Johannes Czwalina

Wer mutig ist,
der kennt die Angst

Zivilcourage statt Opportunismus –
denn nur wer Stellung bezieht,
ist wirklich frei

Impressum

Gewidmet meinen Söhnen Raphael, Michael, Gabriel, David

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783865066503

© 2008 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, D-Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: Getty Images

Satz: Satzstudio Winkens, Wegberg

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Brief an den Bonner Pfarrer Bernhard Custodis

Einleitung – Warum ist Zivilcourage nötig?

1. Wahrnehmungen

Was bedeuten Mut und Zivilcourage?

Nichts ist so faszinierend wie gelebter Mut und Authenzität

Was bewirkt die Anpassung gegen die inneren Überzeugungen?

Warum passte sich Liu Shao-Chi nicht an?

Sind wir noch fähig zum Mut?

Zählt nur noch der Mut von gestern?

Macht Demokratie Zivilcourage überflüssig?

Warum sind Situationen, die unseren Mut herausfordern, bedeutungsvoll?

Wo und wann werden Mut und Zivilcourage gebraucht?

2. Ausblicke

Wesensmerkmale mutiger Menschen

Auswirkungen unterlassener Zivilcourage auf den Einzelnen

Auswirkungen gelebter Zivilcourage auf den Einzelnen

Auswirkungen gelebter Zivilcourage auf die Gesellschaft

Eine gute Nachricht für Feiglinge

3. Lösungen

Vom Gefangensein der Angst zur Freiheit des Mutes

Der Angstkreislauf

Der Mutkreislauf

Von der Angst zum Vertrauen

Authentizität ist unser Schlüssel

Was ist Authentizität?

Wesensmerkmale unserer menschlichen Authentizität

Ursachen für fehlende Authentizität

4. Aufbruch

Aufbruch zur Authentizität

Aufbruch zum Mut

Anatomie einer mutigen Entscheidung

Die Lebensplananalyse – eine Reflexionshilfe für mehr Mut

Fragen zur Selbstprüfung

Schlusswort

Literaturhinweise

Endnoten

Wer wagt es, sich den daherdonnernden Zügen entgegenzustellen? Es sind die kleinen gelben Blümchen zwischen den Gleisschwellen.

»Ich glaube, dass, wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tage öffentlich von den Kanzeln aus dagegen Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhindern können. Das ist nicht geschehen, und dafür gibt es keine Entschuldigung. Wenn die Bischöfe dadurch ins Gefängnis oder in Konzentrationslager gekommen wären, so wäre das keine Schande, im Gegenteil. Alles das ist nicht geschehen, und darum schweigt man am besten.«

Konrad Adenauer in einem Brief

an den Bonner Pfarrer Bernhard Custodis

vom 23. Februar 19461

Einleitung

Warum ist Zivilcourage nötig?

Uneigennütziger Mut steht im Widerstreit zu aktuellen Verhaltensweisen unserer Zeit. Das Bedürfnis, die eigene Haut zu retten, lässt in einer Welt, die stark auf individuelles Glück ausgerichtet ist, die egoistischen Ziele siegen. So neigen viele dazu, Werte, Freundschaften, Lebensgrundsätze spätestens in dem Moment hintanzustellen, wo sie Karriere »riechen«.

Das Auffällige an mutigen Menschen ist, dass sie nichts Auffälliges an sich haben.

Einige wenige Menschen haben in der Weltgeschichte viel erreicht, weil sie mutig waren. Francesco Guicciardini resümierte in seinen Erinnerungen an seine politischen Erfahrungen in der Republik Florenz, »dass fast immer die Wenigen Neues in Gang bringen und die Ziele dieser Wenigen fast immer den Begierden und Wünschen der Mengen entgegen sind«2.

Opportunismus und Machtgehabe sind die Gesichter der Feigheit. Feigheit ist das Gegenteil von Mut. Die tägliche Begegnung mit diesem Phänomen veranlasst mich, dieses Buch zu schreiben.

Nach der intensiven Beschäftigung mit den Biografien mutiger Menschen bemerkte ich keine besondere Auffälligkeit. Das Auffällige an diesen Menschen ist, dass sie nichts Auffälliges an sich haben.

