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Das Buch

Unser Darm ist ein fabelhaftes Wesen voller Sensibilität, Verantwortung und Leistungsbereitschaft. Wenn man ihn gut behandelt, bedankt er sich dafür. Das tut jedem gut: Der Darm trainiert zwei Drittel unseres Immunsystems. Aus Brötchen oder Tofu-Wurst beschafft er unserem Körper die Energie zum Leben. Und er hat das größte Nervensystem nach dem Gehirn. Allergien, unser Gewicht und eben auch unsere Gefühlswelt sind eng mit unserm Bauch verknüpft. In diesem Buch erklärt die junge Wissenschaftlerin Giulia Enders in charmantem Ton, was die medizinische Forschung Neues bietet und wie wir mit diesem Wissen unseren Alltag besser machen können.

Die Autorin

Giulia Enders arbeitet als Ärztin für Gastroenterologie. Sie forschte für ihre Doktorarbeit am Institut für Mikrobiologie in Frankfurt am Main und wurde 2012 durch ihren Science-Slam-Vortrag Darm mit Charme bekannt, der zum YouTube-Hit wurde.

Jill Enders ist diplomierte Kommunikationsdesignerin mit dem Schwerpunkt Wissenschaftsvermittlung. Sie arbeitete in Philadelphia, Berlin, Köln und Frankfurt. Für ihre Arbeit erhielt sie 2013 das Stipendium der Heinrich-Hertz-Gesellschaft. Sie hat ein Grafikbüro in Karlsruhe, wo sie unter anderem an der Hochschule für Gestaltung lehrte.

Giulia Enders

DARM MIT
CHARME

Alles über ein
unterschätztes Organ

Mit Illustrationen von Jill Enders

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Ullstein

Die Ratschläge in diesem Buch sind von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft worden. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für kompetenten medizinischen Rat. Alle Angaben in diesem Buch erfolgen daher ohne jegliche Gewährleistung oder Garantie seitens des Verlags oder der Autorin. Eine Haftung der Autorin bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ebenfalls ausgeschlossen.

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ISBN 978-3-8437-0711-4

© 2014 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Aktualisierung November 2021
Umschlaggestaltung: Jill Enders
Umschlagfoto: Jill Enders
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten

Für alle alleinerziehenden Eltern, die so viel Energie und Liebe für ihre Kinder aufbringen wie unsere Mutter für meine Schwester und mich.

Und für Hedi.

Inhalt

Über das Buch und die Autorin

Titelseite

Impressum

Widmung

Vorwort

1 Darm mit Charme

Wie geht kacken? – … und warum das eine Frage wert ist

Sitze ich richtig auf dem Klo?

Die Eingangshalle zum Darmrohr

Der Aufbau des Darms

Die »gargelige« Speiseröhre

Das schiefe Magenbeutelchen

Der umherschlängelnde Dünndarm

Der unnötige Blinddarm und der pummelige Dickdarm

Was wir wirklich essen

Allergien, Unverträglichkeiten und Intoleranzen

Zöliakie und Glutensensitivität

Laktose- und Fruktose-Intoleranz

Eine kleine Lektüre zum Kot

2 Das Nervensystem des Darms

Wie unsere Organe das Essen transportieren

Augen

Nase

Mund

Rachen

Speiseröhre

Magen

Dünndarm

Dickdarm

Sauer aufstoßen

Erbrechen

Warum wir erbrechen und was wir dagegen tun können

Verstopfung

Abführmittel

Die Drei-Tage-Regel

Gehirn und Darm

Wie der Darm das Hirn beeinflusst

Von gereizten Därmen, Stress und Depressionen

Wo das Ich entsteht

3 Die Welt der Mikroben

Der Mensch als Ökosystem

Das Immunsystem und unsere Bakterien

Die Entwicklung der Darmflora

Die Darmbewohner eines Erwachsenen

Die Gene unserer Bakterien

Die drei Darmtypen

Die Rolle der Darmflora

Wie können Bakterien dick machen? Drei Hypothesen

Cholesterin und Darmbakterien

Übeltäter – schlechte Bakterien und Parasiten

Salmonellen mit Hüten

Helicobacter – das älteste »Haustier« der Menschheit

Toxoplasmen – angstlose Katzenpassagiere

Madenwürmer

Von Sauberkeit und guten Bakterien

Sauberkeit im Alltag

Antibiotika

Probiotika

Präbiotika

Kleines Vorwort zur Aktualisierung

Neues zur Darm-Hirn-Achse

Kluge Lust auf Sauer

Dank

Wichtigste Quellen

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Vorwort

Vor ein paar Jahren saß ich in meinem 16 Quadratmeter großen WG-Zimmer und schrieb an einem Buch über den Darm. In dieser Zeit schaute ich akribisch, dass kein Auto kam, wenn ich die Straße überquerte, denn ich dachte: Komme, was wolle – dieses Buch muss existieren! Das mag ein bisschen lustig klingen, denn dieses Buch begann damit, die zwei Schließmuskeln des Anus vorzustellen. Doch mir ging es um mehr als das.

Das Wissen über den eigenen Körper bedeutet Macht. Und zwar eine freundliche Macht. Diese Kombination fasziniert mich, seit ich 17 bin. Damals bekam ich einen merkwürdigen Ausschlag am Bein, der nicht heilen wollte. Bald waren beide Beine mit Wunden übersät, dann die Arme. Statt meine Haut jeden Abend mit Cortisoncreme und Pflastern abzudecken, begann ich, mehr über den Körper zu lesen. Alles, was ich über die Haut, das Immunsystem und Ernährung in die Finger bekam, interessierte mich. Beim Darm blieb ich völlig verblüfft hängen. Er verdaut nicht nur, sondern trainiert auch das Immunsystem, produziert über zwanzig eigene Hormone und beherbergt Billionen an Mikroben! Wieso wusste ich das vorher nie?

Wir sind alle ein Leben lang in diesem Körper und kennen ihn kaum. Für den Darm hatte ich mich sogar oft eher geschämt. Doch jetzt war das anders: Fast jedes Mal, wenn ich etwas Neues über ihn lernte, war ich beeindruckt, manchmal dankbar. Mit diesem Wissen bekam ich letztlich meine Haut in den Griff. An meinem eigenen Körper konnte ich so miterleben, wie es hilft, auch die merkwürdigsten Ecken des Körpers besser zu verstehen.

