Die «Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland» von Michael Stolleis gehört zu den herausragenden Gesamtdarstellungen unserer Zeit. Auf mehr als 2000 Druckseiten entfaltet ihr Autor darin weit über den wissenschaftsgeschichtlichen Rahmen hinaus ein rechtshistorisches Panorama Deutschlands von der Frühen Neuzeit bis an die Schwelle der Gegenwart. Nun fasst Stolleis kaum weniger eindrucksvoll den gewaltigen Stoff noch einmal auf nur rund 220 Seiten zusammen. Der Leser dieser glänzenden Einführung gewinnt ein grundlegendes Wissen über das deutsche öffentliche Recht im Wandel der Zeiten.
Michael Stolleis, Prof. em. Dr. Dr. h. c. mult., lehrte von 1975 bis 2006 als Professor am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt/Main und war von 1992 bis 2009 Direktor am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte, Frankfurt/Main. Bei C.H.Beck sind von ihm u.a. erschienen:
Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland (4 Bände); (Hrsg.) Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht (2011); Juristen. Ein biographisches Lexikon (bsr 1417).
Michael Stolleis
Eine Einführung in seine Geschichte
(16.–21. Jahrhundert)
C.H.Beck
Originalausgabe
1. Auflage. 2014
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2014
Umschlaggestaltung: malsyteufel, willich
Umschlagabbildung: Zug des Parlaments zur Paulskirche, © akg-images, Berlin AKG_612203
ISBN Buch 978 3 406 65943 0
ISBN eBook 978 3 406 65944 7
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Vorwort
I. Einführung, Gegenstand, Methode
II. Die Emanzipation vom römischen Recht und die Umstellung der Rechtsquellenlehre des Verfassungsrechts
III. Elemente des entstehenden öffentlichen Rechts
IV. Reichspublizistik, Natur- und Völkerrecht, «Gute Policey»
V. Das öffentliche Recht zwischen Revolution und Restauration
VI. Die Paulskirche
VII. Reichsstaatsrecht
VIII. Verwaltungsrecht im Staat der frühen Industriegesellschaft
IX. Staats- und Verwaltungsrechtslehre unter der Weimarer Verfassung
X. Methodenstreit und Allgemeine Staatslehren
XI. Verwaltungsrecht in der Weimarer Republik
XII. Der NS-Staat und sein öffentliches Recht
XIII. Deutschlands Rechtslage, Wiederaufbau, zwei Staaten
XIV. Die neue «Wertordnung» und die Wiederherstellung des Rechtsstaates
XV. Sozial- und Interventionsstaat der Bundesrepublik
XVI. Staatsrecht, Völkerrecht und Verwaltungsrecht der DDR
XVII. Europarecht und Völkerrecht
XVIII. Wiedervereinigung
XIX. Globalisierung und Zukunft des Staates
XX. Schlussbemerkung
Weiterführende Literatur
Personenregister
Sachregister
Die vorliegende Einführung wurde geschrieben, um den Inhalt meiner größeren Darstellung (Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bde. I 1988 (2. Aufl. 2012), II 1992, III 1999, IV 2012) in vereinfachter Form zusammenzufassen. Diejenigen, die am Anfang des Studiums stehen, sollten leichteren Zugang zu einer Sphäre des Rechtsdenkens erhalten, die so offenkundig von Politik und Geschichte geprägt ist.
Um künftige Entwicklungen zu verstehen und zu gestalten, muss man verstanden haben, welche Geschichte hinter der Gegenwart liegt. Dabei meint «Geschichte» nicht nur die faktischen und normativen Veränderungen, sondern auch ihre sprachlich-intellektuelle Erfassung. Geschichte, Rechtsgeschichte und Geschichte der Rechtswissenschaft sind zwar separat fassbar, aber nicht wirklich voneinander zu trennen. Immer geht es um die Interaktion zwischen begreifendem Denken und geschichtlichem Wandel, mag der Gedanke den Ereignissen vorauseilen, mag er ihnen kommentierend und deutend folgen.
Für kritische Lektüre danke ich besonders Frau Dr. Anna Katharina Mangold, LL.M. (Cambridge) und den Teilnehmern eines kleinen Seminars, in dem der Text diskutiert wurde. Ebenso hat Frau Rechtsreferendarin Laura Zurek aufmerksam mitgelesen und mich auch sonst zuverlässig unterstützt.
Frankfurt, 1. Oktober 2013 |
Michael Stolleis |
Der geschichtliche Blick auf das Recht ist der eines Beobachters; er richtet sich von außen auf das Recht. Sein Motiv ist die Neugier des Historikers, der herausfinden will, wie früheres Recht funktionierte, wie es die sozialen Beziehungen ordnete, welche «Spielregeln» galten und wie Regelverletzungen sanktioniert wurden.
Dieser Blick setzt voraus, dass Recht überhaupt als veränderbar erfahren und verstanden wird und dass es möglich ist, Dokumente der Vergangenheit daraufhin zu befragen, welche Vorstellungen ihre Verfasser von Recht hatten und wie sie über Recht kommunizierten. Solche Fragen können erst gestellt werden, wenn Gesellschaften sich selbst als geschichtlich begreifen, wenn sie darüber reflektieren, wie sich ihr Dasein und ihre Rechtsordnung auf dem Zeitpfeil von der Vergangenheit in die Zukunft bewegen. Das ist keineswegs selbstverständlich; denn viele menschliche Kulturen lebten und leben in zyklischen Modellen von Wiederkehr und periodischer Erneuerung. Ihnen war und ist die Vorstellung fremd, sich selbst als Teil einer auf ein «Weltende» oder ein «Jüngstes Gericht» zulaufenden Bewegung zu verstehen. Kulturen, die von der Vorstellung der Wiederkehr geprägt sind, denken tendenziell «ungeschichtlich», entweder in Kreisläufen oder in stufenförmiger Vervollkommnung. Auch die Rolle des Individuums und seiner Rechte ist eine andere. Es kann aus den Familien- und Sippenzusammenhängen nicht gelöst werden. Das Individuum ist in solcher Weltsicht nicht, wie westliches Denken der Neuzeit voraussetzt, eine mit subjektiven Rechten ausgestattete Monade, welcher materielle und immaterielle Güter zugeordnet werden. Erst durch Überschreitung der traditionellen eurozentrischen Perspektive können die tieferen Gründe für interkulturelle Spannungen ermittelt werden.
