Prosa bei Lektora
Bd. 28
Dritte Auflage 2013
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Cover: Isa Wiethölter
Lektorat: Lektora GmbH
Satz: Lektora GmbH
ISBN: 978-3-95461-001-3
Cover
Prosa
Stadtrandnotizen – verzerrte Skizzen von zeitverzögerten Zugvögeln
Papierblütenstaub
Joseph
Die Geräusche des Glaubens
Fiberglasscheiben
Bordsteintexturen
Blaue Noten und leiser Zweifel
Gießkannen sind grün
Der Leuchtturm
Koriander & Kardamom
Das karminrote Kleid
Stadt ohne Bilder
Pastell
Das Fenster
Herzkranzgefäße
Der Fortgang der Symmetrie
Wellblechblüten
Lyrik
Nuancen
Hyazinthen und Zinnsoldaten
Septemberabend
Feldweg
Staub
Salz und Rauch
Fadenregen
Herbstweh
Scherben und Orchideen
Polaroid
Kargheit
Obscura I
Obscura II
Schwarzweiß
Nur eine Zeile
Im U-Bahn-Schacht
Konstanz
Sandgravuren
Marmor
Mensch aus Glas
Spiegelglassplitter
Das Grammophon
Schlieren
Traumverlorenheit
Blütezeit
Graphitstaub
Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen: Eine Geschichte von zwei Menschen, die sich auf wundersame Art begegnet sind, ohne sich jemals gesehen zu haben.
Zirka vierundzwanzig zuckende Zeigerschläge auf Zahlen des zyklischen Ziffernblattes der Zimmeruhr im Zeitraffer. Randnotizen. Zimtstaubzeichnungen auf Zuckerpapier. Skizzierte Zweizeiler. Wie Zement, zentnerschwer. Zwei zaghafte, zögernde Züge an der Zigarette. Zwischen zitternden Zeilen zaudernder Zauber.
Herr Z. skizzierte neben zartrosa Zinnfiguren einen azurblauen zwitschernden Zugvogel. Und der flog plötzlich los. Zugvogelluft- pirouetten. Er sah Konturen am Himmel, die langsam verschwanden. Sie zerflossen in einer warm-wonnigen Wattewolkennichtigkeit. Zugvogelflügelschlag. Kaum hörbar. Ganz leise.
[Wir schreiben Stadtrandnotizen in Schnee- kugelwelten. Unter Glaskristalldächern im Schneegestöber schmieren wir Schlieren und Schriftzeichenspuren mit Stiefelsohlen in schwarzweißen Froststaubpulverschnee. Und dann kommen diese Kinderhände, nehmen die Schneekugelwelt und schütteln … und die Spuren sind wieder fort.]
Diese Stadtrandnotizen, Wörter und Zeilen in ihrer Nichtigkeit, sie verschwinden wie Sandgemälde im Wellensaum. Plötzlich ist alles fort. Und trotzdem schreiben wir, schreiben und schreiben …
Kritzeln kursive Serifen auf staubige Schiefertafeln oder zeichnen mit unseren Fingerspitzen in blaugraues Tauwasser. Schmieren Schlieren auf schimmernde Scheiben. Flimmernde Seiten enden in rostroten Regenrinnen als Ori- gamipapierfiguren.
Jedenfalls war da nun dieser Zugvogel, dieses Wort. Es flog über die Dächer der Stadt. Und da war nun dieser weitere Herr. Auf einer Parkbank am Stadtrand, dort am Feldweg, saß der einfarbige Lautmaler. Er lauschte dem Klang der Zugvögel. Herr O. war Vogelforscher und Phonologe.
Der monochrome, onomatopoetische Ornithologe lauschte dem sonoren Ton, den monotonen, trostlosen Monologen und Strophen der Mondboten dort oben.
Zugvogelluftpirouetten. Taumelnder Tanz in transzendentaler Obdachlosigkeit. Er saß dort und zeichnete auf seinen Zettel verzerrte Skizzen von zeitverzögerten Zugvögeln.
Der Vogelforscher transkribierte die Laute der Vögel in Notensysteme, schrieb die Partituren des Zugvogelorchesters in Stromkabellinien. Stadtrandnotizen in Stadtrandgebieten. Aber von wegen Nichtigkeit …
Denn denken Sie noch mal an Herrn Z. vom Anfang der Geschichte.