Neugier und Verständnis lösen Scham auf. Und mehr als das: Sie machen es möglich, dass wir mit uns selbst anders umgehen. Freundlicher, klüger. Begreifen wir, dass Magengrummeln nicht »Hunger« bedeutet, wie Schließmuskeln am liebsten auf die Toilette gehen würden, dass Erbrechen akribisch vorbereitet wird oder auch warum Depressionen nicht nur im Kopf entstehen, dann erscheinen all diese Dinge auf einmal nicht mehr so furchtbar willkürlich. Stattdessen werden sie zu Verhaltensweisen. Unsere Organe zu Wesen. Und wenn wir uns ihnen wirklich auf Augenhöhe nähern, zu Verbündeten.

Ich entschied, Medizin zu studieren, und erzählte jedem, der es hören wollte, ein paar nette Fakten über den Darm. So schlitterte ich in die Gelegenheit hinein, ein Buch zu schreiben. Ob ich überhaupt ein Buch schreiben könnte? Keine Ahnung! Meine Schwester kam frisch von der Uni, hatte ihren ersten aufregenden Job und trotzdem las sie jede Seite, die ich ihr schickte, gab mir alle Tipps, die sie für das kreative Arbeiten kannte. Wir versanken gemeinsam in dieser Welt – die eine auf schreibende, die andere auf zeichnende Art und Weise. Wir fühlten uns jung und naiv, aber waren fasziniert von etwas.

Im Nachhinein sehe ich, dass diese Naivität nicht unsere Schwäche, sondern unsere große Stärke war. Es gab in unseren Köpfen keine Grenzen, keine Marktforschung, keinen Finanzplan oder kein »die breite Masse versteht das nicht«. Es gab einfach nur ein Ziel: Das, was wir tun, soll hilfreich sein. Als das Buch erfolgreich wurde, fühlten wir uns darin bestätigt.

Bald saß ich in deutschen, französischen, skandinavischen und kanadischen Fernsehsendungen und sprach über den Darm. Ein österreichischer Kabarettist schenkte mir Alpaka-Kot, eine portugiesische Journalistin gestand mir, dass sie sich in dreißig Lebensjahren noch nie getraut hatte, in die Toilettenschüssel zu schauen. Auf Partys kamen Menschen zu mir und fragten mich nach Tricks bei Verstopfungen. Ein Chemielehrer bekam durch Selbstversuche mit Bakterien seinen Reizdarm in den Griff. Eine junge Mutter hatte die Zeichen einer Blinddarmentzündung bei ihrem Kind erkannt. Meine Schwester und mich erreichten so viele dankbare, hilfreiche und herzliche Nachrichten, Kefir-Pilze und innovative Toilettenutensilien, dass wir nicht mehr hinterherkamen.

Dieses Buch gäbe es nicht ohne Forschung. Forschung ist merkwürdig und großartig. Gute Forschung kann uns enorm helfen, wenn wir von ihr erfahren. Und doch gibt es immer wieder Dinge, die hinter geschlossenen Kongresstüren beredet werden oder nur in wissenschaftlichen Artikeln stehen, während draußen Menschen nach Antworten suchen. Noch dazu schießt das Wissen unserer heutigen Zeit aus dem Boden wie Wolkenkratzer einer gigantischen Stadt. Niemand kann alles lesen, geschweige denn sich merken, was täglich herausgefunden wird. Allein im Bereich der Darmbakterien sind seit dem Erscheinen von Darm mit Charme über 100 000 neue wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht worden. Was jedoch erstaunlich aktuell bleibt, ist ein korrektes Grundverständnis – ein kluges Gefühl für die Sache. Damit lassen sich unseriöse Allheilmittel oder anstrengende Wellness-Vorschriften von dem unterscheiden, was uns wirklich guttut. Trotz der Vielzahl neuer Forschungsmeldungen musste deshalb tatsächlich nicht allzu viel an diesem Buch verändert werden. Nur ein kleiner Zusatz auf dem Gebiet der Darm-Hirn-Achse und ein paar praktische Worte zu fermentiertem Gemüse finden sich ab Seite 274.

Mittlerweile bin ich Ärztin und überrascht – ich hatte immer gedacht, dass sich beides tun lässt: Krankheiten behandeln und Menschen ein hilfreiches Gespür für ihre Organe zu geben. Doch oft geht das nicht. Nicht gleichzeitig. Es sind zwei unterschiedliche Tätigkeiten, und beide brauchen ihre Zeit, Konzentration und Aufmerksamkeit.

Ich würde sagen, den wahren Wert dieses Buches verstehe ich deshalb erst heute: Es ist ein kleiner Kompass, den wir in unsere eigenen Hände nehmen können, ein Stückchen Orientierungssinn und vielleicht auch eine freundliche Macht, die uns schützt, wenn wir über die Straße gehen.

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Die Welt sieht viel lustiger aus, wenn wir nicht nur das sehen, was man sehen kann – sondern auch noch all den Rest. Ein Baum ist dann kein Löffel. Das ist grob vereinfacht nur die Form, die wir mit den Augen wahrnehmen: ein gerader Stamm mit einer runden Krone. Auge sagt uns zur Form: »Löffel.« Unter der Erde sind allerdings mindestens so viele Wurzeln wie oben Äste in der Luft. Hirn müsste dann eigentlich so etwas wie »Hantel« sagen, tut es aber nicht. Den meisten Input kriegt das Hirn von den Augen und höchst selten mal von einer Abbildung im Buch, die einen Baum vollständig zeigt. Also kommentiert es brav die vorbeirauschende Waldlandschaft mit: »Löffel, Löffel, Löffel, Löffel.«