Einige der Mutigen waren Menschen mit viel Selbstwertgefühl, in einem liebevollen Elternhaus aufgewachsen, mit einem gesunden Einfühlungsvermögen. Andere waren durch starke Kindheitsdefizite und Mobbing gezeichnet. Unter ihnen gab es narzisstisch veranlagte Menschen, impulsive, jähzornige, emotional verletzte Choleriker und solche, die durch mutige Taten andere Defizite kompensieren wollten. Auch Ängstlichkeit und Selbstzweifel waren Merkmale von vielen, die Mut bewiesen.

Diese Beobachtung der Uneinheitlichkeit verwirrte mich zunächst, war ich doch auf der Suche nach Anhaltspunkten, die ich anderen zum Erlernen von Zivilcourage mit auf den Weg geben kann. Andererseits beruhigte mich diese Beobachtung. Wären sie anders, könnten sie mit ihren moralischen Maßstäben wieder andere unterdrücken, wieder Urheber von Diktaturen sein, gegen die sich dann andere wieder auflehnen müssen.

Gerade diese unvollkommenen Repräsentanten halfen mir auf meiner Suche nach Erkenntnissen weiter, weil sie mich von der Messlatte unerreichbarer Vorbilder befreit haben.

So ist gerade die Angst die wichtigste Voraussetzung für Mut. Ich habe keinen einzigen mutigen, zivilcouragierten Menschen getroffen, der Angst nicht kennt. Im Gegenteil: Je mutiger ein Mensch war, desto ängstlicher war er. Ohne Angst zu kennen, können wir gar nicht mutig sein. Mut bedeutet, trotz der Angst das Richtige zu tun.

Wir kommen nicht an einer persönlichen Auseinandersetzung mit uns selbst vorbei.

Wenn wir davon ausgehen, dass nachhaltige Veränderungen immer von innen nach außen gehen und nicht umgekehrt, dann können wir der Frage nach unserer persönlichen Authentizität, die Grundstein für jede Art von Mut und Zivilcourage ist, nicht ausweichen. Dabei kommen wir nicht an einer persönlichen Auseinandersetzung mit uns selbst vorbei. Wenn wir mutig werden wollen, müssen wir uns also mit dem Thema unserer Authentizität befassen. Sobald uns der unverzichtbare Wert unserer Authentizität bewusst wird, werden wir nur noch von einem Ziel erfüllt sein: authentisch zu leben, auch unter Druck!

Mut und Zivilcourage zu beweisen ist wirklich nicht mehr als der Entschluss, auch unter Druck authentisch zu bleiben.

Ich möchte auch transparent machen, warum gelebte Zivilcourage und Integrität die bedeutenden Wurzeln für langfristiges und nachhaltiges seelisches Wohlergehen sind.

Ich habe in den letzten Jahren systematisch Hunderte von Führungskräften gefragt, was sie anders machen würden, wenn sie noch mal von vorne anfangen könnten. Die meistgehörte Antwort war Bedauern, in entscheidenden Situationen ihres Lebens nicht mehr Mut gewagt zu haben.3

Zivilcourage ist uns nicht angeboren. Wir tragen sie als Geschenk in uns, das wir erkennen und annehmen können.

Zivilcourage ist uns nicht angeboren. Wir tragen sie als Geschenk in uns, das wir erkennen und annehmen können.

Mut ist nicht einfach inszenierbar. In den Medien, in öffentlichen Aufrufen, in den Kommentaren, Berichten und Leitartikeln, in Predigten etc. wird couragiertes soziales Verhalten regelmäßig eingefordert. Es bleibt jedoch vielfach bei den moralischen Appellen, ohne konkrete Handlungsanleitung. Es geht um die Bestimmung des guten gegen das böse Handeln, und da fragt man sich: »Was ist gutes Handeln und was ist böses Handeln?« Gerade weil wir die Moral nicht gepachtet haben, gerade weil wir die Ethik nicht besitzen, sondern lebendig Ethik neu gesucht und ertastet werden muss (vgl. Albert Schweitzer), können wir uns nur gemeinsam auf die Suche nach Grundlagen für Zivilcourage begeben.

Johannes Czwalina

Februar 2008

1. Wahrnehmungen

Beginnen wir mit der trockenen Begriffsklärung. Für Zivilcourage und Mut gibt es unzählig viele Definitionen. Jede einzelne stellt einen wichtigen Mosaikstein für ein umfassendes Verständnis unseres Themas dar.

