Europas Weg in den Ersten Weltkrieg
Verlag C.H.Beck
Warum führte das Attentat von Sarajewo, das serbische Nationalisten am 28. Juni 1914 auf Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau verübten, zum Ersten Weltkrieg? Ist Europa in den Krieg «hineingeschlittert», wie es der britische Premier Lloyd George einst formulierte? Oder lassen sich klare Verantwortlichkeiten benennen? Auf der Grundlage zeitgenössischer Quellen und langjähriger Forschungen schildert Annika Mombauer die Geschichte der Julikrise – vom Tod des Thronfolgers bis zur englischen Kriegserklärung an Deutschland am 4. August 1914. Dabei grenzt sie sich klar von neueren Tendenzen ab, die Verantwortung Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches für die Eskalation der Krise zu verwischen. Die politische und militärische Führung beider Länder wollte den außenpolitischen Befreiungsschlag und riskierte damit leichtsinnig einen Weltkrieg. Dass dieser allerdings zur «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts werden würde, konnte im Juli 1914 niemand ahnen.
Annika Mombauer ist Senior Lecturer an der Geschichtsfakultät der Open University in Milton Keynes, Großbritannien. Sie ist eine der weltweit führenden Experten zur Julikrise.
Mit zwei Karten
(gefertigt von Peter Palm, Berlin)
Originalausgabe
1. Auflage. 2014
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2014
Umschlaggestaltung: Uwe Göbel, München
Umschlagabbildung: Der Kaiser auf dem westl. Kriegsschauplatz, 1917 © akg-images
ISBN Buch 978-3-406-66108-2
ISBN eBook 978-3-406-66109-9
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Einleitung: Hundert Jahre Julikrise
1. Vorkriegsdiplomatie
2. Tod in Sarajewo
3. Erste Reaktionen auf das Attentat
4. Das Ultimatum aus Wien
5. Vermittlungsversuche der Großmächte
6. Mobilmachungen und der Ausbruch des Weltkrieges
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Personenregister
Der 28. Juni 1914, ein Sonntag, war der letzte Tag des offiziellen Besuches von Erzherzog Franz Ferdinand, dem österreichisch-ungarischen Thronfolger, und seiner Frau Sophie von Hohenberg in Bosnien, und auf dem Programm stand eine Fahrt durch die Hauptstadt der Provinz, Sarajewo. Beide werden sich auf diesen Tag gefreut haben, konnten sie doch hier – abseits des steifen Zeremoniells am Wiener Hof – das feierliche Programm ihres Besuches Seite an Seite genießen. Da sie als nicht ebenbürtiger Ehepartner angesehen wurde, durfte seine Frau Sophie bei offiziellen Anlässen zu Hause in Wien nicht an der Seite ihres Gatten erscheinen. Hier in Bosnien, im fernen Winkel des österreichisch-ungarischen Reiches, konnten solche Förmlichkeiten entfallen, und der Besuch war für das Paar – trotz vorheriger Warnungen, dass seine Sicherheit nicht garantiert sei – zu einem überraschend schönen Ereignis geworden. Die Eheleute hatten bereits drei Tage in Bosnien verbracht und sich dort unerwarteter Beliebtheit erfreut. Am 27. Juni erklärte Sophie dem Vizepräsidenten des kroatischen Parlaments, Josip Sunarić, dann auch, seine Warnung vor möglichen Gefahren gegenüber dem österreichischen Militärgouverneur Oskar Potiorek sei ganz und gar unberechtigt gewesen: «Wo immer wir waren, haben uns alle, bis auf den letzten Serben, mit solcher Freundlichkeit, Höflichkeit und echter Wärme begrüßt, dass wir mit unserem Besuch sehr glücklich sind», schwärmte sie. Fast prophetisch erwiderte Sunaric, er hoffe, dass die Erzherzogin diese Worte am nächsten Tag würde wiederholen können. «Eine große Last wird von meinen Schultern fallen.»