Während wir so »löffelmäßig« durchs Leben laufen, verpassen wir großartige Dinge. Unter unserer Haut ist dauernd etwas los: Wir fließen, pumpen, saugen, quetschen, zerplatzen, reparieren und bauen neu auf. Eine ganze Belegschaft ausgeklügelter Organe arbeitet so perfekt und effizient zusammen, dass ein erwachsener Mensch pro Stunde etwa so viel Energie benötigt wie eine 100-Watt-Glühbirne. Jede Sekunde filtern Nieren unser Blut akribisch sauber – wesentlich genauer als Kaffeefilter – , und meist halten sie dabei auch noch ein Leben lang. Unsere Lunge ist so clever entworfen, dass wir eigentlich nur beim Einatmen Energie verbrauchen. Das Ausatmen passiert ganz von selbst. Wären wir durchsichtig, könnten wir sehen, wie schön sie aussieht: wie ein Aufziehauto in Groß und weich und lungig. Während manchmal einer von uns dasitzt und denkt: »Keiner mag mich«, legt sein Herz gerade die siebzehntausendste 24-Stundenschicht für ihn ein – und hätte jedes Recht, sich bei solchen Gedanken ein bisschen außen vor gelassen zu fühlen.

Würden wir mehr sehen als das, was sichtbar ist, könnten wir auch dabei zuschauen, wie Zellklumpen in Bäuchen zu Menschen werden. Wir würden auf einmal verstehen, dass wir uns grob aus drei »Schläuchen« entwickeln. Der erste Schlauch durchzieht uns und verknotet sich in der Mitte. Das ist unser Blutgefäßsystem, aus dem unser Herz als zentraler Gefäßknoten entsteht. Der zweite Schlauch bildet sich fast parallel auf unserem Rücken, formt eine Blase, die an das oberste Ende des Körpers wandert und dort bleibt. Das ist unser Nervensystem im Rückenmark, aus dem sich das Gehirn entwickelt und aus dem Nerven überall in den Körper sprießen. Der dritte Schlauch durchzieht uns einmal von oben nach unten. Das ist das Darmrohr.

Das Darmrohr richtet unsere Innenwelt ein. Es bildet Knospen, die sich nach rechts und links immer weiter ausbuchten. Diese Knospen werden unsere Lungen. Ein Stückchen weiter unten stülpt sich das Darmrohr aus und bildet unsere Leber. Es formt auch die Gallenblase und die Bauchspeicheldrüse. Vor allem aber beginnt der Schlauch selbst immer trickreicher zu werden. Er ist bei den aufwendigen Mundbauarbeiten beteiligt, formt eine Speiseröhre, die »breakdancen« kann, und bildet einen kleinen Magenbeutel, damit wir Essen ein paar Stunden speichern können. Zu guter Letzt kreiert das Darmrohr sein Meisterwerk, nach dem es letztendlich benannt wurde: den Darm.

Die beiden »Meisterwerke« der anderen Schläuche – Herz und Hirn – genießen hohes Ansehen. Das Herz gilt als lebenswichtig, weil es Blut durch den Körper pumpt, das Hirn wird bewundert, weil es sich jede Sekunde erstaunliche Gedankengebilde ausdenkt. Der Darm aber, so glauben die meisten, geht währenddessen höchstens mal aufs Klo. Sonst hängt er wahrscheinlich lässig im Bauch rum oder pupst ab und zu. Besondere Fähigkeiten kennt man von ihm eigentlich keine. Man könnte sagen, wir unterschätzen das ein wenig – ehrlich gesagt, unterschätzen wir es nicht nur, wir schämen uns sogar oft für unser Darmrohr. Darm mit Scham!

Daran soll dieses Buch etwas ändern. Wir versuchen mal, was man mit Büchern so wunderbar kann – der sichtbaren Welt wahrhaft Konkurrenz zu machen: Bäume sind keine Löffel! Und der Darm hat eine Menge Charme!

Wie geht kacken? – … und warum das eine Frage wert ist

Mein Mitbewohner kam in die Küche und meinte: »Giulia, du studierst doch Medizin – wie geht kacken?« Es wäre sicher keine gute Idee, mit diesem Satz meine Memoiren zu beginnen, aber diese Frage hat sehr viel für mich verändert. Ich ging in mein Zimmer, setzte mich auf den Boden und wälzte drei verschiedene Bücher. Als ich die Antwort fand, war ich völlig baff. Etwas so Alltägliches war viel klüger und beeindruckender, als ich jemals gedacht hätte.

Unser Klogang ist eine Meisterleistung – zwei Nervensysteme arbeiten gewissenhaft zusammen, um unseren Müll so diskret und hygienisch wie möglich zu entsorgen. Kaum ein anderes Tier erledigt dieses Geschäft so vorbildlich und ordentlich wie wir. Unser Körper hat dafür allerlei Vorrichtungen und Tricks entwickelt. Es fängt schon damit an, wie ausgetüftelt unsere Schließmechanismen sind. Fast jeder kennt immer nur den äußeren Schließmuskel, den man gezielt auf- und zubewegen kann. Es gibt einen ganz ähnlichen Schließmuskel, wenige Zentimeter entfernt – nur können wir ihn nicht bewusst steuern.

Jeder der beiden Schließmuskeln vertritt die Interessen eines anderen Nervensystems. Der äußere Schließmuskel ist treuer Mitarbeiter unseres Bewusstseins. Wenn unser Gehirn es unpassend findet, jetzt auf die Toilette zu gehen, dann hört der äußere Schließmuskel auf das Bewusstsein und hält so dicht, wie er eben kann. Der innere Schließmuskel ist der Vertreter unserer unbewussten Innenwelt. Ob Tante Berta Pupse mag oder nicht, interessiert ihn nicht. Ihn interessiert einzig und allein, ob es uns im Inneren gut geht. Drückt ein Pups? Der innere Schließmuskel will uns alles Unangenehme vom Leib halten. Ginge es nach ihm, könnte auch Tante Berta öfter pupsen. Hauptsache, im Innenleben ist alles gemütlich, und es zwickt nichts.