Was bedeuten Mut und Zivilcourage?

Zivilcourage setzt sich aus den beiden Wörtern zivil und courage zusammen. Zivil stammt vom lateinischen Wort civilis ab, was so viel bedeutet wie bürgerlich, nicht militärisch. Zivilcourage kann als der Mut des Bürgers übersetzt werden und bezog sich vermutlich ursprünglich auf eine bestimmte Art des Auftretens gegenüber nichtzivilen Autoritäten wie Militär und Polizei.4 Das Wort Zivilcourage gibt es im Englischen übrigens nicht. Im Englischen ist Courage gleich Courage, egal, ob man Uniform trägt oder nicht. Englischer Mut ist »courage«. Das englische mood heißt neben Sinn, Gesinnung auch Laune, Stimmung, nicht aber Mut.

Im Griechischen steht für Mut und Tapferkeit der Begriff andreia.

Im Deutschen wird das Wort »Mut« verwendet im Sinn von Wagemut, Unerschrockenheit, Unternehmungsgeist, Kühnheit.

Das französische Wort courage bedeutet aber nicht nur Mut. Es ist inhaltsschwerer. Der Ursprung des Wortes courage – vom französischen coeur = Herz – deutet in die Richtung, wo der Mut seine Heimat hat: nicht im Kopf, sondern im Herzen. Von dorther kommen dann auch Kraft und Halt für richtige Lebensführung, wie sie nur von »innen« kommen kann und wofür selbst das kunstvollst geschnürte Korsett von äußerlich aufgesetztem Verhaltenstraining kein Ersatz sein kann.

In zusammengesetzten Wörtern bekommt der Einsilbler zahlreiche Bedeutungen, die mehr zu dem französischen als zu dem lateinischen Ursprung des Wortes eine Brücke schlagen: Im Lateinischen finden wir für Mut das Wort animus. Animus kann Mut heißen, bedeutet aber ähnlich wie im französischen Ursprung auch Sinn, Geist, Gesinnung, analog zu anima sogar Seele. Wer von einem anmutigen jungen Mädchen spricht, denkt nicht an Waffengeklirr, sondern an ein Wesen, das ihn »anmutet«, das mit seiner Seele an seine eigene rührt. Wir bekommen bereits bei der Begriffserklärung des Wortes Mut ein Gespür dafür, dass wir es mit einem »gefüllten« Begriff zu tun haben, so als ob in ihm die Seele einer ganzen Menschheitsgeschichte verborgen liegt, und wenn wir uns gemeinsam die Zeit nehmen, dieses Wort Mut lange genug auf uns einwirken zu lassen, könnte es uns wie in einem Märchen gehen, in dem die Bilder und Figuren plötzlich anfangen, sich zu bewegen und zu sprechen. Dann profitieren wir gemeinsam von dem Erfahrungswert einer Menschheit, die mehr Herausforderungen in Kriegen und Leid und Entbehrung erfahren musste als in den wenigen Zeiten des Friedens und der die Herausforderung zum Mut in all seinen Schattierungen keinen Moment ihrer Geschichte erspart blieb.

Lassen Sie uns noch einen Augenblick bei dieser breit gefächerten Wahrnehmung des Wortes Mut bleiben, welche sich uns besonders in seinem lateinischen Ursprung und in seiner Zusammensetzung mit anderen Silben erschließt: Wir reden beispielsweise von einem heiteren, einfachen, lebhaften »Gemüt«. Gemüt ist der umfassendere Begriff; das althochdeutsche Wort »muot« wurde in diesem Sinne verstanden. Die Schwermut weist auf eine düstere Gemütslage hin. Bei Großmut denken wir an einen Menschen, der alle an sein großes Herz nimmt, der beschenken und verzeihen kann. Der Freimütige hat sein Herz auf der Zunge, der Mutwillige tut des Guten zu viel und riskiert dadurch Ärger – das kann eine Zumutung werden. Der Hochmütige, wie ich später noch erläutern werde, kann durchaus ein Feigling sein, doch wird er diesen Mangel an Mut niemals zugeben können, denn er hält sich für besser als andere. Der Unmutige kann sonst ein mutiger Mensch sein, ist jedoch vorübergehend schlechter Stimmung. Gleichmut kann eine gute Haltung sein, grenzt aber oft an Gleichgültigkeit: Wessen Herz nicht bewegt ist, kann leichter seine Ruhe bewahren. Ein Übermütiger weiß nicht, wohin mit seiner überschüssigen Energie. Er kennt nicht das Maß, und seine Hochstimmung kann schnell umschlagen.

