Prosa bei Lektora
Bd. 33
Zweite Auflage 2013
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 2012 by
Lektora GmbH
Karlstraße 56
33098 Paderborn
Tel.: 05251 6886809
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Cover/Artwork: Jeannette Woitzik
Cover/Typographie: Cathérine de la Roche
Lektorat: Carina Middel & Lektora GmbH
Satz: Lektora GmbH
ISBN: 978-3-95461-000-6
Cover
Der Bahnhof
Tabakblätter und Fallschirmspringer
Eine kurze Geschichte vom Glück
Sei still, alter Mann
Die Verschiebung des Schnees oder Das Lächeln der Omnibusfahrer
Eine Ahnung von Blau
Der Maler
Die Pfahlsitzer von Reykjavík
Der Geigenkasten
Lindgrün
Nylon
Die Dame mit dem roten Hut
Der Mann aus dem Erdgeschoss
Das Fenster
Einsichten eines herabstürzenden Mannes
Holzleim
Manches bleibt
Der Tag, an dem Herr Jakob vom Fenster verschwand
Der Seiltänzer
Zündhölzer
Zündhölzer II
Zündhölzer III
Acht Millionen
Zeit und Benzin
Der Globus
Primeln
Matroschka
Von Laubbläsern und Wäscheleinen
Irgendwo ist Afrika
Der Mann mit dem Schluckauf
Die Zisterne
Fliegende Fische
In der Straßenbahn
Zucker
Blassbunt
Was kann denn ich dir noch vom Schnee erzählen?
Nordwind
Moskau, linke Hand
„Einer geht jahrelang jeden Tag, bei jedem Wetter auf einen Berg, nach Feierabend, drei Stunden Marsch, und trägt jedesmal einen großen Stein mit sich. Nach vielen Jahren hat er eine riesige Pyramide gebaut. Er äußert sich nicht dazu und möchte nicht darauf angesprochen werden.“
Am Rande des Industriegebiets. Horizontkonturen von Fabrikschloten und alten Zechen. Eine verlorene und doch wunderschöne Welt. Es scheint, als liege noch immer ein hauchdünner Film von Kohlenstaub auf den Feldern.
Kleingartensiedlungen. Vor lackierten Holzzäunen wachende Gartenzwerge. Lauernde Heckenschützen. Schmale Pfade zwischen Holunder und Hibiskus.
Doch viele weitere Kilometer entfernt, da gibt es sie nicht mehr: die Gartenzwerge, die Kleingartenlauben, die Menschen. Da gibt es nicht mehr als die Felder. Wenn die gelben und grünen Flächen nicht als Zeichnungen auf den Landkarten existieren würden, dann würde man manchmal glauben, sie seien nur Kulissen, eine Art Fata Morgana, die man nur wahrnimmt, wenn man im Zug sitzt und aus dem Fenster blickt. Verlorene Paradiese. In der Spätsommerseptembersonne glitzernde Roggenfelder.
Nur die Gleise und Strommasten erinnern an den Kontakt zu einer fernen Welt, lassen die Illusion von Distanzlosigkeit bestehen. Die Stille ist manchmal nicht mehr als ein Surren.
Die rostigen Gleise der Eisenbahn. Man erzählte den Kindern damals, dass ein einziger Mann die Gleise aus flüssigem Stahl gegossen habe. Er habe sich vorgenommen, alle Städte dieser Welt zu verbinden, denn er fürchtete, sie könnten sich sonst aus den Augen verlieren. Es ist wie bei den Menschen. Manchmal sollte man jemanden an der Hand nehmen, wenn man nicht will, dass er verschwindet. Dann sei er losgezogen und habe die Schienen gegossen. Ganz alleine, im ganzen Land.
Nach vielen langen Jahren sei er wiedergekommen, habe sich auf die alte Holzbank gesetzt, kurz durchgeschnauft und gemurmelt: „Jetzt hab ich mir eine Mütze Schlaf verdient“, als hätte er soeben nur ein paar Eimer Kohlen geschaufelt oder nur mal kurz die Blumen gegossen. Aber er war über fünfundzwanzig Jahre unterwegs. Er soll dann einen halben Tag geschlafen und sich am nächsten Morgen wieder um seinen Bauernhof gekümmert haben.
„Und wie hat er den ganzen flüssigen Stahl transportiert?“, fragte eines der Kinder.