Gleichwohl muss man sich, um die eigene Rechtsordnung zu verstehen, erst einmal auf die allgemeine Geschichte Europas und die europäische Mentalität einlassen. Sie versteht seit der Christianisierung den geschichtlichen Prozess als ein lineares Voranschreiten auf ein fernes Ziel. Ob es sich dabei um eine Heilsgeschichte mit der Hoffnung auf Erlösung oder um eine säkularisierte, von gelegentlichen «Rückschlägen» betroffene Fortschrittsgeschichte innerweltlicher Befreiung von Zwängen handelt oder einfach um einen Prozess mit offenem Horizont und mit ungewissem Ausgang, ist zu verschiedenen Zeiten je unterschiedlich gesehen worden. Ein schlüssiges Deutungsmuster der in Europa vertretenen Geschichtskonzepte gibt es nicht, aber eines ist ihnen doch allen gemeinsam: Sie sehen sich eingebunden in einen Raum des geographischen «Europa» und in ein Zeitkontinuum, das von der Spätantike bis zur Gegenwart reicht[1].
In diesem Europa kann der Beginn der «Neuzeit» unterschiedlich markiert werden. Viel spricht dafür, relativ früh einzusetzen, um Langzeitprozesse und die Verschiebungen der gesellschaftlichen Grundlagen zu erkennen[2]. «Früh» meint hier das 12. und 13. Jahrhundert. In dieser Zeit beobachtet man die Entstehung einer verrechtlichten Weltkirche, eine zunehmende Verschriftlichung der Kommunikation, der Politik und des Rechts, die Entstehung von Stadtlandschaften, die Verdichtung der Bevölkerung und signifikante technische Neuerungen wie etwa Uhren, Wind- und Wassermühlen, Verbesserungen im Schiffsbau und in der Architektur. Gleichzeitig entwickeln sich Theologie und Philosophie auseinander[3]. Für die Rechtsgeschichte beginnt die Neuzeit traditionell mit der Wiederentdeckung der Digesten in Oberitalien, also der 533 in Ostrom (Byzanz) in Kraft gesetzten «Kodifikation» oder «Kompilation» des römischen Rechts. Auf der Grundlage einer einzigen erhaltenen Handschrift dieser spätantiken geordneten Zitatensammlung begann von der Mitte des 12. Jahrhunderts an zunächst in Bologna, dann in Padua und Pavia, später in ganz Europa die Tätigkeit der «Juristen». Indem sie die römischen Texte lehrten und erklärten, kommentierten sie sie auch, passten sie an die Bedürfnisse der Praxis an und schufen so das römisch-italienische Recht des Mittelalters. Ebenso bedeutsam war die gleichzeitige Zusammenfassung der in rund 1000 Jahren entstandenen verstreuten Regeln des Kirchenrechts in einer Sammlung (1140), die rasch offiziellen Charakter gewann. Ihr Schöpfer war der ebenfalls in Bologna lehrende Mönch Gratian[4]. Von nun an gab es zwei Arten «gelehrten Rechts», das weltliche römisch-italienische Recht und das Recht der römischen Weltkirche.
Das weltliche, wesentlich auf den Digesten beruhende römische Recht entwickelte sich über Italien, Frankreich, die Niederlande und Deutschland zum «gemeinen» (allgemeinen) Recht Süd- und Westeuropas, während England, Nord- und Osteuropa hiervon nur mittelbar oder gar nicht erfasst wurden. Südosteuropa, soweit es im Mittelalter von Byzanz beherrscht wurde, lebte bis ins 15. Jahrhundert in ungebrochener Tradition unter «römischem» Recht in der speziellen Form, die sich dort im Kontext orthodoxen kirchlichen Lebens ausgebildet hatte. Am Ende nannte man die Summe der Texte das Corpus Iuris Civilis und entwickelte aus ihm die allgemeinen Regeln des Zivilrechts. Erst im 18. und 19. Jahrhundert wurde es europaweit durch nationale Gesetzbücher ersetzt. In Deutschland, das ab 1870 eine nationale Kodifikation in Angriff nehmen konnte, galt das gemeine Recht sogar bis zur Ablösung durch das BGB am 1. Januar 1900.
Das kirchliche «kanonische» Recht – so benannt nach den canones (Regeln) – wurde in vergleichbarer Weise an den Universitäten des späten Mittelalters gepflegt und weiter angereichert, um in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts seine amtliche Form zu erhalten. Es galt als Corpus Iuris Canonici in der römisch-katholischen Kirche bis 1917. Seit den Reformationen des 16. Jahrhunderts (Luther, Zwingli, Calvin) bauten sich die reformatorischen Kirchen zwar eigene Rechtsordnungen auf, betrachteten aber das überlieferte Kirchenrecht als subsidiär fortgeltend, soweit es dem evangelischen Bekenntnis nicht widersprach.[5]
Seit dem 16. Jahrhundert, dem langsam entstehenden Nationalgefühl folgend, wuchs auch das Interesse am einheimischen Recht. Die Humanisten-Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts, meist Calvinisten oder Lutheraner, begannen mit Editionen früher Stammesrechte (leges barbarorum) aus der Zeit der Völkerwanderung, interessierten sich aber auch speziell für die mittelalterlichen Kämpfe zwischen Kaiser und Papst, um Argumente in den konfessionellen Auseinandersetzungen zu gewinnen[6]. Auch Dorf- und Stadtrechte traten nun in den Blick der gelehrten Juristen, teils aus praktischen Gründen, um vor Gericht zu bestehen, teils aus patriotisch-wissenschaftlicher Neugier.
Mit anderen Worten: Die heutige in Deutschland betriebene Rechtsgeschichte hat drei Hauptfelder. Das eine ist besetzt vom antiken römischen Recht und dem aus ihm entwickelten «gemeinen Recht». Behandelt werden dort überwiegend Themen des heutigen Zivilrechts, also Personenrecht, Schuldrecht, Sachen- und Erbrecht. Das zweite Feld enthält die einheimische Rechtsordnung vor und neben dem römischen oder gemeinen Recht, erschließt das quellenmäßig kaum fassbare «germanische» Recht, die frühmittelalterlichen Stammesrechte, das mittelalterliche und frühneuzeitliche Recht mit seinen städtischen und ländlichen Rechts- und Gerichtsbüchern, schließlich die Entwicklung des aus vielen partikularen Sonderrechten bestehenden «deutschen» Rechts. Das dritte Hauptfeld wird vom kirchlichen Recht gebildet, das zunächst für das «lateinische» Europa gemeinsam war, sich aber seit den Reformationen des 16. Jahrhunderts mehr oder weniger getrennt entwickelte.