Bleibt neben Frohmut und Langmut noch die Demut. Demut begegnet uns etymologisch erstmals in Form der »diemout« oder Dien-Mut im Sinne einer dienenden Gesinnung oder Grundhaltung. Dass diese im direkten Gegensatz zum Hochmut steht, der bekannterweise vor dem Fall kommt, bedarf kaum der Erläuterung. Bescheidenheit als gelebte Demut hat insbesondere den Mut, mit sich selbst redlich und aufrichtig umzugehen, zu den eigenen Schwächen und Fehlern zu stehen und sie damit auch dem Anderen, dem Nächsten, dem Mitarbeiter zuzugestehen. Demut ist eine Tugend, welche an Beliebtheit viel verloren hat. In den geistlichen Orden allerdings wird sie hochgehalten, zusammen mit der Armut. Armut hat zwar sprachlich nichts mit Mut zu tun. Keiner jedoch wird bestreiten, dass das Ertragen der Armut sowohl des Mutes als auch der Demut bedarf.

Vergessen wir nicht die Sanftmut, die durchaus ein Gesicht des Mutes ist. Eine chinesische Lehre, die aus einer Zeit jahrelanger Kriegsnöte herauswuchs, sagt: »Dass das Schwache das Starke besiegt, dass das Weiche das Harte besiegt, weiß jedermann auf Erden, aber niemand vermag danach zu handeln.«5

Zivilcourage ist die altruistische Seite von Mut

Während Mut sich entweder auf die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse oder auf die Erfüllung von Bedürfnissen anderer beziehen kann, bezieht sich Zivilcourage immer nur auf die Bedürfnisse anderer. Zivilcourage ist sozialer Mut. Sozial mutig handeln heißt, sich freiwillig, sichtbar und aktiv für die legitimen Interessen anderer Menschen oder für allgemeine humane und demokratische Werte einzusetzen.

Zivilcourage bezeichnet ein »mutiges Verhalten, mit dem jemand seinen Unmut über etwas zum Ausdruck bringt ohne Rücksicht auf mögliche Nachteile oder eventuelle Folgen gegenüber Obrigkeiten, Vorgesetzten«.6

Zivilcourage ist sozialer Mut. Sozial mutig handeln heißt, freiwillig, sichtbar und aktiv für allgemeine humane und demokratische Werte, für die legitimen Interessen vor allem anderer Menschen, einzutreten.

Zivilcourage ist eine Eigenschaft im Umgang mit anderen, denen man sich öffnet und aussetzt. Sie bedeutet das Wissen um die Verantwortung nicht nur sich selbst gegenüber, sondern auch gegenüber der Gemeinschaft und Gesellschaft. Zivilcourage ist ein Handeln, das auf Mut, Gemeinsinn und Orientierungsvermögen zugleich beruht.7

Da wir nicht nur Unterschiedlichkeit, sondern auch Gleichheit in der Bedeutung von Mut und Zivilcourage feststellen, werden wir beide Begriffe in diesem Buch synonym zur Anwendung bringen. Aus dem Kontext wird die jeweilige Bedeutung klar hervorgehen.

Zivilcourage ist Stärke

Fortitudo ist eine der vier Kardinaltugenden (Prudentia, Temperantia, Fortitudo und Justitia), die sich im Laufe der abendländischen Geschichte unter den sieben Grundtugenden als besonders relevante und zeitlose Werte herauskristallisiert haben. Fortitudo bedeutet Entscheidungsstärke, Mut, Zivilcourage. Der Gegensatz von Fortitudo ist Inconstantia, was so viel bedeutet wie Unentschiedenheit oder Wankelmut.

Aristoteles bezeichnete Mut als eine Tugend. Tugenden liegen nach dem Philosophen in der Mitte zwischen zwei Extremen. Mut liegt zwischen den beiden Extremen Feigheit und Leichtsinn. Der Mutige kann die beiden Extreme ausbalancieren. Mut oder Zivilcourage ist die aktive Balance zwischen Feigheit und Leichtsinn.