Aber der 28. Juni war auch St. Veitstag, an dem 1389 die serbische Armee von Truppen des Osmanischen Reiches auf dem Amselfeld im Kosovo besiegt worden war – ein zwar jährlich begangener, aber von den Serben 1914 besonders gefeierter Gedenktag, denn der Kosovo war im vorangegangenen Balkankrieg erobert worden. Sicherlich kein gut gewählter Termin, um ausgerechnet den Thronfolger der österreich-ungarischen Doppelmonarchie, die 1908 Bosnien und Herzegowina annektiert hatte, in die Hauptstadt dieser umstrittenen Region zu schicken. Der Besuch wurde von Serben innerhalb und außerhalb Bosniens als Provokation gesehen. Die Annexion hatten sie nicht verwunden, und viele strebten ein großserbisches Reich für alle Serben an. Dies schien mit den beiden Balkankriegen von 1912 und 1913 in Reichweite zu rücken, denn Serbien hatte die Türkei und Bulgarien besiegen, sein Gebiet fast verdoppeln und seine Einwohnerzahl von drei auf 4,5 Millionen erhöhen können. Nun galt es nur noch, die außerhalb der neuen Landesgrenzen befindlichen, von Serben bewohnten Gebiete zu gewinnen. Ungefähr zwei Millionen Serben lebten in Österreich-Ungarn und etwa 850.000 davon in Bosnien-Herzegowina.
Vor diesem Hintergrund also hatte man Franz Ferdinand nach Bosnien entsandt, um Truppenmanöver zu inspizieren, und ausgerechnet am St. Veitstag war das krönende Ereignis seines Aufenthalts vorgesehen, der offizielle Besuch in der Hauptstadt Sarajewo. Er endete bekanntlich mit einer folgenreichen Tragödie: Der österreichisch-ungarische Thronfolger und seine Frau Sophie wurden am Vormittag von einem jungen bosnischen Serben namens Gavrilo Princip erschossen. Dieses Attentat war von langer Hand vorbereitet und an der im Vorhinein in der Presse angekündigten Route waren gleich mehrere Attentäter postiert worden. Weder geplant noch vorhersehbar war allerdings, dass es der Auslöser für eine internationale Krise werden sollte, die Anfang August 1914 in dem von vielen schon lange befürchteten – von einigen sogar geradezu herbeigesehnten – Krieg zwischen den Großmächten endete. Der Tod eines Mannes in Sarajewo sollte zum Tod von Millionen Menschen im Ersten Weltkrieg führen. Und dieser Erste Weltkrieg war mit dem Waffenstillstand im November 1918 und dem Deutschland aufgezwungenen Friedensschluss von 1919 noch immer nicht ausgestanden, sondern führte später zu einem zweiten, noch katastrophaleren Krieg. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass diese Juliwochen 1914, die sogenannte Julikrise, als in den Hauptstädten der Großmächte über Krieg und Frieden entschieden wurde, prägend für die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts waren. Daher ist es auch sicherlich gerechtfertigt, in diesem Krieg die «Urkatastrophe» dieses Jahrhunderts zu sehen (George Kennan). Wie und warum es zu diesem Krieg kam, ist das Thema dieses Buches.
Die Frage nach den Kriegsursachen, oder genauer, die Frage nach der Kriegsschuld, hat erst Regierungen und später zahllose Historiker beschäftigt. Um sie zu beantworten, wurden die Ereignisse der letzten Friedenswochen akribisch recherchiert und kritisch durchleuchtet. Der Krieg hatte unvorstellbares Leid verursacht. Alle an ihm Beteiligten wollten nicht nur seine Ursache verstehen, sondern natürlich auch jegliche Schuld von sich weisen, an der Verursachung dieser Katastrophe selbst beteiligt gewesen zu sein. Das machte es so wichtig, vor der eigenen Bevölkerung, vor den Feinden, aber auch vor dem Urteil der Nachwelt das eigene Handeln zu rechtfertigen und zugleich das der Feinde als kriegstreibend bloßzustellen.
Zunächst schien diese Frage leicht zu beantworten. Als die Sieger sich 1919 in Versailles trafen, gab es für sie keinen Zweifel: Deutschland und seine Verbündeten waren es, die den Krieg absichtlich vom Zaun gebrochen hatten und jetzt für dieses Verbrechen bestraft werden mussten. Der berühmte Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages machte in noch nie zuvor praktizierter Weise ein Land für den Krieg verantwortlich. Die Sieger entschieden: «Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben.»