„Er hatte einen Kupferkessel dabei. Dieser Kupferkessel war sehr groß. So ungefähr.“ Und während sein Vater das sagte, streckte er die Arme so weit, wie es nur eben ging, auseinander.
„Das glaube ich dir nicht. Wie soll der Stahl denn dann hart geworden sein?“
„Na ja, er hat gepustet. Ich erzählte dir ja bereits, dass er sehr lange unterwegs war. Aber er hatte Begleitung, und zwar vom Landvermesser.“
„Vorhin hast du gesagt, er sei alleine gewesen.“
„Nein, habe ich nicht. Der Landvermesser hat jedenfalls die Schritte gezählt, und wenn er gerade nichts zu tun hatte, dann half er ihm beim Pusten. Es war eine lange Reise, denn der Landvermesser hat kurz vorm Ziel plötzlich die Zahl aus seinem Gedächtnis verloren und dann mussten sie wieder zurück und von vorne beginnen. Der Stahlgießer hat dann natürlich auf dem Rückweg auch wieder zwei Schienen verlegt. Das ist auch der Grund, warum es immer zwei Gleise nebeneinander gibt. Wenn der Landvermesser nicht so vergesslich gewesen wäre, dann wäre alles ganz anders gekommen.“
„Ich glaube dir nicht. Landkarten gibt es doch schon viel länger als Eisenbahnschienen. Warum sollte der Landvermesser denn alles noch mal gezählt haben?“
„Na ja, er glaubte den Karten nicht. Er wollte es selber herausfinden.“
„Und wie viele Schritte waren es?“
„Musst du nicht langsam ins Bett? Das erzähl ich dir morgen.“
Auch anderen Kindern erzählte man diese Geschichte. Und dann überlegten manche Väter nächtelang, wie viele Schritte es wohl gewesen sein könnten. Sie hofften insgeheim, dass die Kinder ihre Fragen vergessen würden, aber das geschah nur in den seltensten Fällen.
Manche Väter sollen die ganze weite Strecke dann noch mal zu Fuß abgegangen sein, nur um eine glaubwürdige Antwort zu haben. Natürlich kam immer eine andere Zahl dabei heraus, weil alle diese Männer Schritte unterschiedlichster Größe machten. Es war wirklich kein einfaches Unterfangen mit dem Landvermessen.
Heute sind die Kinder fort. Auch die Väter sind fort. Die meisten zogen in die Stadt, denn als die Eisenbahnen dann einmal fuhren, da war es ihnen ein Leichtes, neue Orte zu entdecken. Übrig blieben nicht mehr viele.
Zwischen Betonbauten und Industrieidyllen, da schlummern sie, die Dagebliebenen. Sie sind nicht mehr als eine verzerrt verschwommene Linie aus dem Blickwinkel eines Zugführers, ein kleiner Punkt von oben aus der Perspektive eines Zeppelins. Ein leerer Fleck auf der Landkarte, irgendwo da draußen. Die Dagebliebenen. Die Wahrhaften. Manchmal glaubt man, sie seien nicht mehr als eine Kulisse.
Und er ... er ist einer von ihnen. Er sitzt dort auf seinem Rasenmäher und zeichnet feine Linien ins Kornfeld. Manchmal schaut er auf die vorbeifahrenden Züge. Dann und wann winkt er den Kindern zu.
Vor einigen Jahren, da hat er sich mit einem Schild an die Gleise gestellt. „Amerika“ stand in schöner Schreibschrift auf der Pappe. Früher, da träumte er von Amerika. Und irgendwann später, nachdem die Züge immer wieder an ihm vorbeigefahren waren, da kam er auf eine andere Idee. Er ging in die alte Scheune und suchte etwas Holz zusammen, er trug es Stück für Stück an die Gleise und dann ...
Dann hat er sich einen Bahnhof gebaut. Einen ganz kleinen Bahnhof aus ein paar alten Brettern, Nägeln und ein wenig alter Dachpappe. Es war der kleinste Bahnhof der Welt, womöglich aber der schönste. Der Zug jedoch, er hielt hier auch weiterhin nicht. Der Mann blieb ein verzerrter Punkt, vor der Kulisse. Aber immer wieder kommt er hierher, hält ein wenig inne und beobachtet die Schienen.