Zivilcourage ist in Friedenszeiten das, was in Ausnahmezeiten Widerstand ist

Dem Mut des Einzelnen in einer zivilen, bürgerlichen Gesellschaft entspricht die Gehorsamsverweigerung bis zum Widerstand in einer Gesellschaft, die überwiegend auf Befehl und Gefügigkeit setzt. Zivilcourage für eine Zivilgesellschaft ist also das Pendant zu dem, was in einer autoritären Gesellschaft Widerstand bedeutet. Sie ist die demokratische Tugend eines Bürgermuts, die durch ständige Übung, bei gleichzeitiger, schrittweiser Überwindung der Angst und des Konformismus, entsteht.8 Nur wenn Zivilcourage im Alltag eingeübt wird, kann der Widerstand im Ausnahmefall funktionieren.

Nur wenn Zivilcourage im Alltag eingeübt wird, kann der Widerstand im Ausnahmefall funktionieren.

Dennoch kann man eine Haltung des Mutes in Friedenszeiten nur sehr bedingt mit dem Widerstand in Diktaturen vergleichen. Die Schwägerin von Dietrich Bonhoeffer schreibt in ihren Memoiren zu Recht: »Wenn heute bei uns im Westen von Widerstand gegen Nachrüstung im Vergleich mit Widerstand gegen Hitler gesprochen wird, so ist der Vergleich so unmöglich wie ein Vergleich zwischen Apfel und Stuhlbein.«

Zivilcourage ist Überwindung von Angst

Zivilcourage ist eine Handlung, die sich von der normalen Handlungsweise abhebt und die eigenen Grenzen überwindet. Darum spielt bei praktizierter Zivilcourage auch immer die Überwindung von Angst eine Rolle. Angst ist eine individuell unterschiedlich geartete Grenze, die vor gefahrvollen Handlungen schützen kann. Zivilcourage geschieht in der Auseinandersetzung mit der Angst. »Hier tut ein Mensch, was er zu tun hat – trotz aller persönlichen Folgen, trotz aller Hindernisse, Gefahren und Drohungen.«9

Zivilcourage ist eine minoritäre Überzeugung

Zivilcourage ist das Entstehen einer individuellen, im Verhältnis zum Zeitgeist minoritären Überzeugung. Weil am Anfang einzelne Bürger ihre Überzeugung bekannten, wurden später durch den Mut Einzelner viele bewegt und dadurch grundlegende Veränderungen bewirkt.

Zivilcourage orientiert sich an menschlichen Grundwerten und am persönlichen Gewissen.

Zivilcourage ist das Gesicht der Authentizität

Zivilcourage ist der lebendige Ausdruck von Authentizität. Zivilcourage bedeutet, Authentizität auch unter Druck zu bewahren. Sie ist der Mut, für die persönliche Überzeugung notfalls auch gegen den Zeitgeist und gegen die durch den Zeitgeist geprägte öffentliche Meinung einzustehen, auch auf die Gefahr hin, dass einem dadurch erhebliche persönliche Nachteile entstehen. Zivilcourage ist eine öffentliche und offene Meinungsäußerung. »Den Menschen und den Sachen gerade in die Augen zu sehen und sich dabei auszusprechen, wie einem eben zumute ist, dieses bleibt das Rechte, mehr soll und kann man nicht tun.«10 So kommt auch Rainer Werner Fassbinder zu dem Schluss: »Ich werde lieber gehasst für das, was ich bin, als geliebt für das, was ich nicht bin.«11

Zivilcourage heißt Verantwortung übernehmen

Wer Zivilcourage zeigt, übernimmt aktiv, freiwillig und eigenständig Verantwortung für andere und für sich selbst.

Zivilcourage ist ein bewusstes Wahrnehmen von Verantwortung im überschaubaren, unmittelbaren und persönlichen Wirkungs- und Gestaltungskreis. Sie umfasst das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, ohne die Angst vor etwaigen Reaktionen mit Problemen und Situationen umgehen zu können.12 Wer Zivilcourage zeigt, übernimmt aktiv, freiwillig und eigenständig Verantwortung für andere und für sich selbst. Zivilcourage ist ein innewohnendes Lebensmuster, das sich in gegebenen Situationen spontan ergibt und abrufen lässt.