Die alleinige Verantwortung für den Ausbruch des Krieges trugen demnach Deutschland und seine Verbündeten – und damit auch für die zahlreichen Gräueltaten in den Ländern, in die deutsche Soldaten eingefallen waren; für die wirtschaftlichen Schäden, die die Entente-Länder (Großbritannien, Frankreich, Russland und deren Verbündete) erlitten hatten; für den Tod von fast zehn Millionen Soldaten, die im Krieg ihr Leben gelassen hatten; für das unmenschliche Leid von Millionen körperlich und seelisch Verwundeten, Verstümmelten, von Witwen und Waisen. Aber in Deutschland wies man diese Vorwürfe von sich. «Mitten im Frieden überfällt uns der Feind», hatte der deutsche Kaiser Wilhelm II. am 4. August 1914 verkündet, und die Nachricht war auf unzähligen Postkarten, Propagandapostern und in der Presse im Reich verbreitet worden. In Deutschland war die Bevölkerung ebenso davon überzeugt gewesen, einen Verteidigungskrieg zu führen, wie in England oder Frankreich. Dass man nun selber als Angreifer dargestellt wurde, war unannehmbar, nicht zuletzt, weil die immensen alliierten Reparationsansprüche auf dieser Kriegsschuldzuweisung basierten. In Deutschland arbeiteten deshalb die Weimarer Regierungen mit Historikern und Publizisten an der Widerlegung dieser «Schuldlüge». Die Revision des Versailler Vertrages wurde zum Ziel der offiziellen Geschichtsschreibung der zwanziger Jahre, und als sich in den dreißiger Jahren die Überzeugung durchsetzte, das vor dem Krieg bestehende Bündnissystem (also die Triple-Entente Frankreich, Russland, Großbritannien auf der einen, Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien auf der anderen Seite) sei für den Ausbruch des Krieges verantwortlich zu machen, und sich damit der internationale Konsens zugunsten Deutschlands wandte, sah sich dieser Versuch von Erfolg gekrönt: Europa sei in den Krieg «geschlittert», brachte es versöhnlich David Lloyd George in seinen Memoiren 1933 auf den Punkt.
Erst in den sechziger Jahren wurde diese Sichtweise in der nach dem Historiker Fritz Fischer benannten «Fischer-Kontroverse» hinterfragt. Fischer hatte in seinem einflussreichen und kontroversen Werk Griff nach der Weltmacht Deutschland die Hauptschuld am Ausbruch des Krieges zugeschrieben. Fünfzig Jahre später, zum hundertsten Jahrestag der Julikrise, hat sich das Blatt erneut gewendet; es wird vielfach argumentiert, dass der Kriegsausbruch nicht durch die Handlungen eines Landes oder einer Regierung erklärt werden kann. Nur ein internationaler Vergleich, so der Konsens unter Historikern, könne erklären, wie es zum Ersten Weltkrieg gekommen sei. Dabei wird auch die Ansicht vertreten, dass man Deutschland und seine Verbündeten 1919 zu Unrecht für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gemacht habe. In den neuesten Studien zum Thema wird zum Beispiel die Verantwortung Russlands (Sean McMeekin) oder Frankreichs (Stefan Schmidt) in den Blickpunkt gerückt oder die Verantwortung aller und die Schuld keines Landes hervorgehoben. So bezweifelt Christopher Clark, ob es überhaupt sinnvoll sei, ein blame game zu spielen.
