cover
    Habib Selmi– Die Frauen von al-Bassatîn– Roman aus Tunesien– Aus dem Arabischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Regina Karachouli– Lenos Verlag

Der Autor

Habib Selmi wurde 1951 in Kairuan (Tunesien) geboren. Er ist Universitätsdozent für Arabisch und lebt seit 1983 in Paris. Selmi hat Romane und Erzählbände veröffentlicht und gilt als einer der wichtigsten tunesischen Autoren arabischer Sprache. Im Lenos Verlag erschienen seine Romane Bajjas Liebhaber (2006) und Meine Zeit mit Marie-Claire (2010).

Die Übersetzerin

Regina Karachouli, geboren 1941 in Zwickau. Studium der Arabistik und der Kulturwissenschaften in Leipzig. Promotion über Dramatik und Theater in Syrien. Von 1975 bis 2002 Lehr- und Forschungstätigkeit am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Übersetzerin zahlreicher literarischer Werke aus dem Arabischen (u.a. von Iman Humaidan, Sahar Khalifa, Alia Mamduch, Hanna Mina, Sabri Mussa, Alifa Rifaat, Tajjib Salich und Nihad Siris).

E-Book-Ausgabe 2014

www.lenos.ch

ISBN EPUB-E-Book 978 3 85787 569 4

Die Frauen von al-Bassatîn

Die Grünanlage vor den Wohnblocks ist unverändert, nur die Pflanzen sind gewachsen. Die Zypressen ragen höher, und die Oleanderbüsche blühen üppiger.

Schnell und mühelos habe ich sie gefunden, trotz der Neubauten, die im Viertel al-Bassatîn inzwischen wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Der Park liegt direkt an der Rue Abou El Kacem Chebbi, der Hauptstrasse vor der Polizeistation, die man nicht einmal nachts übersehen könnte.

Durch die Anlage führt ein langer, gepflasterter Weg, von dem mehrere kurze Pfade zu den verstreuten Gebäuden abzweigen. Meinen schweren Koffer hinter mir her rollend, tappe ich den Weg entlang, umfahre die Löcher, soweit ich sie im Laternenlicht erkennen kann, und weiche den Katzen aus, die in den achtlos entsorgten Abfällen und Essensresten herumstöbern. Am Eingang des Gebäudes, in dem mein Bruder Ibrahîm wohnt, kann ich keinen Lichtschalter finden. Vorsichtig taste ich mich im Dunkeln die Treppe hinauf. Es gibt nur vier Etagen, seine Wohnung liegt in der obersten. Ein anderes Stockwerk kommt für ihn nicht in Frage. Er sagt, allein die Vorstellung, dass über seinem Kopf »Männlein und Weiblein miteinander essen und schlafen, baden und Sex haben, pinkeln und pupsen«, würde ihn fix und fertig machen und ihm das Leben vermiesen.

Ibrahîm umarmt mich lange und herzlich. Von allen meinen Geschwistern steht er mir schon altersmässig am nächsten, ich bin nur ein Jahr älter. Jussra, seine Frau, küsst mich diesmal nicht zur Begrüssung, wie sie es sonst immer getan hatte. Sie hält mir schlaff die Hand hin, wobei sie gleichzeitig mit dem Oberkörper vor mir zurückweicht.

Dieses seltsame Benehmen verstehe ich erst, als sich Ibrahîm herüberbeugt und mich aufklärt: »Sieh mal, das ist so … Jussra verhüllt sich nämlich …« Als wollte er sich gegen eine gefährliche Beschuldigung verteidigen, setzt er eilig hinzu: »Sie hat das ganz alleine beschlossen, sie wollte sich verhüllen. Ich habe nichts damit zu tun!«

Jussra senkt den Kopf. »Ich hatte mir schon seit einer Weile vorgenommen, den Hidschâb zu tragen. Gott, der Gepriesene und Erhabene, hat mir endlich die Augen geöffnet.«

Wâil, ihr einziger Sohn, kommt angerannt und wirft sich in meine Arme. Ich habe nicht erwartet, ihn zu dieser späten Stunde noch zu sehen, morgen ist schliesslich kein Wochenende. Wâil habe unbedingt bis zu meiner Ankunft aufbleiben wollen, erklärt Ibrahîm. Nicht bloss um guten Abend zu sagen und seinen Onkel wiederzusehen, von dem er immer so viel gehört hat, sondern auch um zu schauen, was ich ihm mitbringe. Jussra habe ja von nichts anderem mehr geredet, seit sie wusste, dass ich zu Besuch komme.

