Ursula Sternberg, geboren 1958 in Duisburg, arbeitet hauptberuflich als Anwendungsentwicklerin und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Katzen in Essen. In Frankfurt aufgewachsen, lebt sie seit über dreißig Jahren wieder im Ruhrgebiet und ist tief mit dieser Region verwurzelt. Ab 2007 erschienen die ersten beiden Bände ihrer Ruhrgebiets-Krimiserie, bei Emons veröffentlicht wurden der dritte Band »Nachtexpress« und der vierte Band »Innenhafen«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.com/kallejipp
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-437-5
Originalausgabe
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Für Johann, Judith und Anna,
die Kinder in meinem Leben
KAPITEL 1
Münster, 3. März
Der Schmerz schnitt durch die Eingeweide, und Hannes Schindler krümmte sich. Mit zusammengebissenen Zähnen tastete er nach der Pumpe an seinem Bett und wartete auf die nächste Attacke. Aber die schien nicht mehr so stark wie die letzte, und auch die, die dann folgte, war weniger intensiv. Erleichtert ließ er die Pumpe los, ohne sie betätigt zu haben.
Eine Weile später hatte es ganz aufgehört. An ein Wunder glaubte Hannes Schindler jedoch nicht. Instinktiv begriff er diese Phase, in der die Schmerzen plötzlich von ihm abließen, als das, was sie war: ein paar Stunden Gnade. Ein Aufschub. Eine Chance, innezuhalten und sich zu sammeln. Den Verstand zu mobilisieren, ihn nicht wieder mit der Droge aus der Pumpe zu umnebeln, die den Schmerz halbwegs erträglich machte, und zu regeln, was noch geregelt werden sollte. Und das tat er nun, so gut er es eben konnte. Er griff nach dem Telefon und tätigte einen Anruf. Dann klingelte er nach der Schwester, um sich Stift und Papier bringen zu lassen.
Eine Stunde später faltete Hannes Schindler den Brief zusammen, den er soeben geschrieben hatte. Zittrig zwar, mit krakeligen Buchstaben, aber er hoffte, dass er dennoch lesbar sein würde. Hannes war froh, dass er das geschafft hatte, denn diese Zeilen hatten ihm auf der Seele gebrannt.
Nun wartete er ungeduldig auf seinen Besuch. Viel Zeit hatte er nicht mehr, das wusste er. Die Minuten liefen davon wie der Sand in einem Stundenglas, der immer schneller durch die kleine Öffnung zu rieseln schien, je mehr er zur Neige ging.
Wie gern würde er auch noch Abschied von seinem Sohn nehmen. Es gab doch noch so viel zu sagen. Dass er stolz auf ihn war, zum Beispiel, und dass er ihn immer geliebt hatte, trotz aller Kritik, die manchmal so schonungslos aus ihm herausgebrochen war. Aber er hatte Jan nicht erreicht. Doch für einen weiteren Brief fehlte ihm die Kraft. Er musste sich ausruhen. Für einen kurzen Moment die Augen schließen. Dann würde es schon wieder gehen.
Hannes dämmerte in einen unruhigen Schlaf hinüber. Verschwommene Gesichter zogen an ihm vorbei. Menschen, die ihm etwas bedeutet hatten, unscharf zwar, nicht klar umrissen, aber dennoch wusste er, dass sie es waren. Geliebte Gesichter. Marlene, Jan, Idgie. Seine Mutter … Sie lächelten ihn an und formten Worte, die er nicht verstehen konnte. Bleibt doch ein wenig, ich habe euch so lange nicht gesehen!
Ein leises Klopfen riss ihn aus dem Halbschlaf. Hannes spürte, wie jemand in sein Zimmer trat, und öffnete die Augen. Als er in das erschrockene Gesicht seines alten Freundes Rüdiger Gehrling sah, war er froh, dass er Jan nicht hatte erreichen können. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass er schlimm aussehen musste, denn selbst auf dem Handrücken waren ihm die Haare ausgegangen, und obwohl die Haut seltsam aufgedunsen war, bleich und verquollen wie aufgehender Hefeteig, wusste er, dass er abgemagert war wie eine alte Katze. Kein schöner Anblick, schon gar nicht für das eigene Kind.
»Mein Gott, Hannes«, sagte Gehrling erschüttert. »Du weinst ja! Hast du Schmerzen? Soll ich die Schwester rufen?«
»Keine Schmerzen.« Selbst das Sprechen fiel ihm schwer. »Ich habe bloß geträumt. Es war schön.«
Eigentlich war Gehrling ein Freund seiner Frau Marlene gewesen. Sie hatte ihn gewissermaßen mit in die Ehe gebracht. Rüdiger, den stillen, steten Verehrer, der ihn, Hannes, von Anfang an mit einer gewissen Skepsis betrachtet hatte. Mit dem sezierenden Röntgenblick des Abgewiesenen, der sich in sein Schicksal fügt, um die Frau, die er liebt, nicht vollends zu verlieren. Was willst du bloß von diesem Freibeuter? Er wird dich unglücklich machen …
Gehrling hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht und sich in eine Anwalts- und Notariatskanzlei in Münster eingekauft. Dennoch war er häufig bei ihnen in Hamburg zu Gast gewesen und hatte sich schließlich auch gegenüber Hannes als guter Freund erwiesen.
Dick war er geworden, der Rüdiger, fiel Hannes erneut auf. Da halfen auch keine feinen Nadelsteifen. Die Tränensäcke unter den Augen verrieten, dass er zu viel trank.
»Schön, dass du kommen konntest.«
»Was kann ich für dich tun?«
»Ich sterbe.« Hannes versuchte ein Lächeln. Es geriet seltsam kläglich.
»Jeder von uns stirbt irgendwann.«
Hannes sah, dass sein Freund schluckte. Er spürte die Hand, die seine eigene umfasste. Warm. Lebendig. Und dennoch vorsichtig, um die Kanüle nicht zu berühren, die dort in seinem Handrücken steckte.
»Nicht irgendwann, Rüdiger. Jetzt. Ich weiß es. Hast du alles vorbereitet?«
Gehrling nickte.
»Jan bekommt natürlich alles. Bis auf eine Kleinigkeit.«
»Die da wäre?«
»Meine Scheune in Nottuln. Die möchte ich jemand anderem vererben.«
»Jemandem aus der engeren Familie?«
»Nein. Überhaupt keine Verwandtschaft.«
»Dann muss derjenige Erbschaftssteuer zahlen, und das nicht zu knapp.«
»Wenn ich es verschenken will? Aber es gehört doch mir. Was macht denn das für einen Sinn?«
»Väterchen Staat verdient daran«, sagte Gehrling trocken.
»Logisch.« Etwas von seinem alten Sarkasmus blitzte in Hannes’ Augen auf. »Das hätte ich mir glatt selbst denken können.« Dann wurde seine Stimme hart. »Aber das will ich nicht.«
»Aha.«
»Sie hat nur wenig Geld.«
»Dann muss sie eben verkaufen. Dafür lässt sich bestimmt ein Liebhaber finden.«
»Ich will aber, dass sie dort wohnt«, sagte Hannes störrisch. »Ich bin ihr was schuldig.«
»Eine neue Liebe?«
Hannes schüttelte kaum merklich den Kopf. »Eine alte.«
»Kenne ich sie?«, fragte Gehrling. Und war das, bevor du Marlene geheiratet hast, hing der Satz unausgesprochen in der Luft.