Wegen der Konsequenzen, die die verschiedenen Deutungen für die nationale Schuldzuweisung haben, ist in dieser verzwickten historiografischen Debatte der Hintergrund des Attentats und sind die Wochen, die zwischen der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges liegen, von Historikern über Jahrzehnte bis ins kleinste Detail untersucht worden. Einigkeit darüber, wie die Entscheidungen, die in diesen schicksalhaften Wochen von Europas Staatsmännern getroffen wurden, zu bewerten sind, ist aber trotz dieser ungeheuren und wohl für kaum ein anderes historisches Ereignis zuvor aufgebrachten Akribie bei der historischen Erforschung bislang nicht erzielt worden. Daran wird wohl auch die Fülle der zum Anlass des hundertjährigen Jahrestags publizierten neuen Studien nichts ändern. Zwar spricht man heute weniger von Kriegsschuld als von Verantwortlichkeit, aber ungeachtet solcher semantischen Finessen ist doch letztlich das Gleiche gemeint: die Frage nach der Ursache des Krieges.
Über lange Zeit war die Kriegsschuldfrage ein politisch höchst relevantes Thema. Wer Deutschlands Verantwortung bezweifelte oder relativierte, galt als «Revisionist», wer die Entente-Mächte beschuldigte, als «Apologet» – die Sprache der Debatte ist aufschlussreich und zeugt davon, wie emotional aufgeladen das Thema seit jeher war. Diese Emotionalität liegt auch darin begründet, dass der Ausgang des Ersten Weltkrieges und die von der deutschen Bevölkerung als Schmach empfundene Alleinschuldklausel des Versailler Vertrages als eine der wesentlichen Ursachen für die Entstehung des Zweiten Weltkrieges betrachtet werden. Als besonders kontrovers galt auch die angeblich direkte Verbindung zwischen den von Fritz Fischer herausgearbeiteten deutschen Kriegszielen von 1914 und Hitlers Kriegszielen von 1939. Die Behauptung, Deutschland habe zwei Angriffskriege im 20. Jahrhundert zu verantworten, war in den sechziger Jahren, als ein geteiltes Deutschland sich an der vordersten Front des Kalten Krieges befand, von besonderer politischer Bedeutung.
Die Frage der Kriegsschuld steht also immer dann im Raum, wenn die Julikrise Thema ist, und erst seit jüngster Zeit ist es möglich geworden, das Problem ohne persönliche Betroffenheit und gewissermaßen unparteiisch zu untersuchen, denn es hat an politischer Relevanz nach hundert Jahren etwas eingebüßt. Dies war nicht so, als die internationalen Streitigkeiten um die Kriegsschuld in der Zwischenkriegszeit von Zeitgenossen ausgefochten wurden, die den Ersten Weltkrieg selber erlebt hatten, und auch die in Deutschland so kontrovers geführte Fischer-Debatte der sechziger Jahre hatte eine zeitgeschichtliche politische Relevanz, die die Leidenschaft der Debattierenden erklären kann. Nach einem Jahrhundert ist das Thema jedoch in geschichtliche Distanz gerückt, weswegen es Historikern heute leichter fällt, an die Frage der Verantwortung für den Kriegsausbruch heranzutreten. Das heißt aber noch nicht, dass es zu einer «Uniformität der Meinungen» gekommen wäre (Ernest May und Samuel Williamson); Historiker streiten sich weiterhin um die Kriegsursachen, sind aber heute eher bereit, andere Meinungen zu dulden, als vor fünfzig oder hundert Jahren.
Bei der Suche nach der Kriegsursache profitieren Historiker besonders davon, dass die Regierungen der Großmächte in nie zuvor da gewesener Weise ihre geheimen Archive öffneten und in der Nachkriegszeit unzählige Dokumente publizierten, die entweder die eigene Kriegsschuld infrage stellen oder die Schuld der Gegner hervorheben sollten. Mit diesen offiziellen Editionen und den später von Historikern in Archiven entdeckten Quellen stehen uns unzählige Dokumente aus der Vorkriegszeit zur Verfügung, die es erlauben, die Julikrise minutiös nachzuerleben. Der vorliegende Band basiert auf dieser außerordentlichen Fülle von Quellen und zeitgenössischen Memoiren. Er beleuchtet die Julikrise international, stellt die Entscheidungen dar, die in den Hauptstädten Europas getroffen wurden, und fragt nach ihrem Stellenwert auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg. Dabei wird auch zu fragen sein, ob andere Entscheidungen hätten getroffen werden können und der Krieg dann vielleicht vermeidbar gewesen wäre.