Weniger beachtet wurden in der Rechtsgeschichte die Entstehung und die Funktionsweise des öffentlichen Rechts. Das antike römische «Staatsrecht» war mit dem Untergang des Reichs in der Völkerwanderung verschwunden. In Ostrom (Byzanz) lebte es weiter und wurde dort zu einer charakteristischen Symbiose mit dem orthodoxen Kirchenrecht gebracht. 1453 endete diese Traditionslinie mit dem Fall von Byzanz im Kampf gegen das Osmanische Reich[7].
Was sich im westlichen Mittelalter an Staatsrecht neu bildete, wenn man es so nennen mag, bestand aus Gewohnheitsrecht, wenigen politisch zentralen Urkunden und einigen von den mittelalterlichen Juristen gebildeten Leitsätzen[8], aus denen in Frankreich und Deutschland dann Leges fundamentales (Grundgesetze) hervorgegangen sind. Von den deutschen «Grundgesetzen» (Goldene Bulle von 1356, Ewiger Landfriede und Reichskammergerichtsordnung 1495, Wahlkapitulationen von 1519 bis 1654, Augsburger Religionsfriede 1555, Westfälischer Friede 1648, Jüngster Reichsabschied 1654 u.a.) wird noch die Rede sein. Insgesamt bildeten sie ein normatives Konglomerat, das schon bald «Reichsverfassung» genannt wurde. Diese Verfassung, nach Ansicht der Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts mehr und mehr zur «gothischen Ruine » werdend, hielt sich formell bis in die Zeit der napoleonischen Kriege. 1803 erging als letztes Reichsgesetz der «Reichsdeputationshauptschluß», der die zahlreichen geistlichen und viele kleine weltliche Territorien zum Verschwinden brachte. 1806 traten unter dem Druck Napoleons die «Rheinbundstaaten» aus dem Reich aus, wenige Tage später, am 6. August 1806, legte Kaiser Franz II. die Kaiserkrone nieder.
Mit diesem Stoff der Reichsverfassung beschäftigte sich zunächst die «Reichshistorie», die im 17. Jahrhundert begann, die Verfassung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation als Produkt eines historischen Prozesses zu erklären. Sie entfaltete sich bald zu einem eigenen Fach, das zunächst vor allem in Halle, dann aber intensiv in Göttingen gepflegt wurde[9]. Als das Reich untergegangen war und die politischen Energien sich auf die Verfassungsbewegung der Einzelstaaten konzentrierten, wechselte das Fach seinen Namen und hieß nun «Staatengeschichte». Im Zuge der Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts nannte man es seit der Mitte des Jahrhunderts «Verfassungsgeschichte»[10]. Diese war zuständig für die «äußere» Rechtsgeschichte und wurde entweder von den «germanistischen» Rechtshistorikern oder den Staatsrechtlern vertreten. Im Studienplan, den der nationalsozialistische Staat 1935 vorschrieb, wurden dann die Parallelfächer «Privatrechtsgeschichte der Neuzeit» und «Verfassungsgeschichte der Neuzeit» geschaffen.
Gegenwärtig scheint die «Verfassungsgeschichte der Neuzeit», obwohl sie über zahlreiche Gesamtdarstellungen, Lehrbücher und Grundrisse verfügt[11], aus den Lehrplänen wieder zu verschwinden. Rechtsgeschichtlicher Stoff wird in allgemeinen Einführungsvorlesungen für die Studienanfänger sowie in Vertiefungsveranstaltungen angeboten, je nach den Kapazitäten der Fakultäten oder Fachbereiche. Fast ganz verschwunden ist die Geschichte des Kirchenrechts. Die «antike Rechtsgeschichte», die ehemals als «römisches Recht» den Fundus für das gesamte Privatrecht bildete, existiert teils als gelehrtes Nischenfach, teils versteht sie sich immer noch als ideales Propädeutikum zum bürgerlichen Recht, vor allem wenn sie über die privatrechtliche Wissenschafts- und Dogmengeschichte der Neuzeit bis an die Gegenwart heranführt. Die «deutsche Rechtsgeschichte», die von den schwachen Spuren germanischer Ursprünge über die «leges barbarorum» der spätantiken Volksrechte zu Mittelalter und Neuzeit in die Gegenwart reicht, zerfällt in einzelne Forschungsfelder, von denen sich eines mit der «Reichsverfassung» vom Mittelalter bis 1806 und als «Verfassungsgeschichte» auch darüber hinaus beschäftigt. Insgesamt muss man jedoch feststellen, dass gegenwärtig allen «Grundlagenfächern» ein fester Platz in der Ausbildung fehlt und dass die Curricula zu viel positivrechtlichen Stoff enthalten. Das bringt Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie sowie Rechtssoziologie in Bedrängnis, am Rande auch die Rechtsvergleichung, die allerdings im Zuge der Europäisierung und Globalisierung an innerer Bedeutung und äußerer Wertschätzung zunimmt. Die jüngeren Diagnosen des Ist-Zustands der Rechtsgeschichte sind sich insoweit einig[12]. Die am 9. November 2012 beschlossenen Empfehlungen des Wissenschaftsrats «Perspektiven der Rechtswissenschaft» empfehlen deshalb eine energische Stärkung der Grundlagenfächer, teils mit dem Blick auf die internationale Kommunikation, teils in Sorge um die Erhaltung des wissenschaftlichen Charakters der Universitätsausbildung. Ob die Universitäten und die für die Juristenausbildung verantwortlichen Landesjustizverwaltungen hierauf Taten folgen lassen, ist noch ungewiss. Freilich sind auch die Vertreter der Grundlagenfächer selbst angesprochen, sich besser zu organisieren und ihr Wissen in einer Form zu präsentieren, die erlernbar und prüfbar ist.
