Ende der Sommerzeit

Cover

Inhaltsverzeichnis

für

PLAYBOY:

Nabokov: Ob ich was worden bin?

PLAYBOY: Ob Sie sich einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen haben.

Nabokov: Warum das, um Himmels willen?

PLAYBOY, Januarausgabe, 1964

Als

Im

Im Unterschied zu versprengten Einzelgängern der Erstausgabe, die womöglich noch immer unentdeckt irgendwo vor sich hin dämmern, kann man sich heute ohne Probleme diesen Roman in einer Neuausgabe beschaffen.

Auch die oben aufgeführte Skizze ist relativ leicht zu finden. Man muß im Internet nur unter den Suchbegriffen »This map, hand-drawn by Nabokov, shows Kolberg« nachschauen, und schon flimmert dieser Lageplan auf.

»Diese von Nabokov handgezeichnete Karte«, so erfährt man aus der englischsprachigen Bildunterschrift, »zeigt Kolberg am Wolziger See, wo er, Véra und ihre Cousine Anna Feigin 1929 Land gekauft hatten. Das Grundstück bildete die Mord-Szenerie in Verzweiflung.«

Auf

Sollte also jemand auf die Idee verfallen, anhand dieser Skizze Nabokovs damaliges Grundstück und jene Stelle im Wald zu suchen, wo der Mord geschah, müßte er sich vorher die Mühe machen, das Geheimnis dieser verdrehten Karte zu entschlüsseln.

Oder aber man versucht es ganz anders und hält sich an den Roman selbst. In dem hat Nabokov zahlreiche, gut sichtbare Wegweiser aufgestellt und auch einige versteckte Hinweisschilder angeschraubt.

Folgt man ihnen, wird man bald sehen, wohin das führt.

Es

Ich bewohnte in der kleinen Stadt, die zum College gehörte, ein weißes Holzhaus am Ende der Mainstreet, schon fast draußen, am Rande der langgestreckten, rechteckigen Maisfelder, fuhr jeden Tag endlose, schnurgerade Asphaltstrecken mit einem geliehenen Fahrrad, meist zu einem See, wo ich von einer Bank aus staubige Waschbären beobachtete, und mußte nur einmal in der Woche, am Montagabend, mit einer übersichtlichen Gruppe hochmotivierter Studenten über deutsche Literatur und Geschichte reden; so stand es in dem Vertrag mit dem German Department, das mich für das Frühjahrssemester 2009 als ausländischen Gastlektor eingeladen hatte. Goethe (mit zackigem Ordensstern), eine buntgescheckte Oberflächenkarte Deutschlands sowie Schloß Schwanstein aus luftig romantischer Höhe schauten dabei von den Wänden des Seminarraums

Mein Postfach im Keller des College-Hauptgebäudes war bis auf Einladungen zu Grillpartys, Ankündigungen von Konzerten des Studentenorchesters und die wöchentlich verbreiteten allgemeinen Hinweise der Campus-Verwaltung stets auf vorbildliche Weise leer geblieben, so daß ich, wenn ich 12 Uhr mittags ins College kam, die tägliche Post mit einem einzigen Handgriff erledigen konnte. Neben dem Fächerkasten stand praktischerweise ein von der rastalockigen Öko-Gruppe des Colleges gestifteter Altpapierkarton.

Um so erstaunter war ich, als ich eines Tages einen Brief in meinem Fach fand, einen richtigen Brief. Der Umschlag war blaßgelb. Es handelte sich um eine Einladung der Russisch-Abteilung zum Vortrag »V. Nabokovs Berliner Jahre im Spiegel seiner Romane«. Krakelig unterschrieben hatte den Brief Professor Galin.

In den ersten Wochen meines Aufenthalts hatte ich ihn, wenn wir uns zufällig am späten Montagabend nach meinem Seminar auf dem langen Flur im er-sten Stock begegnet waren, nur als »Gregory« gekannt: ein großer, wuchtiger Mann mit einem störrischen, rötlichgrauen Haarkranz. Sein rostiger Vollbart und das an einer Kette vor der erdbraunen Jackettbrust baumelnde imposante Gestell einer eckigen, goldenen

Er »bewohnte«, anders kann man es nicht nennen (in der ganzen Zeit hatte ich ihn nie außerhalb des Campus zu Gesicht bekommen), ein kleines, quadratisches Büro im ersten Stockwerk, fast am Ende des Gangs.

Stand die Tür zu seinem Büro offen, was selten der Fall war, fiel der Blick zuerst auf eine mattgolden schimmernde Ikone, eine Gottesmutter – in ihren Armen saß aufrecht ein Kind, es sah aus wie ein geschrumpfter Erwachsener. Die Gottesmutter hielt ihre sanfte, feingliedrig ausgestreckte Hand über Gregorys Kopf, so als wollte sie den zufällig Vorüberkommenden damit sagen: Schaut nur auf diesen fleißigen Mann, von früh bis spät (und wahrscheinlich auch von spät bis früh) sitzt er an seinem Apple-Computer und arbeitet – woran? Das weiß niemand.

Dann, bei einem Empfang des Rektors anläßlich der Einweihung der neuen Tennisanlage hinter der Eisenbahnlinie, an der Ausfallstraße nach St. Helena, erfuhr ich es schließlich doch.

