Für Mathias
Da wurde einer umgebracht, was an sich schon blöd genug ist.
Und es war nicht so, dass sich irgendeiner von ihnen als Detektiv geeignet hätte.
Aber was heißt denn Detektiv! Das ist ein großes Wort und sicher ein spannender Beruf, jeder, der dabei an schöne Frauen, vielfältige Starkgetränke und alles in allem an harte Jungs denkt, hat vermutlich eine Menge Bücher gelesen, bloß mit Sicherheit die falschen.
Stanjic konnte wohl trinken, bloß wurde er davon so enervierend rührselig und so grässlich weinerlich, schlecht, wenn es gilt, wichtige Spuren zu sichern und ausgefuchste Mörder zu stellen.
Glaser hatte es eher mit Früchtetee, das darf man sowieso keinem erzählen, und Sydow hätte immer schon gerne eine Frau und hatte nie eine.
Jungs, das ja, aber hart? Sie waren einfach drei Jungs und es war eher so, dass sie in die Kalamitäten mehr oder weniger ungeschickt hineintaperten.
Wenn sie eins und eins zusammengezählt hätten, wäre alles anders gekommen, aber im Rechnen waren sie auch noch nie gut. Früchtetee und Sentimentalitäten, keine Frauen weit und breit und im Rechnen eine Niete, Sie sagen: Das fängt ja gut an! Hören Sie: Verglichen mit mir gehts Ihnen prima, ich muss immerhin hier Rede und Antwort stehen.
Hier wird jemand umgebracht werden und alles, was ich habe, sind drei softe Jungs, die im schlimmsten Fall sogar stricken können, jede Fußspur vertrampeln und hinter Scotch lediglich einen probaten Kalkentferner vermuten, irgendwas Wirksames für die Toilette.
Aber was solls, wenn der Bär kommt, grab dir ein Loch, leg dich hinein und stinke. Alte Jägerweisheit.
Noch kurz zu meiner Person. Sie fragen sich sicherlich, wie ich dazu komme, Ihnen diese unselige Geschichte auseinanderzusetzen. Ich stieß tatsächlich erst sehr spät dazu. Ich war damals eingeladen, Weihnachten auf einem Gutshof in Mecklenburg zu verbringen, ich bin über sieben Ecken mit Sydows Großmutter verwandt. Wies der Teufel will, traf ich dort auch auf David Stanjic – ich kannte ihn bereits wegen einer ganz anderen Geschichte, die sich vor ein paar Jahren zutrug –, und die Sache begann mich zu interessieren.
Am 26.12.2012 überschlugen sich die Ereignisse, einer war mausetot und es folgte ein informeller Nachmittag, der der allgemeinen Aufklärung dienen sollte. Mich persönlich machte er allerdings nicht gerade klüger.
Zurück in Berlin hatte ich erst mal anderes zu tun und vergaß die Angelegenheit – bis ich hörte, Wolfram Siebeck koche neuerdings im Tante. Ich dachte, ich könnte einen Bericht darüber als Anlass nehmen, bei Oma Sydow vorbeizuschauen und bei der Gelegenheit auch etwas ausführlicher mit David zu plaudern. So kam eines zum anderen, ich recherchierte, kratzte da und dort die Einzelheiten zusammen, bis ich überblicken konnte, in was für eine verfahrene und umständliche Groteske sie alle geraten waren. Ganz nebenbei geriet ich dabei selbst in, wie soll ich sagen, gewisse amouröse Verwicklungen, aber keine Sorge: Im demütigen Dienst der allgemeinen Aufklärung bin ich absolut nicht korrumpierbar.
Nebenbei erwähnte ich dann die Sache beim Kaffee gegenüber meinem Lektor und er meinte, das sei doch was, ein Mord und gleich drei Hochzeiten, das klinge doch nach einem tollen Buch.
Insgeheim bezweifelte ich das. Meine diversen Einwände wischte er vom Tisch.
Persönliche amouröse Verwicklungen?, wiederholte er gut gelaunt, dann nimm für Mathias doch ein Pseudonym! Er grübelte kurz, blätterte fahrig durch eine herumliegende Fernsehzeitschrift und blieb beim Samstagabendprogramm hängen, die Robin-Hood-Verfilmung mit Russel Crowe. Crowe?, meinte er angetan, wie wärs mit Russel Crowe?
Also bitte, sagte ich, ich kann doch nicht in Berlin einen Russel rüber zu Bolle schicken zum Einkaufen, wie sieht das denn aus.
Er durchforstete die Liste der Nebendarsteller, Max von Sydow, rief er begeistert, das klingt doch ganz ausgezeichnet!
Max, sagte ich entsetzt, geht gar nicht, das verzeiht Mathias mir nie!
Frederik, sagte er abschließend und klappte die Zeitschrift zu, Frederik von Sydow ist ein prima Name.
Also meinetwegen.
Ich wäre im Übrigen, fügte ich missmutig hinzu, aber gar nicht selbst dabei gewesen.
Ach was, rief er, ich solle mir, meinte er, während er dem Kellner um die Rechnung winkte, ein bisschen Mühe geben, mit ein wenig Fantasie und Einfühlungsvermögen würde ich das Ding schon schaukeln.
Und wie rede ich von ihnen?, rief ich ihm hinterher, er eilte schon gewichtig zum Ausgang, Vor- oder Nachnamen?
Nachnamen natürlich, sagte er, schon in der Tür, er tippte irgendwas in sein Blackberry, das wirkt professioneller. Vor allem, er hob kurz den Kopf und deutete mit diesem monströsen Taschenrechner auf mich, vor allem angesichts deiner eigenen amourösen Verwicklungen, da gilt es, äußerst korrekt zu sein.