Unsere Einführung nimmt sich auf dem Feld der Rechtsgeschichte einen schmaleren, bisher vernachlässigten Sektor vor, nämlich die Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Die Vernachlässigung erklärt sich daraus, dass das zentrale Interesse der Verfassungsgeschichte sich erwartungsgemäß auf die «Verfassung(en)» selbst richtet. Sie beschreibt «diejenigen Regeln und Strukturen, die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen»[13], verwendet also einen offenen, auch für die Vormoderne brauchbaren Verfassungsbegriff. Die Bemühungen der zeitgenössischen Juristen (seit dem 20. Jahrhundert auch Juristinnen) verschwinden dabei gewissermaßen im Umfeld. Sie werden zwar nicht missachtet, aber sie bilden im Blick auf die Gesamtverfassung nur das begleitende intellektuelle Element. In gleicher Weise werden die Theoretikerinnen und Theoretiker der Verwaltung im Rahmen der viel schwächer entwickelten Geschichte der Verwaltung und des Verwaltungsrechts als Stimmen am Rande wahrgenommen. Nur in Ausnahmefällen, etwa in der großen Darstellung von Hans Maier, werden sie als geschichtsbildende Kraft erkannt[14].
Worauf es hier primär ankommt, ist deshalb die Wahrnehmung und Erschließung des Denkens, Redens und Schreibens über jene Regeln und Strukturen der Verfassungen und Verwaltungen im Lauf der neueren Geschichte. Es geht um eine Literaturgeschichte der wissenschaftlichen Erfassung, der dogmatischen Durchdringung und Systematisierung des öffentlichen Rechts von etwa 1600 bis zur Gegenwart. Diese teils intellektuelle, teils praxisbezogene Geschichte spielt sich in Deutschland bis zum Ende des Alten Reichs 1806 ganz überwiegend an den Universitäten ab. Sie waren die Zentren der Ausbildung und des geistigen Lebens. Die dabei entstehenden Schriften sind Universitätsliteratur, also Vorlesungsgrundrisse, Lehrbücher, Kommentare, Fallsammlungen sowie massenhaft angefertigte Dissertationen und Disputationen, Letztere eine heute unschätzbare Quelle für die Rekonstruktion des geistigen Profils einer Zeit, einer Universität oder einer Gelehrtenschule, von Modethemen und Innovationen, aber auch von den Migrationsbewegungen der Studierenden in ganz Europa[15]. Die daran ablesbare Dominanz der Universitäten und des Gelehrtenwesens ist ein deutsches Spezifikum, während in Ländern wie Frankreich oder England die hauptstädtischen Salons, Clubs oder Akademien die intellektuelle Führungsrolle innehatten.
Eine solche Geschichte setzt die Entwicklung der Machtverhältnisse, der Kriege und Friedensschlüsse, der faktisch vorhandenen Strukturen, der Institutionen und der handelnden Menschen voraus. Das heißt: Eine breit verstandene Verfassungsgeschichte bildet die Basis und den Hintergrund des politischen und rechtlichen Denkens; denn Tun und Denken sind historisch bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verzahnt, und sie sollen es auch für diese Darstellung bleiben. Dennoch soll die Geschichte der «Wissenschaft» des öffentlichen Rechts im Vordergrund stehen, auch wenn in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert noch nicht von Wissenschaft im modernen Sinn, sondern meist von Jurisprudenz (iuris prudentia) die Rede war.
Wer über theoretische Schriften hinaus Anschluss an Mitdenkende gewinnt, den öffentlichen Diskurs mitbestimmt und zu einem seiner Elemente wird, ist zugleich auch handelnde Person. Theoretiker denken oft «voraus» und lenken die Debatte zu einem Punkt, an dem sie sich politisch umsetzen lässt. Ebenso oft analysieren sie in erhellender Weise, was geschehen ist, fassen also Unbegriffenes in «Begriffe», um auf diese Weise wieder Ausgangspunkte neuen Denkens zu setzen. Menschliches Denken ist zeitabhängig, zeigt aber stets auch Eigensinn und relative Autonomie. Es bewegt sich weder nur in reinen Höhen noch kann es auf einen Annex zu den «Fakten» reduziert werden. In diesem Sinne hat man in neuerer Zeit einen gangbaren Weg gesucht, um eine «histoire sociale des idées», eine «intellectual history» oder Mentalitätsgeschichten zu schreiben, die zwischen politischer Geschichte, Sozialgeschichte und herkömmlicher «Ideengeschichte» oszillieren. Erfasst werden dabei nicht nur die «Meisterdenker» auf einer Art Gipfelwanderung, sondern auch die manchmal viel wirkungsmächtigeren kleinen und mittleren Autoren, ihre Lebenswelten, ihre Abhängigkeiten und ihr politisches Umfeld. Insgesamt gilt: Der «Staat» ist nicht nur das reale Substrat von öffentlichem Dienst, Gebäuden und Sachen, Haushaltsmitteln und Rechtsvorschriften, sondern auch unser aller Denken und Handeln. Der Staat «ist», wie wir ihn uns vorstellen und wie wir innerhalb dieser Vorstellungen agieren. Insofern ist das Studium des Denkens über den Staat ein Studium seiner selbst. Was unsere Vorfahren über ihn dachten und wie sie ihn gestalteten, müssen wir jedenfalls im Umriss kennen, um zu entscheiden, was wir selbst in ihm und mit ihm wollen. Wenn wir uns entscheiden, vom Staat möglichst wenig wissen zu wollen und ein Engagement für ihn zu verweigern, müssen wir jedenfalls die Fragen beantworten, wer uns vor Gewalt schützt, wer für die lebensnotwendigen Leistungen und für die selbstverständlichen Bequemlichkeiten verantwortlich sein soll, wer Verkehrs- und Kommunikationssysteme unterhält, wer Universitäten, Bibliotheken und Museen und vieles andere finanziert. Da jede Generation insoweit andere Akzente setzt, ist ein Hineingehen in die Zukunft, ob wir es wollen oder nicht, auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
An das historische Material in Bibliotheken und Archiven sollte man möglichst unbefangen herangehen. Ungeachtet der Tatsache, dass wir alle im Netz der Gegenwart zappeln, denken und handeln, uns also von Befangenheiten nicht prinzipiell befreien können, seien doch als methodische Regeln empfohlen: Die eigenen Denkgewohnheiten und Begrifflichkeiten sollten nicht ungeprüft vorausgesetzt, sondern kritisch befragt und zum Verständnis des historisch «Anderen» genutzt werden. Das geschichtliche Material ist das «Andere», auch wenn seine Sprache uns heute noch verständlich klingen mag. Gegen die Verwendung moderner Begriffe ist nichts einzuwenden, wenn man sich der Gefahr von Anachronismen bewusst ist und die moderne Terminologie reflektiert einsetzt. Sie kann sogar aufgrund ihres Verfremdungseffekts ausgesprochen hilfreich sein. Primäres Ziel ist jedoch das Studium der Wortverwendungen der Vergangenheit, um zu entschlüsseln, was jene Worte damals «bedeuteten». Hüten sollte man sich, im Geschichtsverlauf allzu schnell eine aufsteigende Fortschrittskurve oder eine absteigende Verfallskurve zu erkennen. Der Feldherrnhügel der eigenen Überzeugungen ist vielleicht nur ein Maulwurfshaufen. Vor allem soll nicht ausgeblendet werden, was vordergründig nicht zum gegenwärtigen Verfassungs- und Verwaltungsrecht in Bezug gesetzt werden kann. Eine solche Trennung des geschichtlichen Materials in «tot» und «lebendig» degradiert die Geschichte nicht nur zur Vorgeschichte der Gegenwart, sondern schneidet gerade wichtige Erkenntnismöglichkeiten ab. Was sich im Mainstream nicht durchgesetzt hat oder gescheitert ist, kann von höchstem Interesse sein.