Manchmal sitzt man im Zug und bekommt urplötzlich das Gefühl anhalten zu müssen. Immer dann, wenn man diesen Druck auf den Ohren hat. Immer dann, wenn die Landschaft nicht mehr ist als ein einziges verschwommenes Aquarell. Immer dann, wenn man die Felder sieht. Die Strommasten. Die Vögel.
Nur die Vögel, sie kommen noch zu Besuch. Sie setzen sich auf die Hochspannungsleitungen und singen ein leises Lied in Dur.
Es gibt sie, diese Paradiese. Fernab von Braunkohlewerken, Gaskesseln und Kraftwerken. Fernab der Schrebergärten. Fernab der Stadt, da surren sie ...
Und manchmal ist das Surren die einzige Form von Stille, die uns erhalten bleibt.
Da sitzt er nun, der alte Herr auf dem Rasenmäher, direkt neben seinem kleinen Bahnhof. Und dann fängt es ganz langsam an, zu rattern. Die Eisenbahn. Ein leises Pfeifen.
Ein kleiner Junge sitzt im Abteil, presst seine Nase fest an das Fenster und beobachtet die Landschaft. Im Hintergrund: Silos, Heuballen und Traktoren. Eine alte Schaufel lehnt an der Scheune. Die wohl schönste Form von Reduktion. Nichts als Felder. Und plötzlich sieht der Junge den alten Mann auf dem Rasenmäher direkt neben der kleinen, selbst gebauten Bretterhütte. Der alte Mann sieht den Jungen und winkt ihm lächelnd zu. Der Junge fragt seinen Vater, warum der Zug denn nicht anhält. Dort sei schließlich ein Bahnhof gewesen. Ein Mann habe daneben gesessen. Auf einem Rasenmäher.
„Bahnhöfe gibt es hier nicht“, sagt sein Vater. „Hier gibt es nur Felder.“
Früher, da wollte er nach Amerika.
„Pfeifenrauch ist eine ganz seltsame Allegorie auf das Altwerden“, hast du gesagt. So einen richtig guten Tabak müsse man erst einmal ein paar ganze Tage in die Pfeife einrauchen, bis er dann irgendwann in jede Pore des Holzes gezogen sei und dann irgendwann seine Note richtig entfalten könne.
Da gab es diese zwei Düfte in deinem Leben: zum einen der Duft von Pfeifentabak. Immer mal wieder, so ganz zwischendurch, bist du in eines dieser Tabakgeschäfte gegangen, um den milden Duft einatmen zu können. Und dann wurdest du immer gefragt, ob man dir behilflich sein könne, ob es etwas Bestimmtes sein dürfe.
„Können Sie mir eine Sorte empfehlen?“
„Nun, dieser hier ist sehr angenehm. Er ist mir der Liebste. Probieren Sie ihn ruhig einmal“, sagte der Verkäufer. „Er hat eine ganz milde, unaufdringliche Note.“
„Probieren? Nein. Ich möchte nur riechen“, hast du dann immer geantwortet.
„Riechen? Warum?“
„Nun, ich brauche den Geruch, um mich erinnern zu können. An meinen Großvater.“
„An Ihren Großvater? Warum kaufen Sie dann nicht eine Dose; so können Sie immer riechen, wenn Sie wieder einmal an Ihren Großvater denken möchten.“
„Kaufen? Nein, er hat nicht geraucht. Aber er erzählte mir, dass er den Duft von Tabak liebe und deshalb immer in die Geschäfte gegangen sei, um riechen zu dürfen. In einem Laden durfte er sogar einmal aushelfen. Einen ganzen Monat lang, wissen Sie. Aber er war kein guter Geschäftsmann. Er hat kein Geld genommen.“
„Was hat er denn dann genommen?“
„Schuhe. Er hat getauscht. Er liebte den Duft von Leder nämlich ebenfalls, wissen Sie. Aber er mochte es nicht sehr, diese Schuhläden zu betreten und die aufdringlichen Verkäufer abzuwimmeln, deswegen ließ er sie nun hierher bringen und tauschte sie ein gegen etwas Tabak. Das war schon verrückt. Und dann, nach einem Monat, als der Verkäufer wieder gesund war, kam er wieder.“
„Und was war passiert?“
„Er hatte nun ein Schuhgeschäft. Zunächst schimpfte er eine ganze Weile mit meinem Großvater. Das Lustige daran ist, dass dieser ohnehin immer ein Schuhgeschäft besitzen wollte. Und so war er letztlich doch sehr glücklich. Tabak und Leder. Verstehen sie nun, wann immer ich diese Gerüche einatme, fühle ich mich meinem Großvater wieder nah. Darf ich nun einmal riechen?“
Und schließlich durftest du. Das war wirklich großartig. Wann immer dieser Duft da war, hat er dich zurückgeholt in ein Stück Vergangenheit.
