Marc Löffler arbeitet als selbständiger Coach, Trainer und Facilitator. Seine Leidenschaft ist es, Menschen zum Lachen zu bringen und unsere Welt jeden Tag ein kleines bisschen zu verändern. Dabei stellt er Dinge gerne spielerisch auf den Kopf, um völlig neue Blickwinkel zu erzeugen. Er spricht regelmäßig auf agilen Konferenzen in Deutschland und Europa und schreibt Artikel zu agilen Themen auf seinen Blogs in Englisch unter blog.scrumphony.com und auf Deutsch unter www.marcloeffler.eu. In seiner Freizeit spielt er Saxofon in einem großen sinfonischen Blasorchester.
Retrospektiven in der Praxis
Veränderungsprozesse in IT-Unternehmen effektiv begleiten
Marc Löffler
Marc Löffler
marc@retrospektiveninderpraxis.de
Lektorat: Christa Preisendanz
Copy-Editing: Ursula Zimpfer, Herrenebrg
Herstellung: Birgit Bäuerlein
Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de
Druck und Bindung: M.P. Media-Print Informationstechnologie GmbH, 33100 Paderborn
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ISBN:
Buch 978-3-86490-144-7
PDF 978-3-86491-460-7
ePub 978-3-86491-461-4
1. Auflage 2014
Copyright © 2014 dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17
69123 Heidelberg
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Für Andrea, Nico und Ben
Neulich las ich in einer Tageszeitung folgende Geschichte: In Amman, Jordanien wartet ein Geschäftsmann in einem Hotel vor einem Hotelaufzug. Es handelt sich um eines der großen, noblen Hotels, bei denen sechs Aufzüge nebeneinander platziert sind, um der Kundennachfrage besser gerecht zu werden. Dieser Geschäftsmann wartet und wartet und der Aufzug kommt nicht. Das Problem ist, dass der Geschäftsmann so dicht vor dem Aufzug steht, den er angefordert hat, dass er noch nicht einmal bemerkt, dass einige der anderen Aufzüge längst auf seiner Etage angekommen sind. Wäre er zwei Schritte zurückgegangen, hätte er sein Ziel schneller erreicht.
Diese Geschichte macht deutlich, wie wir Menschen oft dazu tendieren, an einer getroffenen Entscheidung oder an einer einmal gemachten Erfahrung (z.B. der, dass der angeforderte Aufzug kommt und nicht ein anderer) festzuhalten. Dabei wird dann auch blind der einmal eingeschlagene Weg weiterverfolgt – »das haben wir schon immer so gemacht« oder »das war schon immer so« –, anstatt diesen kritisch zu beurteilen.
Die Grundidee von Retrospektiven ist, mit ihrer Hilfe innezuhalten, über den eingeschlagenen Weg nachzudenken und mittels einer (meist kleinen) Veränderung den Weg zu korrigieren, um dadurch zukünftig besser voranzukommen. Diese Vorgehensweise ist eigentlich in unserer DNA sogar verwurzelt – denn die korrekte lateinische Bezeichnung der menschlichen Rasse ist nicht, wie landläufig geglaubt wird, Homo Sapiens, sondern Homo Sapiens Sapiens. Das bedeutet der Mensch, der über das Denken nachdenkt (oder auch der Mensch, der zweimal überlegt). Genau dieses Nachdenken über unsere normalen, täglichen Erfahrungen und Aktionen steht im Mittelpunkt der Retrospektiven.
Oftmals ist in Projekten oder Firmen die Situation jedoch die, dass die einzelnen Mitarbeiter sehr wohl wissen, was alles zu verbessern wäre. Meist jedoch fehlt die Zeit, sich im Detail um diese Verbesserungsmöglichkeiten zu kümmern, und dadurch, dass sich nichts verändert, fehlt meist noch mehr Zeit. Das heißt, man befindet sich in einem Teufelskreis, der am treffendsten wohl mit der alten Volksweisheit ausgedrückt wird: Wir haben keine Zeit, die Säge zu schärfen, wir müssen sägen.