Diese beiden Schließmuskeln müssen zusammenarbeiten. Wenn unsere Verdauungsreste beim inneren Schließmuskel ankommen, macht dieser reflexartig auf. Er lässt allerdings nicht einfach alles auf den äußeren Schließmuskelkollegen los, sondern erst einmal nur einen Testhappen. In dem Raum zwischen innerem und äußerem Schließmuskel sitzen viele Sensorzellen. Diese analysieren das angelieferte Produkt darauf, ob es fest oder gasförmig ist, und schicken ihre Information hoch an das Gehirn. In diesem Moment merkt das Gehirn: Ich muss aufs Klo!, … oder vielleicht auch nur pupsen. Es macht dann, was es mit seinem »bewussten Bewusstsein« so gut kann: Es stellt uns auf unsere Umwelt ein. Dazu nimmt es Informationen von Augen und Ohren und zieht seinen Erfahrungsschatz hinzu. In Sekundenschnelle entsteht so eine erste Einschätzung, die das Gehirn zurück an den äußeren Schließmuskel funkt: »Ich habe geguckt, wir sind gerade bei Tante Berta im Wohnzimmer – Pupse gehen vielleicht noch, wenn du sie ganz leise raustwitschen lässt. Fest eher ungut.«

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Der äußere Schließmuskel versteht und verschließt sich voller Loyalität noch fester als zuvor. Dieses Signal bemerkt dann auch der innere Schließmuskel und respektiert erst mal die Entscheidung seines Kollegen. Die beiden verbünden sich und schieben den Testhappen in eine Warteschleife. Raus muss es irgendwann, nur eben nicht hier und jetzt auch nicht. Einige Zeit später wird es der innere Schließmuskel einfach noch mal mit einem Testhappen probieren. Sitzen wir mittlerweile gemütlich zu Hause auf dem Sofa: freie Fahrt!

Unser innerer Schließmuskel ist ein solides Kerlchen. Sein Motto ist: Was raus muss, muss raus. Und da gibt es auch nicht besonders viel zu interpretieren. Der äußere Schließmuskel muss sich immer mit der komplizierten Welt beschäftigen: Theoretisch könnte man ja schon die fremde Toilette benutzen, oder doch lieber nicht? Kennen wir uns mittlerweile nicht schon gut genug, als dass man auch voreinander pupsen dürfte – muss ich der Erste sein, der das Eis bricht? Wenn ich jetzt nicht aufs Klo gehe, dann kann ich erst wieder heute Abend, und das kann im Laufe des Tages unangenehm werden!

Die Gedanken der Schließmuskeln klingen vielleicht nicht unbedingt nobelpreisverdächtig, aber eigentlich sind es grundlegende Fragen unserer Menschlichkeit: Wie wichtig ist uns unsere Innenwelt, und welche Kompromisse gehen wir ein, um mit der Außenwelt gut klarzukommen? Der eine verkneift sich auf Teufel komm raus den unangenehmsten Pups, bis er sich mit Bauchweh nach Hause quält, der andere lässt sich bei der Familienfeier von Oma am kleinen Finger ziehen und initiiert den eigenen Pups lautstark als unterhaltsame Zaubershow. Langfristig liegt der beste Kompromiss vielleicht irgendwo zwischen beiden Extremen.

Wenn wir uns häufig hintereinander verbieten, auf die Toilette zu gehen, obwohl wir müssten, schüchtern wir den inneren Schließmuskel ein. Wir können ihn damit sogar richtig umerziehen. Die umliegende Muskulatur und er sind dann so oft vom äußeren Schließmuskel diszipliniert worden, dass sie entmutigt sind. Wenn die Kommunikation der beiden Schließmuskeln eisig wird, können sogar Verstopfungen entstehen.

Ganz ohne gezielte Klogang-Unterdrückung kann das auch bei Frauen passieren, während sie ein Kind gebären. Dabei können feine Nervenfasern kaputtgehen, über welche die beiden Schließmuskeln sonst kommunizieren. Die gute Nachricht: Auch Nerven können wieder zusammenwachsen. Egal, ob die Schäden durch eine Entbindung hervorgerufen wurden oder sonst wie, hier bietet sich eine sogenannte Biofeedback-Therapie an. Damit lernen die Schließmuskeln, die sich auseinandergelebt haben, wieder miteinander zurechtzukommen. Eine Maschine misst, wie produktiv der äußere Schließmuskel mit dem inneren zusammenarbeitet. Klappt es gut, wird man mit einem Ton oder einem grünen Signal belohnt. Es ist wie bei einer abendlichen Quizshow, bei der die Bühne leuchtet und klimpert, wenn man etwas richtig beantwortet. Das Ganze lohnt sich: Wenn Innen und Außen wieder miteinander klarkommen, sucht man gleich viel munterer das stille Örtchen auf.

Schließmuskeln, Sensorzellen, Bewusstsein und Popo-Elektroden-Quizshows – diese ausgeklügelten Details hatte mein Mitbewohner nicht als Antwort erwartet. Die Geburtstagsrunde anständiger BWL-Studentinnen, die mittlerweile in unserer Küche eingetroffen war, ebenfalls nicht. Der Abend wurde trotzdem lustig, und mir wurde klar, dass das Thema »Darm« im Grunde viele Menschen interessiert. Es kamen einige gute neue Fragen auf. Stimmt es, dass wir alle falsch auf dem Klo sitzen? Wie kann man leichter rülpsen? Wieso können wir aus Steak, Apfel oder Bratkartoffeln Energie machen, während ein Auto nur bestimmte Sorten Benzin verträgt? Wozu gibt es den Blinddarm, und warum hat Kot immer die gleiche Farbe?

Meine Mitbewohner kennen mittlerweile schon genau meinen Gesichtsausdruck, wenn ich in die Küche rase und die neusten Darm-Anekdoten erzählen muss – wie beispielsweise die von winzigen Hocktoiletten und leuchtenden Klogängen.

Sitze ich richtig auf dem Klo?

Es ist empfehlenswert, von Zeit zu Zeit Gewohnheiten zu hinterfragen. Laufe ich wirklich den schönsten und kürzesten Weg zur Haltestelle? Ist das Frisieren meines Resthaars über die haarlos gewordene Mittelstelle adäquat und modisch? Oder eben: Sitze ich richtig auf dem Klo?