»Nein«, sagte Hannes schroff und beantwortete damit beide Fragen gleichzeitig. Sein Tonfall verriet, dass er hierüber keine näheren Auskünfte geben würde. »Aber sie hat noch was gut bei mir. Lass dir also was einfallen.« Er lehnte sich im Kissen zurück und drehte den Kopf zum Fenster, ein klares Signal, dass er hierüber nicht mehr debattieren würde.
Schweigen breitete sich im Raum aus. Die rasselnden Atemzüge von Hannes klangen nach Kampf, nach Krankheit und Tod.
»Wie wäre es mit lebenslangem Wohnrecht?«, schlug Gehrling schließlich vor. »Das Haus gehört deinem Sohn, und sie darf darin wohnen, solange sie will.«
Hannes schloss die Augen, während er sich die Sache durch den Kopf gehen ließ. Nach einer Weile öffnete er sie wieder. »Niemand kann sie dort rausklagen?«
»Glaubst du, Jan würde das versuchen?«
»Nicht er, aber diese fürchterlichen Restbestände von Marlenes Familie. Die von Kaldenstetts, du erinnerst dich?«
Gehrling schmunzelte. »Ingeborg? Lebt die denn immer noch?«
»Ich habe nichts Gegenteiliges gehört.«
»Lebenslanges Wohnrecht ist unantastbar. Niemand kann das anfechten, es sei denn, du wärest nicht zurechnungsfähig.«
»Das würde Ingeborg dir ohne rot zu werden unterschreiben.« Hannes’ Lachen wurde von einem brodelnden Geräusch in seiner Lunge begleitet. »Also, dass ich nicht zurechnungsfähig bin, meine ich. Aber im Ernst. Ich bin voll da. Ganz klar im Kopf. Zurzeit stehe ich nicht mal unter Drogen.«
»Was fehlt dir eigentlich?«
»Allgemeine Immunschwäche?« Hannes machte eine vage Geste mit der Hand. Er bemerkte, wie Gehrling unwillkürlich ein Stück zurückwich, und verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. »Keine Angst, Aids ist es nicht. Die Ärzte tappen im Dunkeln. Also – bei lebenslangem Wohnrecht könnte sie bleiben und müsste nichts dafür zahlen?«, kam er auf das Thema zurück.
»Wenn du das so festlegst.«
»Dann machen wir es so.«
Gehrling öffnete seinen Metallkoffer und entnahm ihm ein Notebook. Er begann zu tippen. »Wie heißt sie?«
»Idgie. Idgie Callahan.« Hannes buchstabierte den Namen. »Früher wohnte sie in so einem entsetzlichen möblierten Apartment in Emden. Wo sie im Augenblick steckt, weiß ich nicht. Die alte Herumtreiberin«, sagte Hannes zärtlich. »Aber die beim Institut müssten wissen, wo man sie finden kann.« Sein Blick wanderte zum Fenster. »Sie stand mir einmal sehr nahe.«
»Ich werde es herausbekommen«, versprach Gehrling und hackte weiter auf die Tastatur ein. Dann ratterte der portable Drucker los und spuckte das Dokument aus. Gehrling stand auf. »Lies es dir in Ruhe durch. Ich hole jemanden von der Station als Zeugen.«
Kurze Zeit später verstaute der Anwalt das Equipment in seinem Koffer und schob die unterschriebenen Dokumente in eine Mappe.
»Da ist noch was.« Hannes griff nach dem Handgelenk seines Freundes. Schon diese kleine Bewegung ließ ihm den Schweiß auf die Stirn treten. »Ich habe hier einen Brief. Und im Seitenfach der Reisetasche dort im Schrank ist eine externe Festplatte. Ich will, dass sie beides bekommt. Und nimm die Schlüssel zur Scheune mit.«
»Bist du wirklich sicher, dass du sie nicht mehr brauchst?«
Hannes hob den Mundwinkel zu einem abschätzigen Lächeln. »So sicher wie das Amen in der Kirche.«
»Ich werde mich um alles kümmern.« Gehrling drückte seine Hand.
»Leb wohl, Rüdiger. Ich weiß, dass du Marlene geliebt hast. Du warst ihr ein wirklich guter Freund, sie hat sehr an dir gehangen. Danke für alles. Und jetzt lass mich bitte allein.«
Hannes blickte seinem Freund hinterher. Er würde ihn nicht mehr wiedersehen.
Am Abend kehrten die Schmerzen zurück. Krampfartig krallten sie sich in seinem Unterleib fest und schienen seine Gedärme zu zerfetzen. Das war das Ende. Er brauchte keine Mediziner, um das zu wissen. Der Geschmack in seinem Mund verriet ihm, dass er wieder zu bluten begonnen hatte. Noch bevor er den Klingelknopf an seinem Bett fand, kollabierte er. Als die Schwester ihn fand, lag er bereits im Delirium.
* * *
Hamburg, 9. März
Jan Schindler kam sich merkwürdig fremd vor, und das lag nicht nur an dem schwarzen Anzug, der ihm zu eng geworden war, sodass er den Knopf seiner Hose offen lassen musste. Den hatte er zum Tod seiner Mutter bekommen. Neun Jahre war das nun her. Damals war er noch ein Teenager gewesen. Und jetzt war er schon wieder auf diesem Friedhof. Falscher Film irgendwie. Ein merkwürdiges Déjà-vu.
Die ganze letzte Woche war seltsam gewesen. Nach dem Schock über den plötzlichen Tod seines Vaters kam der Schock wegen der Obduktion. Warum denn eine Obduktion?, hatte Jan fassungslos gefragt. Weil die Todesursache nicht klar ist, lautete die Begründung. Rausgekommen war nichts dabei. Seine Organe hatten plötzlich versagt, hieß es.
Dann hatte er sich um die Bestattung kümmern müssen. Wie er das anstellen sollte, war ihm schleierhaft gewesen. Null Plan. Nur dass sein Vater vermutlich zu seiner Mutter ins Grab gehörte, das war ihm klar gewesen. Nach Ohlsdorf auf den Parkfriedhof in die Grabstätte der Familie Kaldenstett, oh, sorry, von Kaldenstett. Aber wie musste er da vorgehen? Dazu musste sein Vater doch zurück nach Hamburg … Überführung … nannte sich das so?
Mit einigem Widerstreben hatte er schließlich bei seiner Großtante Ingeborg angerufen, einer Cousine seiner Mutter, irgendwie so was.
Ab da war ihm die Sache weitestgehend aus der Hand genommen worden. Er hatte genickt, als sie den Sarg aussuchte, obwohl er ihm viel zu protzig erschien, und der flüchtigen Frage, warum ein Toter überhaupt ein Kopfkissen brauchte oder ein weißes Gewand mit einem gestickten Kreuz darauf, war er nicht nachgegangen. Gehorsam hatte er sich Ingeborgs Anweisungen gefügt, ohne sie zu hinterfragen.