Retrospektiven sollten somit auch als Teil des Risikomanagements verstanden werden. Denn durch die ständige Analyse der Begebenheiten und den daraus folgenden Kurskorrekturen können Risiken schnell erkannt und entsprechend angegangen werden. Auch wenn sich Retrospektiven insbesondere in der agilen Softwareentwicklung etabliert haben und ihre Anwendung dort überhaupt erst für die Agilität sorgt – so können auch andere Bereiche von der regelmäßigen Durchführung von Retrospektiven profitieren.
Dies unter anderem aus dem Grund, dass – wie eine andere alte Volksweisheit ausdrückt – man aus Fehlern klug wird. Viele Unternehmen sind jedoch der Ansicht, dass Fehler machen ein Fehler sei und man es stattdessen doch gleich richtig machen sollte (englisch: Do it right the first time). Aber in unserer zunehmend komplexer werdenden Welt besteht nicht nur der größte Teil der Softwareentwicklung darin herauszufinden, was überhaupt benötigt wird. Auch in anderen Bereichen muss erst eruiert werden, welcher Weg am ehesten zum Ziel führt. Dazu müssen auch »falsche« Wege beschritten werden, da man andernfalls nicht herausfinden kann, welches überhaupt die richtigen Wege sind. Die richtigen Entscheidungen lassen sich deterministisch nur dann treffen, wenn wir so ein System schon einmal entwickelt haben, dann kann man sich allerdings fragen, warum wir dieses Unterfangen überhaupt nochmals auf uns nehmen. Das heißt, die Exploration ist inhärenter Bestandteil von Softwareentwicklung und heutzutage auch von vielen anderen Bereichen.
Darüber hinaus beinhaltet die Entwicklung oder Akzeptanz einer Fehlerkultur auch die Forderung, ständig dazuzulernen und dies auch zu wollen. Somit leisten Retrospektiven durch ihren Fokus auf ständiger Verbesserung auch einen Beitrag zur Etablierung einer lernenden Organisation.
Eine Retrospektive bietet nun nicht nur die Möglichkeit, zu überprüfen, was alles zu verbessern ist, sondern sich auch bewusst zu machen, was alles bereits gut funktioniert und was man bisher erreicht hat.
Manchmal macht sich ja auch eine große Frustration breit, weil die Mitarbeiter den Eindruck haben, dass alles schiefläuft. Beschäftigen sie sich dann in einer Retrospektive damit, was wirklich wie gemacht wird, so wird eigentlich immer festgestellt, dass einiges auch ganz gut funktioniert. Dies trägt dann wiederum zur höheren Motivation der Mitarbeiter bei.
Als mir Marc das erste Mal von seinem Vorhaben erzählt hat, war ich sofort total begeistert. – Begeistert deshalb, da dieses Buch überfällig war! Endlich gibt es ein umfassendes Buch zu Retrospektiven auf Deutsch. Darauf habe zumindest ich schon lange gehofft. Dafür bin ich ihm sehr dankbar!
Marc ist es mit diesem Buch gelungen, einen wirklich umfangreichen Überblick zu Retrospektiven zu geben, der nicht nur bewährte konkrete Methoden beinhaltet, sondern auch neueste Entwicklungen aufgreift und auf ihre tägliche Anwendbarkeit überprüft. Er behandelt auch nicht ganz einfache Themen, wie verteilte, systemische oder lösungsorientierte Retrospektiven, und macht diese praxistauglich.
Damit hat Marc ein Werk geschaffen, das für sich steht, das heißt, das ein solides Fundament bietet, durch das Retrospektiven für diejenigen konkret werden, für die dieses Thema noch neu ist. Darüber hinaus finden aber gerade auch die erfahrenen Retrospektiven-Moderatoren umfangreiche Anregungen, um die Retrospektiven effektiver zu gestalten und damit zu kontinuierlichem Lernen und Verbessern im Unternehmen beizutragen. Freuen Sie sich darauf, mit diesem Buch einen neuen Weg einzuschlagen oder einen bestehenden zu korrigieren!