Die folgende Darstellung bemüht sich um die Grundlinien und ist deshalb auf Knappheit bedacht. Für biographische Angaben zu den Autoren sei auf die gängigen Hilfsmittel verwiesen[16]. Auch Literaturnachweise werden nur sparsam gegeben. Dies kann umso eher geschehen, als die breitere Darstellung des gesamten Komplexes nun abgeschlossen vorliegt und zur Vertiefung genutzt werden kann[17]. Ähnlich angelegt ist eine neuere «Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft» von Manfred Friedrich[18]. Seit kurzem gibt es nun auch eine «Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz» von Andreas Kley[19]. Die neuere Literatur zur Verfassungsgeschichte kann am besten durch das Lehrbuch von Dietmar Willoweit erschlossen werden[20]. Reiches Material zur Verwaltungsgeschichte, einschließlich der frühmodernen «Policey» und des modernen Verwaltungsrechts, findet sich in dem fünfbändigen Werk «Deutsche Verwaltungsgeschichte»[21].
Das seit dem 13. Jahrhundert praktizierte und auf die mittelalterliche Welt Italiens umgesetzte römische Recht hatte sich in Lehre und Anwendung von Bologna aus an den west- und mitteleuropäischen Universitäten verbreitet. Gelehrte Juristen wurden in steigendem Umfang bei allen Rechtsfragen zugezogen, erhielten wichtige Posten als Ratgeber und Gutachter, Verhandlungsführer oder Diplomaten und schrittweise auch als Richter. Ihnen war die berühmte Zweiteilung des Rechtsstudiums geläufig, nämlich in öffentliches und privates Recht. Das öffentliche Recht, so die Worte des spätrömischen Juristen Ulpian (gest. 223 n. Chr.), bezieht sich auf den «römischen Staat» (ad statum rei Romanae spectat), das Privatrecht auf den Nutzen der Einzelnen (ad utilitatem singulorum)[22]. Als Gegenstände des öffentlichen Interesses galten dabei neben dem Staatskult, dem Religions- und Priesterrecht, den öffentlichen Ämtern auch alle zwingenden Normen des Privatrechts (etwa Eherecht, Adoptionen, Testamente sowie die Regelung von Fristen, Prozessrecht u.a.m.). Öffentliches Recht und Privatrecht bildeten aber eine ideelle Einheit «des Rechts». Diese Einheit umschloss nicht nur weltliches und geistliches Recht, sondern auch die Partikularrechte in Stadt und Land sowie die gruppenspezifischen Sonderrechte. Eine kategorische Zweiteilung in «privates» und «öffentliches» Recht war in Lehre und Praxis unbekannt. Die speziellere Regel ging der allgemeineren vor. Wo spezielle Regeln fehlten, zog man das «gemeine Recht» oder «Kaiserrecht» heran, subsidiär zunächst, aber je mehr die studierten Juristen sich der Szene bemächtigten, desto öfter drehte sich das Rangverhältnis zugunsten des gemeinen Rechts um. Waren die Gutachter des 15. und 16. Jahrhunderts zu Fragen der Kaiserwahlen, der Stellvertretung des Kaisers, des Reichstags, zu umstrittenen Herrschaftsrechten oder Abgaben aufgerufen, so suchten sie sich die nötigen Elemente zusammen, wo sie sie fanden, aus dem römisch-italienischen Recht einschließlich des Lehnrechts, aber auch aus dem Sachsenspiegel sowie aus dem Wahlgrundgesetz des Reichs, der «Goldenen Bulle» von 1356, und dem aus Gewohnheitsrecht gebildeten «Reichsherkommen». Auch Argumente aus dem Alten und Neuen Testament fanden hier zwanglos ihren Platz.
Gewiss gab es seit dem Hochmittelalter eine Differenzierung zwischen der öffentlich-politischen, herrscherlichen und in diesem Sinn «öffentlichen» Sphäre, deren Rechtsregeln zum «ius publicum» gezählt wurden[23], und dem privaten Lebensbereich, in dem die für jedermann geltenden Rechtsregeln zu beachten waren, aber die Grenzen waren kaum erkennbar. Land und Herrschaft wurden nach Familien- und Erbrecht übertragen, oft auch nach Kauf- und Pfandrecht. Das Strafrecht gehörte bei schweren Straftaten zur öffentlichen, bei kleineren Delikten zur privaten Sphäre, in der man einen Ausgleich durch «Bußen» suchte. Nur langsam erhoben die frühmodernen Obrigkeiten einen «öffentlichen Strafanspruch» und trennten zwischen Privatklagen und «Offizialverfahren»[24]. Aber die Bewertungen waren gewissermaßen spiegelverkehrt im Vergleich zu heute. Für das damalige Denken, das privat und öffentlich kaum oder jedenfalls anders trennte, waren Fluchen und Schwören, Anrufungen des Teufels, Zauberei und Hexerei, Ehebruch und andere Sünden Probleme der öffentlichen Ordnung, weil sie dem Gemeinwesen Gottes Zorn zuzogen und es damit gefährdeten. Ebenso langsam setzte sich in der zentralen Frage, ob ein Land Familienbesitz einer Dynastie sei, also vererbt, geteilt, verkauft und verpfändet werden konnte, die Linie der «Unteilbarkeit» durch, eine wesentliche Voraussetzung für die «Staatsbildung» der frühen Neuzeit. Das Territorium wurde auf diese Weise der privaten Sphäre entrückt und gewann überindividuelle Konturen. Entsprechend wandelte sich das Herrscherbild schrittweise zum «obersten Staatsdiener», der sich zwar an der Spitze seiner Dynastie und mit der Gnade Gottes versehen betrachtete, aber nun dem Abstractum «Staat» verpflichtet sah.