Was für Blumen? Keine Ahnung, welche Blumen sein Vater gemocht hatte. Algen und Meeresfrüchte, war ihm spontan durch den Kopf geschossen. Dann suche ich was Passendes aus, mein Junge. Wer soll denn benachrichtigt werden? Eine Todesanzeige bekommen? Woher sollte er das wissen? Hilflos blätterte Jan im Adressbuch seines Vaters und starrte auf die Kolonne der Namen, die ihm nichts sagten. Bei einigen klingelte es vage im Hinterkopf, ohne dass er genau hätte sagen können, in welchem Zusammenhang sein Vater sie erwähnt hatte. Schließlich hatte Großtante Ingeborg im Institut angerufen und sich von der Sekretärin beraten lassen. Und nun saß er hier und fühlte sich seltsam fremd. Leer irgendwie und merkwürdig deplatziert.
Nora … ein heftiges Glücksgefühl füllte plötzlich die Leere an. Vielleicht hätte er sie bitten sollen, ihn hierherzubegleiten? Nein. Das wäre nicht gut gewesen. Er kannte sie doch erst seit Kurzem. Hier musste er allein durch.
Die Trauerhalle war besetzt bis auf den letzten Platz. Ein paar Nachzügler standen sogar hinter den Reihen der Stühle. Jan hatte nicht erwartet, dass so viele Menschen erscheinen würden, um Abschied von Hannes Schindler zu nehmen. Sein Vater war ihm zunehmend wie ein Einsiedler vorgekommen, zu dem zumindest er, Jan, keinen Zugang hatte. Darum hast du dich ja auch nicht gerade bemüht, schoss es ihm selbstkritisch durch den Kopf.
Dieser Priester da vorne. Was redete der denn da für ein dummes Zeug? Was hatte das mit seinem Vater zu tun? Das ist nicht er, dachte Jan. Das ist jemand ganz anderes. Und in einem Anflug von Intuition begriff er, dass dieses gesamte Brimborium, das Großtante Ingeborg da organisiert hatte, absolut nicht in Hannes Schindlers Sinn gewesen wäre. Der wäre bestimmt viel lieber auf dem kleinen Friedhof in Nottuln beigesetzt worden, als hier in dieser Familiengruft zu verrotten, und über Algen und Muscheln hätte er sich gefreut wie ein Schneekönig.
Diese Erkenntnis traf ihn hart. Plötzlich verstand er, was seinen Vater manches Mal so gegen ihn aufgebracht hatte. Es war diese ewige Unentschlossenheit, die Unfähigkeit zu einer schnellen Entscheidung, die so häufig dazu führte, dass er wider besseres Wissen einfach nur abwartete, bis andere entschieden, für ihn – oder über seinen Kopf hinweg. Das war’s, was seinen sonst so geduldigen Vater zum Tillen gebracht hatte. Und was ihn, Jan, immer weiter in sein Schneckenhaus zurückgetrieben hatte. Hörnchen rein, Kopf einziehen und warten. Einfach so tun, als wäre da nichts. Denn schnell war er nun mal nicht. Er war nicht fix, und er war nicht schlagfertig. Aber immer stur genug, die Sache auszusitzen.
Vater hat recht gehabt, dachte Jan. Man musste sich einmischen, und man musste sich entscheiden. Komischerweise war ihm das leichter gefallen, seit er von zu Hause weg war. Doch hier, zurück in Hamburg, hatte ihn diese seltsame Lethargie wieder im Griff.
Warum habe ich bloß Ingeborg das Feld überlassen, anstatt mich eigenständig um die Bestattung zu kümmern?, dachte er wütend. Und warum war da diese Funkstille zwischen ihm und seinem Vater gewesen? Warum war der eigentlich nach Nottuln gezogen, anstatt in dem schönen Kapitänshaus in Blankenese wohnen zu bleiben? Und warum hatte er selbst ihn so selten besucht, obwohl Nottuln doch nicht gerade weit von seinem Studienort Dortmund entfernt war? Weil er sich nicht seiner unbequemen Kritik aussetzen wollte? Dabei hast du doch recht damit gehabt, Vater. Zu spät, dachte Jan traurig. Zu spät.
Das gestelzte Gerede da vorne schien nun endlich vorbei zu sein. Aufstehen, signalisierte Großtante Ingeborg, indem sie ihn am Ärmel zupfte. Sie trug einen schwarzen Hut mit einem lächerlich kleinen Schleier vor ihrem rot geschminkten Mund. Der war immer seltsam gespitzt. Wie bei einem Vögelchen, das pickt. Mit dem Taschentuch tupfte sie vorsichtig unter dem Schleier herum. Warum heulte sie denn, die blöde Kuh? Sie hatte Vater doch nie ausstehen können. Und jetzt hakte sie sich auch noch bei ihm unter.
Orgeldröhnen. Weihrauchfässchen. Der protzige Sarg. Kränze, opulente Schleifen und Bänder. So viele! Für meinen geliebten Vater, stand fett auf dem einen. Den hatte er nicht in Auftrag gegeben, so viel war sicher. Blumengestecke mit großen weißen Kelchen, die intensiv dufteten. Süßlich. Unangenehm süßlich. So süß, dass es klebte. Oder war es das Parfüm von Großtante Ingeborg?
Er mühte sich, den Rhythmus der kleinen trippelnden Schritte neben sich nicht aus dem Tritt zu bringen.
»Mein Junge«, flüsterte sie und tätschelte seinen Arm. »Mein armer, armer Junge. Jetzt haben wir nur noch uns.«
Da hatte sie recht, und dieser Gedanke war wirklich erschreckend. Viel schrecklicher als der, nun Vollwaise zu sein. Ich werde den Kontakt zu ihr nicht halten, zuckte es Jan durch den Kopf. Und auch sie würde nicht an regelmäßigen Familienbesuchen interessiert sein, hoffte er. Und wenn doch? Dann würde er ebenso höflich ablehnen, wie sein Vater das getan hatte. Mit höflicher Unnachgiebigkeit.
Vor ihnen die Gruft. Schon als Kind war sie ein Ort der Angst gewesen. Damals, als Großvater Justus dort begraben wurde, da hatte er sich geweigert, hineinzugehen. Das Portal über den Stufen zu durchschreiten, auf dem ein bombastischer Engel seine Flügel ausbreitete. Nichts, aber rein gar nichts Tröstliches hatte dieser Engel an sich, fand Jan, und er erinnerte sich daran, dass er darüber bereits nachgedacht hatte, als seine Mutter beigesetzt worden war. Dieser Engel hier spendete keinen Schutz. Er flößte Furcht ein. Es war ein Racheengel.
Auch jetzt mochte Jan nicht die Stufen hinuntersteigen, trotz Drängen von Ingeborg. »Nein«, sagte er stur und blieb draußen. Beobachtete, wie die Reihe von Menschen an ihm vorbeiprozessierte, hinein in die Gruft und wieder heraus. Auf dem Rückweg blieben sie vor ihm stehen. Händeschütteln, Beileidsbekundungen, undeutliches Gemurmel.
Wie viele denn noch? War es nicht langsam vorbei? Doch, die Sache schien dem Ende zuzugehen. Jan wandte den Kopf. Nur noch ein paar Nachzügler. Die meisten wanderten bereits gemächlich zurück zum Haupteingang. Zum Leichenschmaus. Der steht mir auch noch bevor. Dieser Gedanke löste ein unbehagliches Gefühl in Jans Magengrube aus.
Eine weitere Hand, die er schütteln musste. Die letzte, wie es schien. Jan sah sich noch mal um. Da war niemand mehr. Oder?