Er liebt diesen Buchstaben. Diesen einsamen Buchstaben am Rande des Alphabets. „Wer braucht schon das Z?“, sagte mal jemand. Und Herr Z. dachte sich: „Wenn der wüsste!“ Der hat wohl noch nie Zimtstaub gesehen? Oder hier, im flackernden Licht … diese zitternden Zeilen, diesen zaudernden Zauber. Das schönste Wort auf der Welt ist „zaudern“. Es macht auf dem Blatt nicht viel her, aber gesprochen ist es die Welt. „Zaudern“.
Und Herr Z. wünschte sich, dass ein anderer Mensch mal dasselbe Glück empfinden könnte, wenn er dieses Wort sieht. Und so kam es, dass er eines Tages das Wort in schönen Lettern mit dem Bleistift in Schreibstift auf eine perforierte Postkarte schrieb. Und diese Postkarte steckte er dann in ein altes Buch. „Zugvögel“. Und dann entschloss er sich, das Buch zu verstecken und wählte als Ort dafür diese schöne dunkelgrüne Holzbank am Feldweg, dort bei den Windmühlen.
Der monochrome, onomatopoetische Ornithologe lauschte dem sonoren Ton, den monotonen, trostlosen Monologen und Strophen der Mondboten dort oben.
Plötzlich fand der lautmalerische Vogelforscher unter der Parkbank ein Buch. Er hob es auf und fand darin eine Postkarte. Auf ihr nur ein Wort. Er las es laut vor sich hin: „Zaudern“. Er lächelte.
Ich war damals vier Jahre alt, als wir uns das erste Mal begegneten. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich ihm damals von meinem großen Lebenstraum erzählt habe. Mein Urgroßvater. Er ist früh gestorben. Und bis heute weiß ich leider nur allzu wenig von ihm, obwohl meine Mutter mir viel von ihm erzählt hat und sich sicher war, dass wir sehr viel gemeinsam hatten. Er sei sehr schweigsam gewesen und hätte viel geschrieben. Sein Beruf war der eines Uhrenmachers. Ich habe viele seiner Urkunden und Zertifikate gesehen. Es muss ein wundervoller Beruf gewesen sein. Damals gab es noch diese schönen, wertvollen kleinen Taschenuhren. In ihnen verstaut ein winziges Räderwerk, sensibelste Mechanik und sehr viel Arbeitszeit. Im Keller seines Geschäfts hatte er seine Werkstatt. Er nannte es Atelier, doch heute würde man das nicht mehr sagen. Ein Atelier steht für Kunst und eine Werkstatt für Handwerk. Aber damals war das Uhrenmachen eine Kunst, jede Uhr ein Unikat und ein Werk mehrerer Tage. Mit seinen filigranen Händen schraubte er an diesen fragilen Ziffernblättern, den Zahnrädern und Metallstiftchen. Meine Mutter stand oft wortlos daneben und bewunderte seine Behutsamkeit und Ruhe. Mein Urgroßvater war nicht sehr wohlhabend, er musste mit dem wertvollen Material dementsprechend sehr sorgevoll umgehen, durfte mit den kleinen Rädchen und Schräubchen nicht verschwenderisch sein. Er liebte seinen Beruf über alles. Ich bewundere diese Arbeit sehr.
Als Kind hatte ich einen großen Traum. Ich wollte Gießkannen herstellen und dann ein Gießkannengeschäft besitzen. Ich habe Gießkannen geliebt. Besonders die grünen. Ich liebe sie immer noch, irgendwie. Nun ist viel Zeit verstrichen und ein Gießkannengeschäft besitze ich nicht. Nun, den Großteil meiner Zeit verbringe ich mit dem Verfassen von Geschichten und lyrischen Texten. Ich weiß nicht, ob es meine Berufung ist, vielmehr geschieht es aus einem inneren Zwang. Aber ich denke schon, dass es mich glücklich macht. Manchmal jedoch komme ich an einen Punkt, an dem ich schier verzweifle. Der sinnliche Makel der Sprache, er macht mir schwer zu schaffen. Uhren ticken und Gießkannen plätschern. Uhren riechen nach Öl und Leder, Gießkannen nach Plastik, nach Lack oder einfach nur nach abgestandenem Wasser. Uhren kann man um seinen Arm oder in der Manteltasche tragen und Gießkannen hält man in der Hand. An Uhren liest man die Zeit ab und mit Gießkannen bewässert man die Blumen.
