Prosa bei Lektora
Bd. 32
Zweite Auflage 2014
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 2012 by
Lektora GmbH
Karlstraße 56
33098 Paderborn
Tel.: 05251 6886809
Fax: 05251 6886815
www.lektora-verlag.de
Cover: Markus Freise
Illustrationen: Jan Philipp Zymny
Lektorat: Lektora GmbH u. Carina Middel
Satz: Lektora GmbH
ISBN: 978-3-95461-002-0
„Du kannst alles schaffen, wovon du nur träumst, vorausgesetzt es ist nicht zu schwierig.“
- Quichotte
Für meine Eltern, meine Schwester und meine Freunde, dafür, dass sie jeden Text dreimal unfertig ertragen haben.
Danke, Leute!
Orang-Utan-Haiku
Versicherungs-Haiku
Keks-Haiku
Platz für deinen ganz persönlichen Haiku
Das Klassentreffen
Keine Hobbys
Eugen-Jonathan
Verlierer der Evolution I
Reimen in Heimen
Auszüge aus dem Tagebuch meiner kleinen Schwester vom Sommer 2008
Ode an den Döner
Anti-Ode an den Döner
Entschuldigung an den Döner
Fieber
Ballade vom pekuniär beeinträchtigten Agrarwirt, seiner ehelich verhafteten Lebensabschnittsgefährtin und einer Kuh
Verlierer der Evolution II
Erlkönig 2.0
Zymnys Faust feat. Goethe (2011)
Erlkönig 2.1
Gesprächskultur
Der Ausbruch von Peterchen dem patzigen Pony aus dem Streichelzoo
Märchen mit Opa
Roboter Limerick
Ein ganz normaler Tag im Leben des unglaublichen Jan Philipp Zymny – von Jan Philipp Zymny – also von mir
Was hat uns die Wissenschaft jetzt wieder angetan?!
Expedition in den Kongo
Postkarten aus Guantanamo
Igel-Geschichten
Blumenkohl im Sommerwind
Maximale Aufzuglast 1.300 Kilogramm
Ein andalusischer Hund
Sabine
Tagebuch eines Verschollenen in einem bekannten schwedischen Möbelhaus Teil I
Tagebuch eines Verschollenen in einem bekannten schwedischen Möbelhaus Teil II
Von dem merkwürdigen Zufall, dass zwei Männer in derselben Müllpresse landen
Die 6. Dimension
Aus der Reihe: „Real Outsider Art“ – I
Ugh ugh ugh, Ugh ugh.
Ugh ugh Ugh ugh ugh Ugh ugh
Ugh ugh Ugh – ugh Ugh?
Huk, Huk Huk Huk Huk!
Huk Huk Huk Huk Huk Huk Huk.
Huk Huk, Huk Huk, Huk.
Tuc Tuc Tuc Tuc Tuc,
Tuc Tuc; Tuc Tuc Tuc Tuc Tuc.
Tuc Tuc Tuc Tuc Tuc!
(Mein erster für einen Slam verfasster Text)
Ich hasse Klassentreffen. Klassentreffen sind böse. Klassentreffen hat sich der Teufel in einem Anflug blanker Bösigkeit ausgedacht ... ja, Bösigkeit. Die ist viel böser als die normale Boshaftigkeit, weil auch noch die Grammatik scheiße ist.
Alle kommen sie auf Klassentreffen: Hausfrauen, Bürokaufleute und Informatiker, Pullunder, Hornbrillen und Cordhosen, soweit das bebrillte Auge reicht.
„Versager-Parade!“ und „Spießer-Auflauf!“ schrie ich in den Raum ... Nee, hab ich nur gedacht. In Wahrheit grüßte ich freundlich nach links und rechts und zog heimlich meine Cordhose höher.
Da, plötzlich sah ich meinen alten Klassenkameraden Peter Stellmann. „NERD! LOSER! STREBER!“, ... hab ich gedacht. „Hallo, Peter, schön, dich zu sehen“, hab ich gesagt.
Kennen Sie das? Sie waschen eine ganze Ladung Socken, dann legen Sie sie zusammen und Sie freuen sich richtig, weil Sie denken, dass es dieses Mal alle geschafft haben. Doch dann kommen Sie zum letzten Paar und merken, dass genau eine Socke fehlt?
Als Peter auf mich zukam, wünschte ich mir, ich wäre diese eine Socke, die glückselig in die Freiheit entkommen ist. Ich nenne das den „Sockenwunsch“.
Vielleicht sollte ich dazu sagen, dass Peter in der Schule so was wie der König der Streber gewesen war und sich bis heute kein bisschen verändert hatte. Durch seinen Latein-LK hatte er zwar den Pisa-Schnitt für Deutschland gehoben, aber er wohnte seit der Grundschule in Mamas Keller, spielte „Wörld of Warkraft“ und trug Pullunder, Cordhosen und eine Hornbrille mit mindestens 1.000 Dioptrien.
