greisen Terraners unbestimmbaren Alters von irgendwoher kannte. Es waren vor allem diese Augen, ihr seltsam schelmischer und doch so unschuldig wirkender Blick, die ihm so vertraut vorkamen.
Die Tatsache, dass er aber nicht sagen konnte, woher er das Gesicht kannte, war für ihn, der sich eines photographischen Gedächtnisses rühmte, überaus verstörend. Solche Ungewissheiten dürfte es für ihn eigentlich nicht geben.
»Wen stellst du dar?«, fragte Atlan. »Du bist doch nicht ES in persona?«
Der Weißbärtige lachte verhalten. Aber es war nicht das für ES so charakteristische homerische Gelächter.
»Nein«, sagte er. »Ich bin nicht mit ES identisch. Ich bin nicht einmal eine Materialisation der Superintelligenz. ES hat mir lediglich diese Gestalt verliehen. Ich bin bloß der Chronist von ES.«
*
Diese Eröffnung sorgte für Unruhe. Die Umstehenden hatten voller Ungeduld auf diesen Moment gewartet, und nun fiel die Spannung von ihnen ab.
Atlan sagte über die aufbrandende Geräuschkulisse hinweg: »Es gibt dich, den Chronisten von ES, also wahrhaftig. Bisher kannte man dich nur als unbestätigten Begriff, hielt dich für eine Legende.«
Dass Legenden häufig auf Wahrheiten beruhen, solltest du doch längst wissen, spottete der Extrasinn. Atlan ignorierte ihn einfach.
»Nun, das haben Legenden oftmals an sich«, sagte der Chronist von ES heiter, »dass sie mehr Wahrheitsgehalt und Gültigkeit haben als so manche Dogmen. Mich gibt es schon von Anfang an, seit der Geburt von ES, und mich wird es geben, bis …«
Der Chronist verstummte auf einmal. Sein Mund blieb geschlossen, seine Miene schien wie erstarrt.
»Warum ist ES vom üblichen Schema abgewichen?«, wollte Atlan wissen, nachdem der Chronist in sein seltsames Schweigen verfallen war. »Was ist der Grund, dass ES dich als Boten geschickt hat? Dahinter muss doch eine besondere Absicht stecken.«
Es schien, als würden Atlans Worte den Weißhaarigen aus seiner kurzfristigen Erstarrung wachrütteln.
»Es war meine eigene Entscheidung«, bekannte der Chronist. »ES ist unendlich fern, sowohl in der Zeit wie auch im Raum. Die Superintelligenz kann uns nicht beistehen. Ich bin der Herr des Kokons, und ich war es, der euch die Aufgaben gestellt hat, die die Entstehung von ES und die Erhaltung der Menschheit ermöglichen sollen.«
Der Chronist von ES machte eine kurze Pause. Wieder wirkte die Miene des alten Terraners wie versteinert.
»Die Zeit drängt«, sagte er langsam, wobei er jedes Wort betonte. »Dies ist der Tag der Entscheidung. Da ihr gelegentlich zu unbeholfen und insgesamt zu unentschlossen in euren Entscheidungen seid, habe ich mich zum Eingreifen entschieden. Offensichtlich benötigt ihr etwas Unterstützung, einen Antreiber, damit ihr etwas weiterbringt.«
»Was kannst du uns vorwerfen?«, fragte Atlan herausfordernd. »Wir haben bisher alle von ES gestellten Forderungen erfüllt. Und zwar innerhalb der gestellten Frist.«
»Und das ist gut so, denn andernfalls gäbe es keine Menschheit mehr«, sagte der Chronist sarkastisch. »Aber es mangelt euch an zusätzlicher Initiative. Hat sich einer von euch – etwa du, Atlan – überhaupt schon einmal überlegt, ob nicht etwas zu machen wäre, ohne dass man dich mit der Nase darauf stößt? Ihr habt gewisse Voraussetzungen geschaffen, aber es gibt noch Unvollendetes, Unerledigtes, das förmlich danach schreit, zu einem Ende gebracht zu werden!«
Atlan ahnte, worauf der Chronist anspielte. Sie hatten einen Ableger des Pflanzenvaters Arystes an Bord. Und sie hatten einen Kym geborgen. Das war zwar kein Kym-Jorier, wie ES ihnen aufgetragen hatte oder eben dieser Chronist im Namen von ES, aber immerhin ein »Ei«, aus dem ein Kym-Jorier schlüpfen könnte. Und sie hatten, wie aufgetragen, sogar zeitgerecht das INSHARAM erreicht.