Jutta Eckstein
Autorin von Agile Softwareentwicklung in großen Projekten und Agile Softwareentwicklung mit verteilten Teams
Schon bei meinem ersten Kontakt mit agilen Methoden hatten es mir die Retrospektiven besonders angetan. Für mich waren sie von Anfang an der Inbegriff des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses: Eine dedizierte Besprechung mit einer klaren Struktur, die in regelmäßigen Abständen stattfindet und bei der man gemeinsam über die letzten Wochen und Monate reflektiert, um potenzielle Verbesserungen daraus abzuleiten. Leider wird dieses regelmäßige Reflektieren in unserer Arbeitswelt allzu oft vergessen. Dadurch wird das verfügbare Potenzial gar nicht oder zu spät genutzt. An dieser Stelle fällt mir die Metapher mit dem Holzfäller ein. Dieser versucht einen Baum mit einer stumpfen Axt zu fällen. Statt sich die Zeit zu nehmen, danach zu forschen, warum er nur schwer vorankommt, macht er einfach weiter, weil er schnell fertig werden will. Würde er sich die Zeit zur Reflexion nehmen, würde er sofort feststellen, dass die Axt geschärft werden muss, und wäre somit am Ende schneller fertig. Mit Retrospektiven will man genau das unterstützen. Anstatt an der augenblicklichen, eventuell suboptimalen Arbeitsweise festzuhalten, sucht man gezielt nach Wegen, wie man diese verbessern kann.
Aus meiner Sicht sind Retrospektiven eine der tragenden Säulen eines erfolgreichen kontinuierlichen Verbesserungsprozesses und eines der besten Werkzeuge, um kulturelle Veränderungen in einer Organisation zu bewerkstelligen. Auch in traditionellen Change-Management-Initiativen können Retrospektiven einen wichtigen Beitrag leisten. Im Projektmanagement finden sie ihre Verwendung z.B. in »Lessons Learned«-Workshops. Natürlich kann man Retrospektiven auch im privaten Umfeld einsetzen. Sei es als Silvesterretrospektive mit der Familie am Ende des Jahres oder im Verein z.B. nach dem Jahreskonzert.
Da es sich bei einer Retrospektive nicht um eine normale Besprechung handelt, sondern vielmehr um einen Workshop, gibt es einige Dinge, die man beachten muss, damit man davon profitieren kann. Gleichzeitig hat man es bei Retrospektiven immer auch mit Veränderungen (in der Organisation) zu tun und wer sich mit diesem Thema schon beschäftigt hat, weiß, dass das nicht immer einfach ist. In diesem Buch habe ich versucht, all die Dinge zusammenzutragen, die für die Durchführung einer Retrospektive und das Etablieren eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses notwendig sind.
Obwohl Retrospektiven ein wichtiges Instrument sind, werden sie oft nur stiefmütterlich behandelt. Leider bin ich schon oft Zeuge von schlechten Retrospektiven geworden. Sei es, weil sie im »Zombie-Modus« abgehalten worden sind, schlecht moderiert und vorbereitet wurden oder schlicht keine Struktur hatten. Eine Retrospektive besteht eben nicht nur aus der Frage an das Team: »Also, was ist im letzten Sprint alles schlecht gelaufen?« Zu einer guten Retrospektive gehört mehr. Eine gute Retrospektive macht Spaß, ist abwechslungsreich, hat ein klares Ziel, ist sinnvoll und berücksichtigt das System, in dem das Team agiert. Beachtet man diese Dinge, ist man auf einem guten Weg. Mit diesem Buch möchte ich Sie auf diesem Weg begleiten und Ihnen dabei helfen, die Herausforderungen in Ihrem Umfeld zu bewältigen. Ich hoffe, dass dieses Buch für Sie eine wertvolle Hilfe beim Durchführen von Retrospektiven sein wird, und wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen.
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die direkt oder indirekt zu diesem Buch beigetragen haben. Vor allem bei all den Teams in den letzten Jahren, bei denen ich eine Retrospektive durchführen durfte.
Ein großer Dank geht an Ralph Miarka und Veronika Kotrba, die das Kapitel über lösungsorientierte Retrospektiven beigesteuert haben. Sie haben mir dadurch einiges an Recherche und Schreibarbeit abgenommen. Dieses Kapitel ist eine Bereicherung für dieses Buch.
Danke auch an Jutta Eckstein, die das Manuskript durchgesehen und mir wertvolle Hinweise gegeben hat, wie ich das Buch besser machen kann, und eine Expertenbox zum Buch beigesteuert hat. Es freut und ehrt mich sehr, dass sie das Geleitwort für dieses Buch geschrieben hat.
Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Christoph Pater, der das Buch von Anfang an unterstützt und bereits sehr frühe Versionen des Manuskripts durchgelesen hat. Seine hilfreichen Kommentare haben mir in dieser Anfangsphase sehr geholfen.
Bedanken möchte ich mich auch bei den beiden Rezensenten Rolf Dräther und Thorsten Oliver Kalnin, die durch ihre offene Kritik und Hinweise einen großen Anteil daran haben, wie das Buch heute vor Ihnen liegt.
Ich danke dem dpunkt.verlag, dass er es mir überhaupt erst ermöglicht hat, meinen Traum von einem eigenen Buch zu verwirklichen. An dieser Stelle geht ein besonderer Dank an Christa Preisendanz, die sich sehr für das Buch eingesetzt hat.
Ganz besonders möchte ich mich bei meiner Frau Andrea bedanken, die mir für das Buch den Rücken frei gehalten und mir dadurch erst ermöglicht hat, dieses Buch zu schreiben. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft. Danke auch an meine Kinder Nico und Ben, die in den letzten Monaten häufiger auf ihren Papa verzichten mussten.
Über Ihr Feedback, Ihre Anregungen oder praktischen Erfahrungen bei der Anwendung der im Buch beschriebenen Praktiken, freue ich mich sehr. Dazu schreiben Sie mir am besten eine E-Mail an marc@retrospektiveninderpraxis.de. Besuchen Sie außerdem die Internetseite zum Buch mit zusätzlichen Informationen, Neuigkeiten zum Thema Retrospektiven und nützlichen Checklisten unter www.retrospektiveninderpraxis.de.
