MICHAEL BRESSER wurde als Kind mit münsterländischen Spezialitäten wie Panhas und Möpkenbrot aufgezogen. Er plant, in Hannover das erste Knockepott-Restaurant Deutschlands zu eröffnen.
MARTIN SPRINGENBERG braut Bier aus westfälischem Wasser. Dies serviert er in seiner Dülmener Kneipe gerne mit ökologisch angebauten Bleibohnen.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.com/kathrin_hb
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-379-8
Münsterland Krimi
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur
Cologne Media Network, Bonn.
Michael dankt Steffi und Marten und natürlich
Lemmy Kilmister für den Rock 'n' Roll.
Komm wieder auf die Beine, Junge.
Martin dankt Angela, Anabel und Ben und natürlich
Zodiac für den Rock 'n' Roll.
Goodbye Logik,
alles kommt anders als geplant.
Goodbye Logik,
mein Herz besiegt meinen Verstand.
Goodbye Logik,
es ist nichts mehr, wie es war.
Goodbye Logik,
mein Herz besiegt meinen Verstand.
Sebastian Madsen
The Fire Still Burns.
Russ Ballard
Ottos neue Flamme
Noch war meine Welt in Ordnung. Wenn ich morgens aus meiner Villa trat, begrüßte ich den Frühling mit einem Jubelschrei. Das mochte auf Außenstehende befremdlich wirken, aber der Winter mit seinen Minusgraden und Unmengen an Schnee hatte mich kirre gemacht. Von Anfang Dezember bis Ende Januar hatte ich jeden Tag den Weg vom Haus zum Schweinestall freischaufeln müssen, sodass meine Armmuskeln mittlerweile den doppelten Umfang erreicht hatten. Nur gering übertrieben. Während sich das restliche Deutschland über die weiße Pracht zu freuen schien, vermisste ich in der öffentlichen Berichterstattung das Mitgefühl mit verlorenen Seelen in kilometerlangen Staus auf spiegelglatten Straßen, mit bibbernden Passagieren in zugigen Bahnhöfen und mit schlotternden Detektiven beim Räumdienst auf ihren Kotten in der Bulderner Puszta.
Aber jetzt war das Winterchaos vorbei.
Allerdings waren meine Klagen über die Wetterkapriolen der vergangenen Wochen geradezu lächerlich im Vergleich zu den Ereignissen, die mir bevorstehen sollten – aber der Reihe nach.
Just als ich an diesem herrlichen Sonntag die Haustür öffnete, um mein Schwein Pedder mit Resten des gestrigen Ratatouilles zu verwöhnen, fuhr ein Taxi auf meinen Hof. Ich stellte den Eimer ab und zog die Arbeitshandschuhe aus. Mein Freund Otto Baumeister stieg aus dem Gefährt, bekleidet mit einem schwarzen Lodenmantel und ordentlich Pomade im Haar. Otto war Rentner und wohnte in einem Dülmener Seniorenheim. Wir hatten uns bei einem Mordfall kennengelernt, und seitdem stand er mir ab und zu mit Rat und Tat zur Seite.
Der Gute wird alt, dachte ich, als der Rentner sich aus dem Taxi hievte. Mühsam zog er sein Portemonnaie aus der Hosentasche, und ein Schein wechselte den Besitzer.
»Dieter, frohes neues Jahr«, schallerte er mir strahlend zu und humpelte auf einen Stock gestützt in meine Richtung.
»Es ist März, ein wenig spät für Neujahrswünsche.«
»Moment«, stieß Otto hervor, kramte ungelenk in seiner Manteltasche und beförderte ein Blatt Papier ans Tageslicht.
»Hier«, rief er triumphierend aus und deutete auf meinen Namen. »Ich notiere jedes Jahr, wen ich beglückwünscht habe. Hinter deinem Namen fehlt der Haken. Kein Glückwunsch ohne Haken, mein Bester.«
Der Gute schien zu viel Zeit zu haben. Außerdem hatten wir im Februar telefoniert, das hätte ich jederzeit beschworen.
»Sollte ich das wirklich vergessen haben?«, nuschelte Otto in den nicht vorhandenen Bart und kratzte sich am Hinterkopf, wobei er fast hingefallen wäre, wenn ich ihn nicht blitzschnell in den Klammergriff genommen hätte.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte ich und begann mir wirklich Sorgen zu machen. »Komm erst mal rein, ehe du noch kollabierst.«
»Ich bin zurzeit etwas geschwächt, was aber keine Entschuldigung für diesen unverzeihlichen Fauxpas sein soll. Habe über eine Woche im Krankenhaus verbracht. Ich sage dir, das war kein Zuckerschlecken.«
Mittlerweile hatte ich den Rentner in einen bequemen Ledersessel bugsiert. Ich zog seinen Mantel aus und entblößte einen eleganten Dreireiher samt Armani-Krawatte. Ein Gentleman der alten Schule.
Nachdem ich noch eine Fußbank vor seinem Sessel platziert hatte, kredenzte ich einen Kaffee.
»Jetzt mal Butter bei die Fische. Was ist passiert?«
»Hast du momentan viel zu tun?«, erkundigte sich Otto und veredelte das dampfende Getränk mit Biomilch.
»Geht so. Beruflich sieht es entspannt aus. Kein Fall und genug Geld in der Schublade. Aber Freitag und Samstag ist meine Hochzeit mit Karin …«
»In fünf Tagen schon? Na, dann mal herzlichen Glückwunsch.« Otto schien im Moment wirklich durch den Wind zu sein, denn die Einladungskarten waren schon vor Wochen verschickt worden, und der liebenswerte Senior stand weit oben auf der Gästeliste.