Ja, sagte ich.
Und vergiss das Wichtigste nicht.
Ja?
Kapitelüberschriften.
Kapitelüberschriften?
Enorm wichtig, in den Kapitelüberschriften fasst du logisch zusammen, worum es in dem folgenden Kapitel geht. Ein lieber Leser weiß dann jeweils, was ihn erwartet, und kann zur Not mal was überblättern.
Verstehe.
Frohes Schaffen!, rief er mir noch zu, weg war er.
So viel dazu.
Es würde also einen Mord geben. Es gab Indizien, die ihn ankündigten.
Nicht ganz unwichtig in der Profession des Detektivs ist natürlich seine eigene Gewissheit darüber, dass er einer ist. Leute klingeln ihn an oder besuchen ihn in seinem schäbigen Büro. (Sie sehen: Ich lese die falschen Bücher.) Sie klagen ihm ihr Leid und der Detektiv legt los. Oder aber, der Detektiv stößt rein zufällig auf ein kriminelles Problem, beispielsweise im Urlaub. Luftkurend in den Schweizer Bergen oder schnorchelnd im indischen Ozean gerät er in irgendeinen tödlichen Schlamassel und wird ihn lösen, wenn’s sein muss in Gamaschen oder einem knappen Badehöschen. Schwieriger wird es, wo einer kein Detektiv ist, Böses geschieht und der, der kein Detektiv ist, es nicht ahnt, vielmehr vielleicht denkt: interessante Sache hier, oder: spannend.
So ungefähr lag der Sachverhalt. Sie fanden diesen Text, und Worte sind harmlos, dachten sie, dabei kann alles Gedachte, Gesagte, getan werden, es kann jedes Wort so ungeheuer fleischlich werden und gefährlich.
Aber das kam später. Vorerst dachten sie noch: interessante Sache hier, irgendwie spannend. Wenn überhaupt. Sydow fand es nicht mal witzig.
Es war also nicht so, dass einer von ihnen sich als Detektiv geeignet hätte, aber ganz grundsätzlich: Man könnte sich fragen, wofür sich irgendeiner von ihnen überhaupt eignete. Sie machten zusammen Musik, aber na ja. Bis anhin die üblichen Verdächtigen, Mozart, Schumann und Freunde und alles, was sich auf Größe eines Trios zusammenstauchen ließ, ein bisschen fiedeln und tröten, alles in allem krauchten sie um die traurige Tatsache Hausmusik, bis Simon Glaser diese neue Idee hatte, eine super Idee, sagte er begeistert, ja, geht so, sagten die anderen.
Sonst? Wenig Erbauliches. Glaser trank diesen Früchtetee, fand Heizen mit Holz wichtig und war an den Stadtrand gezogen, als wär das schon ein Programm. Er machte in Kunst oder Neuen Medien, wenn er einem was erklärte, befiel einen augenblicklich eine Art Blackout und der dringende Impuls, sich vom Acker zu machen. Kann sein, es lag an den Erklärungen oder an ihm, kann sein, an der Kunst an sich, den Neuen Medien.
Womit er sein Geld verdiente, war im Großen und Ganzen undurchsichtig, irgendwas mit Film.
Was, Film, sagte Sydow, er fand das zu undurchsichtig.
Na, so Filme eben, sagte Stanjic, komisches Zeug.
Und wo spielt er so was?
Keine Ahnung, Vereinslokalen, öffentlichen Toiletten.
Vereinslokalen?
Türkische Vereinslokale zum Beispiel, da rennt eh den ganzen Tag der Fernseher und die Sachen von ihm sind immer in Endlosschleife, das ist genau das richtige Format.
In Endlosschleife? Warum?
Weil man sie sonst nicht versteht.
Sagt wer.
Sagt Simon.
Und die Türken, was sagen die?
Keine Ahnung, sind doch Türken. Aber wenn ich Türkisch könnte, würd ich sagen, sie sagen: Das ist also dieses Deutschland. Schlimm.
Verstehe. Und du?
Ich verstehe sie auch so nicht.
So viel dazu. Stanjic hatte damit so seine Erfahrungen. Nicht, weil er ein Vereinsjockel wär, er kam nicht mal aus der Türkei. Stanjic kam aus Österreich, er war ein Österreichflüchtling, aus Österreich geflüchtet, wie andere Leute aus Krisengebieten flohen, er fand, Österreich war in der Krise und die Welt schaute nicht hin.
Gott sei Dank hatte er diesen Quatsch hinter sich, diese latente selbstzufriedene Unzufriedenheit, die engstirnige Besserwisserei, dieses im Grunde durch und durch marode und malade System, manchmal sagte er Quark anstatt Topfen, nur so vor sich hin, er sagte Postbote anstatt Briefträger und wartete auf den echauffierten Aufschrei, das genäselte Aufheulen seiner ehemaligen Mitbürger, Österreich aber war weit weg, Krisengebiete sind immer so angenehm weit weg.
Das Interessante daran war: Sagte einer in Deutschland Marille statt Aprikose und die Milch geht über, fanden das alle sympathisch und irgendwie exotisch, umgekehrt, sagte Stanjic zu Sydow, umgekehrt kann ich dir da nur abraten.
Ich fahre sowieso nie nach Österreich, sagte Sydow.