Marc Löffler
Brigachtal, November 2013
1 Das 1×1 der Retrospektive
1.1 Was ist eigentlich eine Retrospektive?
1.2 Silvesterretrospektive
1.3 Das Retrospektiven-Phasenmodell
1.3.1 1. Phase: Den Boden bereiten
1.3.2 2. Phase: Hypothesen überprüfen
1.3.3 3. Phase: Daten sammeln
1.3.4 4. Phase: Einsichten gewinnen
1.3.5 5. Phase: Nächste Experimente und Hypothesen definieren
1.3.6 6. Phase: Abschluss
1.3.7 Zusammenfassung
1.4 Wo finde ich Aktivitäten für die Phasen?
1.4.1 Buch »Agile Retrospectives«
1.4.2 Retr-O-Mat
1.4.3 Retrospektiven-Wiki
1.4.4 Tasty Cupcakes
1.4.5 Buch »Game Storming«
1.5 Die »Prime Directive«
1.6 Zusammenfassung
2 Retrospektiven vorbereiten
2.1 Die Vorbereitung
2.1.1 Um welchen Zeitraum handelt es sich?
2.1.2 Wer soll an der Retrospektive teilnehmen?
2.1.3 Gibt es ein Thema?
2.2 Die richtige Zeit, der richtige Ort
2.3 Geeignetes Material
2.3.1 Die richtigen Stifte
2.3.2 Die richtigen Post-its
2.3.3 Das richtige Flipchartpapier
2.4 Essen
2.5 Die Agenda
2.6 Zusammenfassung
3 Die erste Retrospektive
3.1 Die Vorbereitung
3.2 Den Boden bereiten: Autovergleich
3.3 Daten sammeln: Mad, Sad, Glad, Afraid
3.4 Einsichten gewinnen: 5 Warums
3.5 Nächste Experimente definieren: Brainstorming
3.6 Abschluss: ROTI
4 Der Retrospektiven-Facilitator
4.1 Wie werde ich ein guter Facilitator?
4.2 Visual Facilitation
4.2.1 Das 1x1 der visuellen Gestaltung
4.2.2 Visuelle Retrospektiven
4.2.3 Inspirationsquellen für Visual Facilitation
4.3 Intern oder extern?
4.3.1 Tipps für interne Facilitatoren
4.3.2 Externe Facilitatoren
4.4 Nach der Retro ist vor der Retro
5 Von der Metapher zur Retrospektive
5.1 Die Orchesterretrospektive
5.1.1 Den Boden bereiten
5.1.2 Daten sammeln
5.1.3 Einsichten gewinnen
5.1.4 Experimente und Hypothesen definieren
5.1.5 Abschluss
5.2 Die Fußballretrospektive
5.2.1 Vorbereitung
5.2.2 Den Boden bereiten
5.2.3 Daten sammeln
5.2.4 Einsichten gewinnen
5.2.5 Nächste Experimente und Hypothesen definieren
5.2.6 Abschluss
5.3 Die Zugretrospektive
5.3.1 Den Boden bereiten
5.3.2 Daten sammeln
5.3.3 Einsichten gewinnen
5.3.4 Nächste Experimente und Hypothesen definieren
5.3.5 Abschluss
5.4 Die Küchenretrospektive
5.4.1 Den Boden bereiten
5.4.2 Daten sammeln
5.4.3 Einsichten gewinnen
5.4.4 Nächste Experimente und Hypothesen definieren
5.4.5 Abschluss
5.5 Die Piratenretrospektive
5.5.1 Den Boden bereiten
5.5.2 Daten sammeln
5.5.3 Einsichten gewinnen
5.5.4 Nächste Experimente und Hypothesen definieren
5.5.5 Abschluss
6 Systemische Retrospektiven
6.1 Systeme
6.1.1 Statische und dynamische Systeme
6.1.2 Kompliziert und komplex
6.2 Systemdenken
6.2.1 Causal-Loop-Diagramme
6.2.2 Current Reality Tree
6.2.3 Grenzen des systemischen Denkens
6.3 Komplexitätsdenken
6.3.1 Martie – das Management-3.0-Modell
6.3.2 Das ABIDE-Modell
7 Lösungsorientierte Retrospektiven
Veronika Kotrba MC und Dr. Ralph Miarka MSc
7.1 Retrospektiven? Wir schauen nach vorne!
7.2 Der lösungsorientierte Ansatz
7.3 Eine lösungsorientierte Retrospektive in fünf Schritten
7.3.1 Eröffnen
7.3.2 Ziel setzen
7.3.3 Sinn finden
7.3.4 Handlungen initiieren
7.3.5 Ergebnisse prüfen
7.3.6 Eine lösungsorientierte Kurzretrospektive
7.3.7 Zwischen den Retrospektiven
8 Verteilte Retrospektiven
8.1 Formen verteilter Retrospektiven
8.1.1 Mehrere verteilte Teams
8.1.2 Teams mit einzelnen verteilten Mitarbeitern
8.1.3 Verstreutes Team
8.2 Die richtigen Tools
8.2.1 Web Whiteboard
8.2.2 Stormz Hangout
8.2.3 Lino
8.3 Allgemeine Tipps für verteilte Retrospektiven
9 Alternative Vorgehensweisen
9.1 Arbeitsretrospektiven
9.1.1 Den Boden bereiten
9.1.2 Aufgaben sammeln
9.1.3 Arbeitsphase
9.1.4 Erfahrungen
9.2 Glückskeks-Retrospektive
9.3 Powerful Questions
10 Typische Probleme und Fallstricke
10.1 Schlechte Vorbereitung
10.2 Viel diskutiert, aber keine Ergebnisse
10.2.1 Gegensätzliche Meinungen
10.2.2 Entscheidungsschwäche
10.2.3 Keine klaren Zeitrahmen
10.3 Zu viele Ergebnisse
10.4 Desinteresse für (weitere) Verbesserungen
10.4.1 Verbesserungen werden nie umgesetzt
10.4.2 Verbesserungen haben keinen Effekt
10.4.3 Das Team bekam nicht genügend Zeit