Sein Blick blieb an einer Gestalt hängen. Sie stand abseits, zwei Quergänge weiter unter einer Kastanie, und schien das Geschehen zu beobachten. Schlank war sie und sehr groß. Es war eine Frau. Helle Haare über einer schwarzen, dick gepolsterten Jacke mit rotem Emblem auf den Schultern. Dazu passende Hosen und schwere Stiefel. Motorradklamotten, dachte Jan.
Großtante Ingeborg zupfte ihn energisch am Ärmel, hängte sich bei ihm ein und dirigierte ihn den Hauptweg hinunter, weg von der Frau und hin zu der schwarzen Limousine, die vor dem Haupteingang auf sie wartete. Dort endlich gab sie ihn frei und überließ sich der Obhut des Chauffeurs, der ihr in den Wagen half.
»Ich hab was vergessen«, murmelte Jan und hastete den Weg zurück.
Die Frau mit der Motorradkluft stieg gerade die Stufen zur Gruft hinunter. Nach ein paar Minuten kam sie wieder heraus und verschwand in Richtung der Kastanie, unter der Jan sie entdeckt hatte. An ihrem Gang erkannte er, dass sie älter sein musste, als er sie im ersten Moment geschätzt hatte. Wer war sie, und was hatte sie mit seinem Vater zu tun gehabt?
Neugierig näherte Jan sich der Gruft. Er warf dem Engel einen trotzigen Blick zu und ging hinein.
Die Grabstätte seines Vaters war nicht zu übersehen. Ein Meer von Kränzen, Blumen und roten Grablichtern. Am Fußende, seltsam fremd in all der floralen Üppigkeit, schimmerte etwas. Eine Kugel.
Jan nahm sie behutsam in die Hände. Helle Kristalle wirbelten in die Höhe und tanzten um die Figur in der Mitte. Es war ein weißer Hund, nein, ein Wolf, der den Kopf schräg in die Höhe gereckt hatte, dem Schnee entgegen. Er schien zu heulen.
Ein seltsames Abschiedsgeschenk, dachte Jan. Sehr persönlich. Und irgendwie rührend. Er war sich sicher, dass diese Frau in den Motorradklamotten es hier zurückgelassen hatte.
KAPITEL 2
Münsterland, Nottuln, 16. März
Idgie Callahan saß in einem Strandkorb unter den noch kahlen Ästen einer alten Weide und dachte nach. Eine Windbö fegte in den Korb und zupfte Strähnen aus ihrem lockigen Haar, das sie im Nacken locker zusammengefasst hatte. Von Weitem würde man es für hellblond halten. Aber sobald man näher kam, sah man, dass es fast weiß war, silbrig weiß, als würde sich Mondlicht darin fangen. Idgie war das egal. Eitel war sie noch nie gewesen. Nicht ernsthaft jedenfalls. Die leisen Anflüge der ewig gleichen und verdammt müßigen Frage, wie schön man war im Vergleich zu anderen, hatte sie endgültig abgelegt, als sie sich für ihren Beruf entschied. Da war sie noch jung gewesen.
Verdammt lang her, verdammt lang, summte sie die bekannte Melodie von BAP und musste kichern. Die Jugend hatte sie wirklich weit hinter sich gelassen. Aber auch das war ihr egal. Sie hatte ein interessantes Leben gehabt, und wenn es noch ein paar Jährchen so weitergehen würde, sollte es ihr recht sein.
Viele Stationen, viel unterwegs gewesen, davon lange Zeiten auf schwankendem Boden. Unterschiedliche Menschen. Begegnungen, wichtige und unwichtige. Ein paar sehr wichtige. So wichtig, dass sie geschmerzt hatten.
Und nun war sie hier im Münsterland gestrandet, einer Gegend, so unspektakulär und bodenständig wie eine Stulle mit Leberwurst. Kein Schwanken mehr unter den Füßen und auch nichts mehr von dem Geruch, den sie so liebte: nach Salzwasser. Nach Meer. Nach Algen. Nach Weite. Klar und frisch war er, dieser Geruch auf dem Meer, und unverbraucht. Hier roch es anders. Nach Erde und Staub. Nach Land und Dingen, die sie noch nicht einordnen konnte. Ein ehrlicher Geruch war das. Nicht flüchtig und verheißungsvoll, sondern erdverhaftet.
Nie hätte sie geglaubt, dass sie ausgerechnet im Inland sesshaft werden würde, ganz ohne das blaue Element, das große Teile ihres Lebens begleitet hatte. Zuerst war es der Norden gewesen. Die langen, zerfransten Fjorde Norwegens. Die schwarzen Sandstrände Islands. Die eisige Weite des Polarmeeres. Im Frühling, da prickelten die Eiskristalle in der Luft wie Champagner. Ein Rausch ganz ohne Alkohol.
Später dann hatte sie die tropischen Meere entdeckt. Von einem Häuschen am Indischen Ozean geträumt, auf Bali beispielsweise oder auf Koh Samui. All das hätte sie sich vorstellen können. Allesamt gute Orte, um sesshaft zu werden – und alt. Auf das Münsterland wäre sie von selbst nie gekommen. Doch je länger sie hier saß, desto weniger abwegig erschien ihr dieser Gedanke.
Komm her und sieh es dir an. Es wird dir gefallen. Ich bin hier aufgewachsen. Ich weiß, wovon ich spreche.
Hannes, der alte Bastard! Er war einer von den Wichtigen gewesen. Den wirklich Wichtigen. Denen, die geschmerzt hatten wie der Stachel eines Seeigels, lang und giftig. Ein Stachel, den man nicht ziehen kann, mit keiner Pinzette. Denn er bricht ab beim Entfernen, widersetzt sich mit seinen feinen Widerhaken einer reibungslosen Sektion, bleibt einfach tief unter der Haut stecken. Man muss ihn hinauseitern lassen, langsam und qualvoll. Es dauert lange, bis es heilt.
Hannes hatte nicht nur einen, sondern eine ganze Ladung Stacheln in ihr zurückgelassen, viel mehr als jeder andere. Dabei hatte sie genau gewusst, worauf sie sich einließ. Hannes Schindler, verheiratet, ein Sohn. Die Frau ruhig und zurückhaltend, vornehm irgendwie. Eine von Kaldenstett. Noblesse oblige, Blankeneser Inzucht, war es Idgie spöttisch durch den Kopf geschossen, als sie das Foto auf Hannes’ Schreibtisch entdeckt hatte.
Er hatte seine Frau nie verlassen. Zuerst deshalb nicht, weil das Kind noch zu klein war. Das musste sie doch verstehen. Der Junge brauchte seinen Vater. Ja. Natürlich brauchte der Junge den. Idgie hatte das sehr gut verstanden. Zwölf Jahre lang.
Solange sie mit Hannes zusammen auf der Mirabella unterwegs gewesen war, hatte es ohnehin keine Rolle gespielt. So weit weg. Wichtig war nur die gemeinsame Arbeit, die sie verband, ebenso wichtig wie die Leidenschaft füreinander. Nichts anderes zählte. Und wenn es dann hinausging mit der Mirabella, dem Forschungsschiff des Instituts für Meeresbiologie in Hamburg, dann hätte sie jubeln mögen vor Glück. Manchmal tat sie es auch. Hielt die Nase in den Wind und heulte ein wildes Lied. Ein Glückslied. Du bist eine Wölfin, hatte Hannes spöttisch gesagt, als er sie beim ersten Mal dabei beobachtete. Eine Polarwölfin. Wegen der seltsamen Augen, die von einem intensiven hellen Graublau waren wie bei einigen Wölfen. Und wegen ihrer Haare, fast so hell wie die einer Greisin. Sie hatte gelacht und erneut ihr Lied hinausgeheult. Idgie, die Wölfin.