Ist auch besser so, was soll man in Krisengebieten auch groß ausrichten, außer man ist von Amnesty oder von der Caritas, die könnten in Österreich vielleicht noch was reißen. Vielleicht. Aber ich meine theoretisch. Sagen wir, du würdest dorthin verschleppt, von Männern mit Damenstrumpfhosen über dem Kopf, in einem verdunkelten Bus nach Österreich gekarrt, vor dem Dom aus dem Auto geworfen, und stehst jetzt in Wien auf dem Stephansplatz und suchst, beispielsweise, nach einem Bäcker. Die lange Fahrt, das schwere Los der Verschleppten, die Ungewissheit unter den Strumpfhosen, dieses Österreich an sich, die Angst hat dich innerlich aufgezehrt, du hast einen Bärenhunger. Du fragst einen dahergelaufenen Ureinwohner: Wo bitte kann ich hier ein paar Schrippen kaufen, und denkst hoffnungsvoll: Vielleicht hilft mir der Exotenbonus, Schrippen, denkst du, sie werden hören, ich komme aus Berlin, ich bin hier fremd und einsam, ich vermisse die Schrippe, die Bulette und Kaffe statt Kaffee, der Österreicher wird mich zum Frühstück einladen. Weit gefehlt. Hohn und Spott wirst du ernten, Bosheit und Stinkerei. Der Österreicher wird dich nicht nur nicht zum Frühstück einladen, er wird dich immer und konsequent in die falsche Richtung schicken, immer dahin, wo in tausend Jahren nie ein Bäcker auftaucht. Fahre nicht nach Österreich. Auch nicht theoretisch.
Ist gut. Gott sei Dank ist dir die Flucht gelungen.
Ja, die Krise hatte mich schon fest in der Mangel. Aber ich bin dem Land entwischt.
Das war natürlich nur die halbe Wahrheit.
Ach was, sagte Sydow, es hat mit der Wahrheit rein gar nichts zu tun, es hat mit Österreich nichts zu tun.
Dieses Land ist ein Debakel, sagte Stanjic gern.
Kann schon sein, erwiderte Sydow, bloß ist dein eigenes Debakel ganz und gar privater Natur, es heißt Klara und macht auf Dauer, dass dir das Land zu eng wurde. Nicht weil das Land so klein wär oder Klara so dick, mehr so innerlich.
Stanjic war, kurzum, eine feige Socke, in Österreich war die Krise und er rannte davon, setzte sich ab und tat, als wär er ein politischer Mensch. Dabei:
Der Österreicher, sagte Sydow abschließend, ist an sich kein politischer Mensch, beim Österreicher ist immer alles privat. Es heißt Klara oder Topfen statt Quark und betrifft den Österreicher immer höchstpersönlich.
Stanjic hatte die ersten Wochen im Berliner Exil damit zugebracht, sich zu verlaufen, er ging konsequent in die falsche Richtung, stieg stur in die verkehrte U-Bahn und fand den Bus nicht. Dann kaufte er sich ein Auto, damit wurde es nicht besser, aber er saß dann immerhin immer im Trockenen.
Schade war –
Schade ist, pflegte Sydow gerne zu sagen, dass es die Mauer nicht mehr gibt. Du hättest spätestens dort jeweils gemerkt, dass es Zeit ist, umzukehren.
Stimmt, sagte Stanjic, schade. Er fuhr neuerdings Lunchpakete aus, auch ein Job. Man lernt da, sagte er, die verschiedensten Menschen –
Jaja. Sydow hielt entweder nichts von Menschen oder davon, dass sie alle verschieden waren, er mochte die Sandwichs nicht oder was, jedenfalls fand er, das sei zwar auch ein Job, aber ein schlechter.
Aber zurück zu den Filmen. Sie hatten David Stanjics Zutrauen in die Neuen Medien nicht gerade gestärkt, aber natürlich war er von Österreich her ein gebranntes Kind.
Die Österreicher machtens im Film wie in allem anderen auch, entweder ganz richtig oder grundsätzlich falsch, vornehmlich, sagte Stanjic, vornehmlich natürlich Zweiteres.
Man sah dann Österreicher in Filmen wahlweise in ihrer Selbstzufriedenheit oder in ihrer Unzufriedenheit, man sah sie in ihrer Brutalität wüten oder in ihrer Dumpfheit dräuen, man sah sie in ihrer ganzen tragischen Tristesse dahinmarodieren oder ihren maladen Geist balsamieren und fragte sich, wozu das alles noch auf Filme bannen und in Kinos zeigen, ist die Realität nicht schon grausig genug?
Doch, fand Stanjic. Darum, sagte er sich, schau ich mir ein bisschen diese Filme an vom Glaser, ärger kanns nicht werden.
Wenn er einen der Filme schaute, verstand er ihn nicht. Sie ließen ihn in tiefer, ratloser Kontemplation zurück, wiewohl er sie sich jeweils mehrfach zu Gemüte führte, sie waren, wie gesagt, vorsorglich für eher beschränktere Persönlichkeiten wie ihn, immer in Endlosschleife.
Wollten ihm die Filme irgendwas sagen? Was? Wollten sie ihm nichts sagen? Warum nicht? Trotzdem, er hatte das diffuse Gefühl, ab einer gewissen Menge geschauter Filme womöglich irgendeinen geheimen Zusammenhang aufzudecken. Er dachte sich den Effekt in etwa so, wie wenn man durch diverse Zimmer stöbert, von jedem Bett die Decke zieht und hofft, dass was darunter ist.