10.5 Fokus auf Negatives
10.6 Fokus auf sachliche Themen
11 Change Management mit Retrospektiven
11.1 Agiles Change Management
11.2 Veränderungsprozesse initiieren
11.2.1 Den Boden bereiten
11.2.2 Daten sammeln
11.2.3 Einsichten gewinnen
11.2.4 Nächste Experimente und Hypothesen definieren
11.2.5 Abschluss
11.3 Veränderungsprozesse begleiten
11.3.1 Den Boden bereiten
11.3.2 Hypothesen überprüfen
11.3.3 Daten sammeln
11.3.4 Einsichten gewinnen
11.3.5 Nächste Experimente und Hypothesen definieren
11.3.6 Abschluss
11.4 Zusammenfassung
Quellenverzeichnis
Index
Die Retrospektive (lat. retrospectare »zurückblicken«) bezeichnet im Allgemeinen einen Rückblick [Wikipedia 01]. Wenn man abends ins Bett geht und vor dem Einschlafen den Tag Revue passieren lässt, dann ist das eine Retrospektive. Wenn man mit der Familie beim Abendbrot miteinander über den vergangenen Tag spricht, die Kinder von der Schule erzählen und die Eltern von ihren Erlebnissen, dann ist auch das eine Retrospektive. Blickt man zurück auf das Lebenswerk eines Künstlers, eines Autors, eines Regisseurs oder anderer Personen, dann spricht man ebenfalls von einer Retrospektive. Dazu finden dann verschiedene Veranstaltungen statt, bei denen die verschiedenen Werke des Künstlers ausgestellt werden. Man sammelt alle wichtigen Werke an einem Ort zusammen, um ein komplettes Bild des Künstlers zu zeichnen. Auf diese Weise bekommt man einen sehr guten Gesamteindruck und hat die Möglichkeit, die verschiedenen Werke zu vergleichen oder in Relation zueinander zu setzen. Würde man nur eines der Werke zu sehen bekommen, wäre man dazu nicht in der Lage. Nur durch dieses Gesamtbild wird man in die Lage versetzt, das Ganze zu sehen, und bekommt die Möglichkeit, darüber zu spekulieren, warum der Künstler etwas so und nicht anders gemacht hat.
Auch im Fernsehen findet jedes Jahr eine Art Retrospektive statt, meist am Ende eines Jahres in Form des Jahresrückblicks. Dabei versuchen sich die verschiedenen TV-Sender gegenseitig zu überbieten, indem jede Sendeanstalt bestrebt ist, die besseren, schöneren, witzigeren oder bekannteren Leute zu diesen Sendungen einzuladen. Auf Vollständigkeit wird hier wenig Wert gelegt, vielmehr steht die Unterhaltung im Vordergrund. Das Gesamtbild eines Jahres ist also eher löchrig und nicht wirklich dazu geeignet, Rückschlüsse zu ziehen oder verschiedene Ereignisse miteinander in Verbindung zu setzen.
Wenn ich in diesem Buch von Retrospektiven spreche, meine ich etwas anderes. Diese Retrospektiven enthalten zwar auch einen Rückblick, aber das ist nur der erste Schritt. Viel wichtiger ist es, aus diesem Rückblick Erkenntnisse und Einsichten zu gewinnen. Diese Erkenntnisse und Einsichten sollen dann dabei helfen, aus der Vergangenheit zu lernen und entsprechende Veränderungen abzuleiten. Dabei lernt man sowohl aus den Erfolgen als auch aus den Fehlern. Denn oft können gute Dinge noch besser gemacht werden. Man könnte es auch mit der Evolution vergleichen. Dinge, die nicht funktioniert haben, sind ausgestorben, aber alles, was zum Erhalt der Art beigetragen hat, wurde beibehalten und weiterentwickelt. Jede dieser Veränderungen ist letztlich nichts anderes als ein Experiment, bei dem man noch nicht sicher weiß, was am Ende dabei herauskommt. Im besten Falle führen diese Experimente zu einer Verbesserung unserer derzeitigen Situation. Manchmal macht es die Sache aber nur noch schlimmer, aber dafür gibt es ja die nächste Retrospektive.
Jede Retrospektive wird von einem sogenannten Facilitator geleitet. Er moderiert die Retrospektive und sorgt dafür, dass die Gruppe ihre gesetzten Ziele erreicht. Er unterstützt die Gruppe dabei, ein tragfähiges Ergebnis zu erarbeiten, das als Basis für den zukünftigen Erfolg dienen soll. Der Facilitator selbst ist kein Teilnehmer (auch wenn sich das vor allem bei kleinen Teams nicht immer bewerkstelligen lässt). Er begleitet den Prozess, bringt jedoch selbst nicht aktiv Lösungen ein. Ein guter Facilitator ist ein entscheidender Faktor für eine erfolgreiche Retrospektive.