Auf alle Fragen wird es nicht immer klare Antworten geben – aber Herumexperimentieren an sich kann schon mal frischen Wind in alte Gefilde bringen. Das dachte sich vermutlich auch Dov Sikirov. Für eine Studie bat der israelische Arzt 28 Probanden darum, in drei verschiedenen Positionen den täglichen Stuhlgang auszuüben: auf einer normalen Toilette thronend, auf einer ungewöhnlich kleinen Toilette mühevoll »hock-sitzend« oder wie im Freien hockend. Dabei stoppte er die Zeit und händigte ihnen im Anschluss einen Fragebogen aus. Das Ergebnis war eindeutig: Hocken dauerte durchschnittlich rund 50 Sekunden und wurde von den Beteiligten als vollständiges Entleerungserlebnis empfunden. Sitzen dauerte durchschnittlich 130 Sekunden und fühlte sich nicht ganz so erfolgreich an. (Außerdem: Winzig kleine Toiletten sehen einfach immer niedlich aus – egal, was man darauf tut.)

Warum? Weil unser Darmverschluss-Apparat nicht so entworfen ist, dass er im Sitzen die Luke vollständig öffnet. Es gibt einen Muskel, der in Sitzhaltung oder gerade auch beim Stehen den Darm wie ein Lasso umgreift und in eine Richtung zieht, so dass ein Knick entsteht. Dieser Mechanismus ist sozusagen eine Zusatzleistung zu den anderen Schließmuskeln. Einen solchen Knickverschluss kennt der eine oder andere vom Gartenschlauch. Man fragt die Schwester, warum der Gartenschlauch nicht mehr geht. Wenn sie das Schlauchende anguckt, lässt man den Knick schnell los und wartet anderthalb Minuten, bis man Hausarrest kriegt.

Zurück zum End-Darm-Knickverschluss: So kommt der Kot erst mal zu einer Kurve. Wie bei der Autobahnausfahrt bremst das ab. Dadurch müssen die Schließmuskeln, wenn wir stehen oder sitzen, weniger Kraft aufbringen, um alles drinzuhalten. Lässt der Muskel los, verschwindet der Knick. Die Fahrbahn ist gerade, und es kann reibungslos aufs Gas gedrückt werden.

Die »Hocke« ist schon seit Urzeiten unsere natürliche Kloposition – das moderne Sitztoilettengeschäft gibt es erst seit der Indoor-Kloschüssel-Entwicklung im späten 18. Jahrhundert. Eine »Höhlenmensch schon immer …«-Erklärung hat oft ein etwas problematisches Image bei Medizinern. Wer sagt denn, dass die Hocke den Muskel so viel besser entspannt und die Kotfahrbahn dadurch letztlich gerade wird? Japanische Forscher haben deshalb Probanden leuchtende Substanzen gefüttert und beim großen Geschäft in verschiedenen Positionen geröntgt. Ergebnis eins: Es stimmt – in der Hocke wird der Darmkanal schön gerade, und alles kann schnurstracks raus. Ergebnis zwei: Freundliche Menschen lassen sich für die Forschung mit leuchtenden Substanzen füttern und beim Kacken röntgen. Beides ziemlich eindrucksvoll, finde ich.

Hämorrhoiden, Darmkrankheiten wie Divertikulitis oder auch Verstopfungen gibt es fast nur in Ländern, in denen man beim Stuhlgang auf eine Art Stuhl geht. Ein Grund dafür, besonders auch bei jungen Menschen, ist nicht etwa schlaffes Gewebe, sondern dass der Druck auf den Darm zu groß ist. Einige Menschen spannen auch tagsüber dauernd ihren Bauch an, wenn sie sehr angestrengt sind. Sie merken es oft gar nicht. Die Hämorrhoiden weichen dem Druck im Inneren lieber aus, indem sie locker aus dem Po baumeln. Bei den Divertikeln drückt sich das Gewebe innerhalb des Darms nach außen. Es entstehen dann winzige glühbirnenförmige Ausstülpungen an der Darmwand.

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Unsere Art des Klogangs ist mit Sicherheit nicht die einzige Ursache für Hämorrhoiden und Divertikel. Allerdings muss man auch sagen, dass die 1,2 Milliarden hockenden Menschen dieser Welt kaum Divertikel und deutlich weniger Hämorrhoiden haben. Wir dagegen pressen uns Gewebe aus dem Hintern und müssen es beim Arzt beseitigen lassen – und das alles, weil edel thronend cooler ist als albern hockend? Mediziner gehen davon aus, dass häufiges Pressen auf dem Klo das Risiko für Krampfadern, Schlaganfälle oder auch die Stuhlgangsohnmacht deutlich erhöht.

Aus dem Frankreich-Urlaub eines Freundes bekam ich die SMS: »Die Franzosen spinnen – jemand hat hier an drei Autobahntankstellen die Kloschüsseln geklaut!« Ich musste laut lachen, weil ich erstens ahnte, dass dieser Text komplett ernstgemeint war, und er mich zweitens daran erinnerte, wie ich das erste Mal vor so einer französischen Hocktoilette stand. Warum soll ich mich bitte hocken, wenn ihr auch einfach eine Schüssel hättet bauen können?, dachte ich ein bisschen weinerlich und schockiert über die große Leere vor mir. In großen Teilen Asiens, Afrikas und Südeuropas steht man kurz in Kampfsport- oder Abfahrtsskiposition auf seinem Hock-Klo. Wir hingegen vertreiben uns die Zeit bis zur Vollendung des Schüsselbusiness, indem wir Zeitung lesen, das Klopapier vorfalten, zu putzende Badezimmerecken orten oder geduldig an die gegenüberliegende Wand starren.

Als ich diesen Text meiner Familie im Wohnzimmer vorgelesen habe, blickte ich in irritierte Gesichter. Müssen wir jetzt alle von unserem Porzellanthron klettern und in ungeübt wackliger Hockstellung in ein Loch kacken? Die Antwort ist: Nein. Hämorrhoiden hin oder her! Obwohl es sicher ganz lustig wäre, sich auf die Klobrille zu stellen, um von dort aus alles in der Hocke zu erledigen. Das ist aber nicht nötig: Man kann auch im Sitzen hocken. Dies ist besonders dann lohnenswert, wenn es mal nicht so leicht von der Hand bzw. vom Hintern geht: Der Oberkörper wird leicht nach vorne gebeugt, und die Füße werden auf einen kleinen Hocker gestellt – et voilà: alles im richtigen Winkel, man kann lesen, falten und starren mit astreinem Gewissen.