Stanjic dachte zum Beispiel: eine nackte schöne Frau. Oder – na ja. Er dachte im Grunde nur: eine nackte schöne Frau. Was sollte man sonst in einem Bett Interessantes finden. Aber das fände er sehr interessant. Er fände es geradezu inspirierend. Bisher hatte er aber nichts dergleichen entdeckt, auch in den Filmen spielten bedrückend wenig nackte Frauen mit, es waren wohl eher symbolische Filme, bloß verstand er die Symbole nicht. Gut möglich, dass eins der Symbole eine nackte schöne Frau symbolisierte, aber er wusste nicht, welches. Vielleicht hätte er sonst mächtig viel Spaß gehabt beim Filmeschauen.
Vielleicht aber auch nicht. Er war eher nicht so für Symbolik. Er mochte nackte schöne Frauen, er mochte, dass sie nackt waren, er mochte ihre Schönheit. Er war, dachte er bei sich, ein ganz schlichter Charakter.
Im Nachhinein war mir natürlich klar, was der hinterhältige Zusammenhang war, der diese Filme miteinander verband.
Ich kann sagen, alles wäre anders gekommen, hätten sie zwei und zwei zusammengezählt und all die kleinen Steinchen gedeutet, die die Zukunft schon auf ihren Weg gestreut hat. Und hier liegt genau der Hund begraben: Wir werden erst auf Seite 278 wissen, was es genau damit auf sich hat, aber so viel möchte ich Ihnen schon mal verraten: Es ist kein Stein. Es ist eine kleine Kachel. Es gibt genau fünf Formen in verschiedenen Farben und mit zusätzlichen Linien darauf, die sich verbinden, sobald man ein Muster legt. Die Kacheln haben einprägsame Namen: Raute, Fliege, Sechseck, Fünfeck, Zehneck. Verstehen Sie? Sie können, wenn Ihnen das zu abstrakt sein sollte, sich ein paar entsprechende Bildtafeln ansehen, beispielsweise im Darb-i-Imam-Schrein im Iran kann man diese Fliesenkunst sehr schön betrachten. Sie können sich aber auch das Cover meiner Verlagskollegin Eva Menasse anschauen, praktischerweise hat sie eines dieser Muster zur Vorbereitung auf mein Buch in ihrem aktuellen Werk Quasikristalle zur Verwendung gebracht.
Wir werden uns noch eingehender mit diesem System beschäftigen, im Moment dazu nur so viel: Es ist ein Muster. Und alles, was ich hier so umständlich darlege, ist ein weiteres Stück, das wir brauchen werden, um das Gesamtbild zu erkennen. Ich habe der Einfachheit halber pro Fliese ein Kapitel veranschlagt, mein Lektor hielt das für übersichtlicher. Sie könnten also, wenn Sie ein Freund der plastischen Anschauung sind und gerne basteln, die einzelnen Kapitel aus dem Buch schneiden und sie sodann in Ihrem Wohnzimmer auslegen – Sie können aber genauso gut faul darauf warten, dass David Stanjic den Job für Sie erledigt, sicher haben Sie Wichtigeres zu tun, ganz im Gegensatz zu ihm.
Ich saß am Ende mit einem gewaltigen Haufen an Material da und habe alles Unnötige aussortiert, ich schwöre.
Es geht immer noch ungeheuer weitschweifig zu und her, aber: Alles ist wichtig, ich versuche einfach, diesem komplexen und verdrehten Fall irgendwie Herr zu werden. Hören Sie? Stünde auf dem Buch, das Sie gerade erwartungsfroh in Händen halten, etwa: Krimi oder: Polizeiroman, so wären Sie in beständiger Habachthaltung, Sie hörten die Flöhe husten und vermuteten hinter jedem meiner Worte einen sensationellen Hinweis auf das Gesamtgeschehen. Und zu Recht. Sie hätten einen erprobten Ermittler, Sie vertrauten auf Sherlock oder Guido, auf Philip und Jules, Sie wähnten sich in der angenehmen Sicherheit, dass diese Leute einfach vom Fach sind, gut, hin und wieder scheinen sie die Sache zu versemmeln, aber das täuscht. Sie sind ausgekocht, in ihrem scharfen Geist rattert und fuhrwerkt es beständig, auch wenn man das von außen nicht unbedingt erkennen mag.
Hier verhält sich die Sache leider etwas anders. Weil, und das ist der springende Punkt: Lange ahnte keiner von unseren Freunden, dass die gefährliche Handlung schon längst ihren Lauf genommen hatte, noch wusste niemand, dass der Kreis sich immer enger zog. Noch war nichts passiert.
Wo also beginnen? Ich denke, ich nehme einen heiteren Tag im Sommer 2012. Es war das erste Mal, dass David Stanjic die Uetliberg-Episode erwähnte. Für alles, was davor war, habe ich mir vorgenommen, ein paar elegante Rückblenden einzubauen. Eigentlich nämlich beginnt die Geschichte viel früher, nämlich 2003, bloß sagt mein Lektor, ich solle nicht bei Adam und Eva anfangen, sondern knackig mit einer Liebesszene beginnen, das käme immer gut.
Aber Adam und Eva, sagte ich, das ist doch eine Liebes-
Ach was, sagte er, das Thema ist doch abgefrühstückt.
Von mir aus.
Apropos Astronauten, sagte Stanjic darum einmal, es war hoher Mittag und es gab Rindfleisch und Polenta.
Wieso apropos, Sydow blickte von seinem Teller auf, schaute sich stirnrunzelnd um und angelte sich einen Pfefferstreuer vom Nebentisch.
Sie saßen im Visite-ma-tante, was natürlich lustig gemeint war, visite ma tente, eine harmlose Aufforderung aus der Zeit der französischen Besatzung, ihre exquisite Pfadfinderkunst zu begutachten, mit der die Soldaten versuchten, die deutschen Mädchen in ihr Lager zu locken.