Ich gebe Wâil gleich mal eine Schachtel Schokobonbons, die ich im Flughafen Orly im Duty-free-Shop gekauft hatte, um das Kleingeld in meinen Jackentaschen loszuwerden. Ach, diese Sorte kenne sie genau, kommentiert Jussra. Solche Bonbons holten viele Nachbarn für ihre Kinder vom Carrefour, einem französischen Supermarkt, der vor zwei Jahren in Tunis eröffnet worden sei. Was wohl heissen sollte, dass so ein Mitbringsel eigentlich nichts wert war und in keiner Weise dem Anspruch an ein Präsent gerecht wurde, wie es jemand, der in Frankreich lebte, nach langer Abwesenheit dem einzigen Sohn seines ihm besonders nahestehenden Bruders zu überreichen hatte.

Zum Glück habe ich noch andere Dinge für Wâil besorgt. Diese Schachtel Schokobonbons hatte ich sowieso nicht als Geschenk betrachtet. Um jedes Missverständnis auszuräumen, verkünde ich rasch, bevor wir uns an den Tisch setzen, den Jussra bereits brechend voll mit meinen Lieblingsspeisen beladen hat, dass ich auch zwei richtige Geschenke für Wâil hätte, Ibrahîm möge doch mal meinen Koffer herbringen. Ich klappe ihn auf, ziehe eine Plastiktüte heraus und gebe sie Wâil, der jede Bewegung mit blitzenden Augen verfolgt hat. Sofort fährt er mit beiden Händen hinein und nimmt das Hemd und die Hose heraus, die ich ihm gekauft habe. Danach gibt er die Sachen an Jussra weiter, als wären sie keine Geschenke für ihn, sondern für seine Mutter.

Das Hemd ist braun und die Hose hellblau, der Stoff von sehr guter Qualität. Catherine hat die Kleidungsstücke ausgesucht. Ich wollte sie unbedingt bei dem Kauf dabeihaben. Auf den Geschmack meiner Frau ist Verlass, vor allem, wenn es etwas für Kinder ist. So konnte ich mir ganz sicher sein, dass sie Jussra und Ibrahîm zusagen würden. Ich befürchtete nur, dass sie Wâil vielleicht nicht passten. Immerhin waren fünf Jahre vergangen, seit ich ihn gesehen hatte, und ich erinnerte mich auch nicht mehr genau, wie alt er damals gewesen war.

Jussra rückt ihr Kopftuch zurecht. Mit einer Hand hält sie das Hemd, mit der anderen die Hose in die Höhe und mustert sie wortlos. In diesem Moment wird mir klar, dass ich mich vertan habe und dass alles viel zu gross ist.

»Zieht er sie eben im nächsten Sommer an«, meint Ibrahîm. Nach kurzem Schweigen fügt er hinzu, um mir aus der Verlegenheit zu helfen: »Aber das Hemd ist klasse … und die Hose sogar noch schöner. Ach ja, es gibt doch nichts Besseres als Klamotten aus Frankreich oder Italien!«

Jussra nickt. Es ist deutlich zu sehen, dass ihr die Sachen gefallen. Sie grämt sich nur, weil ihr Sohn sie nicht sofort tragen kann. Nun muss er ein ganzes Jahr darauf warten. Wie die meisten Frauen in al-Bassatîn geniesst sie es, vor den Leuten zu protzen. Am liebsten wäre ihr gewesen, wenn Wâil gleich morgen früh nach dem Aufstehen seine neue Kleidung anziehen könnte, damit ihn Gross und Klein im Viertel darin bewundern und alle staunen, was ihm sein Auslandsonkel für teure Geschenke mitgebracht hat.

»Catherine hat sie ausgesucht«, erwähne ich beiläufig, als hätte ich nichts bemerkt.

»Alle Achtung!«, sagt Ibrahîm, während er den Stoff befühlt. »Sie hat Geschmack, sie versteht es, gut auszuwählen.«

Jussra faltet die Sachen sorgfältig zusammen und legt sie zurück in die Tüte. Danach verlässt sie das Wohnzimmer, um Wâil ins Bett zu bringen. Schweres Schweigen lastet über dem Raum. Normalerweise höre ich gar nicht mehr auf zu reden, wenn ich Ibrahîm nach längerer Zeit wiedertreffe. Ich überschütte ihn mit Fragen: Wie steht’s mit der Arbeit? Und mit den Lebensbedingungen? Wie ist sein Verhältnis zu unseren Brüdern und deren Frauen, zu unseren Schwestern und deren Männern? Hat er Kontakt zur sonstigen näheren und ferneren Verwandtschaft? Zu denjenigen, die noch in Madschâs al-Bâb wohnen, wo wir allesamt geboren wurden, und denen, die nach Béja fortgezogen sind? Wird mir schliesslich die Fragerei zu langweilig, necke ich ihn, oder ich wärme die alten Schnurren auf, damit wir etwas zu lachen haben. Diesmal habe ich überhaupt keine Lust zu reden. Gut, mir war bewusst, dass Jussra zu der Art Frauen gehört, die man nicht so leicht zufriedenstellen kann, besonders was Präsente aus dem Ausland angeht. Sie stirbt nicht an Herzdrücken, wenn es ein Geschenk zu begutachten gilt. Ich weiss auch, dass sie zu mir eine spezielle Zuneigung hegt und dass sie sich aufrichtig über meine Besuche freut. Heute allerdings, das muss ich zugeben, bin ich über ihre Reaktion einigermassen verblüfft. Nicht im Traum hätte ich erwartet, dass sie sich so verhalten und wegen einer solchen Banalität einschnappen würde.