Dies sagte ich ihm auch, was ihn zu einem Jubelsprung ansetzen ließ, den er aufgrund seiner schwachen Konstitution jedoch nur andeuten konnte. Streng genommen bewegte er sich nur drei Millimeter in die Höhe. Immerhin trat er die Fußbank um, die ich gleich wieder unter seinen Füßen positionierte.
»Auf jeden Fall scheinen alle heiß darauf zu sein, mich unter die Haube zu bringen. Mein Vater hat sich auf Malle eine junge Schickse angelacht. Obwohl ich diese Arabella noch nie getroffen habe, hat sie für morgen ihren Besuch angekündigt. Sie möchte absolut sichergehen, dass die Vermählung eines Nannen würdig ist. Da mein Vater den Großteil des Juxes bezahlt, kann ich kaum verhindern, dass sie sich einmischt«, grummelte ich und zuckte mit den Achseln.
»Und Karins Verwandtschaft möchte bestimmt auch ein Wörtchen mitreden?«
»Ihre Eltern sind schon vor Urzeiten gestorben. Es gibt nur noch einen Onkel plus Tante, die irgendwo nahe der holländischen Grenze leben. Der Bruder von Karins Mutter. Und natürlich ihr Bruder Gerhard Tilke, der Chefredakteur des Dülmener Kuriers. Bisher habe ich aber noch nichts über spezielle Wünsche der Schumann-Sippe gehört. Der Nannen-Clan ist da deutlich anstrengender.«
»Deine Mutter wird sich kaum blicken lassen, nach dem unschönen Hin und Her wegen der Erbschaft, richtig?«, fügte Otto hinzu und nahm einen Schluck aus der Tasse.
In der Tat hatte Mama sich nicht gerade damenhaft verhalten, als mein Vater im letzten Jahr eine ärztliche Fehldiagnose erhalten hatte und wir uns kurz vor einer riesigen Erbschaft sahen. Als sich herausstellte, dass sich mein alter Herr bester Gesundheit erfreute, hatte sie eine finanzielle Entschädigung für ihre Mühen verlangt. Doch das war eine andere Geschichte.
»Du wirst lachen«, schnaufte ich und grinste. »Während sie mir hier das Leben zur Hölle gemacht hat, hat sie unseren Dorfsheriff Reichert kennengelernt. Die Affäre hat zwar keine Woche gedauert, aber irgendwie will sie wohl doch bei der Hochzeit ihres Sohnes dabei sein. Da ich sie nicht eingeladen habe, hat sie wieder mit Kommissar Reichert angebändelt, und der ist natürlich prompt darauf reingefallen.«
»Du hast Ludger Reichert zu deiner Hochzeit eingeladen?« Otto war ein wenig überrascht, wusste er doch von meinem ambivalenten Verhältnis zu dem Polizisten.
»Ach, weißt du, bei meiner Profession kann ein guter Kontakt zum örtlichen Polizeiapparat weiß Gott nicht schaden, und so habe ich meinem Herzen einen Stoß gegeben und ihn auf die Liste gesetzt.«
Otto wechselte das Thema: »Aber Karin wohnt noch nicht hier, oder?« Er blickte sich fragend um. »Zumindest lässt in deiner Wohnung nichts auf die Anwesenheit einer Frau schließen.«
»Bis zur Hochzeit leben wir getrennt, dann ziehe ich zu Karin. Was aus meinem Kotten wird, haben wir noch nicht entschieden. Ist zwar eine alte Bruchbude, aber irgendwie hänge ich daran. Nun ja, kommt Zeit, kommt Rat. Aber jetzt zu dir: Warum warst du im Krankenhaus, und was kann ich für dich tun?«
Verlegen rieb sich Baumeister die Hände und druckste herum.
»Na los, gib Gas, meine Tiere warten auf Verköstigung.«
»Ist eine längere Geschichte, also wenn du zuerst Pedder füttern möchtest …«
»Geht schon. Also?«
»Du weißt, dass meine geliebte Frau schon lange tot ist und ich seitdem nie wieder etwas mit dem weiblichen Geschlecht angefangen habe. Doch auch im Alter ist man nicht vor Amors Pfeilen gefeit. Ich bin verliebt. Verschossen, verknallt wie ein Jungspund.«
Ich nahm einen kräftigen Hieb Kaffee und setzte mich aufrecht. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
»Meinen Segen hast du. Wer ist die Glückliche?«
»Wir sind noch nicht zusammen«, bemühte er sich hastig klarzustellen. »Ehrlich gesagt weiß ich noch nicht einmal, ob meine Gefühle erwidert werden. Sie ist eine tolle Frau, eine richtige Lady«, schwelgte Otto mit verklärtem Blick.
»Wo hast du sie kennengelernt, und wer ist es überhaupt?«
»Älteren Semestern wird in Dülmen nicht viel geboten. Das kulturelle Programm lässt zu wünschen übrig. Ich habe schon einige Eingaben an die Stadt gemacht, aber natürlich ohne Resonanz.«
Baumeister war eine Seele von Mensch, aber seine Umständlichkeit raubte mir manchmal den letzten Nerv.
»Otto!«
»Schon gut. Kennst du das ›Hotel Metropol‹? Ein prächtiges Landhaus zwischen Dülmen und Coesfeld, idyllisch am Waldrand gelegen. Ernst Hofbauer, der Eigentümer, ist ein großer Kulturfreund. Seit Jahren holt er renommierte Künstler in sein Haus, die bunte Abende veranstalten.«
»Und?«
»Vor einem Monat war ich dort, weil mir im Seniorenheim die Decke auf den Kopf gefallen ist. Ich hatte zwar keine Ahnung, was geboten wurde, aber schließlich liebe ich Überraschungen.«
»Und dann hat Tina Turner im Duett mit Bonnie Tyler gesungen?«, schnatterte ich alter Scherzkeks.