Das ist etymologisch höchst umstritten, behauptete Sydow.
Papperlapapp, sagte seine Oma, ich habs am eigenen Leib erlebt.
Zur Zeit der französischen Besatzung. Sagte Sydow. Im 19. Jahrhundert. Ja?
Werd nicht frech, sagte seine Oma.
Papperlapapp sagt heute übrigens kein Mensch mehr, sagte er.
Als ich –
Ja, weiß schon, im 19. Jahrhundert, als du ein junges Mädchen warst und von französischen Soldaten unter windigen Versprechungen ins Iglu gebeten wurdest, hast du gesagt, Papperlapapp –
Unsinn. Ja, habe ich gesagt, ich zelte für mein Leben gern. Sonst wärst du heute überhaupt nicht hier, sondern würdest noch –
Mit den Mücken fliegen, sagte Sydow.
Genau, sagte Frau Sydow, mit den Mücken. Im Übrigen habe ich dort –
Den besten Milchkaffee deines Lebens getrunken, sagte er.
Richtig.
Dein Großvater, Sydow verfiel in ihren leicht getragenen Tonfall, war ein sehr romantischer Mann.
Das war er wirklich, Frederik, wir haben in späteren Jahren noch oft ein Zelt aufgestellt in unserem Garten und manchmal hat er gesagt –
Omi! So was erzählt man doch nicht seinem Enkel, so was wirft mich, psychoanalytisch gesehen, wieder um Jahre zurück.
Ich denke, warf Stanjic ein, du bist so psychophob.
So auch wieder nicht.
Im Übrigen, sagte Stanjic, ein paar Jahre auf oder ab macht bei dir, psychoanalytisch gesehen, das Kraut nicht fett. Immerhin kriegst du dann deine Zehnerkarte schneller voll, ein Jahr gratis.
Das war auch wieder wahr.
Wie auch immer, sie saßen im Visite-ma-tante, was natürlich lustig gemeint war, visite ma tente, Tante, besuch mein Zelt, meine Tante, verstehen Sie? Lustig, oder?
Geht so, murmelte Sydow, er fand so was offen gestanden nicht mal witzig. Jedenfalls gehörte das Café seiner Oma, sie fand so was richtig lustig, Omas eben, sie war schon auch eine Tante, aber eben nicht seine.
Ich habe, sagte Sydow, kein Wort von einem Astronauten gesagt. Er tunkte eine Gabel voll Polenta in die Soße und begann wieder zu essen. Schön übrigens, dass man dich auch mal wieder sieht, du hast ein paar Proben vergeigt, ist dir das klar?
Ja, weiß ich, mir ist da was –
Weißt du, das mit dem Verlaufen zieht langsam nicht mehr.
Ich habe mich auch nicht verlaufen, das ist eine merkwürdige Sache, wollte ich dir eben erzählen, es geht um Simon und –
Simon geht mir auch auf den Zeiger, kaum, dass du wieder serviert wirst, fehlt der Glaser, hat das irgendeinen geheimen Zusammenhang?
Das ist gar nicht so verkehrt, darüber wollte ich ja gerade mit dir –
Später vielleicht, mir fällt da nämlich was anderes ein, sagte Sydow, jetzt, wo dus sagst, apropos Astronauten, das war folgendermaßen.
Wie gesagt, was sie richtig gut konnten, war das weit Ausholen und das Ausführlichwerden, die Hausmusik, na ja, wenn sies freut, aber um die enormen Umwege, um überhaupt irgendwo zu Potte zu kommen, kommt man, so man sich ihnen an die Fersen heftet, nicht herum.
Wiewohl, und das ist das eigentlich Bemerkenswerte an dieser Art des Fortkommens, sich schlussendlich immer alles fügt, es sind gewaltige Schlenker, das ja, sinnlos oder gar ohne Zusammenhang mit dem eigentlichen Geschehen, das hier berichtet werden soll, sind sie mitnichten.
Es waren drei Jungs und hart waren sie nicht, aber zäh, auf eine eigentümlich verdrehte Art. Die Letzten werden die Ersten sein und wer zuletzt kommt, ist auch da, das wären so Sentenzen, die sie sich, wenn ihnen mal der Schneid ausgehen sollte, unverdrossen zuriefen. Bloß geht denen nie der Schneid aus.
Apropos, sagte Sydow also, Astronauten.
Es war an einem Abend nämlich folgendermaßen gewesen:
Ich habe die Tür hinter mir zugezogen –
Nein, sagte mein Lektor.
Was nein.
In der Perspektive kommst du bei der Szene nicht weit, Überraschung, Witz, Schönheit – kann man dann alles den Hasen geben.
Den Hasen?
Und jetzt schreibst du alles um und machst auf personalen Erzähler, wie gehabt.
Aber Frederik erzählt es doch dem Stanjic.
Für dich immer noch Sydow. Ja und?
Er raffte seine Papiere zusammen und winkte dem Taxichauffeur draußen durch die Scheibe des Cafés hinweg zu, er hatte es eilig, Termine, berühmte Autoren, die seiner harrten, er ist ein viel beschäftigter Mensch. Machst du eben, rief er im Hinausgehen, ein neues Kapitel und here we go!
Verstehen Sie, dass ich manchmal unendlich müde bin?