Zivilcourage ist eine Verbindung von Charakter und Persönlichkeit

Ein Mensch mit Zivilcourage zeigt, dass er um sein individuelles Gewissen und seine Verantwortungspflicht weiß, die ihm keiner abnehmen kann. Zivilcourage ist eine Tapferkeit des Herzens.13 Diese verbindet sich beim gereiften Menschen mit dem, was seinem eigentlichen Wesen und seinem Wollen wirklich entspricht. Nur in dieser Verbindung gelangt der Mensch zu der Wirkungsqualität, die ihn in der Einwirkung auf andere wertvoll und echt macht.

Zivilcourage richtet sich in erster Linie nach Werten, nicht nach Zielen

Das Wesen der Zivilcourage besteht nicht darin, nach Erfolg zu fragen, sondern bedeutet in erster Linie, vom Wert bestimmt zu sein und sich an den Werten auszurichten. Das übergeordnete Prinzip sind die Werte und nicht die Ziele. Deswegen wird derjenige, der echte Zivilcourage leistet, diese unabhängig vom Erfolg seiner Tätigkeit ausüben. Zivilcourage zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie aktiv wird, ohne vom Ziel her gewiss zu sein. Das Wesen der Zivilcourage besteht nicht darin, andere Menschen um jeden Preis überzeugen zu müssen. Sondern ihr Wesen besteht in der Fähigkeit, anderen gegenüber das frei ausdrücken zu können, was man denkt und fühlt.

Zivilcourage ist für jeden verfügbar

Mut und Zivilcourage sind für jeden verfügbar. Die Fähigkeit des Menschen zum Mut macht Zivilcourage möglich, die Neigung des Menschen zur Feigheit macht Zivilcourage nötig. Der wirklich Mutige ist niemals angstlos, sondern stellt sich der ängstigenden Situation in dem Bewusstsein, verwundbar zu sein.

Schließlich ist festzustellen, dass Zivilcourage nicht verordnet werden kann. Zivilcourage entsteht immer aus persönlichem Antrieb und eigener Initiative.

Nichts ist so faszinierend wie gelebter Mut und Authentizität

Wenn ich zurückblickend überlege, was mich schon als Kind am meisten beeindruckt hatte, dann waren es Menschen, die sich mit Mut und der Bereitschaft, persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen – bisweilen unter Einsatz ihres Lebens –, für eine gerechte Sache eingesetzt hatten. Es handelte sich um authentische Menschen, die auch unter Druck und widrigen Umständen so blieben, wie sie waren, die sagten, was sie dachten, und die lebten, wie sie redeten. Einige von diesen Wenigen kamen leider nur in Filmen oder Abenteuerbüchern vor.

Warum sind Menschen feige?

Was mich als Kind bisweilen in Konflikt mit der Erwachsenenwelt brachte, waren meine als vorlaut abgestraften Entgegnungen auf gewisse Erklärungen. Wenn ich Erwachsene auf ihre fehlende Zivilcourage in schweren Zeiten angesprochen hatte, führten sie ihre Fürsorgepflicht für die Familie ins Feld und antworteten mit: »Wir hatten ja keine andere Wahl.« Oder sie beriefen sich auf ihre Ahnungslosigkeit: »Wir haben ja im Grunde von nichts gewusst.« Sie waren also aus Selbstschutz bewusst ignorant. Oder die »besondere Situation« wurde als Ausrede verwendet: »Die Umstände haben es nicht zugelassen.« Aber wann lassen es die Umstände überhaupt zu, mutig zu sein?

Emmi Bonhoeffer reflektiert: »Es gibt in der ganzen Welt, glaube ich, keine Widerstandsbewegung, wenn es den Leuten von Tag zu Tag besser geht. Moralische Gründe und politische Weitsicht reichen nicht aus, wenn die Leute Butter auf dem Brot haben. Ich habe nach dem Krieg mal in Kärnten Urlaub gemacht und dort mit einem Bauern gesprochen. Ich fragte: ›Sie leben hier in einer fromm katholischen Gegend. Wie war das eigentlich während des Krieges? Hat der Priester Ihnen gesagt, wie wir uns in Russland benahmen, was da in Polen in den Konzentrationslagern passierte?‹ Der Bauer antwortete: ›Wir waren fünf Kinder, mein Vater arbeitslos, mein großer Bruder auch, meine Mutter arbeitete acht Stunden auf dem Nachbarhof für einen Liter Milch, und dann kam Hitler. Mein Vater kriegte Arbeit, mein Bruder auch, meine Mutter konnte zuhause bleiben, und Sie fragen, was der Priester sagte.‹ Brecht hatte es auf die kurze Formel gebracht: ›Erst kommt das Fressen, dann die Moral.‹ So ist der Mensch.«14

Es gab eine Menge guter Kollegen, denen ihre Karriere wichtiger war als persönliche Werte.