Das erste Mal wurde die Retrospektive in dieser Form im Buch »Project Retrospectives: A Handbook for Team Reviews« [Kerth 2001] von Norman Kerth beschrieben.
A retrospective is a ritual gathering of a community at the end of a project to review the events and learn from the experience. No one knows the whole story of a project. Each person has a piece of the story. The retrospective ritual is the collective telling of the story and mining the experience for wisdom.
Sein Buch, dessen aktuelle Ausgabe 2001 erschienen ist, erklärt, wie sich Retrospektiven von sogenannten »Postmortems« und »Lessons Learned« unterscheiden. Der Hauptunterschied ist, dass man bei Retrospektiven den Fokus auf positive Handlungen legt und diese als Katalysator für Veränderungen nutzt. Sie stellen nicht den Endpunkt des Projekts dar, sondern Meilensteine in einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess.
Im Jahr 2001 trafen sich ein paar Leute in einer Skihütte, um ein Manifest der agilen Softwareentwicklung zu schreiben [Manifesto]. Es besteht aus vier Wertepaaren und zwölf Prinzipien, die die Basis des Manifests darstellen. Das letzte dieser Prinzipien beschreibt recht gut, was in einer Retrospektive gemacht wird.
In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann und, passt sein Verhalten entsprechend an.
Genau dieses Manifest war einer der Hauptgründe, warum vor allem die agile Gemeinschaft die Retrospektive begeistert übernahm und in ihren Arbeitsablauf integrierte. Diese Menschen begriffen, dass sie nicht erst bis zum Ende eines Projekts warten müssen, um aus dem Geschehenen zu lernen und entsprechende Veränderungen vorzunehmen. Stattdessen veranstalten sie eine Retrospektive nach jeder Iteration, also nach einem festen Zeitraum, der möglichst nicht länger als 1 Monat sein sollte, da man sonst Gefahr läuft, den Feedbackzyklus zu groß zu setzen.
Dies versetzt einen in die Lage, einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu etablieren, bei dem ständig überprüft wird, ob man auf dem richtigen Weg ist, und gibt einem zusätzlich die Möglichkeit, rechtzeitig einzugreifen und die Prozesse anzupassen. Indem man feste Zeiten zur Reflexion einplant, hat man die Möglichkeit, Probleme sofort aus der Welt zu schaffen, anstatt bis zum Ende des Projekts zu warten. Wenn die Retrospektive erst am Ende eines Projekts stattfindet, läuft man Gefahr, dass das Gelernte bis zum nächsten Projekt wieder vergessen wurde. Außerdem wird so die Chance vertan, Dinge sofort geradezurücken, bevor es zu spät ist.
Vor ein paar Jahren haben wir eine neue Tradition bei uns zu Silvester eingeführt. Wir nennen sie die Silvesterretrospektive. Sie macht nicht nur einen Riesenspaß, sondern hilft auch die Zeit bis Mitternacht zu überbrücken, besonders mit Kindern. Bei uns läuft das Ganze folgendermaßen ab. Zu Beginn der Retrospektive sitzen wir alle zusammen vor dem Fernseher und sehen uns Bilder und manchmal auch ein paar kurze Videos des letzten Jahres an. Dazu habe ich vorab eine CD vorbereitet und die Fotos des Jahres vorselektiert. Diese Phase unserer Retro macht immer einen Heidenspaß und ist mit vielen Lachern verbunden.