Die Eingangshalle zum Darmrohr

Man könnte denken, das Ende des Darms hat Überraschendes zu bieten, weil wir uns damit kaum auseinandersetzen. Ich würde nicht einmal sagen, dass es nur daran liegt. Auch die Eingangshalle unseres Verdauungsschlauchs hat einiges in Petto – obwohl wir sie jeden Tag beim Zähneputzen anvisieren.

Den geheimen Ort Nummer eins findet man mit der Zunge. Es sind vier kleine Pünktchen. Zwei davon sind auf der Innenseite der Backe, gegenüber der oberen Zahnreihe, ziemlich in der Mitte. Hier spürt man rechts und links eine kleine Erhöhung. Viele glauben, sie hätten sich hier irgendwann einmal in die Backe gebissen, aber das stimmt nicht – diese Hubbel sind bei jedem Menschen genau an dieser Stelle. Die anderen beiden liegen unter unserer Zunge, rechts und links vom Zungenbändchen. Aus diesen vier Pünktchen kommt Speichel.

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Aus den Backenpunkten kommt Speichel, wenn es einen aktuellen Anlass gibt – wie zum Beispiel Essen. Aus den zwei Öffnungen unter der Zunge fließt der Speichel die ganze Zeit. Würde man in diese Öffnungen eintauchen und gegen den Speichelstrom schwimmen, käme man zu den Chef-Speicheldrüsen. Sie produzieren den meisten Speichel – etwa 0,7 bis 1 Liter pro Tag. Wenn es vom Hals in Richtung Kiefer geht, kann man zwei weiche runde Erhebungen fühlen. Darf ich vorstellen? Das sind die Chefs.

Weil die beiden Zungenpünktchen der »Dauerspeichler« genau auf die Hinterseite unserer unteren Schneidezähne gerichtet sind, kriegen wir hier besonders schnell Zahnstein. Im Speichel sind nämlich kalziumhaltige Stoffe, die eigentlich nur den Zahnschmelz härten wollen – wenn man als Zahn allerdings unter Dauerbeschuss steht, ist es ein bisschen zu viel des Guten. Kleine Moleküle, die unschuldig in der Nähe umherschwirren, werden kurzerhand einfach mitversteinert. Das Problem ist nicht der Zahnstein selbst, sondern dass er so schön rau ist. Parodontose- oder Karies-Bakterien können sich an rauen Oberflächen viel besser festhalten als an unserem eigentlich glatten Zahnschmelz.

Wie kommen solche Versteinerungs-Kalzium-Stoffe in unseren Speichel? Speichel ist gefiltertes Blut. In den Speicheldrüsen wird das Blut durchgesiebt. Rote Zellen werden zurückgehalten, denn wir brauchen sie in unseren Adern und nicht im Mund. Kalzium, Hormone oder Abwehrstoffe des Immunsystems hingegen gelangen aus dem Blut in den Speichel. Von Mensch zu Mensch ist der Speichel deshalb ein bisschen anders. Man kann eine Person sogar mit einer Speichelprobe auf Immunkrankheiten oder bestimmte Hormone testen. Außerdem können die Speicheldrüsen einige Stoffe noch extra dazutun, zum Beispiel die Versteinerungs-Kalzium-Stoffe oder auch Schmerzmittel.

In unserem Speichel gibt es ein Schmerzmittel, das sehr viel stärker wirkt als Morphium. Es wird Opiorphin genannt und wurde erst 2006 entdeckt. Natürlich produzieren wir es nur in kleinen Mengen, unser Speichel will uns ja nicht volldröhnen. Aber auch so eine kleine Menge hat ihre Wirkung, denn unser Mund ist ein Sensibelchen! Hier gibt es so viele Nervenenden wie an kaum einem anderen Ort im Körper – der kleinste Erdbeersamen kann uns tierisch auf die Nerven gehen, jedes Sandkorn im Salat merken wir sofort. Eine kleine Wunde, die uns am Ellenbogen noch nicht einmal auffallen würde, tut im Mund höllisch weh und erscheint riesengroß.

Ohne unsere speicheleigenen Schmerzmittel könnte das noch schlimmer sein! Weil wir beim Kauen eine Extraladung solcher Speichelstoffe ausschütten, ist Halsweh nach dem Essen besser, und auch kleine Wunden im Mundinnenraum tun dann weniger weh. Es braucht nicht unbedingt Essen – auch schon beim Kaugummikauen kommen wir an unsere mundeigenen Schmerzmittel. Mittlerweile gibt es sogar eine Handvoll neuer Studien, die zeigen, dass Opiorphin antidepressive Wirkungen besitzt. Funktioniert Frustessen vielleicht auch ein Stück weit über die Spucke? Die Schmerz- und Depressionsforschung der kommenden Jahre wird uns diese Frage vielleicht beantworten können.

Speichel schützt die empfindliche Mundhöhle nicht nur vor zu viel Schmerz, sondern auch vor zu vielen bösen Bakterien. Dafür gibt es zum Beispiel Mucine. Das sind Schleimstoffe. Sie sorgen für ein paar Stunden faszinierter Unterhaltung, wenn man als Kind feststellt, dass man dank ihnen mit dem eigenen Mund Seifenblasen machen kann. Mucine hüllen unsere Zähne und unser Zahnfleisch in ein schützendes Mucin-Netz. Wir spritzen sie aus unseren Speichelpünktchen ungefähr so, wie Spiderman Netze aus seinem Handgelenk schießt. In diesem Netz bleiben Bakterien hängen, bevor sie uns angreifen können. Während sie dort gefangen sind, können andere antibakterielle Stoffe aus dem Speichel schlechte Bakterien abtöten.

Wie beim Speichel-Schmerzmittel gilt aber auch hier: Die Konzentration der Bakterien-Killer-Stoffe ist nicht übertrieben hoch. Unsere Spucke will uns nicht durchdesinfizieren. Wir brauchen sogar eine gute Stammmannschaft an kleinen Wesen im Mund. Harmlose Mundbakterien werden von unserem Speichel nicht komplett ausradiert, denn sie nehmen Platz ein – Platz, der sonst von gefährlichen Keimen bevölkert werden könnte.