Ich hab ja eigentlich nichts gegen Streber oder Brillenträger, aber Peter war ein Klischee auf zwei Beinen. So kam er auf mich zu als einer von den Versagern, die nur aus Büchern wissen, wie man lebt, und bei Alkohol an C2H6O denken. Kennen Sie das, wenn man manchmal bei so gewissen Leuten denkt: „Shut the fuck up!“, noch bevor die den Mund aufmachen?
Peter kam immer näher. Ich ahnte, worin das ausarten würde, aber ich konnte nicht mehr fliehen, ich hatte ihm schon Hallo gesagt, dann war er da und das Gespräch nahm seinen Lauf. Peter schaffte es gerade noch, mir zu erklären, dass er in der Windelforschung arbeitete, dass das ein Knochenjob sei, weil das auch ganz schön stinke, dass die kleinen Scheißer die Windel „beladen“ und nicht vollkacken, dass das alles viel interessanter sei, als man sich das vorstelle, und dass so ein Popo auch Bedürfnisse (und Ansprüche) hätte, bevor meine Selbstmordgedanken ihn zum Schweigen brachten.
Kennen Sie das? Sie haben keine Lust, ich meine, wirklich überhaupt gar keine, nie und nimmer, so was von kein bisschen Lust, mit dem Gegenüber zu reden, so sehr, dass seinen Kopf gegen eine dicke, graue, harte Betonwand zu schlagen als Alternative zum Gespräch langsam immer attraktiver wird. Peter sabbelte und ich dachte an Betonwände mit roten Flecken.
Plötzlich aber wurde es still und er sah mich fragend an.
Oh, verdammt, ich hatte ihm natürlich nicht zugehört und er hatte mir offensichtlich eine Frage gestellt. Was mach ich jetzt? Okay, ganz ruhig, meine Chancen, richtig zu antworten, liegen bei etwa ... 1 : 1.000.000. Wie wahrscheinlich war es, dass er mich nach meinem Beruf gefragt hatte? Ich zuckte mit den Schultern und Peter ... redete weiter. 1 : 1.000.000 ... und ich hatte richtig geraten ... YES!
Doch nach etwa einer halben Stunde wurde es schwierig, die Konzentration auf die Selbstmordgedanken aufrechtzuerhalten, so dass sich Peters Gebrabbel mit meinen Gedanken vermischte: „Meine Mutter ... sich von einer Klippe gestürzt ... und dann habe ich die Windel ... mit einem festen Hanfseil am Dachbalken erhängt. Mein Asthma-Spray ... von Pferden bis zum Tode auseinandergerissen, wobei ich meinen Keller ... in tausend winzige Fetzen gesprengt habe und bei der Arbeit ... einfach nur sterben, bis ich tot bin.“
Der Abend kam dann doch noch zu einem erfolgreichen Ende, denn als Peter begann seine Allergiemittel aufzuzählen, habe ich, ohne ihn unterbrechen zu wollen, ausprobiert, ob sich sein Asthma nicht durch Ertrinken in der Punschschüssel heilen lässt.
... Kennen Sie das?
Mir ist oft langweilig ... besonders beim Schlafen. Und damit es mir nicht zu langweilig wird, habe ich zwei Strategien, um mich zu beschäftigen.
Erstens: Ich mache Unsinn, aber dann fragen die Leute immer, ob ich keine Hobbys hätte, und dann muss ich „Im Moment nicht“ sagen, und das ist peinlich. Und zweitens: Ich suche mir ein Hobby. Ich suche mir häufig Hobbys. Meistens immer genau dann, wenn mir das Alte zu langweilig geworden ist.
Ich hab schon viele Hobbys gehabt ... Ich bin ein Hobby-Nomade. Und davon handelt dieser Text.
Einmal, das war ein sehr kostspieliges Hobby, da hab ich fünf Wochen lang jeden Tag zum Frühstück ein Fabergé-Ei gegessen, aber dann hab ich eine Eiweiß-Intoleranz entwickelt und musste das aufgeben.
Danach sammelte ich türkische Schnauzbärte ... die sind nicht selten, aber schwierig zu bekommen ... „ernten“ nennt man das im Fachjargon. Als ich irgendwann zu oft bei der Ernte verhauen wurde, brachte ich mir selbst das Perückenknüpfen bei und verwertete die Reste meiner beachtlichen Schnauzbartsammlung zu pieksigen Perücken, die ich, großherzig wie ich nun mal bin, im Krankenhaus und an Igel ohne Stachel verteilte. Oder ich verkaufte sie einfach zu überzogenen Preisen an Türken mit nackter Oberlippe zurück ... Ich bin aber auch ein Schlawiner.
Der Schlawiner brachte mich auf die Idee, neue Geflügelwürste für „Gutfried“ zu entwickeln. Als ich die neue Gutfried-Diätwurst mit 0 % Fett, 0 % Zucker und 0 Kalorien vorstellte, wurde ich entlassen.
Eigentlich war sie, wie ich finde, eine geniale und stimmige Weiterentwicklung der firmeneigenen Produkte, aber der Vorstand konnte sich nicht mit einer Wurst anfreunden, die nur aus einem aufgepumpten Plastikdarm bestand.