Nachdem wir dann das Jahr nochmal Revue passieren ließen, schauen wir uns unsere Maßnahmen und Hypothesen des letzten Jahres an. Dies ist ein wichtiger Teil, denn nur so kann man feststellen, ob die Vorsätze des letzten Jahres den gewünschten Effekt hatten. Wenn dem nicht so ist, kann man sich überlegen, ob man sich das Thema nochmal vorknöpft und eine andere Maßnahme beschließt. Im Anschluss daran fangen wir an, die Dinge zu sammeln, die uns besonders im Gedächtnis geblieben sind. Dazu nutzen wir 3 Kategorien:
In die erste Kategorie fallen alle Dinge, die im vergangenen Jahr glücklich oder einfach nur Spaß gemacht haben, wie z.B. der gemeinsame Familienurlaub in einer kirgisischen Jurte. In die zweite Kategorie fallen alle negativen Ereignisse. Hier tauchen auch Dinge wie herumliegende Socken oder nervende Eltern auf. Die dritte Kategorie dient ganz einfach dazu, »Danke« zu sagen. Danke an die Frau oder Mama, danke an die Kinder oder Geschwister usw. immer verbunden mit einem konkreten Fall. Also z.B. »Danke, dass ich mit deinen Skylandern spielen durfte« oder »Danke, dass du mir jeden Morgen ein Pausenbrot richtest«. Anschließend erzählt jeder kurz ein paar Sätze zu seinem Beitrag.
Danach geht es darum, Erkenntnisse und Einsichten zu gewinnen. Jedes Familienmitglied darf sich ein Thema aussuchen, das es besonders wichtig findet. Nach und nach wird jedes Thema besprochen und nach den Grundursachen gesucht. Dafür hat sich bei uns im Augenblick die 5-Warum-Fragetechnik bewährt. Bei dieser Methode beginnt man mit der Frage »Warum ist X passiert oder passiert X ständig?«. Die Antwort dient als Futter für die nächste WarumFrage und so gräbt man immer tiefer, bis man hoffentlich die eigentliche Ursache gefunden hat. Diese Ursache schreiben wir auf einen Zettel, der uns als Basis für die nächste Phase dient. Diese Methode ist schon um die 100 Jahre alt und geht zurück auf Sakichi Toyoda [Wikipedia 02], den Gründer von Toyota. Er hat diese Methode entwickelt, um Problemen in der Produktion auf den Grund zu gehen, um zu verhindern, dass diese wieder auftreten.
Jetzt geht es um konkrete, messbare Vorsätze für das nächste Jahr, basierend auf unseren Ergebnissen der vorherigen Phase. Dazu machen wir pro Thema ein kurzes Brainstorming mit Ideen. Man glaubt gar nicht, auf was für geniale Ideen Kinder kommen können, auch für Themen, die Mama und Papa auf dem Herzen liegen. Wieder stellt jeder seine Ideen vor und danach wird pro Thema die erfolgversprechendste Idee gewählt. Dazu nehmen wir Klebepunkte, die auf die einzelnen Ideen geklebt werden. Diese Technik nennt man »Mehr-Punkt-Abfrage«. Jeder hat drei Klebepunkte, die er beliebig verteilen darf. Die gewählten Maßnahmen bekommen dann einen prominenten Platz: auf unserem Familienboard im Flur des Hauses, das eine visuelle To-do-Liste darstellt. Es gibt nichts Schlimmeres als Ergebnisse, die später nicht sichtbar sind. Unser Board hilft uns, diese Maßnahmen im Auge zu behalten und sicherzustellen, dass diese auch tatsächlich umgesetzt werden. Ganz wichtig bei den einzelnen Maßnahmen sind die damit verbundenen Hypothesen. Jede Maßnahme ist mit einer testbaren Hypothese verbunden, die wir in der nächsten Retrospektive überprüfen können.
Natürlich braucht eine Retrospektive auch einen würdigen Abschluss. Das ist in diesem Fall ganz einfach: das Silvesterfeuerwerk.
Wenn Sie im vorherigen Kapitel aufgepasst haben, wird Ihnen vielleicht aufgefallen sein, dass wir bei der Silvesterretrospektive durch 6 Phasen gegangen sind.
Abb. 1–1 Die 6 Phasen einer Retrospektive
Sie bilden die Struktur einer Retrospektive und basieren auf dem ursprünglichen Phasenmodell im Buch von Esther Derby und Diana Larsen [Derby & Larsen 2006], das ich hier erweitert habe. Der große Unterschied besteht darin, dass ich den Schritt »Hypothese überprüfen« eingeführt und den Schritt »Nächste Experimente definieren« um die Definition der Hypothesen erweitert habe. Die Gründe hierfür erläutere ich im weiteren Verlauf dieses Buches. Im Folgenden werde ich diese Phasen etwas genauer erklären.