Ibrahîm scheint zu spüren, dass ich mich nicht wohl fühle. Er erkundigt sich, wie meine Reise verlaufen ist, wann das Flugzeug in Orly gestartet und wie lange ich von Paris nach Tunis unterwegs gewesen war. Schon klar, er will mich zum Reden animieren. Als ich ihm kurz angebunden antworte, steht er auf und schaltet den Fernseher ein.

»Gleich kommen die Nachrichten«, sagt er.

Bei der ersten Meldung kehrt Jussra ins Wohnzimmer zurück. Ein wenig schaut sie mit. Dann meint sie mit einer Mischung aus Überdruss und Ärger: »Dieses Gequatsche haben wir satt. Mach den Fernseher aus.« Und indem sie zum Tisch weist: »Jetzt essen wir jedenfalls, es wird ja alles kalt.«

Nach dem Abendessen drängt mir Jussra einen grünen Tee mit Pfefferminze auf, obwohl ich nicht gerade begeistert bin, zu so später Stunde noch Tee zu trinken. Beim ersten Glas erinnere ich mich, dass mein Koffer aufgeklappt im Wohnzimmer liegt. Zugleich fallen mir die Geschenke für Jussra und Ibrahîm ein, die ich in der Aufregung bei dem Hin und Her um Wâils Hemd und Hose ganz vergessen habe. Wenn ich sonst zu nächtlicher Stunde eingetroffen war, hatte ich ihnen die Geschenke immer erst am nächsten Morgen überreicht. Diesmal möchte ich das unbedingt erledigen, bevor wir uns schlafen legen.

Lieber alles auf einen Schlag und so schnell wie möglich das leidige Geschenkproblem hinter mich bringen! Ausserdem hoffe ich, dass die beiden darüber den Reinfall mit Wâils Sachen vergessen. Auf diese Weise hätte ich dann auch meinen Fehler wiedergutgemacht.

Ich seufze auf, ja eine tiefe Erleichterung durchströmt mich, als sich Jussra hocherfreut über ihr Geschenk zeigt. Es ist eine Seidenbluse. Ich hatte Catherine gebeten, für Jussra ein Kleidungsstück von bester Qualität zu kaufen. Damals wusste ich noch nicht, dass sie sich neuerdings verhüllt. Die Bluse ist kurzärmelig und über der Brust sogar durchsichtig.

Jussra legt sie behutsam in den Karton zurück und bedankt sich: »Möge es dir vergolten werden.«

»Wie denn«, fragt Ibrahîm verwundert, »du verhüllst dich, und dann willst du so eine Bluse anziehen?«

»Wo ist das Problem?«, entgegnet sie lachend. »Ich ziehe sie eben zu Hause an, wenn wir allein sind. Und wenn ich ausgehe, werfe ich mir den Safsâri über. So wird sie niemand sehen.«

»Eine solche Bluse müssen die Leute aber sehen! Wozu trägt man sie überhaupt?«

Ein wenig kokett schäkert sie: »Na, du siehst sie doch …«

Ibrahîm greift nach dem Hemd, das ich ihm reiche. »Das zieh ich gleich morgen an!«, ruft er. »Was für ein tolles Hemd, und dazu aus Paris! Da werden alle bei mir in der Verwaltung staunen!« Nach einer Weile dreht er sich zu mir um. »Also, in Tunesien findest du heutzutage alles … trotz Hidschâb.«

Jussra starrt ihn mit ihren grossen schwarzen Augen an, dann fragt sie lächelnd: »Wie meinst du das?«

Ihre Frage verblüfft mich. Ich hatte geglaubt, dass sie nun, da sie sich verhüllt, sittsam schweigen würde. Aber nein, sie nahm kein Blatt vor den Mund und redete frei heraus, so wie ich sie von jeher kannte. Offenbar hat sie bei aller Veränderung der äusseren Erscheinung ihre Unbefangenheit behalten, die ich als einen besonderen Vorzug an ihr schätze und die sie mir sympathisch macht. Es kommt sogar vor, dass ich mit ihr ziemlich zwanglos über das Thema Frauen plaudern kann, was bei keiner anderen meiner Schwägerinnen denkbar wäre. Die Konversation mit ihnen überschreitet niemals die Schranke oberflächlicher Höflichkeiten und Komplimente.