Die mittelalterliche Rechtsordnung, die von weltlichem «Kaiserrecht» und Kirchenrecht überwölbt war, sich aber vorrangig an Dorf-, Land- und Stadtrechten, Lehnrecht, speziellen Berufsrechten und Standesrechten sowie zahllosen Privilegien und Sonderrechten orientierte, musste in ihrer Mischung von Rechtsgewohnheiten und geschriebenen Rechten, gelehrtem und ungelehrtem Recht in Schwierigkeiten geraten, als sich mit dem Ende des 15. und während des 16. Jahrhunderts die Lebensbedingungen und Mentalitäten dramatisch änderten. Die markanten Neuerungen häuften sich. Neue Söldnerheere lösten die alten Ritterheere ab, die Ritterschaft sank materiell und sozial ab, das reicher werdende städtische Bürgertum stieg auf, die großen Fernhandelshäuser mischten sich in die Politik ein und mutierten zu Geldadel, die Reformation verursachte erhebliche Instabilität im Reichsgefüge und warf ganz neue Verfassungsfragen auf, etwa die nach der theoretischen Möglichkeit eines evangelischen Kaisertums. Da die deutschen Städte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch eine Finanzkrise geschwächt waren und die großen Handelshäuser das östliche Mittelmeer an die Türken verloren hatten, verschoben sich die politischen Gewichte[25]. Auch der Adel war keine geschlossene Formation mehr. Die Einheit der Kirche war mit dem Konzil von Trient (1545–1563) endgültig zerbrochen. Eine Zusammenführung von römischem Katholizismus, Luthertum und Calvinismus in eine gesamtkirchliche Einheit war von da an nicht mehr möglich. Auch die orthodoxen Ostkirchen hatten sich längst verselbständigt. Was den kirchlichen Kräften auf diese Weise an weltlichem Einfluss verloren ging, fiel dem fürstlichen Landesherren zu. Er definierte sich nun nicht mehr als Richter, sondern primär als Gesetzgeber. Er suchte als «Souverän» sein Territorium abzurunden und ihm Grenzen zu geben, innerhalb derer sein Gesetz und Gebot gelten sollte.
Das landesherrliche Gesetz und Gebot löste die bisherige Rechtsordnung schrittweise ab. Nun galt die Regel, dass das neuere Gebot das ältere ersetze. Damit drehte sich das ganze Rechtsgebäude um, denn vorher galt das ältere Recht als das würdigere («gutes altes Recht»). Maßgebend war jetzt der zentrale oberste Gesetzgeber. Partikulare Rechte wurden verdrängt, Privilegien kassiert, allerdings auch eine Fülle neuer Privilegien kraft neuen Rechts erteilt. Der neue Gesetzgeber konnte nun, zumindest theoretisch, auch das römische Recht, das seinen Nimbus als «Kaiserrecht» verlor, aufheben und durch neues Gesetzesrecht ersetzen.
Im Zuge dieser an die Spätantike anknüpfenden Bestrebungen, die Gesetzgebung und das Herrscheramt in das Zentrum zu rücken, entstand auch im frühen 16. Jahrhundert die Idee, die wankende Autorität des römischen Rechts dadurch zu stützen, dass man erklärte, es gelte nicht nur kraft Autorität, Qualität oder Gewohnheit, sondern weil es von Kaiser Lothar III. von Supplinburg (1075–1137) als Ganzes gesetzlich verbindlich gemacht worden sei. Diese «Lotharische Legende» wurde schon 1643 endgültig widerlegt[26], aber dass sie überhaupt entstehen konnte, zeigt viel von der Überzeugungskraft, die das Wort «Gesetzgebung» nun entfaltete.
Dieser grundlegende Vorgang der Relativierung des römischen Rechts durch die neue, gesetzgebende «Staatsgewalt» wurde auch dadurch unterstützt, dass das traditionell als in sich konsistent, ja unantastbar empfundene römische Recht durch die humanistische Philologie und eine neue historisierende Sicht Risse bekommen hatte. Die großen Humanisten-Juristen des 16. Jahrhunderts (Andreas Alciatus, Guillaume Budé, Jacques Cujas, Hugo Donellus) zerstörten mit ihrem genaueren Blick auf die Texte die Vorstellung von der inneren Einheit des Rechts, die durch harmonisierende Auslegung zu wahren oder vielmehr herzustellen war. Nun sah man verschiedene «Textstufen», unterschied die einzelnen antiken Autoren, entdeckte Ungereimtheiten und offene Widersprüche. Das römische Recht war nicht mehr das sakralisierte Einheitsrecht des Abendlandes, sondern eine historisch überlieferte Textmasse, die auch Defekte aufwies und zu zahllosen Auslegungsstreitigkeiten führte.