Beim Schlafen produzieren wir kaum Speichel. Das ist super für alle Kissen-Sabberer – würden sie die vollen 1 bis 1,5 Liter Tagesspeichel auch nachts produzieren, wäre das ein unschönes Hobby. Weil wir nachts so wenig Speichel produzieren, haben viele Menschen morgens Mundgeruch oder Halsweh. Acht Stunden knappe Bespeichelung heißt für die Mundmikroben: sturmfrei. Freche Bakterien werden dann nicht mehr so gut im Zaum gehalten, und unsere Schleimhäute in Mund und Rachen vermissen ihre Sprinkleranlage.

Das Zähneputzen vor und nach dem Schlafen ist deshalb eine clevere Einrichtung. Am Abend verringert man damit die Bakterienzahl im Mund und startet so mit einer vorerst kleineren Party-Mikroben-Gesellschaft in die Nacht. Am Morgen räumt man dann die Überreste der nächtlichen Sause weg. Zum Glück wachen unsere Speicheldrüsen morgens mit uns auf und machen sich sofort an die Produktion! Spätestens das erste Brötchen oder unsere Zahnbürste regt den Speichelfluss so richtig an und beseitigt die Mikroben oder transportiert sie hinunter in den Magen. Hier übernimmt die Magensäure den Rest.

Wer auch tagsüber unter Mundgeruch leidet, hat vielleicht nicht genug müffelnde Bakterien entfernen können. Ausgefuchste Kerlchen verstecken sich gerne unter dem neugebildeten Mucin-Netz und sind dort nicht mehr so gut erreichbar für die antibakteriellen Speichelstoffe. Dann können Zungenschaber helfen, aber auch ausgedehntes Kaugummikauen – es sorgt dafür, dass ordentlich Speichel fließt und die Mucin-Verstecke wegspült. Wenn das alles nichts nützt, gibt es einen weiteren Ort, an dem man nach Mundgeruch-Verursachern suchen kann. Dazu kommen wir gleich, nach der Vorstellung des zweiten geheimen Ortes im Mund.

Dieser Ort gehört zu den typischen Überraschungen – man denkt, man kennt jemanden, und findet dann heraus, dass derjenige eine wirklich unerwartete, verrückte Seite hat. Die schick frisierte Frankfurter Sekretärin findet man abends im Internet als Betreiberin einer wilden Frettchenzucht wieder. Den Gitarristen der Heavy-Metal-Band trifft man beim Wollekaufen, weil Stricken entspannend und ein Work-out für die Finger ist. Die besten Überraschungen kommen nach dem ersten Eindruck – das ist schon bei der eigenen Zunge so. Wenn man sie rausstreckt und dabei in den Spiegel schaut, sieht man auch nicht gleich ihr komplettes Wesen. Man könnte sich fragen: Hey, wie geht sie da hinten eigentlich weiter? So richtig zu Ende sieht das ja nicht aus. Genau da beginnt die verrückte Seite der Zunge, die Zungenwurzel.

Hier ist eine andersartige Landschaft voller rosa Kuppeln. Wer keinen ausgeprägten Brechreflex hat, kann sich mit dem Finger ganz vorsichtig auf der Zunge nach hinten tasten. Sobald man am letzten Stück ankommt, merkt man, dass es von unten munter rund entgegenhubbelt. Die Aufgabe der Zungenkuppeln ist, alles, was wir schlucken, zu überprüfen. Dafür schnappen sich die Kuppeln kleinste Partikel aus Essen, Trinken oder der Atemluft und ziehen sie ins Kuppelinnere. Hier wartet eine Armee aus Immunzellen, um mit Fremdstoffen aus der Außenwelt trainiert zu werden. Apfelstückchen sollen sie in Ruhe lassen, bei Halsweherregern müssen sie sofort zuschnappen. Wer bei der Finger-Erkundungstour also wen erkundet, ist unklar, denn dieser Bereich gehört zu dem neugierigsten Gewebe unseres Körpers: dem Immungewebe.

Das Immungewebe hat ein paar solcher Neugier-Hot-Spots – genaugenommen liegt um den ganzen Rachen ein Ring aus Immungewebe. Diese Zone nennt man auch den Waldeyer Rachenring: unten die Zungenkuppeln, rechts und links unsere Mandeln, und oben gibt es noch was beim Rachendach (in Nasen- und Ohrennähe – wir nennen sie bei Kindern oft einfach »Polypen«, wenn sie zu groß werden). Wer jetzt denkt, dass er keine Mandeln mehr hat – falsch gedacht. Alle Teile des Waldeyer Rachenrings zählen nämlich als Mandeln. Zungenkuppeln, Rachendächer und auch unsere altbekannten Mandeln tun alle dasselbe: Sie tasten neugierig Fremdes ab und trainieren Immunzellen, sich zu verteidigen.

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Abb.: Das Immungewebe am Zungengrund, auch tonsilla lingualis genannt

Die Mandeln, die öfter mal entfernt werden, machen das nur einfach nicht immer ganz clever: Sie bilden keine Kuppeln, sondern tiefe Furchen (zur Oberflächenvergrößerung). Darin bleibt dann manchmal zu viel Fremdes hängen und kommt nur schwer wieder raus, wodurch sich das Gewebe hier öfter entzündet. Das ist sozusagen ein Nebeneffekt von überneugierigen Mandeln. Wer also ausschließen kann, dass schlechter Atem von der Zunge oder den Zähnen kommt, der kann mal bei diesen Mandeln nachsehen – wenn er noch welche hat.

Manchmal verstecken sich hier kleine weiße Steinchen, die furchtbar riechen! Leute wissen oft nichts davon und kämpfen wochenlang gegen einen üblen Mundgeruch oder einen merkwürdigen Geschmack. Alles Zähneputzen, Gurgeln oder Zungenputzen hilft dann praktisch nichts. Irgendwann kommen die Steine von alleine raus, und alles ist wieder gut – so lange muss man aber nicht warten. Man kann diese Steinchen mit etwas Übung herausdrücken, und der Mundgeruch verschwindet von einem Moment auf den anderen.