 

Wir standen ein paar hellblaue Cocktails lang nebeneinander im holzgetäfelten Kaminraum der James jr. Hall

»Warten wir es ab«, sagte Gregory, »das geht hier von einem Tag auf den anderen, gerade noch Frost – und plötzlich ist Frühling, nein: Sommer, und schon laufen alle in Shorts herum, das ist ganz anders als bei Ihnen in Deutschland.«

Gregory zeigte sich sehr interessiert daran, daß ich aus Berlin kam. Als er mir verriet, daß er Nabokov-Forscher sei, und ich daraufhin kurz und kennerisch die Augen schloß und den Mund spitzte, betrachtete er mich prüfend über den Rand seines Cocktailglases.

»Sie können übrigens auch Grigori zu mir sagen«, sagte er. Wir prosteten uns stumm zu, ließen dumpf die Gläser zusammenklacken.

»Und Sie? Was verbindet Sie eigentlich mit Nabokov? Weshalb lesen Sie ihn?«, fragte er mich.

Ich wischte mir mit dem Handrücken über den Mund.

»Oscar Wilde hat einmal gesagt: ›Mein Geschmack ist denkbar simpel‹ …«

»… ›einfach immer nur das Beste!‹«, ergänzte Grigori. Er nahm noch einen kleinen Schluck. Aufmerksam sah er aus dem Fenster.

Eigentlich, so erklärte er, beschäftigten ihn im Moment

Mir fiel, passend dazu, ein Zitat Charles Kinbotes ein, des sinisteren Herausgebers von Nabokovs Meisterwerk »Fahles Feuer«: »Es ist der Kommentator, der das letzte Wort hat.«

Da löste sich die Spannung in seinem Gesicht, und bald lösten sich der Park, die monströsen dunkelroten Gardinen und alles Übrige, das uns bis dahin umgeben hatte, in Luft auf. Wir hatten unser eigenes Weltreich betreten.

Kein Laut des Smalltalks drang mehr zu uns vor; wir waren in einem Dialog, wie er so vielleicht nur unter alten Nabokovianern möglich ist: ein schnelles Frage- und Antwortspiel, als jeweilige Kommentare genügten ein wissendes Lächeln, eine leicht angehobene Augenbraue oder ein fragend verzogener Mundwinkel.

Grigori war Mitglied der Freien Nabokov-Assoziation Mittlerer Westen, die, so deutete er es an, seit Jahren eigene Wege beschritt, sich strikt von der »Nabokov-Mafia« abgrenzte und deshalb in einer gewissen Konkurrenz oder, genauer gesagt, Opposition zu den entsprechenden, nur eben sehr viel größeren, etablierten Clubs an der Ost- und Westküste stand.

Seine Detailkenntnisse waren frappierend, nicht nur

Meine sehr viel geringere Reputation konnte ich immerhin damit aufbessern, daß ich im Unterschied zu ihm bereits Nabokovs Geburtshaus in St. Petersburg besucht hatte, in der Morskaja-Straße – »Bolschaja morskaja 47«, wie er halblaut, mit geschlossenen Augen einen inneren Stadtplan auseinanderfaltend, präzisierte –, und auch schon im Montreux Palace Hotel gewesen war, wo Nabokov von Anfang der 60er Jahre bis zu seinem Tod 1977 in einer kleinen, möblierten Wohnung gelebt hatte.

Diese Suite, das wußte Grigori, war nach Nabokovs Tod umgebaut worden. Ein Besuch lohnte sich nicht mehr.

»Waren Sie da eigentlich auch an seinem Grab?«, wollte er von mir wissen.

Ich verneinte.

Wenn man über jemanden etwas erfahren will, sind Friedhöfe mit Abstand der uninteressanteste Ort. Dort sind die Menschen im allgemeinen tot. Besucht man

Viel aufschlußreicher sind doch die Orte, wo jemand gelebt hat, wo man sehen kann, wie das Licht ins Fenster fiel, welche Bäume vor dem Fenster standen, ob eventuell Blätter flirrende Schatten auf seinen Schreibtisch gesprenkelt hatten, überhaupt: wie die Landschaft oder auch eine Stadt jemanden geprägt hat. Auf dem Friedhof prägt einen nichts mehr.

»Dann kennen Sie sicher auch nicht die absolut rätselhafte Inschrift auf seinem Grabstein«, sagte Grigori, »Vladimir Nabokov / Ècrivain 1899–1977.« Er sah mich fragend an: »Nabokov, der nie ein Wort zuviel verwendet hat – warum fügt er da ›Schriftsteller‹ hinzu? Das weiß doch sowieso jeder.«

»Hm. Das hat er ja nicht selbst geschrieben.«

»Richtig. Aber da er immer ein paar Züge vorausgedacht hat, nehme ich nicht an, daß er das dem Zufall überlassen hat.«

»Vielleicht«, vermutete ich halbherzig, »… Bescheidenheit?«

»Ich bitte Sie! Doch nicht bei Nabokov. Man kann ihm ja alles mögliche zum Vorwurf machen, Bescheidenheit gehört mit Sicherheit nicht dazu.«

Er sah wieder aus dem Fenster. »Ich denke, das zeugt, noch über das Grab hinaus, von einer gewissen Skepsis, was die Nachwelt betrifft. Oder –«, er nahm den