Sydow hatte die Tür hinter sich zugezogen, seine Brille beschlug, eine flotte Impression von Nebel über Feldern, fette Erdschollen im Zwielicht, der Dunst, der über den Wiesen hängt, wenn der Morgen leise davontrappelt. Er wartete, bis es wieder aufklarte, die Äcker verblassten und die Felder sich an den Rand der Stadt zurückzogen, er wartete, bis es aufklarte und es nur eine Brille war, die beschlug, und die Stadt, die er kannte.
Das Visite-ma-tante war proppenvoll, das war keine Neuigkeit. Kleine Cafés sind, sobald sie voll sind, immer proppenvoll, es war ein sehr kleines Café. Wenn sehr kleine Cafés proppenvoll sind, denken alle, es müsse ein besonders gutes kleines Café sein und die Sache wird zum Selbstläufer.
Sydow dachte, während die Brille langsam wieder aufklarte, an andere Selbstläufer, aber so auf die Schnelle fiel ihm gar keiner ein.
Er dachte, bis die Brille vollständig wieder aufgeklart war, proppenvoll ist ein absolut ekelhaftes Wort. Er dachte an andere, weniger ekelhafte Worte, aber nicht mal so was fiel ihm ein. Er dachte solchen und anderen überflüssigen Quatsch und ließ es bleiben. Es war nur eine Überbrückung gewesen, bis die Brille wieder aufgeklart war, er hätte es genauso gut sein lassen können.
Hör mal, sagte Stanjic, wegen den Astronauten –
Kommt schon noch, warte mal, Sydow schob den leeren Teller weg und richtete sichs ein, ausführlicher zu werden.
Es war warm und roch gut nach Kaffee und Hefezopf. Er knöpfte sich den Mantel auf und wickelte diesen Schal vom Hals, wickelte diesen Schal vom Hals wickelte diesen – es nervte kolossal, dieser elendslange Schal, er nervte einfach, der Schal war, ungewickelt und entrollt, unverschämt lang, sicher an die zweieinhalb Meter, eher mehr, und kolossal, auch kolossal war ein bescheuertes Wort, heute fielen ihm nur grauslige Wörter ein, proppenvoll, kolossal, kolossal sagte kein Mensch.
Er stopfte den Schal in den linken Mantelärmel, natürlich passte gar nicht alles rein, natürlich nicht, sagte er vor sich hin, wie sollen drei Meter Schal in 80 cm Ärmel passen. Dieser Schal, er pulte den Schal wieder aus dem Ärmel und knüllte ihn so gut es ging zusammen, aber es ging nicht gut, er knüllte ihn also nicht zusammen. Er klemmte ihn unter den Arm, dieser Schal ist ein Skandal, wenn ich nicht so ein netter Mensch wäre, würde ich meine Oma darin einwickeln und erst im Frühjahr wieder auswickeln. Das würde sie lehren, unbescholtene Bürger als wandelnde Spulen zu verwenden, sie hätte dann einfach ein bisschen Zeit zum Nachdenken.
Er zwängte sich zwischen den voll besetzten Tischen durch, Herrgott, sagte er entnervt, vis-à-vis wäre ein hektargroßes Kaffeehaus, Platz genug zum Versteckenspielen mit den Kellnern, aber nein, ihr müsst euch hier herinnen auf dem Schoß sitzen, schon klar. Er kämpfte sich durch bis zur Theke, hängte seine Sachen links daneben an die Garderobe und wickelte ausführlich den Schal um den ganzen Ständer. Er nahm sich eine von den Zeitungen mit herüber.
Er sah seine Oma zwischen den Tischen herumgehen, frisch onduliert, aber das nannte man vermutlich überhaupt nicht mehr so. Er hatte keine Ahnung, wie man das jetzt nannte, seine Oma jedenfalls ging zwischen den Tischen herum und sah adrett aus, aber auch adrett sagte man nicht mehr, er haute sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Adrett, das nennt sich dann Neue Deutsche Literatur, würde ich Noch Neuere Deutsche Literatur studieren, sähe sie womöglich flott aus, wäre ein heißer Feger, und ich, Flegel, lümmelte in zwielichtigen Kaschemmen. Die deutsche Literatur, sagte er, krankt an einem chronischen Hinkebein, kommt einfach den vielen neuen Büchern nicht hinterher, die im Schweinsgalopp die Äonen durchmessen.
Er blätterte ein bisschen durch die Zeitung, das Wetter blieb, wie es war, wieso auch nicht. Deutschland hatte so seine üblichen Probleme, wie immer rang es mit seiner Identität, Europa: die üblichen Schwierigkeiten, die Gurken zu krumm, der Euro zu schwach und alte Tomatensorten hatten keine Chance, Europa stritt über die Türkei, das Übliche eben, die Welt, sie drehte sich weiter, die bekannten Themen. Einer Astronautin entglitt bei einem Außeneinsatz an der Internationalen Raumstation ISS ihre Werkzeugtasche, flog davon. Seither tauchte sie regelmäßig am Nachthimmel auf. Derzeit, teilte die NASA mit, überschwebe sie gerade Europa und wurde von einem Hobbyastronomen dabei gefilmt, wie sie am Stern Eta Pisces im Sternbild Fische vorbeizog, offensichtlich entschlossen auf dem Weg zum Widder.
Ach so, sagte Stanjic, apropos Astronauten.
Ich bin überhaupt noch nicht fertig, rief Sydow, das war quasi erst das Vorwort, es kommen noch lauter wichtige und interessante –
Kannst du deiner Oma erzählen, Stanjic war klar, jetzt oder nie, apropos Astronauten, sagte er.
Vergiss es, sagte Sydow.
Stanjic stand auf und holte sich eine Zeitung, schlug sie auf. Von mir aus, sagte er, er lehnte sich zurück, hielt sich die Zeitung vors Gesicht, aber ohne mich.