»Gott bewahre, nicht meine Musik. Nein, auf dem Programm stand ein Liederabend mit Luna Mancini«, stieß er jubelnd hervor und blickte mich erwartungsvoll an, als müsse mir der Name etwas sagen.
»Nie gehört. Was singt die? Operetten, Verdi-Arien?«
»Die Frau singt alles. Ein Multitalent. Chansons berühmter Diven wie Leander und Dietrich, Jazzsongs wie ›Strange Fruit‹ von der Holiday, aber auch anspruchsvollen deutschen Schlager. Und sie sieht aus wie die fleischgewordene Sünde: blondes Haar in Locken, strahlend blaue Augen und eine stabile Figur.«
Auf meinen fragenden Blick fügte er eilig hinzu: »Die braucht sie als Sängerin. Ich bevorzuge sowieso barocke Frauen. Die zerbrechen mir nicht zwischen den Fingern. Ich habe noch nie eine so ergreifende Version von ›Je ne regrette rien‹ gehört wie von meiner Luna.« Er kicherte albern.
»Und ich soll dir jetzt Anbaggertipps geben? Alter Falter. Mein Freund Otto wandelt auf Freiersfüßen. Dass ich das noch erleben darf«, amüsierte ich mich. »Da gibt es Tonnen an Literatur: ›Wie bekomme ich sie ins Bett in zehn Minuten‹ oder ›Die perfekte Masche‹. In einem Monat bist du zum Vorstadtgigolo ausgebildet, versprochen.«
»Blödsinn«, fauchte mein Gegenüber und winkte verärgert ab. »Ich ziehe die alte Schule vor. Pointierte Humoresken, ergreifende Geschichten aus meinem Leben und erlesene Geschenke. Irgendwann erliegt sie meinem Charme. Aber meine Zuneigung zu der göttlichen Sängerin spielt nur eine untergeordnete Rolle.«
»Hä?«
»Wie gesagt: Ich war ihr sofort verfallen und habe fortan jeden ihrer Auftritte besucht. Sie singt jeden Dienstag, Donnerstag und Sonntag im ›Metropol‹. Irgendwann habe ich allen Mut zusammengenommen und Luna um ein Autogramm gebeten. Ich hatte mir eine alte Platte von ihr besorgt: ›Wen Liebe quält. Ein bunter Schlagerstrauß‹«, merkte er verlegen an. »Luna ist sehr vielseitig. Jedenfalls zeigte sie sich begeistert, dass ich dieses Schätzchen besaß. Wir kamen ins Plaudern. Irgendwann fragte sie, ob ich bereits im Ruhestand wäre, was ich natürlich negiert habe.«
»Du bist Rentner, oder habe ich da etwas verpasst?«
»Schon, aber andererseits helfe ich dir häufig bei deinen Kriminalfällen. Ich habe mir sogar extra für diesen Zweck ein kleines Büro angemietet. Das Finanzamt akzeptiert mich als freiberuflichen Detektiv.«
»Mmh«, zeigte ich mich beeindruckt. Mein Freund Peter Gurkennase Grabowski hatte mir bereits von Ottos Übereifer berichtet. Aus Ottos Mund hörte ich die Geschichte jedoch zum ersten Mal.
»Luna war jedenfalls schwer beeindruckt. Ein solcher Ehrgeiz in meinem Alter sei ihr noch nicht untergekommen. Und das, obwohl ich mich zehn Jahre jünger gemacht habe. Also, falls du ihr begegnen solltest …«
»… gebe ich dein Alter korrekt mit fünfundsechzig an.«
»Du bist ein wahrer Freund. Jedenfalls ließ sie mich wissen, dass sie einen Detektiv gut gebrauchen könne. Luna wird nämlich gestalkt.«
»Seit wann? Kennt sie den Typen?«, hakte ich sofort nach und fischte reflexartig das Notizbuch aus der Schreibtischschublade.
»Seit einem halben Jahr erhält sie Drohbriefe und anonyme Anrufe. Außerdem wurde ihre Wohnung beschmiert.«
»Wo wohnt sie denn?«
»Ernst Hofbauer, du erinnerst dich, der Besitzer vom ›Metropol‹, hat für seine Künstler ein kleines Apartment in der Stadt gemietet.«
»Warum das denn? Sie kann doch viel besser im ›Metropol‹ wohnen, da kosten ihn die Zimmer doch keinen Cent.«
»Falsch. Die Hotelzimmer vermietet er an Gäste, dann verdient er mehr, als er für das Apartment zahlt.«
Schien ein brummender Laden zu sein, der jeglicher Wirtschaftskrise den Stinkefinger zeigte. Gefiel mir.