Der beste Test, ob unangenehmer Geruch überhaupt von hier kommt, ist: mit dem Finger oder Q-Tips über die Mandeln fahren. Wenn es schlecht riecht, dann kann man auf Steinchensuche gehen. HNO-Ärzte entfernen solche Steine auch – das ist komfortabler und sicherer. Wer Freude an grenzwertig ekligen YouTube-Videos hat, kann sich auch dort verschiedene Rumdrücktechniken angucken und dabei einige Extremexemplare solcher Steine ansehen. Das ist allerdings nichts für schwache Nerven.

Es gibt auch noch andere Hausmittel gegen Mandelsteine.Einige Menschen gurgeln mehrmals täglich Salzwasser, andere schwören auf frisches rohes Sauerkraut aus dem Reformhaus – wieder andere behaupten, ein Verzicht auf Milchprodukte führe zu völliger Steinlosigkeit. Wissenschaftlich bewiesen ist keiner dieser Vorschläge. Besser untersucht ist die Frage, ab wann man Mandeln rausoperieren kann. Die Antwort lautet: am besten, wenn man älter als sieben ist.

Ab diesem Alter haben wir wohl alles Wichtige gesehen. Unsere Immunzellen zumindest: auf die völlig fremde Welt kommen, von Mama abgeknutscht werden, mal im Garten oder Wald sein, ein Tier anfassen, viele Erkältungen hintereinander haben, einen Haufen fremder Leute in der Schule kennenlernen. Das war’s auch schon. Ab jetzt hat unser Immunsystem sozusagen fertig studiert und kann normal arbeiten gehen für den Rest unseres Lebens.

Vor dem siebten Lebensjahr sind die Mandeln noch wichtige Ausbildungsstätten. Die Bildung unseres Immunsystems ist nicht nur im Kampf gegen Erkältungen wichtig. Sie spielt auch eine Rolle, wenn es um unsere Herzgesundheit oder unser Gewicht geht. Wer seine Mandeln vor dem siebten Lebensjahr entfernt bekommt, hat zum Beispiel ein höheres Risiko, übergewichtig zu werden. Warum das so ist, wissen Ärzte noch nicht. Der Zusammenhang von Immunsystem und Gewicht ist aber immer öfter Gegenstand von Studien. Für untergewichtige Kinder kann der Mandel-Moppeleffekt prima sein. Sie rücken durch eine Gewichtszunahme in den Normalbereich. In allen anderen Fällen wird Eltern empfohlen, nach der Operation auf eine ausgewogene Ernährung ihrer Kinder zu achten.

Wer schon vor dem siebten Lebensjahr lieber auf Mandeln verzichtet, sollte also immer gute Gründe haben. Wenn die Mandeln beispielsweise so groß sind, dass das Schlafen und Atmen schwierig werden, ist jeder Mandel-Moppeleffekt egal. Es ist zwar rührend, dass das eigene Immungewebe uns so motiviert verteidigen will. Aber es schadet uns dann mehr, als es nützt. Oft können Ärzte dann auch nur den störenden Teil der Mandel weglasern und müssen sie nicht gleich ganz entfernen. Anders ist das bei Dauerentzündungen. Dann können unsere Immunzellen nie entspannen, und das ist auf lange Bahn gesehen nicht gut für sie. Egal, ob vier, sieben oder fünfzig Jahre alt – überempfindliche Immunsysteme können auch mal davon profitieren, wenn die Mandeln verabschiedet werden.

Zum Beispiel Menschen mit Psoriasis (auch Schuppenflechte genannt) tun dies. Sie leiden wegen eines überalarmierten Immunsystems unter juckenden Hautentzündungen (oft am Kopf beginnend) oder Gelenkbeschwerden. Außerdem haben Psoriasis-Patienten auch überdurchschnittlich oft Halsweh. Ein möglicher Faktor bei dieser Erkrankung sind Bakterien, die sich dauerhaft in den Mandeln verstecken können und von dort das Immunsystem ärgern. Seit über dreißig Jahren beschreiben Ärzte immer wieder Fälle, bei denen nach einer Mandelentfernung auch die Hautkrankheit sehr viel besser wurde oder abheilte. Deshalb untersuchten im Jahr 2012 Forscher aus Island und den USA diesen Zusammenhang genauer. Sie teilten 29 Psoriasis-Patienten mit häufigen Halsschmerzen in zwei Gruppen auf. Die eine Hälfte ließ sich die Mandeln entfernen, die andere Hälfte nicht. Bei 13 der 15 »Entmandelten« verbesserte sich die Krankheit deutlich und dauerhaft. Bei den Noch-Mandeln-Besitzenden gab es kaum Veränderungen. Auch bei rheumatischen Erkrankungen kann man heute schon die Mandeln entfernen, wenn sich der Verdacht erhärtet, dass sie daran schuld sind.

Mandeln drin oder Mandeln draußen – für beides gibt es gute Argumente. Wer seine Mandeln schon früh hergeben muss, sollte sich keine Sorgen machen, dass das Immunsystem jetzt alle wichtigen Lektionen aus dem Mund verpasst! Dafür gibt es ja zum Glück auch noch die Zungenkuppeln und das Rachendach. Wer noch Mandeln hat, muss allerdings auch keine Angst vor versteckten Bakterien haben: Viele Menschen haben einfach nicht so tiefe Furchen in den Mandeln und deshalb auch keine Probleme damit. Zungenkuppeln und Co. sind praktisch nie Verstecke für Keime. Sie sind anders gebaut und haben Drüsen, mit denen sie sich in regelmäßigen Abständen selbst reinigen.

In unserem Mund passiert jede Sekunde einiges: Speichelpünktchen schießen Mucin-Netze, pflegen unsere Zähne und schützen uns vor zu großer Empfindlichkeit. Unser Rachenring überwacht Fremdpartikel und bereitet seine Immunarmeen damit vor. Wir bräuchten nichts davon, wenn es hinter dem Mund nicht weiterginge. Der Mund ist einzig und allein die Eingangshalle zu einer Welt, in der Fremdes zu Eigenem wird.