Die größten Enttäuschungen erlebte ich mit Menschen, die gekniffen haben, wenn es auf sie ankam. Es handelte sich um sogenannte Freunde, die plötzlich nicht mehr da waren, wenn rechterhalten der Freundschaft Nachteile brachte. Sie tauchten unerwartet unter, weil ihnen Machtpositionen und Anerkennung plötzlich mehr bedeuteten als die Verbindlichkeiten einer Freundschaft. Es gab eine persönliche Werte, von denen sie vorher ihr Persönlichkeitsprofil ableiteten. Natürlich hatten alle immer eine plausible Erklärung parat.

Wenn es sogar Nachteile für die eigene Karriere bringt, sich hinter den Freund zu stellen, hält im Business nur noch ein Prozent der Betroffenen zum Freund.

Von einem Unternehmensberater wurde mir Folgendes berichtet: Wenn ein Vorstand in seinem Unternehmen in Ungnade fällt, kann er sich kaum auf seine Freunde verlassen. Wenn es für die anderen Nachteile bringt, sich hinter seine Person zu stellen, bekunden am Anfang noch 80 Prozent seiner bisherigen Freunde die Solidarität, aber nur dann, wenn dies unter vier Augen geschieht. Sind die gleichen Leute in einer Gruppe mit anderen, bekennen sich nur noch 30 Prozent zu ihrem Freund. Geht es darum, unter Druck, ohne dass es eigene Vorteile bringt, zu dem Freund zu stehen, bleiben nur noch 3 Prozent übrig. Wenn es sogar Nachteile für die eigene Karriere bringt, sich hinter den Freund zu stellen, ist es nur noch 1 Prozent, das zu seinem Freund hält.

In dem Augenblick, in dem der Betreffende couragierte Freundschaft dringend benötigt, fallen die bisherigen Anhänger wie ein lautlos versinkendes Begleitschiff vom bisher Umschwärmten ab. Außer den Konformisten scheint plötzlich auch der Kreis derjenigen, die ihn so gut kennen, dass sie ein echtes Urteil über die Qualität des Diffamierten haben müssten, wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Tief schmerzlich werden dann die Verleumdungen derjenigen Menschen empfunden, die dem nun Entehrten ihr Leben und ihren Aufstieg verdanken. Das ist immer so. Derjenige, der ins Schussfeld einer Hetzjagd gerät, sollte nichts anderes erwarten. Der Angeklagte hatte ein Heer von Menschen gehabt, die ihm zujubelten. Angesichts der Vorwürfe steht er jedoch abrupt verlassen da; denn dem Ansehen der Karriere der einst Verbündeten wäre Freundestreue dieser Art abträglich. Der innerste Kreis hält auch nur, wenn er sehr stabil ist. Es zeigen sich Schadenfreude, Besserwisserei und kopfschüttelndes Missachten in unverblümt taktloser Form. Jeder weiß, wie er es anders und besser gemacht hätte.

Ich erinnere mich auch an meine Schulzeit in Berlin, als wir im Geschichtsunterricht das Dritte Reich durchnahmen. Uns wurde beigebracht, dass wir immer allem misstrauisch gegenübertreten sollen, was uns keine andere Wahl lässt. Wir wurden auf gewisse Sätze als Indikatoren für falsche Gedankensysteme hingewiesen. Wir fragten uns damals als Schüler, warum diese Lehrer, die ja in dieser Zeit, von der sie sprachen, schon mündige Erwachsene waren, nicht schon früher ihre Erkenntnisse umgesetzt hatten, als es noch nicht zu spät gewesen war, und warum sie nicht schon vorher ihre Erkenntnisse lebten, statt später uns zu belehren? Ich schreibe das ohne Groll, und ich frage mich selbst oft, was unsere Enkel einmal in der Schule über fehlende Zivilcourage lernen werden, wenn sie die gegenwärtige Zeitepoche in ihrem Geschichtsunterricht behandeln, und was wir ihnen antworten werden: »Wir hatten keine andere Wahl.«15 –»Der Markt hat uns bedingungslos gezwungen«?