»Und wie schließen wir die Lücke von dieser Luna zu deinem Krankenhausaufenthalt? Oder bist du zudringlich geworden, und sie hat dich mit dem Mikro vertrimmt?«
Otto errötete. »Wenn du mich auf den Arm nehmen möchtest, gehe ich lieber.«
»Jetzt hab dich nicht so, war doch nur ein kleiner Scherz. Nun?«
»Ich habe Luna angeboten, mich mal umzusehen. Schließlich habe ich schon Mörder zur Strecke gebracht.«
Auf meinen ungläubigen Blick fügte er hinzu: »Jedenfalls bin ich stark involviert gewesen. Oder zumindest habe ich die entscheidenden Beschattungen durchgeführt. Und ich habe große theoretische Kenntnisse.«
»Ich habe doch gar nichts gesagt. Was weiter?«
»Sie fand die Idee gut. Also habe ich mich vorletzten Donnerstag an ihre Fersen geheftet, als sie vom ›Metropol‹ nach Hause gelaufen ist.«
»Gab es einen Grund, sie ausgerechnet an diesem Tag zu beschatten?«
»Eine exzellente Frage, aus dir spricht ein großer Detektiv. Zwei Tage zuvor hatte jemand ihre Haustür beschmiert: ›Verrecke, du Nutte!‹ Luna hatte eine Heidenangst. Selbstverständlich wussten wir nicht, ob gerade an diesem Donnerstag etwas passieren würde, aber wir hatten so ein Gefühl.«
»Und weiter?«
»Als Luna in ihr Apartment im ersten Stock verschwunden ist, habe ich mich im Hauseingang gegenüber postiert. Es passierte gar nichts, höchstens mal ein Auto, das die Straße entlangfuhr. Solange das Licht in ihrer Wohnung noch leuchtete, konnte ich wenigstens an sie denken, aber als dann alles dunkel war, wurde es so langweilig, dass ich eingeschlafen bin. Da ich aber nur einen leichten Schlaf habe, bin ich durch das Geräusch sofort aufgewacht.«
»Welches Geräusch?«, mimte ich den aufmerksamen Zuhörer.
»Es knackte, als ob jemand auf einen Ast getreten wäre. Als ich um die Ecke gelugt habe, um der Sache auf den Grund zu gehen, habe ich einen fürchterlichen Schlag auf den Kopf erhalten, und mir ist schwarz vor Augen geworden.«
»Das ist ja furchtbar.«
»Ja, stell dir vor, ich bin erst am nächsten Morgen von einem Mann auf dem Weg zur Arbeit gefunden und sofort mit dem Krankenwagen ins Elisabeth-Hospital gebracht worden. Gehirnerschütterung und starke Hämatome. Das klingt zwar nicht so wild, aber schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste. Der Übeltäter muss mich wohl noch geschlagen und getreten haben, als ich schon bewusstlos auf dem Pflaster lag.«
»Darauf erst mal einen Wacholder«, seufzte ich mit entrüstetem Unterton und holte die entsprechenden Utensilien aus der Küche.
»Auf dich, Otto, dass du dem Tod noch mal von der Schüppe gesprungen bist. Prost.« Und zack, ließen wir unsere Köpfe nach hinten kippen.
»Und was noch schlimmer ist«, fauchte Baumeister und stellte sein Pinnchen auf den Tisch, »Lunas Fensterscheibe ist mit einem Pflasterstein eingeworfen worden, und an ebendiesem pappte ein Zettel mit der Aufschrift ›DU HURE WIRST DRAN GLAUBEN‹, und zwar in riesigen Lettern.«
»Der Täter scheint eine Aversion gegen das horizontale Gewerbe zu hegen. Hat das eventuell einen realen Hintergrund?«
»Du spinnst wohl, völlig ausgeschlossen«, schnauzte Otto und fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch. Nun gut, so richtig hoch war das nicht.
»Die goldene Regel im Schnüfflergewerbe ist, sich nicht von persönlichen Befindlichkeiten leiten zu lassen. Vielleicht sollte ich deine Flamme einmal kennenlernen.«
Sofort strahlte Otto über alle vier Backen: »Du nimmst mir die Worte aus dem Mund. Aufgrund meines gesundheitlichen Zustandes bin ich für Detektivarbeit momentan leider nicht zu gebrauchen. Deswegen habe ich deinen Namen bereits ins Spiel gebracht.«
Der Fall reizte mich. Leicht verdientes Geld. Falls es solches zu verdienen gab.
»Ich helfe gerne, aber du wirst sicher verstehen, dass ich das nicht gratis machen kann. Umsonst ist schließlich nur der Tod.«
»Mal den Teufel nicht an die Wand. Aber ich kann dich beruhigen«, fuhr Otto fort und rieb Daumen, Zeige- und Mittelfinger aneinander, »Luna verdient ein Heidengeld an Tantiemen, sie wird dich angemessen entlohnen. Hauptsache, der Stalker wandert hinter schwedische Gardinen.«
Das war Musik in meinen Ohren.
»Da heute Sonntag ist, wird sie sicherlich im ›Metropol‹ auftreten, korrekt?«
»Gut aufgepasst. Heute Abend um sechs steht sie auf der Bühne.« Baumeister zog ein Briefkuvert aus der Jackentasche. »In weiser Voraussicht habe ich bereits eine Freikarte für dich organisiert. Luna freut sich wahnsinnig über deine Hilfe.«
Damit war alles geregelt. Nachdem Otto mir das Versprechen abgenommen hatte, ihn in meine Ermittlungen einzubeziehen, kippten wir noch einen Wacholder, und dann rief ich dem Rentner ein Taxi.
Kaum dass der Mercedes vom Hof gerollt war, bog mit ohrenbetäubendem Lärm Karins Trecker um die Ecke. Meine bessere Hälfte trug einen grauen Arbeitsanzug, darüber ein quietschgelbes Oberteil. Ich nahm mir fest vor, während unserer Ehe ihren Klamottengeschmack zu ändern. Aber auch trotz dieser eklatanten Geschmacksverirrung liebte ich sie, was einiges heißen sollte.