Man kann nicht sagen, dass Stanjic nicht eine gewisse Entwicklung genommen hätte. Ich habe in meinem letzten Bericht, Verlangen nach Drachen, einen, wie ich finde, ganz gelungenen Einblick in Stanjics Charakter gegeben. Sicher, er war immer ein smarter Typ. Aber so wahnsinnig schlapp! Doch Gott sei Dank: Die Krise weckt im Menschen oft die erstaunlichsten Fähigkeiten und er, in seiner gebeutelten Heimat nun keineswegs als Vielredner, als eloquenter Sprachjongleur bekannt, erkletterte hier in der Fremde hurtig die Höhen des eifrigen Schwätzens, hatte er bis anhin eher schwermütig das Schicksal über sich entscheiden lassen, griff er neuerdings kurzerhand hinein ins Geschehen, tunkte wacker seine Hände in die Ponderabilien und nahm beherzt den Faden an sich. Man muss allerdings anmerken: Hätte er nicht das Lebensruder endlich an sich gerissen, er wäre mit zweien wie Sydow und Glaser innerhalb kürzester Zeit ganz einfach auf der Strecke geblieben, wäre untergegangen wie ein Sack Kartoffeln im weiten Ozean, und fragen Sie nicht, wie der dorthin gekommen ist.
Also, für ihn mag es ein wichtiger Schritt sein in puncto Autonomie und Selbstbestimmung, für alle anderen, die auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, wenn einer erst mal so richtig in Fahrt kommt, für die unter uns, die, gleich mir, in völligem Unvermögen, einen gewaltigen Redeschwall zum Stoppen zu bringen, sitzen bleiben wie erschlagen, für uns alle geht hier die Sache weiter. Oder, wie Sydow sagen würde, apropos Wetter.
Wieso Wetter, sagen wir, haben wir was verpasst?
Kann schon sein, sagte Sydow, also: Das Wetter blieb, wie es war, wieso auch nicht. Deutschland hatte so seine üblichen Probleme, wie immer rang es mit seiner Identität, Europa, die üblichen Schwierigkeiten, die Gurken zu krumm, der Euro zu schwach und alte Tomatensorten hatten keine Chance, usw.
Auch der Weltraum hatte, wie man sehen konnte, so seine Probleme, er blätterte sich durch. Wirtschaft, es ging bergauf oder bergab, es wurde gewarnt, es wurde prophezeit, Manager erörterten ihre jährlichen Haushaltsausgaben und kamen zu dem Schluss: Ja, 30 Millionen Lohn sind gerechtfertigt, Sydow ging über zum Sport: Die einen rannten einem Ball hinterdrein, die andern stopften ihn in ein Netz, wieder andere droschen auf ihn ein, schlugen ihn mit fantasievollen Geräten über Platten und Plätze und in Löcher, es schien der Ball dem Sport so einige Probleme zu machen, aber man kämpfte unverdrossen.
Berlin: Bei den Schnellbahnen der öffentlichen Verkehrsbetriebe gingen während der Fahrt die Türen auf, Reisende fielen hinaus, die Türen gingen wieder zu. Die Vorsitzenden der öffentlichen Verkehrsbetriebe sagten, sie könnten sich das auch nicht erklären.
Vermischtes: Das Amt für Statistik rechnete vor, es seien im letzten Jahr rund 20000 Kinder weniger auf die Welt gekommen als im Jahr davor und damit wiederum nur halb so viele wie vor 50 Jahren. Das liege, vermuteten Experten, zum einen daran, dass Frauen weniger Babys bekämen.
Das liege, er las den Artikel ganz langsam und sorgfältig noch einmal, vermuteten Experten, zum einen daran, dass Frauen weniger Babys bekämen. Er blätterte eine Seite vor, blätterte zurück, hm, sagte er nachdenklich. Er nahm die Brille ab und begann sie in seinem Pullover zu reiben. Er schaute mit der vermeintlichen Konzentriertheit der Kurzsichtigen in die Kuchenvitrinen, putzte sehr gründlich seine Brille, was, wie er feststellen musste, als er sie wieder aufsetzte, wirklich nichts besser machte, es war ein Wollpullover.
Auch die Misere beim Kindermachen hatte sich dadurch komischerweise nicht verändert, was ihn, angesichts der Logik des Artikels, eigentlich wunderte.
Zum einen, sagte er, zum andern, er nahm die Brille wieder ab, hauchte sie an und zog sein Unterhemd aus der Hose, polierte an den Gläsern und schaute konzentriert die Schokoladenkuchen an.
Anna kam schon wieder mit einem neuen Tablett aus der Küche, lauter Schokoladenkuchen, sie öffnete die Vitrine und holte eine der leeren Tortenplatten heraus, hallo Frederik, sagte sie.
Anna? Er drehte den Kopf, kniff die Augen zusammen, bist dus? Er ging nah an sie heran, hallo Anna.
Anna – sie heißt im Nachnamen übrigens Snozzi, aber sie trägt es mit Fassung – steckte in ehrgeizig kurzen Hosen und gestreiften Strümpfen, mit Brille hätte er das genau gesehen, so zogen die Schenkel als wunderbar verträumte Schemen an ihm vorbei, in einer Art Wischtechnik.
Bringst du frischen Kuchen?
Den beste der Stadt, sagte Anna Snozzi, sie hatte die vollen Platten hineingeschoben und schloss die Glastür, aber erzähls nicht weiter, sonst rennen sie uns hier die Bude ein.