Denn wenn auch die Frage nach der Kriegsschuld heute nicht mehr so häufig gestellt wird, geblieben ist das Bedürfnis, den Ausbruch des Krieges zu erklären. Anders als in Deutschland, wo der Erste Weltkrieg vom Zweiten überschattet wurde, hat der Krieg von 1914 bis 1918 im angelsächsischen Raum an morbider Faszination nie eingebüßt, und die Frage nach der Ursache dieser «Urkatastrophe» beschäftigt Historiker, Studierende und ein breites Publikum weiterhin – nicht zuletzt, weil vielfach behauptet wird, Großbritannien hätte sich aus diesem Krieg heraushalten können und sollen. Dieses Argument wird hinfällig, sobald man den Kriegsausbruch mit dem Wunsch Deutschlands nach Festigung der eigenen Weltmachtposition erklären kann. Denn dann erscheinen die enormen Opfer, die Großbritannien im Ersten Weltkrieg gebracht hat, zwar weiterhin als bedauerlich, aber wenigstens als unvermeidlich. War aber der Krieg ein Unfall, aus dem Großbritannien sich hätte heraushalten können, oder war er gar von Großbritanniens Alliierten bewusst herbeigeführt worden, so wären diese Opfer für keinen guten Grund gebracht worden. Die Frage nach der Ursache des Krieges ist so auch heute noch in diesem Kontext von besonderer Bedeutung.
Liest man die neuesten Forschungsergebnisse, gewinnt man leicht den Eindruck, Europa könne 1914 tatsächlich in den Krieg «geschlittert» sein, wie es David Lloyd George behauptete. Im Folgenden wird jedoch argumentiert, dass eine solche Relativierung von Verantwortung einer kritischen Probe nicht standhält. Die Regierungen der Großmächte sind nicht hilflos in den Krieg geschlittert (die Bevölkerung tat es allerdings), und nicht jede Regierung war in gleichem Maße verantwortlich für die Eskalation der Krise, die mit dem Fürstenmord in Sarajewo begann. Vielmehr kann gezeigt werden, dass die Julikrise in zwei Phasen zerfällt. Die erste, bis zum 23. Juli währende Phase ist dominiert von den in Wien und Berlin fahrlässig getroffenen Entscheidungen, die auf eine absichtliche Eskalation der Krise hinausliefen – man kann hier sehr wohl von Verantwortung für den späteren Kriegsausbruch sprechen. Die Ermordung des Erzherzogs musste nicht zwangsläufig einen Krieg mit Serbien und mit dessen pan-slawischem Beschützer Russland nach sich ziehen. Eine diplomatische Lösung der Krise wurde in Wien und Berlin jedoch kategorisch abgelehnt. Diese frühe Entscheidung, eine Konfrontation mit Serbien zu riskieren, wiegt schwer.
Die Reaktionen der anderen Großmächte – und Serbiens – fallen in die zweite Phase der Julikrise, beginnend mit der Übergabe des österreich-ungarischen Ultimatums an Belgrad am 23. Juli. Sie waren durchaus schwerwiegend, und auch sie trugen gewiss zur Eskalation der Krise bei. Man war auch in Paris und Petersburg (wie eben auch in Wien und Berlin) darum bemüht, der Welt die Unerschütterlichkeit des eigenen Zweistaaten-Bündnisses unter Beweis zu stellen, und aus diesem Bedürfnis leiteten sich folgenschwere Entscheidungen ab. Dennoch waren diese Entscheidungen, die in der zweiten Phase in den Hauptstädten der anderen Großmächte getroffen wurden und die Krise weiter eskalieren ließen, nicht ausschlaggebend dafür, dass sich die Ermordung des Erzherzogs zu einem Krieg ausweitete. Die Verantwortung (für den Historiker sicher ein besseres Konzept als Schuld) ist vielmehr vorranging in Wien und Berlin zu finden. Auch nach hundert Jahren lässt sich dies, so die These dieses Buches, nicht leugnen.