Mit einem stürmischen Kuss begrüßte sie mich: »Der leckerste Mann im Münsterland und bald meiner.« Die Geschmacksprobe hatte ich also mit Bravour bestanden. Dann blickte sie auf meine Arbeitskluft und den Futtereimer: »Musst du Pedder und die Langohren sofort versorgen, oder hast du vorher noch Zeit für einen Kaffee?«
Schwuppdiwupp stand der Eimer wieder im Kiesbett. Händchenhaltend schlenderten wir ins Wohnzimmer. Mensch, war ich glücklich. Konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so verliebt gewesen war.
»Sehen wir uns heute Abend?«, hauchte mir Karin ins Ohr und zerzauste meine Frisur. »Ich brauche Streicheleinheiten. Dringend.«
»Stehe selbstverständlich zur Verfügung, weiß allerdings nicht, wann ich wieder zu Hause bin. Ein Job. Ich muss Otto ein wenig unter die Arme greifen.« In kurzen Sätzen informierte ich sie über den neuen Auftrag.
»Gut, ich werde nachher vorbeischauen, mich in dein Bettchen kuscheln und der Dinge harren, die da kommen.«
»Ein grandioser Vorschlag«, sagte ich, begeistert über die Aussicht auf erotische Genüsse.
Doch auf einmal wurde sie ernst: »Mal was anderes, Dieter: Wir haben ein Problem.«
»Was sollten wir für ein Problem haben? Frisch verliebt starten wir in eine wundersame Zweisamkeit, die die Welt aus den Angeln heben wird.«
»Spinner.« Meine künftige Göttergattin lachte laut auf und präsentierte ihre strahlend weißen Zähne. »Aber das Thema ist wirklich ernst. Ich habe dir doch von meinem Onkel Günter erzählt?«
»Dein Patenonkel, der mit seiner Frau Rosi auf einem Kotten lebt, der noch baufälliger ist als meiner? Klar.«
»Den beiden ist sehr an meinem Wohlergehen gelegen. Sie wollen absolut sicher sein, dass wir eine glückliche Ehe führen.«
»Das wollen wir auch, und?«
»Ich habe Tante Rosi gesagt, dass dein Vater seine neue Freundin Arabella vorbeischickt, um uns bei den Vorbereitungen zu helfen.«
»Hör auf, erinnere mich nicht daran.« Meine Laune verschlechterte sich rapide. »Wann wollte die kommen? Donnerstag, oder?«
»Morgen früh, Süßer. Und was soll ich dir sagen: Auch Onkel Günter und Tante Rosi wollen uns bei den Vorbereitungen unter die Arme greifen und dabei meinen zukünftigen Gatten ein bisschen unter die Lupe nehmen. Deshalb werden sie ebenfalls morgen anreisen.«
Ich stöhnte: »Ich habe keine Zeit für so einen Mist. Standesamt und Kirche sind gebucht, die Einladungen sind verschickt, das Lokal ist festgezurrt, mein Kumpel macht Musik, wir haben alles im Griff. Außerdem muss ich arbeiten, schon vergessen? Ich habe Otto mein Wort gegeben.«
Karin nickte. »Onkel Günter hat meiner Mutter am Sterbebett versprochen, sich um mich zu kümmern, deswegen fühlen sich die beiden verpflichtet. Wir können sie nicht abwimmeln. Außerdem finde ich es auch ein bisschen rührend.«
Es schien ihr wirklich viel daran zu liegen. Na gut, bedeutete Ehe nicht auch die Abkehr vom Egoismus?
»Meinetwegen, sollen sie kommen. Ich versuche auch, so oft wie möglich vorbeizuschauen. Obwohl mich die Arbeit ziemlich fordern wird.«
Karin schaute nachdenklich, aber nur für einen kurzen Augenblick, dann strahlte sie wieder.
»Ich wusste, dass du nichts dagegen hast. Arabella wohnt bei mir, die Heisterkamps bei dir, so lernen sich alle am besten kennen. Übrigens, Tante Rosi und Onkel Günter bringen ihren Sohn Jochen und den Dackel Tante Trudi mit.«
Karins Blase sollte bei mir hausen, das hatte gerade noch gefehlt. Und dazu noch ein kläffender Köter.
»Schatz, das ist keine gute Idee. Der neue Fall wird mich rund um die Uhr beschäftigen. Schließlich will ich die Sache zügig aufklären. Außerdem habe ich nicht genug Schlafplätze für deinen Clan. Es wäre am besten, wenn alle bei dir oder im Hotel übernachten würden.«
Diese schlüssige Argumentationskette überzeugte Karin. Oder auch nicht.
»Ein Hotel kommt nicht in Frage. Du hast ein Gästezimmer mit Doppelbett, Trudi legt sich vor den Kamin, und für Jochen kann ich ein Feldbett herüberschaffen.«
Meine Mundwinkel gingen ganz weit nach unten.
»Okay, Jochen übernehme ich, dann ist das gerecht geteilt.«
Meine Mundwinkel blieben immer noch, wo sie waren.
»Mein Gott, du musst sie doch nicht ständig bespaßen. Wir können abends zusammensitzen und ein wenig plaudern. Mir passt das auch nicht hundertprozentig in den Kram, aber da müssen wir durch.«
Ich gab meinem Herzen einen Stoß. »Na gut. Familie ist wichtig. Ich hoffe nur, dass die …«
»Heisterkamps.«
»Dass die Heisterkamps nicht so durchgeknallt sind wie meine Sippe.«
»Das machst du mit links.« Meine Herzdame zwinkerte mir neckisch zu. »Onkel Günter ist ein westfälischer Knurrkopf aus dem Bilderbuch, aber herzensgut. Tante Rosi ist gesprächiger, aber das wirst du selbst herausfinden, mein Stardetektiv.«
Nach ausgiebigem Exerzieren einer Erste-Hilfe-Kurs-Übung, der Mund-zu-Mund-Beatmung, zuckelte Karin von dannen, und ich konnte endlich zu den Ställen stiefeln.