Von mir kein Wort zu niemandem, sagte Sydow, er schloss den Mund ab und warf den Schlüssel weg, ich schweige wie ein Grab, ich bin froh, dass ich das Café für mich alleine habe, es wäre schlimm, wenn diese wohltuend gähnende Leere hier sich in ein proppenvolles zu kleines Lokal verwandelte.
Er widmete sich wieder seiner Brille, zum einen, sagte er, zum andern. Zum einen liegt es daran, dass die Frauen weniger Babys bekommen. Zum andern liegt es daran, dass die Männer ihre Frauen nicht mehr finden, weil sie wegen der reinwolligen Strickpullover ihrer überdominanten Omis so verschmierte und verkratzte Brillen haben und hilflos und blind durch öde, frauenfeindliche Gegenden irren und versehentlich und aus Verwechslung sich an unschuldigen Rehen vergreifen und zu verzweifelten Sodomiten werden, was der Geburtenrate, warnen Experten, vermutlich nicht förderlich sein wird.
Vielleicht aber auch schon. Er setzte die Brille wieder auf, suchte nach seiner Frau, aber die war auch mit geputzter Brille nicht da. Er hatte auch mit geputzter Brille keine Frau, was er für sowohl bedrohlich als auch bedenklich und zu allem Überdruss der Geburtenrate nicht förderlich erachtete. Er schaute kritisch auf den Artikel, Brille geputzt, Frau nicht da, sagte er zu den Experten, was nun? Euch mangelt es an Babys? Ich wars nicht. Schickt die Frauen zu mir!
Ich wusste doch, sagte Stanjic, er ließ die Zeitung sinken, ich wusste doch, es würde um Frauen gehen.
Astronauten, es geht um Astronauten.
Ja, Stanjic wurstelte das Blatt zusammen, knüllte es weg, du fängst bei Astronauten an und landest unweigerlich bei den Frauen. Du könnstest auch mit allem möglichem anderen anfangen und landetest dann immer bei den Frauen, du fängst immer mit allem Möglichem anderen an, völlig wahllos. Ist dir aber ganz egal, ist ein prima Einstieg, denkst du dir, um schön über dein Lieblingsthema zu reden, Frauen.
Unsinn, das liegt in der Natur der Sache.
Welche Natur, was für eine Sache.
In der Frauennatur, die versteckt sich, gut getarnt, in den abgelegensten Sachverhalten, kaum hat man sich darein vertieft, springt sie heraus wie ein Schachtelteufel und sagt, ich war vorher schon da.
Die Natur.
Ja.
Springt heraus.
Genau.
Und ist immer vorher schon da.
Kannst du nicht ernsthaft bestreiten. Kannst du in der Bibel nachlesen.
Und zudem, sagte Stanjic, er fand das auffällig, wo sind wir eigentlich in diesem Unsinn, wo ist Simon, wo bin ich?
Nicht da, sagte Sydow.
Wie nicht da, wir sind doch immer da.
Eben nicht. Keine Ahnung, wo ihr euch herumtreibt, jedenfalls habt ihr mich an dem Abend vollkommen hängen lassen. Vermutlich bist du durch Moabit geirrt und hast dich gewundert, dass hier alles so fremd und neu aussieht, und Simon ist, seit er sein neues Programm fährt, sowieso nie da, wenn man ihn braucht. Hockt in seiner Wohnung und freut sich über die Nähe zum Wald, bisschen Früchtetee. Aber jetzt hör zu, ich war gerade am Zeitunglesen.
Ich bin gerade am Zeitunglesen, sagte Stanjic.
Echt? Sydow betrachtete den Haufen Papier, interessante Technik, österreichisch? Ihr habt einfach den Dreh raus, Wahnsinn. Aber lass dich nicht stören, Bildung ist ja so wichtig. Weiter im Text, ich war gerade am Zeitunglesen, in typisch deutscher, dröger Manier, Seiten umblättern und so.
Er schlug die Seiten um, schon wieder ein Bus mit einer gesamten Schulklasse ausgebrannt, wir können uns das, sagten die Vorsitzenden der Verkehrsbetriebe, auch nicht usw., die Vorsitzenden der Verkehrsbetriebe konnten sich so was einfach auch nicht erklären.
Und dabei: Kinder sind in unserem Land ein rares Gut, sagte Sydow, die Geburtenrate geht stündlich zurück, wir können uns, sagte er, diese Verkehrsbetriebe im Grunde gar nicht leisten, unsere Männer ziehen, bebrillt und blind, geschlossen durch die Fauna und begatten verdatterte Rehe, die Frauen würden schon Kinder wollen, grübeln aber noch, von wem, und wissen nicht, wo sie mich finden können, weil ich in einem Schal gefangen bin und das kleine Café wegen hartnäckiger Gerüchte im Umlauf so ekelig proppenvoll ist.
Die armen Frauen, sie fragen sich, von wem sollen wir die Kinder kriegen, von den Experten?
Die Experten, sie haben keine Zeit, sie müssen in ihren Forschungszentren forschen oder finden, da sie immer diese nicht optischen Chemiebrillen tragen vom Experimentieren, nicht einmal den Weg in die Wälder, um neue Expertisen anzustellen. Sie wollen in die Wälder und landen in der Mensa. Sie landen dann einfach immer in der Mensa. Sie schauen, mit den nicht optischen Chemiebrillen und der vermeintlichen Konzentriertheit der Kurzsichtigen, in die Kuchenvitrinen in ihrer Expertenmensa, sehen Schokoladenkuchen und denken aber, es sind die Kinder von Thinktanks