Aus Trotz gründete ich darauf meine eigene Geflügelwurstfirma und nannte sie „Gutkrieg“. Wir produzierten Geflügel-Würste für echte Männer, denn unsere Würste bestanden halb aus Rindfleisch, halb aus Schweinefleisch und halb aus Elefantenfleisch. Geflügel hatte da drin überhaupt nichts verloren. Das Einzige, was Geflügel mit unserer Wurst zu tun hatte, war, dass es an unser Schlachtvieh verfüttert wurde.
Die Tiere wurden bei Gutkrieg so schnell geschlachtet und in ihre eigenen Därme gepresst, dass es „Muhoinktörö“ macht, wenn man die Wurst aus der Packung holt!
Unser Werbeslogan war: „Mit Gutkrieg geht’s uns BLUT!“, und der wurde nicht von Johannes B. Kerner präsentiert, sondern von Chuck Norris!
Weicheier, die die Burger King Mancademy überstanden hatten, wurden in unseren Schlachthäusern zu richtigen Männern erzogen! Weiterbildung nennt man das.
Na ja, als dann immer mehr Leute nach dem Verzehr der Gutkrieg-Geflügel-Wurst am Herzkasper gestorben sind, haben wir zuerst scherzhaft unseren Slogan in „Tritratrullala, der Kasperle ist wieder da“ geändert und dann all unsere Fabriken dicht gemacht.
Das hat zwei Dinge ausgelöst: erstens die Finanzkrise und zweitens Langeweile bei mir.
Also fing ich irgendwann an, Betrunkene in falsche Züge zu setzen.
„Du siehst aber ganz schön fertig aus. Has’ wohl ordentlich gefeiert, wie?“
„Jaaah, und Party gemacht hab ich auch.“
„Cool. Und jetzt noch nach Hause? Wohin musste denn?“
„Humptbahnhof.“
Was die betreffende Person sagt, spielt überhaupt keine Rolle, denn jetzt muss man in die Bresche springen.
„Warum? Nimm doch lieber den Zug nach München auf Gleis 3, der kommt auch gleich.“
„Das is eine gute Idee. Ich mag dich. Du bist mein bester Freund.“
Das Beste daran ist, wenn die Opfer in der Türe stehen, „Danke“ sagen, die Türe sich schließt, der Zug losfährt und wir uns beide noch etwas zuwinken ...
Später reichte mir das nicht mehr und ich begann, auf der Straße alte Frauen anzusprechen.
„Guten Tag, darf ich Ihnen über die Straße helfen?“
„Ja, bitte, das ist aber sehr liebenswürdig von Ihnen.“
„Ist doch Ehrensache.“
„Moment ... wo bringen Sie mich hin? Das ist doch nicht die andere Straßenseite.“
„Ich bringe Sie zum Zug.“
„Aber warum denn? Ich will doch nur ...“
„Pssscht! Ich weiß das besser, was du willst, Oma ... und jetzt rein in den Zug.“
„Was soll ich denn hier?“
„Du trittst deine letzte Reise an, Oma. Viel Spaß. Muhahahaha!“
Alte Menschen sind so herrlich wehrlos ...
Aber auch das war irgendwann nicht mehr genug und darum probierte ich eine andere Methode aus. Ich verlagerte meinen Aktionsbereich in die Züge, und weil ich so viel mit alten Menschen zu tun hatte, habe ich mir ihre Verhaltensweisen antrainiert, indem ich wochenlang morgens in Tchibo-Cafés herumhing.
Immer wenn sich die Türe öffnete, begrüßte ich die einsteigenden Fahrgäste mit: „He! Ihr Drecksbälger! Runter von meinem Rasen! Dat gibbet ja wohl nich! Wehrdienstverweigererfeiglinge!“
Jetzt hab ich wieder ein neues Hobby. Ich schreibe seltsame Texte und lese sie einem Publikum vor, das am Ende entweder ziemlich verwirrt guckt oder die Hände in klatschenden Bewegungen ruckartig gegeneinander führt.
Letzteres ist gar nicht so schwierig, probiert es doch mal aus und macht es vielleicht zu eurem neuen Hobby ...
„Eugen-Jonathan! Deine Tofu-Schnitzel sind halb gar!“
Eugen-Jonathan, natürlich mit „th“ und Bindestrich, wie es sich gehört, war allergisch gegen Fleisch ... und Durchgebratenes.
Kurz kann man sagen, dass er allergisch auf alles war, was gut schmeckt oder groß und stark macht. So blieb Eugen-Jonathan schwach und klein.
Schon damals, als er auf die Welt kam, war er so schwach wie jemand, der seine besten Zeiten weit hinter sich gelassen hat. Ein sehr alter Mann zum Beispiel. Und tatsächlich erinnerte seine ganze Gestalt an einen Alten, denn Eugen war schrumpelig, haarlos und hatte keinen Zahn mehr im Mund.
Als er geboren war, erschrak der Arzt und sagte: „Entschuldigung, mein Herr, Sie sind hier falsch. Dies ist der Kreißsaal; zum Hospiz geht es dort entlang.“
Seine Mutter bekam noch einen Klaps auf den Po und dann wurde er auf die eigenen Füße gestellt.