C.H.Beck
Verdun 1916 – längste Schlacht der Weltgeschichte, Sinnbild des totalen Krieges, Markstein für das 20. Jahrhundert. „So furchtbar kann nicht einmal die Hölle sein“, entsetzte sich ein Augenzeuge. Nie wieder starben mehr Soldaten auf so engem Raum. Olaf Jessen zeichnet auf der Grundlage vergessener Dokumente ein neues Bild der Schlüsselschlacht des Ersten Weltkrieges. Glänzend erzählt und unter die Haut gehend: ein „Muss“ für alle, die den Großen Krieg aus Sicht der Frontsoldaten und Heerführer beider Seiten neu kennenlernen wollen.
Warum Verdun? Um den Sinn der „Blutmühle“ strategisch zu erklären, verweisen Historiker gewöhnlich auf Erich von Falkenhayn. Die französische Armee, so hatte der Generalstabschef behauptet, sollte bei Verdun „verbluten“. Doch vergessene Quellen belegen: „Operation Gericht“ zielte auf den Durchbruch und die Rückkehr zum Bewegungskrieg. 300 Tage und 300 Nächte tobte die Urschlacht des Jahrhunderts. Sie durchkreuzte die alliierten Pläne an der Somme, beschleunigte den Kriegseintritt der USA, verschärfte den Niedergang des deutschen Heeres, befeuerte die Dolchstoßlegende und stieß die Entwicklung moderner Luftwaffen an. Und sie legte den Keim für Frankreichs Katastrophe 1940 im „Blitzkrieg“ der Wehrmacht. Es ist kein Zufall, dass gerade Verdun später zum Erinnerungsort der deutsch-französischen Freundschaft wurde.
Olaf Jessen beherrscht meisterhaft die Technik des kinematographischen Erzählens: „Kameraschwenks“ zwischen den Schützengräben beider Seiten, zu den Hauptquartieren der Befehlshaber, zu den politisch Verantwortlichen in die Hauptstädte oder zu den Lazaretten lassen die Grausamkeit der Kämpfe und das Ringen der Heerführer so anschaulich werden wie in einem guten Film.
Olaf Jessen, Dr. phil., geboren 1968, Historiker und Publizist, lebt in Schleswig-Holstein. Zahlreiche Veröffentlichungen zur preußischen und deutschen Geschichte. Für „Die Moltkes“ (C.H.Beck, 22010) feierte ihn die Kritik als „brillanten Historiker“ (Deutschlandfunk) und begnadeten Erzähler: „Liest sich wie ein Roman“ (Das Buch).
Verzeichnis der Hauptpersonen
Einleitung
Erstes Kapitel
PLÄNE
Zweites Kapitel
VOR DEM STURM
Drittes Kapitel
AUFMARSCH
Viertes Kapitel
ANGRIFF
Fünftes Kapitel
DAMMBRUCH
Sechstes Kapitel
DOUAUMONT
Siebtes Kapitel
PATT
Achtes Kapitel
ZERMÜRBUNG
Neuntes Kapitel
KRISE
Zehntes Kapitel
ENTSCHEIDUNG
NACHSPIEL
ANHANG
Dank
Warum Verdun?