Die Tiere waren Bestandteil eines Erbes, dem ich meinen Aufenthalt in Buldern zu verdanken hatte. Von meiner damaligen Freundin wegen geringfügiger Differenzen in Bezug auf Arbeitsmoral und Freizeitgestaltung auf die Straße gesetzt, hatte ich das Erbe meines verstorbenen Onkels Hugo Simon angenommen und war von der hektischen Ruhrgebietsmetropole Essen ins überschaubare Buldern gezogen, einen Ortsteil der unwesentlich größeren Stadt Dülmen. Zur Erbmasse zählten neben einem heruntergekommenen Kotten eine Sau und neun Kaninchen, die ich laut Testament aber nicht schlachten, sondern hegen und pflegen durfte. Eine immense Herausforderung für einen Großstädter, doch nach einer gewissen Eingewöhnungszeit hatte ich die Tiere tatsächlich lieb gewonnen. Als die Sau Wilpert, die ich nach einem heftigen Streit mit dem damaligen Bulderner Pfarrer nach ihm benannt hatte, verstarb – Gott sei ihrer Seele gnädig –, hatte ich bittere Tränen vergossen. Hätte mir zu meinen besten Essener Zeiten jemand erzählt, ich würde beim Tod eines Schweins Rotz und Wasser heulen, hätte ich ihn in die Geschlossene einweisen lassen. So änderten sich die Menschen.
»Hier kommt ein tolles Festmahl für meinen Liebling«, begrüßte ich das Schwein Pedder, ein Geschenk eines Dorfkumpels, um mich über Wilperts Ableben hinwegzutrösten.
»Hallo, jemand zu Hause? Mir geht es gut, ich hoffe, dir auch, mein pinkfarbener Freund.« Pedder rieb seinen Borstenleib an einem Holzpfosten und ignorierte mich geflissentlich. Wollten wir doch mal sehen. Und tatsächlich: Als ich das Futter in den Trog füllte, stürzte er sich laut quiekend auf den Tomaten-, Zucchini- und Auberginenbrei.
»Bist du jetzt zufrieden?«
Pedder grunzte. Na bitte.
Ich berichtete dem Allesfresser von meinem neuen Fall.
»Was meinst du? Keine große Sache für den Meisterdetektiv, oder? Schön, dass du an mich glaubst.«
Mit diesen Worten kletterte ich ins Gehege und streichelte das Borstenvieh. Leider nahm Pedder dies zum Anlass, seinen verdreckten Astralleib an meiner Jeans zu reiben.
»Nannen, du lernst es nie«, verfluchte ich mich augenblicklich und verließ den Schweinekoben.
Die Kaninchen waren zu keiner Konversation bereit, sondern wetzten ihre Zähne an dem Löwenzahn, als würde er morgen verboten werden. Also flugs ein Extralob für ihr Essverhalten. Da keines der Langohren unter Magersucht oder anderen Essstörungen litt, konnte ich davon ausgehen, dass sie bei mir glücklich waren. Schön. Ich wünschte meinen Mitbewohnern einen phantastischen Tag und empfahl mich. Dann steckte ich meine Kleidung in die Waschtrommel und mich in die Badewanne.
Die Flamme flackert
Um vier warf ich mich in Schale, dunkelblauer Anzug mit weißem Hemd, dazu eine mit Jugendstilornamenten verzierte Krawatte. Schließlich musste ich bei Ottos Flamme Eindruck schinden. Mein neuer Escort war leider nicht gewaschen. Neu war natürlich maßlos übertrieben. Mein letztes Auto, ein antiker Ford Capri, hatte Benzin geschluckt wie ein Alkoholiker Schnaps. Durch eine glückliche Fügung des Schicksals war es mir jedoch gelungen, den Spritvernichter an einen Liebhaber zu verscherbeln, und das sogar mit Gewinn. Der zehn Jahre alte Escort war ein Quantensprung an Energieersparnis.
An dem halb zugewachsenen Waldweg fuhr ich drei Mal vorbei. Nur ein mikroskopisch kleines, mit Moos bewachsenes Holzschild wies auf das »Metropol« hin. Nach holpriger Fahrt durch Millionen von Schlaglöchern erblickte ich den Kulturtempel. Otto schien eine neue Brille zu brauchen, denn von Idylle war bis auf den Wald ringsum nichts zu erblicken. Der dreigeschossige Backsteinbau hatte seine besten Zeiten weder erlebt, noch würde er sie jemals erleben. In der Leuchtreklame auf dem Dach fehlte das »l«, sodass der zweideutige Name »Metropo« in roten Lettern leuchtete.
Ich öffnete die mit abblätternder Isolierfarbe gestrichene Holztür und fand mich in einem schummrigen Schankraum wieder. Ein älterer Herr im karierten Hemd, das mit Hilfe von Hosenträgern an den dürren Körper gepresst war, löffelte Erbsensuppe und lugte in die Bildzeitung, ansonsten war der Raum gästefreie Zone.
»Pilsken?«, brummte mich ein bärtiger Kellner in schwarzer Lederweste an. Er trug ein zu oft gewaschenes braunes Hemd zu einer blauen Hose. Im rechten Bein sorgten Brandlöcher für Mailänder Chic.