Und was sind meine Wörter? Papierblütenstaub. Sie haben keine definierte Funktion, keine Bestimmung, weder haptische noch greifbare Eigenschaften. Ihr Wesen erfasst sich erst in ihrer Vorstellung. Ich kann nur Geschichten schreiben. Und wenn jemand käme und gerne eine Geschichte über eine Gießkanne hören würde, dann müsste ich ihn womöglich enttäuschen, weil seine Gießkanne blau lackiert sein sollte, meine jedoch wäre grün. Ich kann Gießkannen sehr schön und detailliert beschreiben, aber sie sind immer grün. Meist stehen sie in einem Vorhof auf einer Fensterbank. Vor dieser Fensterbank steht eine Schubkarre, gefüllt mit morschem Holz. Eine alte Frau hängt im Garten die Wäsche auf, bevor sie die Blumen und Kräuter gießt. Gießkannen sind grün. Grün sind sie. Blau sind sie selten.
Ich mag die Vorstellung von klar definierbaren Dingen, und deswegen wollte ich Gießkannenverkäufer werden. Ich stellte mir vor, wie die Menschen in mein Geschäft kämen und dann staunen würden, welch schöne und seltene Gießkannen ich doch besäße. Und schließlich würden sie eine mitnehmen, weil daheim ihre Pflanzen nach Wasser lechzten. Damals habe ich mir vorgestellt, dass mein bester Freund Regenschirmmacher wird. Und wenn es dann vom Himmel gießen würde, weil der liebe Gott zu viele Gießkannen bei mir gekauft hätte, würden die Menschen zu ihm laufen und seine prächtigen farbenfrohen Regenschirme bewundern. Aber jetzt kann ich Gießkannen, Regenschirme und Taschenuhren nur schreiben. Aber ich liebe Geschichten und ich schreibe sie meist sehr sorgsam und nehme mir viel Zeit dafür.
Mein Urgroßvater hat sich auch viel Zeit für seine Uhren genommen. Er hat seine eigene Uhr nur sehr selten benutzt. Und wenn meine Mutter damals sagte, dass uns etwas Wesentliches vereint, dann unser Gefühl für Zeit und die Behutsamkeit, wie wir mit unserem Material umgehen. Meine Buchstaben können nicht weniger werden, wenn ich sie aufschreibe, aber ich stelle mir das oft vor und ich scheue mich davor, die ganz großen Worte zu verwenden, weil man davon nicht viele hat. Frieden ist ein großes Wort. Ich schreibe es nicht oft, denn ich weiß nicht, wie das geht: Frieden. Scheitern ist auch ein großes Wort.
Lieber Urgroßvater, leider hat der liebe Gott noch keine Gießkanne bei mir gekauft. Mittlerweile weiß ich nicht mehr so recht, ob es ihn wirklich gibt, aber wenn, dann müsste ich ihn enttäuschen. Ich könnte ihm nur meine Vorstellung einer Gießkanne schenken. Meinen Traum von damals habe ich nie realisiert. Nun arbeite ich mit Buchstaben und Wörtern. Doch ich habe mir fest vorgenommen, das Schreiben stets behutsam anzugehen und die Buchstaben nicht zu verschwenden. Ich werde niemals Geschichten schreiben, die in den Menschen keine Bilder und Vorstellungen erwecken können, niemals Geschichten schreiben, um Geschichten zu schreiben. Ohne Gefühl, Geruch und Klang. Die Menschen sagen oft, meine Geschichten wären sehr traurig. Keiner kann sich vorstellen, wie sehr ich gelächelt habe, als ich diese Worte schrieb. Deine Uhr habe ich noch immer. Gerne hätte ich dir schon damals zum Abschied eine Gießkanne geschenkt. Hier hast du sie. Ich hab dir eine geschrieben. Der Lack blättert schon etwas. Sie ist grün.