»Na, ich meine, dass sich die Tunesierinnen verschleiern, aber trotzdem ihre hautengen Jeans nicht aufgeben.«

»Warum sollten sie ihre Jeans aufgeben? Hauptsache, sie ziehen was Weitgeschnittenes drüber.«

»Und die Miniröcke?«

»Wo ist denn ein Unterschied zwischen Minirock und Jeanshosen? Wichtig ist nur, dass eine Frau vor den Männern verhüllt ist.«

Ibrahîm schweigt eine kleine Weile, bevor er spöttisch hinzusetzt: »Und das ist noch nicht alles. Wie ich hörte, sollen manche verhüllte Frauen Tangas tragen …«

Jussra prustet unwillkürlich los. Ibrahîm muss selbst lachen. »Stell dir das mal vor«, wiehert er, »oben Hidschâb … und unten ein Schnürsenkel!« Er dreht sich um und blickt mich erwartungsvoll an, ob ich vielleicht etwas dazu sagen möchte. Doch ich äussere mich nicht.

Jussra geht mit den Tellern und Schüsseln und den Resten der Mahlzeit in die Küche. »Gott vergibt allen …«, seufzt sie, »Gott ist barmherzig.«

Als sie den Tisch abgewischt hat, sieht sie mir direkt ins Gesicht. Erst jetzt merke ich, dass ihr der Schalk aus den Augen blitzt.

»Bestimmt bist du müde«, meint sie gähnend.

Ibrahîm erhebt sich. Er gähnt ebenfalls. Dann neigt er sich zu mir. »Jussra hat unser Schlafzimmer für dich zurechtgemacht. Du kannst dort schlafen.«

Ich hatte schon geahnt, dass sie mir, wie bei früheren Besuchen, wieder ihr Ehebett anbieten würden. Sofort lehne ich ab. »Ich schlafe hier«, erkläre ich in entschiedenem Ton.

»Wo – hier?«, fragt Jussra verwundert. »Etwa auf der Couch?«

»Jawohl. Auf der Couch. Und ich werde meine Meinung nicht ändern.«

Sie wissen, wie stur ich sein kann. Habe ich einmal einen Entschluss gefasst, würde ich nicht davon abweichen, egal was sie anstellten, ganz besonders, wenn es Dinge dieser Art betraf.

Sie sehen sich an und sagen kein Wort.

Am liebsten sitze ich in der Küche. Es macht mir Spass, Jussra beim Kochen zu beobachten. Wie sie herumhantiert mit ihren Schüsseln, Töpfen und Pfannen, aus denen die köstlichsten Düfte aufsteigen. Wie sie Gemüse putzt, das Fleisch kleinschneidet oder Geschirr spült. Bei jedem Besuch bin ich bestrebt, morgens eine Weile in ihrer Küche zu verbringen.

Wie immer freut sich Jussra, dass ich mich bei ihr aufhalte. Hin und wieder schaut sie zu mir her, lächelt mich an oder fragt, ob ich irgendwas möchte.

Plötzlich geht die Wohnungstür auf, und Ibrahîm kommt herein. Um diese Zeit hätte er noch auf Arbeit sein müssen. »Was willst du denn schon hier?«, frage ich mit einem Blick auf die Wanduhr.

»Heute ist Freitag … und freitags lassen sie uns früher gehen.«

»Wieso das?«

»Weisst du wirklich nicht, warum?«, fragt Jussra leicht verwundert. »Na, wegen dem Moscheebesuch!«

Ibrahîm geht ins Bad, um sich fürs Gebet zu waschen. Als er zurückkommt, setzt er sich zu mir. »Hast du mir die Zigaretten mitgebracht, um die ich dich im letzten Brief gebeten hatte?«

Erst jetzt fällt mir ein, dass ich zwei Stangen Marlboro, seine Lieblingsmarke, für ihn gekauft hatte. Gestern hatte ich nur vergessen, sie ihm zu geben. Gleich springe ich auf, um sie zu holen. Ibrahîm befühlt wohlgefällig eine Stange, dann streift er die Hülle ab. Er öffnet eine Schachtel. Zupft sich eine Zigarette heraus. Beginnt sie mit offensichtlichem Hochgenuss zu rauchen.

»Du rauchst? Nach der Waschung?«, fragt Jussra.