»Ich möchte zum Konzert von Luna Mancini«, brachte ich mein Anliegen vor und fragte mich zeitgleich, ob ich mich in der Location geirrt hatte. Die Bruchbude kam mir nicht so vor, als ob hier etwas Besseres als ein röhrender Hirsch musizieren würde. Hinter der Theke tropfte Wasser von der Decke in eine Plastikschüssel, und die nikotingelbe Raufasertapete warf Blasen.
»Oberster Stock, viel Spaß«, brummte er nur, dann widmete er sich dem Spülen von Biergläsern, für wen auch immer.
Durch eine Tür aus Milchglas gelangte ich in ein dunkles Treppenhaus und stiefelte die drei Etagen nach oben. Auch hier wirkte die Gestaltung des Inneren wenig anheimelnd. Die Tapete hatte sich teilweise von der Wand gelöst, und Schimmel machte sich in den Ecken breit. Großformatige Poster von Schafen und Schweinen waren zwar sympathisch, aber wenig passend. Wenn Hofbauer in dieser Bruchbude Zimmer vermieten konnte, durfte es sich nur um Einmal-Kunden handeln. Unverständlich, dass er dieser Luna aus Gewinnerwägungen ein Apartment in der Stadt gemietet hatte. Ich vermutete eher, dass die Sängerin nicht in diesem Horrorhotel wohnen wollte. Konnte ich ihr nicht verdenken.
Oben musste ich mich zwischen zwei Türen entscheiden. Die eine führte laut Messingschild zu den Zimmern, die andere zum Festsaal. Letztere wählte ich. In dem volleyballfeldgroßen Raum war am hinteren Ende ein Flügel aufgebaut. Links eine kleine Bar, wo ein dürrer Mann Bier zapfte. Er trug einen grauen Schnäuzer, sein kahler Schädel wurde umrandet von einem grauen Haarkranz. In der Raummitte standen zwei Dutzend Kaffeehaustische, rund ein Drittel mit Gästen besetzt. Mit dem Gefühl, in einen Jungbrunnen gefallen zu sein, orderte ich eine Gerstenkaltschale und hockte mich an einen freien Tisch in der ersten Reihe.
Die Bühne oder besser gesagt das Holzpodest, das als Bühne fungierte, war noch verwaist. Immerhin einen Hauch vom Ambiente der Mailänder Scala versprühte ein imposanter Kronleuchter, der mittig über dem Podium angebracht war. Als Lichtquelle dienten jedoch zwei antike Scheinwerfer am Bühnenrand, was durchaus Sinn machte, zeichneten sich doch die Kronleuchterbirnen durch Abwesenheit aus. Wahrscheinlich wollte der Besitzer aber nur nicht das Risiko des zusätzlichen Gewichtes eingehen: Der Lüster hing nur an einem dünnen Kabel. Die hier auftretenden Stars mussten also nicht nur künstlerische Höchstleistungen vollbringen, sondern auch noch Nerven wie Drahtseile haben. Ich jedenfalls hätte mich keine fünf Sekunden unter dem Monsterteil aufgehalten.
Zu meinem großen Erstaunen entdeckte ich an der rechten Seite des Saales einen Reporter vom Dülmener Kurier, dem örtlichen Käseblatt. Es handelte sich zwar nicht um den Chefredakteur Gerhard Tilke, Karin Schumanns Bruder und damit bald zu meiner Verwandtschaft zählend, aber der Button auf der Jeansjacke und der Aufdruck auf seiner Baseballkappe gaben eindeutige Hinweise auf seinen Arbeitgeber. Ich freute mich jetzt schon auf die morgige Lektüre des dreiseitigen Artikels beim Frühstück.
Nach drei Schlucken Krombacher öffnete sich eine Seitentür, und heraus trat ein Mann, Mitte zwanzig, wie ich mit Anzug und Binder bekleidet. Seine hellblonden Haare hingen modisch über der Stirn, im rechten Ohr funkelte ein Brilli. Am Hals konnte ich eine Narbe ausmachen. Kurz ließ er seinen Blick über das Publikum streifen, dann drehte er sich um und winkte in die Tür hinein.
Die Frau, die den Raum betrat, musste Luna sein, denn augenblicklich setzte frenetischer Applaus ein. Ein Mann mit rotem Vollbart erhob sich sogar und stampfte auf den Boden. Dennoch blieb die akustische Kulisse bei der geringen Zuhörerschar etwas dünn.
Der Blonde setzte sich an ein Mischpult, während Luna die Bühne bestieg. Otto sollte dringend mal einen Termin beim Augenarzt machen, schoss mir durch den Kopf. Hatte er nicht Mancinis Äußeres in den höchsten Tönen gelobt? Für mich sah sie einfach nur verlebt aus. Das schwarze Galakleid musste sie zu Beginn ihrer Karriere erworben haben. Ihre wallende Lockenmähne wirkte ungepflegt. Dick aufgetragene Schminke und Modeschmuck zeugten von wenig Geschmack, zumindest von wenig gutem. Ihr Alter schätzte ich auf sechzig.
»Hallo, Dülmen«, begrüßte sie uns mit rauchiger Stimme, »dieses Lied widme ich euch.«
Der Blonde drückte auf irgendwelche Knöpfe, und ein Blasmusik-Playback startete: »Tief im Münsterland steht ein Bauernhaus, so hübsch und fein. Tief im Münsterland steht ein Bauernhaus, so hübsch und fein. Aus diesem Bauernhaus, da schaut ein Mädchen raus, im schönen, schönen Münsterland. Da wird die Sau geschlacht, da wird die Wurst gemacht, im schönen, schönen Münsterland.«
Das schien ja ein toller Abend zu werden. Im Geiste verfluchte ich Freund Baumeister. Allerdings war das restliche Publikum anderer Meinung, denn es rastete förmlich aus. Vor allem der Rotbärtige konnte sich kaum halten vor Begeisterung.