Die Julikrise nahm mit der Ermordung von Franz Ferdinand im bosnischen Sarajewo ihren Anfang, aber der Ausbruch des «großen Krieges» von 1914 lässt sich, obschon das Attentat in Sarajewo oft als Auslöser des Weltkrieges oder als sein Prolog gesehen wird, nicht auf dieses Ereignis reduzieren. Es war zwar unzweifelhaft Anlass einer großen Krise, aber zunächst wäre eine friedliche Lösung des Konfliktes zwischen Österreich-Ungarn und Serbien durchaus noch denkbar gewesen. Als die Nachricht aus Sarajewo allerorts für Schlagzeilen sorgte, erwartete auch tatsächlich kaum jemand, dass sich daraus ein Krieg entwickeln würde. Bis zum letzten Moment gab es Gelegenheiten, die Eskalation der Krise und den Ausbruch des großen Krieges zu verhindern. Dieses Buch zeigt, warum diese Möglichkeiten ungenutzt blieben und wie es im Sommer 1914 dazu kam, dass der Erste Weltkrieg ausbrach.
Die Julikrise stellt den letzten Akt in einer langen Reihe von internationalen Konflikten dar, die Europa in den Jahren 1900 bis 1914 immer wieder an den Rand eines Krieges getrieben hatten. Ein «großer Krieg» schien vielen Zeitgenossen auf lange Sicht unausweichlich; unklar war nur, wann er ausbrechen würde. Und tatsächlich war es bereits mehrfach gelungen, einen solchen zu vermeiden. In neuesten Untersuchungen zum Thema wird daher auch weniger die Unvermeidlichkeit des Krieges in den Vordergrund gestellt als vielmehr auf die Tatsache verwiesen, dass es den Großmächten bis 1914 mehrfach erfolgreich gelungen war, trotz internationaler Konflikte einen Krieg zu umgehen. Insofern gelten die Vorkriegsjahre also nicht unbedingt als Generalprobe für die letzte Krise, die den Ausbruch des Krieges dann (tatsächlich oder auch nur vermeintlich) zwingend machte, sondern eher als Beweis dafür, dass das europäische «Konzert» funktionierte, das europäische Bündnissystem abschreckend wirkte und Krisen nicht zu Kriegen ausuferten. Zwei Fragen drängen sich deshalb auf: Hätte sich im Juli 1914 auch wieder eine friedliche Lösung finden lassen, und warum endete diese Krise im Krieg?
Europa war vor dem Ersten Weltkrieg durch ein Bündnissystem in zwei Lager aufgeteilt, innerhalb deren Zwängen die Diplomatie zu operieren hatte. Auf der einen Seite stand Deutschland, das seit 1879 mit Österreich-Ungarn und seit 1882 mit Italien verbündet war. Das so entstandene Bündnis sollte ursprünglich den Ausbruch eines weiteren Krieges in Europa verhindern. Dieser Dreibund stand seit 1894 einer Allianz zwischen Frankreich und Russland gegenüber. 1904 kam noch eine Entente zwischen Großbritannien und Frankreich dazu. Seit 1907 sprach man von einer «Triple-Entente», denn Russland und Großbritannien hatten sich angenähert, wenn auch ein formelles Bündnis noch nicht zustande gekommen war. An der Peripherie befanden sich die kleineren Staaten, die zu dem einen oder anderen Bündnis tendierten und von den Großmächten umworben wurden: Serbien hatte starke «pan-slawische» Verbindungen zu Russland, die Türkei zu Deutschland. In Berlin hoffte man außerdem, dass sich Bulgarien im Kriegsfall für den Dreibund entscheiden würde (das geschah 1915); Rumänien dagegen kämpfte auf der Seite der Entente (Kriegseintritt 1916). Italien hatte schon vor der Julikrise versucht, sich alle Optionen offenzuhalten, und hatte bereits 1902 ein geheimes Abkommen mit Frankreich getroffen, das sich mit dem Dreibund nicht vereinbaren ließ. Seine Neutralität im Sommer 1914 beweist, dass das Bündnissystem nicht zwangsläufig dazu führen musste, ein Land in den Krieg zu verwickeln. Andere europäische Staaten bewahrten in der Vorkriegszeit strikte Neutralität; darunter Belgien, dessen neutraler Status im Übrigen von allen Großmächten im Londoner Vertrag von 1839 festgelegt worden war.