Das waren die guten Zeiten. Doch denen folgten unweigerlich die Monate an Land. Zeit für Idgie, nach Emden zurückzukehren, wo sie dieses billige möblierte Apartment bewohnte, wenn sie nicht auf Reisen war. Kein Grund mehr, in Hamburg zu bleiben und zuzusehen, wie das Schiff friedlich im Hafen vor sich hin dümpelte, genau so friedlich wie Hannes im Hafen der Ehe.
All das hatte sie ausgehalten. Die Zeiten mit und die Zeiten ohne Hannes. Das Alles und das Nichts. Zwölf Jahre lang. Zwölf Jahre und sieben Monate, genau genommen. Bis Hannes ihr mitteilte, dass er kein neues Projekt mehr annehmen würde, jedenfalls keins, das mit Reisen verbunden war, weil seine Frau schwer erkrankt sei. Amyotrope Lateralsklerose, kurz ALS. Eine Erkrankung, die aufgrund einer Schädigung des Nervensystems zu Muskelspasmen, Muskelschwäche, im Endstadium zu Lähmungen und schließlich zum Tod führte. Unheilbar. Eine solche Krankheit, da musste man doch Rücksicht nehmen. Du bist so stark, Idgie, das verstehst du doch …
Idgie hatte verstanden und sich kurzerhand bei einem Forschungsprojekt in Indonesien beworben. Vom Nordmeer zum Indischen Ozean, vom Nordkap ans Kap Ca Mau. So viel Abstand wie möglich.
* * *
Duisburg, 16. März
»Hat alles geklappt?«
»Klaro.« Manuel Hoelscher schob die flache Aktentasche aus robustem schwarzem Kalbsleder über das glatt polierte Mahagoni des Schreibtisches.
Er sah so etwas wie Spott in den Augen seines Gegenübers aufblitzen, und räusperte sich verlegen. »Selbstverständlich«, korrigierte er sich.
»Dann ist ja gut.« Die schwarze Aktentasche verschwand hinter dem Schreibtisch.
»Und Ihre Reise?«, versuchte Hoelscher sich in Höflichkeiten.
»Danke, gut. Also keine Spuren mehr?«
»Ich bin Profi«, sagte Hoelscher beleidigt. Das »ey«, mit dem er die Sätze gerne beendete, konnte er sich gerade noch verkneifen.
Wieder dieser abschätzige Blick. Der hielt sich wohl für was Besseres. »Nun passen Se mal auf, Boss«, brauste Hoelscher auf. »Wenn ich sage, es ist alles in Ordnung, dann ist auch alles in Ordnung. Und wenn Se mir nicht trauen, können Se …«
Abrupt brach er ab. Er dachte an den Flachbildfernseher, der fast die gesamte Wand über dem Sideboard einnahm, an den Gamer-PC XTreme Reaper V2 mit den vier Surroundboxen, den er sich zum Schnäppchenpreis von knapp fünf Tausendern geleistet hatte, und an die audiophile Hi-Fi-Anlage, die in der vergangenen Woche geliefert worden war. Die nächste Rate bei Easycredit war fällig. Überfällig. Lang würden die nicht mehr warten. Und das Schlimme war: Der Boss wusste das ganz genau. Beiß nie in die Hand, die dich füttert … Hoelscher biss sich stattdessen auf die Lippen.
Trotzig hielt er dem prüfenden Blick stand, bis das Schweigen anfing, unangenehm zu werden. Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Scheiß Machtspielchen! Als er schließlich den Blick senkte, hörte er, wie eine Schublade aufgezogen wurde.
»Gute Arbeit, Hoelscher. Danke.«
Hoelscher sah hoch. Der Boss nickte fast unmerklich, während er einen prall gefüllten Umschlag quer über den Schreibtisch schob.
»Jederzeit gerne wieder.« Betont langsam zog Hoelscher den Umschlag zu sich heran, schob ihn in die Innentasche seiner Jacke und stand auf.
»Hoelscher!« Die Stimme seines Chefs erreichte ihn, noch bevor er die Tür öffnete. »Wo ist das Equipment?«
Das Equipment? Hoelscher erstarrte. Das Equipment! So ein Dreck. Das hatte er echt total vergessen …
Er biss sich erneut auf die Lippen. »Kriegen Sie, Boss, kriegen Sie …«
* * *
Münsterland, Nottuln, 16. März
Idgie dachte an das kleine Haus, das sie vor einigen Stunden zum ersten Mal betreten hatte. Es war eine Art Scheune oder ein Stallgebäude, in das nachträglich ein paar Fenster und Türen eingelassen worden waren. Münsterländer Fachwerk aus rotem Backstein. Zwei Ebenen, wobei sich die obere Ebene nur bis in die Mitte des Raumes hineinzog. War mal ein Heuboden, vermutete Idgie. Eine steile Wendeltreppe führte hinauf. Holzdielen auf dem Boden, die bei jedem Schritt knarrten. Eine Holzterrasse mit weitem Blick über das Tal. Wiesen und Felder, noch stoppelig karg. Im Sommer würde es grün hier sein. Dazwischen einzelne Baumgruppen, zur Rechten ein Wäldchen.
In Sichtweite, ein Stück die Hügelkuppe entlang, lag ein Hof. Ebenfalls Fachwerk mit rotem Backstein. Dort lebten Freunde von Hannes, hatte der Anwalt geschrieben. In der Ferne konnte man die Dächer von Nottuln sehen. Schapdetten, genau genommen. Und bestimmt eingemeindet. Zu Fuß schien es nicht weit dorthin, immer den Pfad durch das kleine Wäldchen entlang und dann über den Feldweg hinunter.
Das Haus hatte sie schnell wieder verlassen. Lieber setzte sie sich in den Strandkorb unter der krüppeligen, in sich verdrehten Weide an dem mäandernden Bach und ließ ihre Gedanken wandern.
Inzwischen war es dunkel. Ich sollte aufstehen und ins Haus zurückgehen, dachte Idgie. Aber sie blieb sitzen. Sie war noch nicht bereit für eine Näherung dieser Art. Zu viel Hannes. Zu intim.
Stattdessen lauschte sie den ungewohnten Geräuschen. Ganz still war es hier und doch voller unbekannter Laute. Sie beobachtete, wie das kühle Licht des Mondes sich vorsichtig über den Hügel an sie herantastete, und sah zu, wie der große Bär am Himmel sich der Spitze einer Birke näherte, bis er sie schließlich anzustupsen schien. Sie lauschte dem Ruf eines Käuzchens im kleinen Wald hinter dem Haus und überlegte, was für ein Tier dieses merkwürdig schabende, raschelnde Geräusch von sich gab, das sie plötzlich hörte. Ein Igel, vermutete sie, oder eine Maus.
Schließlich überlagerte das beruhigende Murmeln des Baches die übrigen Geräusche, und sie fiel in einen leichten, unruhigen Schlaf.