»Merci bien«, hauchte die Diva ins Mikro und versuchte sich an einem Augenaufschlag, der tierisch in die Hose ging. »Marc«, fuhr sie dann den Brilliträger an. »Da sind viel zu wenig Bässe auf dem Monitor. So kann ich nicht arbeiten, verdammt noch mal.«
Hektisch bastelte der Tontechniker am Pult herum.
»Wird das noch was heute?«, fauchte sie mit einer Stimme, in der etliche Gläser Wein mitschwangen. Mir wurde immer rätselhafter, was Otto Baumeister in dieser Frau sah.
Leider wurden die Tonprobleme zügig behoben, sodass meine Ohren mit volkstümlichen Versionen von »Je ne regrette rien«, »My Way« und »Weine nicht, kleine Luna« malträtiert werden konnten. Ein wahrhaft buntes Programm, das mir zu schrill war, den anderen Zuhörern jedoch zu gefallen schien.
Nach einer Stunde kündigte die Diva eine Pause an und verschwand im Backstage-Bereich. Der Blonde folgte, ebenso Dieter Nannen.
Als ich die Garderobe betrat, hockte die Trällertante an einem schwarzen Klapptisch und kippte sich den Inhalt eines Plastikbechers, der wie Whiskey aussah und roch, in den Rachen.
»Ich habe Pause. Zutritt nur für Personal. Marc, gib ihm eine Autogrammkarte und weg mit ihm«, keifte sie, während ich zutiefst bereute, mich in Ottos Fall eingeklinkt zu haben. Aber Versprechen musste man halten, deshalb ließ ich mich nicht abwimmeln.
»Ich bin kein Fan, zumindest noch nicht. Ich heiße Dieter Nannen, bin ein Freund von Otto Baumeister und Privatdetektiv. Sie sollen ein Problem mit einem Stalker haben, und ich bin derjenige, der es lösen wird.«
Luna leerte ihren Becher in einem Zug und fuchtelte wild in der Gegend herum: »Lass ihn rein, Marc. Sei nett zu ihm, verdammt noch mal.«
Marc zwinkerte mir entschuldigend zu: »Verzeihen Sie, wir dachten, Sie seien ein Fan. Und Luna muss sich bei ihrem anstrengenden Programm in der Pause erholen. Da ist jede Störung pures Gift.«
Klar, für ein entspanntes Tête-à-Tête mit Johnnie Walker.
Ich schloss die Tür und setzte mich der Sängerin gegenüber. Der Schlagerstar sah abgewrackter aus als die Titanic zwanzig Jahre nach ihrem Untergang. Die Krähenfüße unter den Augen konnten selbst mit zentimeterdicker Schminkeschicht nicht verdeckt werden. Das blonde Haar war so verfilzt, als sei vor langer Zeit die Shampoo-Prohibition in Kraft getreten. Der Lippenstift war unregelmäßig aufgetragen. Nichtsdestotrotz schien es genug Herren zu geben, die Luna vergötterten. Warum sich also um gutes Aussehen und Benehmen kümmern?
»Darf der Herr bei unserem Gespräch dabei sein?«, fragte ich höflich nach und wies dabei mit dem Finger auf das zweite männliche Wesen in diesem Raum.
»Ach«, schnaufte sie und verdrehte die Augen. »Das ist Marc Kaiser, mein Manager. Der kümmert sich um die Dinge, die einen Schöpfergeist wie mich nur unnötig belasten würden. Auftritte vereinbaren, Werbung machen, Einkäufe tätigen. Marc putzt sogar mein Klo, wenn ich es verlange.«
Marc wirkte verlegen, nickte aber: »Für meine Schäfchen tue ich alles. Vor allem für eine solch göttliche Künstlerin wie Luna Mancini.«
Irgendwie schienen alle Menschen in der Nähe der Schlagertante einer Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein. Was besaß sie nur, das ich nicht erkannte?
»Seit wann werden Sie von dem Stalker belästigt, Frau Mancini?«
»Du darfst mich Luna nennen«, verkündete sie huldvoll. »Vor ungefähr einem halben Jahr fing alles an. Erst kamen nur schmutzige Drohbriefe, aber seit einem Monat wird mein Haus beschmiert. Wissen Sie, mir ist natürlich bewusst, dass ich als international renommierte Sängerin auch mit vielen primitiven Fans leben muss. Aber primitiv hin oder her, sie kaufen halt meine CDs. Nichtsdestotrotz ist eine Künstlerseele sehr sensibel, und so haben mich die Briefe und erst recht die Schmierereien schon mitgenommen. Und jetzt hat der Wahnsinnige auch noch den guten Herrn Baumeister niedergeschlagen. Ich habe richtig Angst, das kannst du mir glauben.«
Und wieder ein Hieb aus dem Plastikbecher.
»Was kommt als Nächstes? Vielleicht vergeht er sich sogar an mir.« Sie erschauderte und goss sofort Fusel nach.
Mit dieser Frau wollte mein Freund etwas anfangen?
»Haben Sie die Briefe aufbewahrt?« Ich hatte mich entschieden, sie nicht zu duzen.
»Marc, hol das Dreckszeug aus meiner Wohnung, aber dalli!«, fuhr sie den armen Kerl an. Schien eine echte Freude zu sein, als Manager für Luna tätig zu sein.
»Aber Luna«, protestierte Marc. »In zehn Minuten musst du wieder auf die Bühne.«