Die vielen internationalen Krisen, meist ausgelöst durch den Wunsch des einen oder anderen Staates, Territorium oder kolonialen Einfluss zu erwerben (wie zum Beispiel die Marokkokrisen von 1905 und 1911, die bosnische Annexionskrise oder die Frage nach dem russischen Zugang zum Bosporus), formten und festigten dieses Allianzsystem; gelöst wurden sie ohne Krieg und mit Hilfe der Diplomatie. Kriege führte man an der Peripherie, so zum Beispiel Russland mit Japan 1904/05 und Italien mit dem Osmanischen Reich in Tripolitanien und der Cyrenaika 1911, oder sie fanden zwischen kleineren Staaten statt, wie die Balkankriege von 1912 und 1913. Noch im Winter 1912/13 war ein «großer Krieg» vermieden worden, als die Großmächte leicht in den zweiten blutigen Balkankrieg hätten verwickelt werden können. Österreich-Ungarn hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits für einen Krieg gegen Serbien entschieden, das über Albanien nach einem Zugang zum Meer strebte. Damit scheiterte die Wiener Regierung aber am verbündeten Deutschland, das nicht bereit war, in den Krieg zu ziehen, nur «weil Österreich die Serben nicht in Albanien oder Durazzo haben will», wie Kaiser Wilhelm II. monierte. Im Herbst 1913 war es dann Russland, das sich weigerte, Serbien in seinem Konflikt mit Österreich-Ungarn zu unterstützen, und eine weitere Balkankrise verstrich ohne einen großen Krieg. Um die Krise in einen Krieg ausufern zu lassen, hätten die verbündeten Mächte zusammenhalten und einander unterstützen müssen. In den Jahren 1912 und 1913 war diese Voraussetzung nicht gegeben.
Die Frage nach Belgiens Neutralität war in dieser kritischen Phase für Frankreichs und Deutschlands militärische und diplomatische Planer von großer Bedeutung. Beide Länder hatten ihre lange gemeinsame Grenze nach dem Krieg von 1871 stark befestigt, was dazu führte, dass keiner der beiden mehr den jeweiligen Gegner im Falle eines Krieges schnell und umfassend besiegen konnte. Um die Befestigungen zu umgehen, war das Terrain im Süden zu bergig, aber im Norden bot sich das leichter zu bewältigende Territorium von Belgien, Luxemburg und Holland an. 1911 forderte der neue französische Generalstabschef Joseph Joffre dementsprechend, dass Frankreichs Truppen im Kriegsfall durch Belgien gen Deutschland marschieren sollten. Aber er wurde von politischen Bedenken im eigenen Land daran gehindert, einen Aufmarschplan gegen Deutschland zu entwickeln, der eine solche Verletzung der belgischen Neutralität durch französische Truppen vorgesehen hätte. Der Hauptgrund für diese Bedenken waren weder «moralische Skrupel oder rechtliche Bedenken», wie Stefan Schmidt zeigt, sondern die Ungewissheit, ob Großbritannien weiterhin an der Seite eines Frankreich bleiben würde, das den Krieg mit der Verletzung der belgischen Neutralität eröffnen würde.
Der französische Aufmarschplan, mit dem Frankreich dann im Sommer 1914 tatsächlich in den Krieg zog (der sogenannte Plan XVII), sah dementsprechend neben der Möglichkeit einer Verletzung der belgischen Neutralität auch eine Offensive durch Lothringen vor; man würde belgisches Gebiet nur dann durchqueren, wenn Deutschland dies zuvor getan hatte, um sich so der militärischen Unterstützung Großbritanniens zu versichern. Die britische Hilfe, in Gestalt der 150.000 Mann starken British Expeditionary Force, war so wichtig, dass selbst Joffre bereit war, den Aufmarschplan auf diese Priorität auszurichten, obwohl dies bedeutete, dass die geplante Offensive langsamer und unter schlechteren Umständen ausgetragen werden musste.