Wenn nun der aufsteigende Absolutismus sich als Gesetzgeber etablierte, um das Rechtswesen neu zu ordnen, dann war er im Prinzip frei, sich des römischen Rechts als Material zu bedienen, und viel sprach dafür, diesen Schatz an subtiler Regelbildung, Differenzierung und Lebenserfahrung nicht zu vergeuden. So tauchte schon im 16. Jahrhundert der Gedanke auf, man könne das römische Recht als Grundlage einer umfassenden Kodifikation des Rechts verwenden, es durch bewährtes Landesrecht ergänzen und dem Ganzen eine rationale, dem neuen Geist der Mathematik und der Naturwissenschaften entsprechende Form geben. An eine direkte Übertragung des römischen Staatsrechts auf die Verhältnisse des 16. Jahrhunderts war freilich nicht zu denken. Was vom römischen Recht insoweit verwendbar war, hielt sich in Grenzen. Es waren die seit dem 12. Jahrhundert von der kaiserlichen Publizistik benutzten spätantiken Titulaturen, Symbole und Rechtsformeln, die den Anspruch einer Zentralmacht stützten, etwa dass der fürstliche Wille Gesetzeskraft habe (quod principi placuit legis habet vigorem), dass der Fürst über dem Gesetz stehe (princeps legibus solutus), aber gebunden sei an das unveränderliche Naturrecht und an göttliches Recht, dass der Herrscher als Herr der Welt (dominus mundi), als Vater/Landesvater (pater omnium) anzusehen sei, dass er Gesetze nicht nur schaffen, sondern auch abändern, interpretieren und wieder aufheben könne. Dies alles wurde nun erneut dankbar aufgegriffen.
Daneben nutzte man den Bestand des römischen Rechts nach allen Kunstregeln der Interpretation. Wenn der Fürst als «Landesvater» über die väterliche Gewalt (patria potestas) verfügte, konnte man die Regeln des Erbrechts auf die Fürstentestamente anwenden und Land und Leute für vererblich erklären, aber auch daraus ableiten, dass das Erbgut möglichst zusammenzuhalten sei. Der Artikel über die väterliche Gewalt machte die Menschen zu «Landeskindern» und Untertanen. Der Umfang des Landes wurde nach der römischen Definition des Wortes «Territorium» bestimmt. Die Einkünfte leitete man aus dem Eigenbesitz des fürstlichen Familienvaters und aus dem zum römischen Recht gezählten Lehnrecht ab (Regalien). Um den wirtschaftlich bedrohten Adel zu schützen, entwickelte man aus dem römischen Fideikommissrecht ein Sonderrecht unveräußerlicher und nicht mit Schulden belastbarer adeliger Stammgüter[27].
Das römische Recht, flexibel interpretiert, bot also noch zahlreiche Anknüpfungspunkte für die veränderte Verfassungslage, aber es fügte sich nicht mehr zu einem System zusammen, das für die Verfassungswirklichkeit des 16. und 17. Jahrhunderts brauchbar gewesen wäre. Selbst in Deutschland, das mit dem Kaisertum den Anspruch erhob, das römische Kaisertum fortzusetzen, wurde evident, dass das antike Kaisertum mit dem gegenwärtigen nicht mehr zu vergleichen war. Die Verfassungslage war gänzlich verändert. Zudem war eines der wichtigsten Elemente des römischen «ius publicum», nämlich das Sakralrecht, nun Kirchenrecht geworden. In der Reformation war es zersplittert, zum Sonderrecht geworden und taugte nicht mehr als starke Klammer der Reichsverfassung. Alle bisherigen Regeln über das Kirchengut, über die Amtsgewalt der Bischöfe, über Eherecht und Ehescheidung, Eigentums- und Erbrecht der Klosterinsassen und viele andere Materien mussten neu fixiert werden.
Der in der Reformation wirkende «antirömische Affekt» unterstützte zusätzlich die Tendenz, Kaiser und Reich aus eigener Wurzel zu begründen und die päpstliche Version der Übertragung des spätantiken Reichs durch den Papst auf Karl d. Gr. im Jahr 800 durch eine eigene säkularisierte Konstruktion zu ersetzen. Dass dieses Reich dennoch bis zu seinem Ende als «heilig» und als «römisch» bezeichnet wurde, gab ihm noch einen gewissen Glanz. Im Zeichen dynastischer Großmachtpolitik bedeutete dies jedoch fast nichts mehr, vor allem in der Zeit nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs (1648) und dem Ende des Reichs selbst (1806).
Der Schwerpunkt des römischen Rechts lag also nach wie vor im allgemeinen Schuldrecht, im speziellen Vertragsrecht, im Pfandund Hypothekenrecht sowie im Erbrecht. Seine Bedeutung bestand vor allem darin, dass es die juristische Argumentationsweise schulte, den nun immer wichtiger werdenden «Juristenstand» intellektuell vereinheitlichte und ihm die Mittel an die Hand gab, gerichtliche Entscheidungen oder Gutachten rational und textgestützt zu begründen[28]. Dies gilt auch für das Strafrecht, das sich aus einheimischen Traditionen gebildet und inzwischen vom römischkanonischen Prozessrecht überlagert worden war. Das altrömische Strafrecht war nur noch in Resten vorhanden, und auch diese verschwanden, seit sich das Reich 1532 zu einem eigenen Strafgesetzbuch durchgerungen hatte. Diese Constitutio Criminalis Carolina (CCC) galt nun als Reichsgesetz, bis es im 18. und 19. Jahrhundert von anderen Gesetzbüchern abgelöst wurde, zuletzt durch das Reichsstrafgesetzbuch von 1871.
Insgesamt führten also die seit dem Wormser Reichstag und seinen Reformgesetzen von 1495 veränderte Verfassungslage, die in alle Lebensbereiche hineinwirkende kirchliche Reformation, die aus ihr folgende Konfessionsspaltung und die Religionskriege zu ganz neuen Bedingungen für «diejenigen Regeln und Strukturen, die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen» (Willoweit). Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, wie es seit dem Spätmittelalter genannt wurde, war nicht mehr mit dem römischen und nun «gemeinen» Recht zu regieren. Seine Legitimation war brüchig geworden. Der moderne Staat kündigte sich als Gesetzgebungsstaat an, und zwar mit dem Anspruch, bisher geltendes Recht beiseite zu räumen.
Wie das römische Recht war auch die «Lehre von der Politik» (Politica) ein Erbe der Antike. Der während des gesamten Mittelalters an den Universitäten verwendete Text war die «Politik» des Aristoteles aus dem 4. Jahrhundert vor Christus. Er war um 1260 von Wilhelm von Moerbecke aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt worden und bildete von da an die Grundlage für die Frage nach der Entstehung des Staates und der Stellung der Bürger in ihm, nach den Staatsformen Monarchie, Aristokratie und Politie samt ihren Entartungsformen Tyrannis, Oligarchie und Demokratie. Anhand dieses Textes diskutierte man auch über die Tugenden des Monarchen, über das «rechte Regiment», über Verfassungswandel und Heilung von «Staatskrankheiten» sowie über die Erziehung der Bürger.