* * *
Duisburg, 16. März
Der Ärger gärte in ihm wie ein Geschwür. Er, Manuel Hoelscher, stand da wie ein Depp. Wie vorgeführt. Wenn der Boss wenigstens laut geworden wäre. Aber nein. Stattdessen immer nur dieses abschätzige Grinsen im Gesicht.
»Regeln Sie das, Hoelscher. Schnell.«
Reinschlagen hätte er da mögen. Mann!
Schnell, schnell. Ja klar, Boss, Sie können sich auf mich verlassen, Boss, und noch ’nen Diener hinterher, Boss. Sollte der doch seine Drecksarbeit selbst erledigen. Aber dafür war der sich zu fein. Der machte sich seine manikürten Pfoten nicht dreckig, der nicht! Schnell, schnell … denkste. Heute auf jeden Fall nicht mehr. Er war doch kein dressierter Köter.
Außerdem musste er wieder runterkommen. Nie losmachen, wenn man sauer ist, da baut man nur Scheiße. Eine goldene Regel – und eine einfache. Jetzt erst mal ’ne Runde ins Studio an die Geräte und dann ab ins Casino.
Hoelscher tastete nach dem prallen Umschlag in seiner Jackentasche. Maximal zwei Fuffis würde er setzen, mehr nicht. Dann konnte er die fällige Rate immer noch bezahlen. Und mit ’nem bisschen Glück gelang es ihm vielleicht, den Einsatz zu verzehnfachen, dann könnte er die nächste Rate gleich mit löhnen. Da würde den Kredithaien das Blut im Rachen stecken bleiben.
Hoelscher klopfte eine Zigarette aus der zerdrückten Schachtel und inhalierte zwei Züge direkt nacheinander. Das Nikotin breitete sich beruhigend in seinen Adern aus.
Klar, der Boss konnte eigentlich nichts dafür. Oder doch? Er hätte vorher ja klarere Ansagen machen können. Hatte er aber nicht. Da brauchte er sich auch nicht zu wundern. Aber er würde die Sache schon richten.
Hoelscher sog den Rauch tief in seine Lungen, warf die Kippe auf den Boden und trat den glimmenden Stummel beiläufig aus. Dann stieg er in seinen Ford Ranger und warf den Motor an. Als er das sonore Brummen des Wagens hörte, begann er, ruhiger zu atmen. Geiles Geschoss. Den hätte er sich nie leisten können. War eigentlich verdammt großzügig vom Boss, ihm so einen Wagen zu spendieren. Klar, so ein Firmenwagen kostete das Unternehmen nicht die Welt. Aber er hatte freie Hand gehabt, was die Ausstattung betraf. Nur bei der Automarke, da hatte der Boss nicht mit sich feilschen lassen. Eigentlich hätte er lieber einen echten Land Rover gehabt. Trotzdem. Der Geländewagen war echt stark, und das Grinsen seiner Kollegen interessierte ihn einen Scheiß. Was für ’ne Angeberkarre, hatte der Abdul doch tatsächlich gesagt. Der hatte keine Ahnung, echt nicht. War doch bloß neidisch, dass er ’nen Firmenwagen hatte, und dann noch so eine Granate.
Hoelscher trat das Gaspedal durch und ließ den Motor aufheulen, bis die Räder durchdrehten. Dann schoss er vom Hof und spritzte davon. Echt geil, Mann!
* * *
Münsterland, Nottuln, 17. März
Idgie wachte erst auf, als sich die Morgendämmerung mit zarten orangerosigen Farben über der Hügelkette zeigte, Ton in Ton wie bei einem Aquarell. Mist, dachte sie und drehte vorsichtig den Kopf. Sie presste die Hand in den schmerzenden Nacken und seufzte. Die schwere, unverwüstliche Motorradkluft war klamm, was sie überraschte. Obwohl es am Vortag erstaunlich mild gewesen war, viel zu mild für die Jahreszeit, hatte es in der Nacht offenbar mächtig abgekühlt. Die kühle Brise war tief in ihre Knochen gekrochen, und Tau bedeckte den Boden. Wie blöd musste man sein, um im März die Nacht draußen zu verbringen? Eigentlich hatte sie doch nur noch ein wenig am Bach sitzen wollen.
Falsch, gestand sie sich ein. Es war dieses beklemmende Gefühl gewesen, das sie im Haus augenblicklich beschlichen hatte, als würde sie unbefugt in die private Sphäre ihres Exgeliebten eindringen. Ganz schön bescheuert. Idgie seufzte erneut.
Den Brief hätte sie nicht aus dem Rucksack holen müssen, denn sie kannte ihn fast auswendig. Trotzdem las sie ihn noch mal, als müsste sie sich bestätigen, dass er nicht nur in ihrer Phantasie vorhanden war. Sie faltete ihn wieder sorgfältig zusammen, bedrückt und getröstet zugleich. Dann stand sie auf, stakste mit steifen Gelenken zum Haus zurück und durchwanderte seinen offenen Raum mit der eingezogenen Galerie, den sie am Abend zuvor schon einmal betreten hatte. Dieses Mal ließ sie sich Zeit.
Eine Theke trennte den Küchenbereich vom Wohnbereich. Alles Massivholz, ganz schlicht gehalten. Männlich nüchtern. Nichts Verspieltes. Offene Regale an Stelle von Ober- und Unterschränken. An einer langen Leiste hingen ein paar Pfannen. Aber der Herd war vom Feinsten, ebenso die anderen Kochutensilien. Hatte Hannes etwa ein Faible für die Kunst des Kochens entwickelt?
Zwei schmale Türen. Hinter der einen ein kleines Bad, hinter der anderen eine Abstellkammer.
Die Küche ging in einen offenen Wohnbereich über. Eine Couch zum Ausklappen, ein Sessel mit passendem Fußhocker, ein gusseiserner Pelletofen. Alles in warmen Erdtönen, passend zum Holz des Bodens. Idgie war überrascht über die Behaglichkeit, die dieser Raum ausstrahlte. Hannes’ Wohnhöhle hatte sie sich anders vorgestellt. Weniger gemütlich.
Die Menge an Büchern in den deckenhohen Regalen überraschte sie dagegen nicht. Er hatte schon immer viel gelesen. Idgie entdeckte eine Mini-Stereoanlage, einen DVD-Player und einen kleinen Röhrenfernseher im Regal in der Ecke. Unter einem der Fenster stand ein hölzerner Schreibtisch, neben dem ein Kabel aus der Wand hing. Internet. Ein PC war allerdings nicht zu sehen.
Sie stieg die Holztreppe in die zweite Ebene hinauf. Mitten auf der Empore stand ein breites Bett. Ein Schrank war in den hinteren Spitzgiebel eingelassen. Sie warf einen Blick hinein. Nur Männerkleidung. Wenn sie hierbleiben wollte, musste sie ihre Sachen aus Emden holen. Viel war es allerdings nicht, was sich dort angesammelt hatte.
Aber wollte sie das wirklich? Hierbleiben? Zumindest sollte sie sich etwas anderes anziehen. Das Leder der Motorradhose war immer noch klamm und – sie schnüffelte an ihrer Achsel und rümpfte die Nase – sie selbst ziemlich überfällig. Außerdem saß ihr die Kälte nach wie vor in den Knochen.