Doch das waren Puzzle-Teile, von denen sie nicht wussten, wie sie zu handhaben und zusammenzusetzen waren. Sie waren auf neue Instruktionen angewiesen … Oder doch nicht? War es so, wie der Chronist von ES andeutete? Erwartete die Superintelligenz von ihnen, dass sie von selbst auf die Lösung des Problems kamen? Offenbar war es wirklich so.
Dies war der Tag der Entscheidung!
»Ich verstehe«, sagte Atlan. »Wir haben in deinen Augen versagt. Aber noch nicht komplett. Wir arbeiten an einer Lösung der umfangreichen Probleme. Der Kym wird gerade von drei unserer Spezialisten untersucht …«
»Das ist doch Unsinn!«, fiel ihm der Chronist von ES ins Wort. »Diese sogenannten Spezialisten haben noch nichts erreicht. Und ich kann euch keine Gnadenfrist, keinen Aufschub gewähren. Erinnert euch meiner Botschaft, sie ist absolut ernst gemeint. Ich muss sie doch nicht wiederholen?«
»Nein, das ist wohl nicht nötig«, sagte Atlan. »Die Konsequenzen sind durchaus verstanden worden.«
Das war kein leeres Gerede. Alle Besatzungsmitglieder wussten, was vom Gelingen ihrer Mission abhing. Wenn die SOL versagte, würde alles zunichte gemacht werden, was sie bisher für unumstößliche Realität gehalten hatten.
Eine andere Realität würde wahr werden. Eine Realität, in der es keine Menschheit gab und in der ES nie entstanden war, in der es ergo auch keinen Chronisten von ES gab.
Und nun war offensichtlich jener Tag angebrochen, an dem sich entscheiden sollte, wie sich die Zukunft gestalten würde. Sie hatten es in der Hand, den Verlauf der nächsten 18 Millionen Jahre zu bestimmen.
Was für eine Verantwortung! Klang die flüsternde Stimme des Logiksektors spöttisch, oder drückte sie so etwas wie Anerkennung aus? Atlan wunderte sich, dass der Extrasinn keine konkreten Aussagen traf. Weil du auch selbst etwas denken kannst, Narr!, kam die nicht überraschende Reaktion.
»Ich merke schon, ihr habt den Ernst der Lage wohl erkannt, Atlan«, sagte der Chronist von ES ernst. »Aber ich erkenne ebenso, dass ihr ohne gewisse Anstöße nicht weiterkommt.«
»Bedeutet das, du wirst uns bei der Lösung unserer Probleme helfen, Chronist?«, erkundigte sich Atlan.
»Meine Befugnisse sind eingegrenzt«, antwortete der Weißhaarige. »Und schließlich ist es eure Mission, nicht die meine oder gar die von ES.« Bei diesen Worten kicherte der Chronist in sich hinein, so als amüsierten sie ihn ungemein. »Aber ich fürchte, dass ihr nicht von selbst hinter die grundlegendsten Dinge kommt.«
»Was wäre das zum Beispiel?«, fragte Atlan.
Die siganesengroße Gestalt des Weißbärtigen winkte ab. Wollte er damit dieses Thema nur aufschieben?
»Da wäre noch eine Kleinigkeit zu meiner Person anzumerken«, sagte er stattdessen. »Der heutige Tag wird der letzte sein, den ich erlebe. Denn heute endet für mich jegliche Geschichte.«
Atlan wusste nicht recht, was er von diesem Ausspruch halten sollte. Aber er war sicher, dass es sich nicht bloß um leeres Gerede handelte.
Wenn ich nur wüsste, wo ich dieses Gesicht einordnen soll!, dachte er verzweifelt. Sein Extrasinn schwieg, als wüsste er es auch nicht.
*
Bei der Geburt von ES haben eine Reihe ungünstiger Komponenten mitgespielt. Diese haben den Entstehungsprozess der jungen Superintelligenz negativ beeinflusst.
Darum war ES nach seiner Entstehung ein eher schwächliches Wesen, das Belastungsproben aus dem Weg gehen musste, wie etwa dem Kräftemessen mit Dienern der Chaotarchen. Das galt auch nach der eigentlichen Weiterentwicklung, bei der die »Geburtshelfer« eine wichtige Rolle spielten.
Doch hat ES sich schließlich zu einer überaus kraftvollen Superintelligenz entwickelt. Ich muss wissen, wovon ich spreche, denn ich stand von Anfang an an der Seite von ES.
DER CHRONIST VON ES
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