»Ja … wo ist das Problem?«

»Ich habe gehört, Rauchen beeinträchtigt die rituelle Reinheit.«

Ironisch lächelnd, sagt Ibrahîm zu mir: »Ach ja, in dem Brief vergass ich, dich zu bitten, mir im Duty-free-Shop eine Flasche Whisky zu besorgen.«

Ich weiss, dass er gerne mal ein Gläschen trinkt. Nach seiner Heirat, vor allem aber seit er mit dem Beten anfing, hatte er etliche Male versucht, damit aufzuhören. Es war ihm nicht gelungen. Allerdings verblüfft mich, dass er so etwas daherredet, wo er gerade zur Moschee gehen will, und noch dazu in Jussras Beisein, die ihn unablässig ermahnt, die Finger vom Alkohol zu lassen.

»Gott bewahre!«, murrt sie, ihn scharf fixierend.

»Nur keine Panik – der Whisky ist doch gar nicht für mich … sondern für einen meiner Freunde.«

Als er aufgeraucht hat, wäscht er seine Hände mit Seife und spült sich ausgiebig den Mund. Bevor er wieder zu seinem Stuhl geht, wirft er einen raschen Blick auf die Strasse.

»Wâil kommt immer noch nicht.«

Die Schule liegt gleich hinter der Polizeistation. Ich recke den Hals und schaue ebenfalls auf die Strasse. »Es ist ja nicht weit«, sage ich. »Er hat reichlich Zeit, um in aller Ruhe zu Mittag zu essen und in die Schule zurückzukehren.«

»Aber vor dem Mittagessen geht er mit mir zur Moschee.«

»Zur Moschee? Warum denn das?«

»Um das Freitagsgebet zu verrichten«, sagt Jussra. »Wâil liebt nichts auf der Welt so sehr wie das Freitagsgebet mit den Männern.«

Ich starre sie verblüfft an. Beinahe wäre mir herausgerutscht, dass Wâil für solche Dinge doch noch viel zu klein sei.

Jussra rückt näher. Als wollte sie mir über mein Erstaunen hinweghelfen, erklärt sie: »Niemand hat ihn zum Beten gezwungen. Beim Allmächtigen, der Junge ist ein Engel! Gott hat ihn schon als Kind erleuchtet …«

Ibrahîm bestätigt ihre Worte, indem er mehrmals nickt. »Wenn du ihn beim Gebet sehen würdest!«, sagt er beifällig. »Wenn du sehen würdest, wie er seine kleinen Hände hebt, um Gott zu preisen!«

»Ach, ich wünschte, ich wäre ein Mann …«, seufzt Jussra, »nur damit ich mit den Männern in die Moschee gehen und ihm beim Beten zuschauen könnte.«

Sobald Wâil eintrifft, hilft ihm seine Mutter bei der Waschung. Anschliessend nimmt ihn Ibrahîm mit zur Moschee. Ich verlasse die Küche und schlendere ein bisschen durch die Wohnung.

Es ist mein zweiter Besuch hier, nachdem sie umgezogen sind. Die Zimmer erscheinen mir grösser im hellen Sonnenlicht, das durch die offenen Fenster hereinfällt. Sogar die Möbel finde ich schöner und prächtiger als beim letzten Mal.

Eigentlich hätte ich jetzt genug Zeit, um mit dem Bus ins Stadtzentrum zu fahren und eine Weile auf der Avenue Habib Bourguiba spazieren zu gehen. Bevor das Mittagessen fertig ist, wäre ich zurück in al-Bassatîn. Ich verabschiede mich von Jussra, die mir einschärft, mich ja nicht zu verspäten. Was sie koche, solle schliesslich ein Festmahl zur Feier meiner Ankunft werden, das gestrige Abendbrot sei bloss die Vorspeise gewesen. Langsam und vorsichtig, um nicht auszurutschen, steige ich die Haustreppe hinunter. Anscheinend ist gerade gewischt worden, hier und da sind die Stufen noch nass.

Die Bushaltestelle liegt auf dem rechten Bürgersteig gegenüber der Moschee, nur ein paar hundert Meter von der Polizeistation entfernt. Sie ist durch einen Eisenpfosten und das daran befestigte Nummernschild der Buslinie markiert. Zwei Frauen mit einem kleinen Jungen warten neben dem Pfosten. Als ich mich dazustelle, mustern sie mich verwundert, als fänden sie es absonderlich, dass ich zu dieser Zeit an diesem Ort stehe. Ich beachte sie nicht weiter. Ich sage mir, bestimmt ist ihnen aufgefallen, dass ich nicht vom Viertel bin.

Es gibt keine Sitzbank. Der Gehsteig neben dem aufragenden Pfosten ist schmal, verstreut liegen Papierfetzen herum, leere Flaschen, Pappschachteln. Obwohl wir noch Frühling haben, ist es drückend heiss. Nach wenigen Minuten wird die Sonne unerträglich. Ich halte Ausschau nach einem bisschen Schatten. Aber da ist nichts, in der ganzen Strasse steht nicht ein Baum, und die Häuser nahe der Haltestelle haben keine Grünanlage. Ich ziehe mein Jackett aus und lehne mich mit dem Rücken an eine Mauer.