Und dann gibt es da noch die Geschichte mit diesem Plattengeschäft – ein Schallplattengeschäft in einer kleinen Seitenstraße –, eines dieser Geschäfte, in denen scheinbar immer Licht brennt, man aber niemals einen Menschen sieht. Und einmal in der Woche gingst du dann dort hinein und fragtest höflich, ob du dein Lied hören dürftest.
„Ihr Lied?“, fragte der Händler.
„Ja, Sie wissen schon. Mein Lied.“
Der Verkäufer griff unter seinen Tisch und gab dir die Platte. Du nahmst die Kopfhörer und hörtest dir dann eine ganze Weile dein Lied an. Nachdem du dein Lied zu Ende gehört hattest, gabst du dem Verkäufer die Platte zurück und dieser legte sie erneut unter seinen Tisch. Er versprach dir, dass er sie niemals verkaufen würde.
Und warum?
Na ja, den Trick hätte er wiederum von seinem Großvater gelernt. Jede Woche, wenn er kam, brachte dieser ihm ein paar Einkaufszettel vorbei – diese flüchtig gekritzelten Zettel, die man immer im Einkaufswagen findet. Pfeffer, Mehl, Kaffee ... Er sammelte sie für ihn und der Verkäufer hing sie dann auf. Er verriet ihm, auf diese Weise hätte er schon sehr viele neue Gerichte und Rezepte kennengelernt. Er kaufe mit den fremden Zetteln ein und dann versuchte er, etwas daraus zu kochen. Denn Essen, das mache ihn glücklich, sehr glücklich. Und wenn er einmal nichts aus den Zutaten kochen konnte, dann schrieb er Geschichten aus diesen Zetteln.
Jedenfalls durftest du auf diese Weise jede Woche dein Lied hören, ohne die Schallplatte kaufen zu müssen. Du hattest Angst, dass du dieses Lied zu oft hören würdest, wenn du sie kauftest. Dieses Lied – du wolltest es nicht entwerten, denn irgendwie hatte es dieselbe Wirkung wie der Tabakduft, nur dass du diesmal an deine Frau denken musstest, weil ihr bei diesem Lied immer so schön schweigen konntet.
All diese Düfte und Klänge gaben dir immer ein gutes Gefühl. Sie erinnerten dich an Ereignisse, die dir zwischendurch immer wieder einen kleinen Schub gaben, so einen klitzekleinen zaghaften Schub. Weil du wusstest, dass es Menschen in deinem Leben gab, denen du immer blind vertrauen konntest.
„Das Leben ist wie ein beschriebenes Blatt Papier“, sagtest du mal. „Mit jeder Zeile, die du füllst, verblassen die Worte aus deiner Vergangenheit. Aber es gibt diese ganz wenigen bestimmten Momente, an die man sich einfach in gewissen Situationen immer erinnern kann.“
Wenn dieses Lied läuft, zum Beispiel. Wenn du den Duft von Tabak und Leder einatmest. Wenn du mit deinem Finger über den Rand eines Geldstücks streichst und wegen der rauen Textur an die rostroten Gitarrensaiten denkst, die du als Kind immer mit dem Fingernagel berührt hast. Wenn du diesen Traum hast, diesen immer wiederkehrenden Traum.
Aber irgendwann reicht es nicht mehr und plötzlich fehlen dir all diese Momente, jedwede Erinnerung. Dann siehst du deine eigene Tochter an und denkst dir: „Schönes Kleid, aber wer ist diese Frau?“ Dann sitzt du dort in deinem Trott – sitzt in deinem weißen Pyjama vor mir – und ich denke, dass dieser Mann mir noch so viel zu erzählen gehabt hätte. Aber diese Zeilen scheinen verblasst …
Ich habe mir ein viel schöneres Ende überlegt, denn ich habe mal gehört, man müsse ein Blatt Papier rein theoretisch nur zweiundvierzigmal falten, um die Höhe des Mondes zu erreichen.
Ja, jetzt sitzt du hier. Auf dem Mond. Das hast du dir nicht zweimal sagen lassen und es dir dort oben gemütlich gemacht.