In der Juristenausbildung des Spätmittelalters spielte diese «Verfassungslehre» aber nur eine geringe Rolle. Sie wurde in der Artistenfakultät (später: Philosophische Fakultät) gelehrt und bildete dort neben der Ethik (Individuum) und der Ökonomie (Haus) die dritte Stufe menschlicher Vergesellschaftung (Staat). Ob Juristen an diesem vorbereitenden Unterricht in größerer Zahl teilnahmen, darf bezweifelt werden. Sie hatten mit dem römischen Recht und dem Kirchenrecht mehr als genug zu tun.
Nachdem dann die Reformation die Lehre auf der Grundlage des «Heiden» Aristoteles für ein Jahrzehnt unterbrochen hatte, setzte 1530/31 mit der Autorität von Philipp Melanchthon eine neue Blüte des Neo-Aristotelismus an den protestantischen Universitäten ein. Sie reichte bis etwa zum zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts. In diesem Zeitraum erschienen zahlreiche «Politiken», die ganz unterschiedliche geistige Traditionen, Konfessionen und politische Bedingungen widerspiegelten, aber immer wieder das aristotelische Urbild durchschimmern ließen. Sie stammten von Lutheranern (Henning Arnisaeus, Georg Schönborner, Hermann Conring), Katholiken (Francisco de Suárez, Pedro de Ribadeneira, Gregorius Tolosanus, Adam Contzen) und Reformierten (Lambertus Danaeus, Johannes Althusius, Bartholomaeus Keckermann). Speziell an lutherischen Universitäten gab es eine Welle von Disputationen, Dissertationen, Handbüchern, Systemen und Spezialtraktaten zur Politik, «und zwar gleichzeitig mit der Etablierung des Jus publicum»[29].
Diese Politiken waren in unterschiedlicher Intensität religiös gebunden. Einige von ihnen suchten einen überkonfessionellen Standpunkt, etwa die «Politik» des genialen niederländischen Philologen Justus Lipsius von 1589, die vor allem aus Tacitus-Zitaten montiert war. Sie war sensationell erfolgreich, nicht nur wegen ihrer sprachlichen Eleganz, sondern weil Lipsius den konfessionell einheitlichen, wohlgeordneten, starken Staat predigte und weil er die Anstoß erregenden Thesen des Florentiner Politikers Niccolò Machiavelli (1469–1527) abmilderte und geschickt vermittelnd vortrug. Die Kernfragen lauteten, ob Politik und Religion getrennten Sphären angehörten und ob der handelnde Staatsmann Betrug und Gewalt einsetzen dürfe. Machiavelli hatte bekanntlich die Autonomie der Politik gegenüber kirchlichen Ansprüchen vertreten und unter bestimmten Bedingungen keine Bedenken getragen, dem Politiker das Recht auf Betrug und Gewalt zuzubilligen. In Machiavellis Umkreis und wohl noch zu seinen Lebzeiten tauchte in Florenz die Formel von der «Staatsräson» (ragione di stato) auf. Nach Staatsräson zu handeln bedeutete seitdem, im politischen Kampf die eigenen und die fremden Kräfte nüchtern zu kalkulieren (ragione = Rechnung) und die Ziele des Gemeinwesens zu verfolgen, ohne auf Religion und Moral mehr als nur taktisch Rücksicht zu nehmen. Diese für seine Zeit außerordentlich kühnen Thesen führten nicht nur zu einem kirchlichen Verbot von Machiavellis Schriften, sondern zur Verteufelung einer unmoralischen Politik als «machiavellistisch».
Wer seine Fragen, etwa von der Erlaubtheit des Betrugs oder von Kriegslisten, erörtern wollte, ohne Machiavellis Namen zu nennen, konnte dies anhand der Schriften des antiken Autors Publius C. Tacitus (ca. 58–120 n. Chr.) tun. Tacitus war nach seiner Wiederentdeckung im 15. Jahrhundert in Deutschland besonders beliebt, weil er ein Sittenbild der tugendhaften alten Germanen geschrieben hatte («Germania»). Für Europa wichtiger waren aber seine Annalen und Historien, aus deren Kommentierung sich eine Debatte der praktischen Ethik und Politik entwickelte, die «Tacitismus» genannt wurde und sich selbst wiederum in eine republikanische und eine absolutistische Hauptströmung teilte[30].
Für die Juristen, die am Ende des 16. Jahrhunderts ihre städtischen Obrigkeiten, ihre Landesherren oder den Kaiser in Wien zu beraten hatten, genügten die geringen staatsrechtlichen Elemente des römischen Rechts, die Berufung auf den neu kommentierten Aristoteles oder auf Ciceros «De re publica» allerdings nicht mehr. Auch die Bibel war ein allzu auslegungsbedürftiges Hilfsmittel, ebenso die von den Humanisten wiederentdeckten Staatsschriften des Mittelalters, von denen man typischerweise solche bevorzugte, die dem päpstlichen Herrschaftsanspruch entgegentraten.
Um juristisch aussichtsreich zu argumentieren, musste man sich der Reichsverfassung selbst zuwenden. Die lutherische Reformation und der Bauernkrieg von 1525, die Religionskriege und die Reichskrise im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts drängten auf Auslegung der konkret für das Reich und seine «Verfassung» maßgeblichen Normen. Welche Normen aber waren maßgeblich? Es waren die eingangs bereits genannten «Reichsgrundgesetze».
Ranghöchstes Gesetz dieser Art war ohne Zweifel die Goldene Bulle von 1356, die vor allem das Verfahren der Kaiserwahl festlegte. Sie nannte die zunächst geltende Zahl von sieben Königswählern (Kurfürsten) und fixierte das Wahlverfahren[31]. 1495 kam eine Gruppe wichtiger Reichsgesetze hinzu, vor allem die Eindämmung des Fehdewesens, also erlaubter Privatkriege, durch die Erklärung eines «Ewigen Landfriedens» sowie die Gründung des Reichskammergerichts, dem bald der Reichshofrat in Wien folgte. Seit der Wahl Kaiser Karls V. wurden bei jeder Kaiserwahl die Wahlkapitulationen beschlossen, also die in «Kapiteln» niedergelegten Vereinbarungen zwischen dem Wahlkandidaten und den Reichsständen[323334