Mehr und mehr Leute kommen zur Haltestelle. Beim Warten auf den Bus, der sich verspätet, beobachte ich ihre Gesichter und Bewegungen. Mir fällt auf, dass durchweg Frauen und Kinder hier sind. Ich bin der einzige Mann! Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke treffen, sehe ich, dass sie mich anstarren. Eins der Kinder benutzt sogar die Gelegenheit, dass seine Mutter in ein Gespräch mit einer anderen Frau vertieft ist, um sich mir zu nähern. Ich lächele den Kleinen an. Er erwidert mein Lächeln nicht. Den Kopf gesenkt, fixiert er mich von unten mit ausdruckslosen Augen. Nach einer Weile weicht er etwas zurück. Er hebt den Arm und malt ein Zeichen in die Luft, das ich nicht verstehe. Danach trollt er sich zu seiner Mutter, die den Vorfall überhaupt nicht bemerkt hat.

Alle vorbeikommenden Busse fahren in die entgegengesetzte Richtung. Die Endstation der Linie ist gar nicht weit entfernt. Trotzdem kehrt kein Bus von dort zurück. Nach dem langen Warten schaue ich nur noch zum Ende der Strasse. Aber nichts, kein Bus zu sehen. Selbst wenn er in den nächsten fünf Minuten käme, was höchst unwahrscheinlich ist, bliebe mir nicht mehr genug Zeit für die geplante Fahrt ins Zentrum.

Aus Angst, mich zum Mittagessen zu verspäten, beschliesse ich, mein Vorhaben auf morgen zu verschieben. Eigentlich bin ich gar nicht hungrig, habe nicht mal Appetit. Doch ich möchte Jussras Wunsch gern erfüllen und mit ihnen zusammen am Tisch sitzen. Im gleichen Moment, als ich die Haltestelle verlassen und heimgehen will, fällt mir ein, dass Ibrahîm und Wâil noch in der Moschee sein müssten. Sie sind jetzt schon ziemlich lange dort, überlege ich. Vielleicht ist das Gebet ja bald zu Ende. Also werde ich auf sie warten, dann gehen wir gemeinsam nach Hause. Ich bahne mir einen Weg durch die Gruppe der Frauen und Kinder, die mich die ganze Zeit über gemustert haben, und begebe mich zur Moschee. Am besten, ich stelle mich in die Nähe des Eingangs, damit ich die beiden nicht verfehle, wenn sie mit den Männern herauskommen. Ich überquere die Strasse und suche mir ein schattiges Plätzchen, von wo aus ich die Tür beobachten kann.

Ibrahîm ist mächtig stolz darauf, dass al-Bassatîn eine grosse Moschee hat. Ich weiss noch, wie er mir bei meinem letzten Besuch jedes Mal, wenn wir an ihr vorbeikamen, erklärt hatte, die Moschee sei mit Hilfe von Spenden der frommen und wohltätigen Einwohner erbaut worden. Und zwar übrigens im selben Jahr, als auch die Polizeistation errichtet wurde, die er für ein ebenso herausragendes Wahrzeichen des Viertels erachtet. Wie er mir erzählte, ist der Baugrund für die Moschee und die Polizeistation früher eine öffentliche Deponie gewesen, ein Platz für Abfälle aller Art, auf dem Esel, Ziegen und herrenlose Köter umherstreunten.

Die Moschee ist nicht gar so gross, wie mein Bruder behauptet, und ihre Architektur wirkt eher schlicht. Trotzdem ist sie beeindruckend. Das Schönste ist ihr schlankes Minarett, das wie ein Pfeil in den Himmel sticht. Ich bin noch nie drinnen gewesen. Aber ein paarmal habe ich mich dem sauberen, mit weissem Marmor gepflasterten Eingang schon genähert, um einen Blick in ihren länglichen Hof zu werfen und den mit Teppichen und Matten ausgelegten und mit grazilen Säulen geschmückten Gebetsraum zu betrachten.

Jetzt treten die ersten Gläubigen heraus, Männer jeden Alters, dazwischen viele Knaben. Alle, die an mir vorbeigehen, starren mich an. Genauso wie vorhin die Frauen, mit denen ich auf den Bus gewartet hatte. Einige fixieren mich mit kalten Augen. Und plötzlich, während ich sie meinerseits mustere, begreife ich den Grund. Auf einmal verstehe ich auch, warum nur Frauen und Kinder an der Haltestelle gewesen waren. Alle Männer befanden sich zu dieser Zeit in der Moschee, um das Freitagsgebet zu verrichten. Der einzige Mann ausserhalb der Moschee war ich!