Der Journalist Karl-Otto Saur, dessen Vater unter Hitler Verantwortlicher für die Ankurbelung der Kriegsrüstung und für den Nachschub für Zwangsarbeiter war, schreibt in seiner Biografie, dass er sich immer wieder fragt, wie er sich selbst wohl verhalten hätte damals in der Diktatur. Und er findet keine Antwort darauf. In den Redaktionen, in denen er gearbeitet hat, habe er sich ebenso oft gefragt, was aus seinen Kollegen damals wohl geworden wäre. Wer wäre ein Nazi gewesen? Wer ein Täter? Wer ein Mitläufer? Diesen Blick bringe er nicht mehr raus aus seinem Kopf. Vielleicht sei das auch der Grund, warum Erfolg und Karriere nie Begriffe waren, die er für wichtig hielt im Sinne eines geglückten Lebens. Er habe in seinem Leben nur ein Ziel gehabt: Er wollte es besser machen mit seinen Kindern, als es sein Vater gemacht habe.16

Einige der älteren Generation erinnern sich noch an ein Flugblatt der Harnack/​Schulze-Boysen-Organisation, welches in Berlin im Winter 1941/​42 verteilt wurde.17

»Stellt euch der allgemeinen Angst entgegen! Immer wieder hört man die Redewendung: ›Wir müssen durch! Wenn wir jetzt nicht siegen, geht es uns allen schrecklich an den Kragen. Dies ist das Gerede, das die derzeitigen Machthaber selbst verbreiten, um ihre Herrschaft zu festigen. […] Die Weltgeschichte wird auf keinen Fall ihren tieferen Sinn verlieren, und das Unmögliche wird nicht möglich dadurch, dass wir uns in Verkennung der Dinge bemühen, dem Verbrechen und dem Wahnwitz zum Siege zu verhelfen, nur weil Verbrechen und Wahnwitz sich zur Zeit in Deutschland eingenistet haben.«

Auch heute haben viele resigniert. Sie ahnen zwar, dass Zivilcourage der unter Beweis gestellte Mut zur Suche nach einem sinnerfüllten Leben ist. Aber sie sind zu dem Ergebnis gekommen: Zivilcourage lohnt sich nicht. Sie sind müde geworden und haben den Mut verloren und finden sich mit einem Leben ab, das keine Sinnfragen mehr beantwortet. Sie suchen den Sinn nur noch im Trubel des Alltagsgeschäftes und im Streben nach persönlichem Wohlstand.

Bismarck gebrauchte als erster Deutscher das Wort Zivilcourage.18 In einer Debatte des Preußischen Landtags 1864 wurde er wegen eines kritischen Beitrages ausgepfiffen. Beim Mittagessen sagte ihm ein älterer Verwandter: »Eigentlich hattest du ja ganz recht. Nur sagt man so was nicht.« Da antwortete Bismarck: »Wenn du meiner Meinung warst, hättest du mir beistehen sollen.«

Meine Ausführungen wenden sich genau an diejenigen, die mutig sein wollen und denen diese Eigenschaft wichtiger ist als schnelle Karriere, bei der es auf Opportunismus und Ellenbogen ankommt. Meine Ausführungen wenden sich auch an Menschen, die mutig sein wollen, aber nicht die nötige Kraft dazu aufbringen.

»Willst du was werden, musst du schweigen.

Musst dich zur Erden tief verneigen.

Dass du ein Knecht bist, hat man gerne.

Allem, was recht ist, halte dich ferne.

Lerne den Willen unserer Lenker.

Und auch im Stillen sei kein Denker.«19

So beschrieb Hoffmann von Fallersleben diesen Irrtum schon vor 160 Jahren im Hundertjährigen Kalender – Bezug nehmend auf den deutschen Zeughaussturm am 14. Juni 1848.

Stefan Heim drückte es etwas unpoetischer aus in seiner Rede bei der Wende in Leipzig 1989: »Ein Volk, das gelernt hat, zu kuschen unter dem Kaiser, unter Hitler, unter dem DDR-Regime