Sie streifte die Kleidung ab und griff sich wahllos ein paar Klamotten aus dem Schrank. Die grau verwaschene Baumwollhose war ihr mit Sicherheit viel zu weit. Egal. Irgendwie würde es schon gehen. Idgie tappte zum Bad hinunter und ließ das heiße Wasser lange auf sich niederprasseln.
Dann machte sie sich auf den Weg zum Nachbargrundstück.
* * *
Essen, 17. März
Der Sammler war einer der älteren der Stadt, was man daran erkannte, dass er gemauert war und aus rötlichen Ziegeln. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Ungefähr sechzig Prozent der Essener Kanalisation waren aus Steinzeug. Und obwohl davon mehr als die Hälfte älter als fünfundzwanzig Jahre war, befand sich das Essener Kanalnetz in einem ganz guten Allgemeinzustand, immer im Vergleich gesehen natürlich. Ganz gut war eben relativ. Dieser Sammler hier hatte immerhin ein knappes Jahrhundert auf dem Buckel.
Manni Neumann ließ den Strahl seiner Lampe über die Mauern gleiten. An vielen Stellen wiesen sie Verkalkungen auf, die die rötlichen Ziegel mit weißlichen Verfärbungen durchsetzten. Nicht ungewöhnlich und auch nicht weiter schlimm. Aber dort, ungefähr zwei Meter weiter vorne, dort schien ein Riss in der Decke zu sein. Den musste er sich genauer ansehen.
Er stapfte weiter durch den finsteren Kanal, bemüht, mit den schweren Arbeitsstiefeln nicht ganz so hart aufzutreten. Trotzdem wurden seine Schritte von den Wänden reflektiert und dröhnten in seinen Ohren wie eine Hundertschaft.
Wenigstens musste man nicht mehr so aufpassen wie früher, dachte Manni. Früher, ja, verdammt … Die Sicherheitsvorschriften waren wirklich deutlich besser als noch vor zwanzig Jahren. Wenn er an die Zeit kurz nach seiner Ausbildung zurückdachte … da war er noch knöchelhoch durch die trübe Brühe gewatet, die die Kanäle gemeinhin gefüllt hatte. Damals musste man tierisch aufpassen, dass man nicht ausrutschte in dem ganzen Schmier.
Heute wurde ein Kanal vor einer Begehung gespült und trockengelegt. Man baute eine Sperrblase vor dem Einstiegsloch, pumpte das Wasser hoch und leitete es oberirdisch über Schläuche bis zu einem Einstieg jenseits der Begehungsstrecke. Ein großer Fortschritt, keine Frage.
Das Krächzen des Funkgeräts schallte lautstark die Wände entlang. »Manni, bitte kommen …«
Manni zog das Gerät aus der Halterung an seinem Gürtel. Dass er von einem der Sicherheitsposten angefunkt wurde, die oben zur Wetterbeobachtung in den angrenzenden Stadtteilen positioniert waren, konnte alles oder nichts bedeuten. »Was gibt’s? Muss ich rauf?«
»Keine Panik, kein Regen im Anmarsch. Ich wollte nur wissen, wie’s so läuft da unten.«
»Normal«, knurrte Manni.
Ein Windzug blies durch den Tunnel und trieb eine stinkende Wolke vor sich her. Es waren noch üblere Dünste als die, die hier ohnehin schon die ganze Zeit in der Luft hingen. »Inklusive Nasenfaktor«, scherzte er. »Mir weht hier gerade ein frisch verdauter Hauch von Edelfisch an Trüffelmousse um die Nase. Irgendein Empfang oben im Rathaus, oder was ist da los?«
Gelächter kratzte durch den Äther.
»Bah, es stinkt echt schlimmer wie’n Plumpsklo im Hochsommer.«
»Aber sonst alles clean da unten?«, erkundigte sich sein Kollege.
»Alles im grünen Bereich. Hier wurde vorher hübsch sauber gemacht. Keinerlei – äh – Ansammlungen mehr.«
Erneut krächzte das Lachen seines Kollegen die Wände entlang. »Ansammlungen und Eintrübungen, so heißt das doch immer so schön vornehm. Von wegen …«
Auch Manni musste grinsen. »Genau. Bloß nicht das böse Wörtchen mit dem SCH in den Mund nehmen.«
Man sollte die Dinge beim Namen nennen, anstatt drum herumzureden, fand Manni. Scheiße war das, schlicht und ergreifend einfach nur Scheiße. Menschlicher Auswurf, vermengt mit Wasser und allerhand anderen Dingen, die die Krönung der Schöpfung tagtäglich mal eben unbedarft in den Abfluss donnerte. Da war es völlig egal, woher das Zeug kam, ob es mit Champagner und Kaviar oder mit Doppelkorn und billigem Gyros aus der Essener Bronx durchsetzt war.
»Hör mal, ich mach jetzt mal weiter. Hier ist so ein Riss, den muss ich näher unter die Lupe nehmen. Ich denke, in ’ner halben Stunde komm ich wieder hoch. Und hübsch die Augen aufhalten, ja?«
So aus der Nähe betrachtet sah der Riss gar nicht gut aus. Schien in der rechten Außenmauer zu beginnen und zog sich bis fast über die gesamte Wölbung der Decke. Manni fotografierte den Spalt aus mehreren Blickwinkeln. Hier würde man zügig nachbessern müssen, so viel stand fest. Wenn er noch mehr solcher Risse entdecken würde, müsste man glatt über ein Reliningverfahren nachdenken. Einfach ein neues, kleineres Rohr rein und die Hohlräume verfüllen. Obwohl – da musste man erst mal gucken, ob das überhaupt möglich war, wegen der Kapazitäten …
»Schmutzfrachtberechnung« – das war ein weiterer Begriff, der Manni ein heiseres Lachen entlocken konnte. Immer dann fällig, wenn eine neue Legolandsiedlung auf irgendeinen Acker gepflanzt werden sollte. Oder ein Gewerbegebiet, das kein Schwein brauchte. Im Zweifelsfall musste dann eine eigene Rückstauanlage mit eingeplant werden, um das Abwasser kontrolliert in einen eigentlich unterdimensionierten Kanalabschnitt abzuleiten. Passte natürlich niemandem ins Konzept, weil es die Sache teurer machte. Aber immerhin konnte heutzutage niemand mehr die Stadt verklagen, weil die Anschlusskanalisation den ganzen Schmodder nicht mehr bewältigen konnte. Hatte er alles schon erlebt in seiner Laufbahn vom Azubi bis zum Einsatzleiter. Hirnlose Planung. Und hinterher war das Geschrei dann immer groß gewesen.
Mehr als dreißig Dienstjahre, Mannomann! Schon bei den Erstbegehungen des rund eintausendsechshundert Kilometer langen Abwassernetzes war er dabei gewesen. Mit denen hatte die Stadt Essen sehr frühzeitig angefangen, viel früher als die übrigen Kommunen, die eher widerwillig den gesetzlichen Auflagen gefolgt waren. Mit anderen Worten: Essen war in seinem Begehungszyklus den meisten deutschen Städten um mindestens eine Nasenlänge voraus gewesen, wie Manni auch heute noch mit einer gewissen Befriedigung in der Stimme zu sagen pflegte. Seitdem wurden die einzelnen Streckenabschnitte turnusmäßig überwacht, sei es zu Fuß oder mit der Kamera. Aus den Ergebnissen dieser Begehungen wurde ein Abwasserbeseitigungskonzept entwickelt, wie die entsprechenden Landesgesetzgebungen es aus der europäischen Wasserrahmenrichtlinie abgeleitet hatten. Gut im Rennen also, was die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben betraf.