Es ärgert mich, ja mir wird etwas beklommen zumute, als ich diese scharfen Blicke registriere, die mich aus jeder Richtung durchbohren. Zum Glück dauert es nicht allzu lange, bis Ibrahîm herauskommt. Sobald mich Wâil entdeckt, verlässt er seinen Vater und rennt zu mir. Was für eine freudige Überraschung, dass ich vor der Moschee stehe! Er ist stolz, dass ich ihn herauskommen sehe, nachdem er mit den Erwachsenen drin gebetet hat.

Auf dem Heimweg fragt er mich unvermittelt: »Onkel Taufîk … bist du Muslim?«

Ich nicke.

»Was soll das?«, brummt Ibrahîm. »Natürlich ist dein Onkel Taufîk Muslim.«

Wâil fasst nach meiner Hand und drückt sie, als wollte er sich für die Frage entschuldigen. Aber nicht lange, und er hakt nach: »Warum gehst du dann nicht mit uns in die Moschee?«

Mit so einer Frage habe ich nicht gerechnet. Ohne etwas zu erwidern, lächele ich ihn an.

»Dein Onkel geht in Frankreich zur Moschee«, erklärt ihm Ibrahîm.

»Gibt es denn eine Moschee in Frankreich?«

»Klar doch!«, antwortet Ibrahîm. »Überall auf Gottes Welt gibt’s Moscheen.« Dann wechselt er das Thema: »Uff! Wir haben Frühling, und es ist schon so heiss. Wie wird das erst im Sommer? Dieses Jahr werden wir umkommen vor Hitze.«

Schweigend gehen wir weiter, bis wir den Park mit den Wohnblocks erreichen. An seinem Eingang stehen drei Jugendliche. Den Rücken gegen den Zaun gelehnt, unterhalten sie sich ungeniert mit lauter Stimme. Als wir an ihnen vorbeigehen, mustern sie unsere Gesichter.

Kaum sind wir ein wenig von ihnen entfernt, beginnt Ibrahîm frustriert und ärgerlich zu schimpfen: »Jeden Tag lungern sie da am Eingang. Diese Hundesöhne! Schnüffeln nur herum, drinnen und draussen.«

Als wir die dritte Etage erreichen, öffnet sich plötzlich eine Wohnungstür, und eine Frau schaut heraus. Dann wird die Tür sofort wieder geschlossen. Ich bin sicher, dass ich ihr Gesicht kenne, weiss aber nicht mehr, woher. Ich beuge mich zu Ibrahîm und frage ihn leise, damit Wâil nicht mithört, wer diese Frau sei.

»Hast du sie etwa vergessen? Naîma …«

Naîma, Jussras ehemalige Busenfreundin! Naîma, die Geschiedene. »Die Verschleierte«, wie ich sie immer nannte! Sie hat sich sehr verändert. In dem kurzen Augenblick, den ich sie sah, schien sie mir fülliger und ihr Teint heller. Ich erinnere mich, wie überschwänglich Jussra sie bei meinem vorigen Besuch gelobt hatte, als sie mir zum ersten Mal von ihr erzählte. Sie sagte, Naîma sei eine Frau, wie man sie selten finde. So gütig sei sie, so ruhig und taktvoll und dazu tiefgläubig.

Damals hatte Naîma jeden Morgen die Fenster ihrer Wohnung, in der sie allein lebte, weit aufgerissen, um zur Erbauung ihrer Nachbarn mit einem riesengrossen Tonbandgerät bei voller Lautstärke Gebete und Preislieder auf den Propheten abzuspielen. Doch irgendwann hatte ich einmal von ferne beobachtet, wie sie die Strasse entlangstöckelte, und mich beschlich eine dunkle Ahnung, dass etwas nicht stimmte mit ihrer dick aufgetragenen Frömmigkeit, die allen Hausbewohnern so ausnehmend gut gefiel. Jussra sagte ich freilich nichts von meinen gemischten Gefühlen, zu tief war die Sympathie, die sie für Naîma hegte.

Eines Tages berichtete mir Jussra, unsere fromme, gottesfürchtige Nachbarin verreise sehr gern ins Ausland, ganz besonders nach Europa, und hin und wieder fahre sie auch nach Italien. Voll beladen mit Damenbekleidung – »alles, was Auge und Herz begehrt!« –, kehre sie von dort zurück. Mit den Sachen betreibe sie in al-Bassatîn einen Handel. In diesem Moment konnte ich mir nicht mehr verkneifen, deutlich auszusprechen, was mir schwante. Ich erklärte Jussra klipp und klar, ihre geliebte Nachbarin sei höchstwahrscheinlich eine Schlampe. Sie rastete aus, bezeichnete mich als einen Miesmacher und Zweifler ohne Ehrfurcht vor Gott und den Menschen!

Sie verteidigte Naîma weiter bis zu dem Tag, als diese unter dem Vorwand, mich begrüssen zu wollen, zu Besuch kam. Naîma muss gewusst haben, dass ich daheim war. Jussra registrierte den feinen Lidschatten um ihre Augen ebenso wie die Schmachtblicke, die sie mir von Zeit zu Zeit zuwarf, und vor allem diese laszive Art, wie sie mit mir redete. Jussra hatte ihr erzählt, ich sei mit einer Französin verheiratet. Demzufolge war ich, nach Naîmas Meinung, ein potentieller Heiratskandidat. Ein Tunesier, der eine Europäerin zur Frau nimmt – und davon sind hier alle überzeugt –, tut das selbstverständlich nicht aus Liebe, sondern lediglich, um eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten und seinen Status zu legalisieren. Hat er dieses Ziel erreicht, zögert er nicht, sich bei der erstbesten Gelegenheit von seiner Ehefrau zu trennen. Als Jussra diese Anmache mit eigenen Augen sah, beteuerte sie mir in Naîmas Beisein, dass ich vollkommen recht damit hätte, an der Aufrichtigkeit ihres Glaubens zu zweifeln. Ja, sie bezeichnete sie rundheraus als Schlampe! Auf der Stelle warf sie Naîma hinaus. Sie brach die Beziehung zu ihr ab und verzichtete sogar auf alle Geschenke, die sie ihr aus dem Ausland mitgebracht hatte.

Zu Hause eingetroffen, berichtet Wâil seiner Mutter in allen Einzelheiten, was er in der Moschee erlebt hat. Zuletzt sagt er, indem er den Blick verschwörerisch zwischen seinem Vater und mir hin- und herwandern lässt, als verriete er ein Geheimnis: »Wir haben Naîma gesehen …«

»Was für eine Naîma?«

»Na, die von unten.«

»Und wo habt ihr sie gesehen?«

»In ihrer Wohnung«, antwortet Wâil.

»In ihrer Wohnung!«

»Aber nein!«, erklärt Ibrahîm. »Als wir in die dritte Etage kamen, ging plötzlich ihre Tür auf, und kaum dass sie uns sah, machte sie die Tür wieder zu. Das Ganze dauerte nicht länger als ein Lidschlag.«

Jussra schüttelt den Kopf. Sie schaut mich kurz an, dann huscht ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht.

Langsam schlendere ich über die Avenue Habib Bourguiba, die quer durchs Stadtzentrum führt. Von einem Gehsteig zum andern bummelnd, betrachte ich die Gesichter der Passanten, die Schaufenster der Geschäfte. Als ich müde werde, suche ich das Café im Hotel International auf. Erfreut stelle ich fest, dass es Aircondition hat. Alle Plätze sind besetzt. Ich bleibe am Tresen stehen und warte, bis ein Tisch frei wird. Erst jetzt bemerke ich, dass viele wie ich warten. Wieso ist das Café um diese Zeit an einem normalen Wochentag derart voll?, frage ich mich irritiert. Ich habe Glück, plötzlich erheben sich die Leute am Tisch direkt neben mir und gehen weg. Gleich stürze ich hin und lasse mich auf einen Stuhl fallen.

Der Kellner, der herbeieilt, um mich zu bedienen, erkennt mich sofort. Auch ich erinnere mich auf den ersten Blick an ihn. Bevor ich auswanderte, war ich hier Stammgast gewesen. Herzlich schüttelt er mir die Hand, und sowie er erfährt, dass ich in Frankreich lebe, gratuliert er mir. Dann sieht er sich um, als fürchtete er, dass ihn jemand hören könnte, und vertraut mir mit gedämpfter Stimme an, er träume schon seit längerem davon zu emigrieren.

Ich bin glücklich, einen Tisch gefunden zu haben, noch dazu einen, der nicht irgendwo in einer Ecke steht. Ich kann sogar die Passanten in einer Nebenstrasse der Avenue Habib Bourguiba beobachten. Leider währt mein Glück nicht lange. Wenige Minuten später kommt ein junger Mann und fragt, ob er an meinem Tisch Platz nehmen dürfe. Nach kurzem Zögern bin ich einverstanden. Aber der junge Mann ist nicht allein, wie ich angenommen habe, und das ärgert mich nun richtig. Im nächsten Augenblick erscheint ein Zweiter, offenbar ein Freund von ihm, und setzt sich, ohne zu fragen. Kurz darauf gesellt sich noch einer zu ihnen.

Auf diese Weise sitze ich plötzlich zwischen drei jungen Männern, von denen ich keinen kenne.