Mit geschultem Blick begutachtete Manni die Wände, während er sich langsam weiter voranarbeitete. Noch knapp dreihundert Meter bis zum geplanten Ausstieg, schätzte er. Aber dann war’s auch erst mal gut mit dem Außendienst … nur weil der Mischke schon wieder ’nen Gelben reingereicht hatte, den fünften in diesem Jahr … und weil es tagsüber halbwegs trocken bleiben sollte – laut Wetterprognose. Wäre blöd gewesen, die geplante Tour zu verschieben. Aber was soll’s?, dachte Manni. Einmal Kanalratte, immer Kanalratte. Das blieb an einem kleben wie der Geruch, der hier unten hing. Gut, dass er mittlerweile selbst entscheiden konnte, wann er runterging und wann nicht.
* * *
Münsterland, Nottuln, 17. März
Eine Linde reckte ihre kahlen Äste über ein paar Tische auf buckeligem Pflaster, zwischen dem sich Moos und erste Grashalme breitmachten. Efeu rankte an dem roten Backstein der Gebäude hinauf, und ein dunkelgrünes, auf alt getrimmtes Blechschild hing über einer Tür. Hofcafé zum Schimmelreiter war unter dem weißen Schattenriss eines galoppierenden Reiters eingeprägt.
Idgie setzte sich an einen der Tische und wartete. Es dauerte nicht lang, bis eine Frau aus dem Haus auf sie zueilte.
»Möchten Sie wirklich draußen sitzen?«, fragte sie freundlich.
Idgie nickte.
»Wie Sie wollen. Was darf’s sein?« Sie war deutlich jünger als Idgie, ungefähr Mitte dreißig, und strahlte die Natürlichkeit einer Frau aus, die sich viel im Freien aufhält. »Wir haben heute frisch gebackenen Käsekuchen. Und Apfelstreusel.«
Ein richtiges Landei, dachte Idgie und meinte das keineswegs abwertend.
»Der ist aber von gestern«, fügte die Frau mit überraschender Ehrlichkeit hinzu.
»Macht nichts, ich nehme beide. Kann ich auch einen Tee bekommen?«
»Friesen, Darjeeling, Earl Grey oder Assam. Grünen Tee haben wir auch.«
»Gibt es den Friesen denn auch richtig friesisch?«
Die Frau lächelte. »Mit Milch und Kluntjes, wenn Sie wollen.«
»Dann bitte den Friesen«, entschied Idgie. »Ich würde dann auch gerne mit Ihnen reden.«
Ein neugieriger Blick streifte sie.
Hübsch war sie, fand Idgie. Klare Augen, leicht gewelltes dunkelblondes Haar, weiblich rund.
Kurz darauf standen zwei opulente Kuchenstücke und eine dampfende Kanne Tee vor Idgie auf dem Tisch.
»Die sind aber groß. Wenn ich das gewusst hätte.«
»Dann bringe ich eines zurück.«
»Nein, lassen Sie nur. Ich esse es morgen früh. Ich bin …«, Idgie wusste nicht so recht, wie sie weitermachen sollte, »… gekommen, um den Hund zu holen«, fiel sie dann mit der Tür ins Haus. »Hannes hat mich gebeten, gut für ihn zu sorgen. Ich wohne in seiner Scheune. Wir sind jetzt also Nachbarn. Callahan heiße ich.«
»Idgie? Sie sind Idgie?«
»Ja. Und du musst Stella sein.«
Es war eine von Idgies irritierenden Angewohnheiten, dass sie sehr schnell ins Du verfiel. Manch einer interpretierte das als Überheblichkeit. Aber das war eine Fehleinschätzung. Idgie duzte die Menschen, wenn sie sie mochte. Es war gewissermaßen eine Auszeichnung.
»Herzlich willkommen. Hannes hat uns einiges von dir erzählt. Björn«, rief die Frau quer über den Hof. »Rate mal, wer da ist!«
Als Idgie zurück zu Hannes’ Scheune ging, führte sie den Hund an der Leine, einen mittelgroßen Mischling mit hell gelocktem Fell wie ein Terrier. Aber er war breiter als ein Fox, und der gebogene Schwanz erinnerte an den eines Huskies. Richtig jung war er nicht mehr. Aufmerksam hatte er ihre Hosenbeine und dann ihre Hand beschnüffelt, ging jedoch nur widerstrebend mit ihr mit, als sie ihn dazu aufforderte.
Am Abend zog er seine Runden durch die ausgebaute Scheune, reckte die Nase in die Höhe und bellte in das Mondlicht hinein, das durch das Fenster in den Raum floss. Unruhige Kreise zog der Hund, und Idgie spürte, dass er nach Hannes suchte. Sie war froh, als er sich dazu überreden ließ, etwas von dem Hundefutter zu fressen, das Idgie in der Abstellkammer gefunden hatte. Sie selbst begnügte sich mit Knäckebrot, einer Dose Ölsardinen und einem Glas Rotwein und setzte sich mit ihrem Netbook an den kleinen Schreibtisch.
Es war an der Zeit, sich die externe Festplatte von Hannes Schindler anzusehen.
* * *
Die Dateistruktur auf der Festplatte war passwortgeschützt. Du wirst schon wissen, welchen Zugang du benutzen musst, hatte in dem Brief gestanden. Idgie zögerte. Sie spürte ihr Herz lautstark gegen ihren Brustkorb hämmern.
Wollte sie das hier? Wollte sie das wirklich? Noch konnte sie ihren Rucksack packen und einfach still und leise wieder abhauen. Die Vergangenheit ruhen lassen. Es nicht erlauben, dass die Erinnerung wieder hochkroch und neue Stacheln in ihr Fleisch bohrte.
Dann sah sie auf den Hund hinunter, der endlich von seiner ziellosen Wanderung durch das Haus abgelassen und sich neben ihr auf den Holzdielen niedergelassen hatte, nicht richtig entspannt, aber immerhin auch nicht mehr völlig rastlos.
»Na, Filou«, sagte sie leise. »Bist traurig, was?«
Der Hund sah zu ihr hoch und winselte leise. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er die gleichen hellen Augen hatte wie sie selbst. Wolfsaugen. Sie musste schlucken.
»Vielleicht können wir uns ja gegenseitig ein bisschen trösten. Meinst du denn, wir kommen miteinander klar?« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Zaghaft wedelte Filou mit dem Schwanz.
»Ist doch unbequem so auf dem Boden. Warte.« Idgie stand auf und schob den gepolsterten Fußschemel, der vor dem Ohrensessel in der Ecke stand, neben ihren Stuhl.
Filou beobachtete aufmerksam jeden ihrer Schritte.
Sie holte ein paar Hundekekse aus der angebrochenen Packung in der Kammer und setzte sich zurück an den Schreibtisch. Dann schlug sie auffordernd auf den Pouf. »Komm«, lockte sie, hielt ihm ein Leckerli auf der Handfläche hin und klopfte erneut einladend auf das Polster. Es klappte. Der Hund nahm mit spitzen Zähnen vorsichtig den Leckerbissen entgegen und sprang auf das Polster, wo er sich umständlich zusammenrollte.