Die Schlacht und die Historiker
«Weihnachtsdenkschrift»
Ein Blick auf die Quellen
Die «Tappen-Befragung»
Anmerkungen • Quellen und Literatur • Bildnachweis • Personenregister • Ortsregister
THEOBALD VON BETHMANN HOLLWEG
Deutscher Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident
CORDT VON BRANDIS
Oberleutnant, Chef der 8. Kompanie im II. Bataillon des preußischen Infanterieregiments Nr. 24
ERICH VON FALKENHAYN
General, Chef des Generalstabes des deutschen Feldheeres, ab 6. September 1916 Oberbefehlshaber der Neunten Deutschen Armee in Rumänien
HANS-JOACHIM HAUPT
Hauptmann, Chef der 7. Kompanie im II. Bataillon des preußischen Infanterieregiments Nr. 24, ab 25. Februar 1916 Kommandant des Fort Douaumont
GERHARD VON HEYMANN
Oberstleutnant, Erster Generalstabsoffizier («I a») der Fünften Deutschen Armee und der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, ab 23. April 1916 Kommandeur des 2. Garde-Regiments zu Fuß
OTTO KUNZE
Vizefeldwebel, 4. Kompanie des Sächsischen II. Pionierbataillons Nr. 22
EWALD VON LOCHOW
Kommandierender General des III. Deutschen Armeekorps, ab 15. April 1916 Kommandeur der «Angriffsgruppe Ost», ab 25. November 1916 Oberbefehlshaber der Fünften Deutschen Armee
ERICH LUDENDORFF
Generalleutnant, Chef des Stabes bei Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, des Oberbefehlshabers aller deutschen Streitkräfte im Osten («Ober-Ost»), ab 29. August 1916 General der Infanterie, Erster Generalquartiermeister und Stellvertreter des Chefs des Generalstabes des deutschen Feldheeres
EUGEN RADTKE
Leutnant, Zugführer der 6. Kompanie im II. Bataillon des preußischen Infanterieregiments Nr. 24
CONSTANTIN SCHMIDT VON KNOBELSDORF
Generalleutnant, Chef des Stabes der Fünften Deutschen Armee und Chef des Stabes der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, ab 20. August 1916 Kommandierender General des X. Armeekorps
GERHARD TAPPEN
Generalleutnant, Chef der Operationsabteilung in der Obersten Heeresleitung, ab 28. August 1916 Chef des Stabes der Heeresgruppe Mackensen in Rumänien
ADOLF WILD VON HOHENBORN
Generalleutnant, preußischer Kriegsminister, ab 29. Oktober 1916 Kommandierender General des XVI. Armeekorps
WILHELM VON PREUSSEN
Kronprinz des Deutschen Reiches und von Preußen, Oberbefehlshaber der Fünften Deutschen Armee und Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz
WILHELM II.
Deutscher Kaiser und König von Preußen, Oberster Kriegsherr des Deutschen Reiches
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ARISTIDE BRIAND
Französischer Ministerratspräsident und Außenminister
ÉDOUARD DE CASTELNAU
General, Chef des Stabes der französischen Streitkräfte, ab 27. Dezember 1916 Führer der Heeresgruppe Ost
ÉMILE DRIANT
Oberst, französischer Berufsoffizier, Autor von Zukunftsromanen, Abgeordneter von Nancy, Mitglied der Armeekommission der Kammer, Kommandeur des 56. und 59. Jägerbataillons im Sektor Verdun
ABEL FERRY
Leutnant, Zugführer im französischen Infanterieregiment Nr. 166, Abgeordneter von Épinal, Mitglied der Armeekommission der Kammer
JOSEPH GALLIENI
General, französischer Kriegsminister
CHARLES DE GAULLE
Hauptmann, Chef der 10. Kompanie des französischen Infanterieregiments Nr. 33
JOSEPH JOFFRE
General, Generalissimus des französischen Heeres
ROBERT NIVELLE
General, Kommandeur des III. Französischen Armeekorps, ab 1. Mai 1916 Kommandeur der Zweiten Französischen Armee, ab 26. Dezember 1916 Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte in Frankreich
PHILIPPE PÉTAIN
General, Kommandeur der Zweiten Französischen Armee, ab 1. Mai 1916 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte
RAYMOND POINCARÉ
Französischer Staatspräsident
SYLVAIN EUGÉNE RAYNAL
Major, Kommandant des Fort Vaux
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SIR DOUGLAS HAIG
Feldmarschall, Oberbefehlshaber der Britischen Expeditionsstreitkräfte in Frankreich
LORD HERBERT KITCHENER
Feldmarschall, britischer Kriegsminister
SIR WILLIAM ROBERTSON
General, Chef des Imperialen Generalstabes in London
Diese Westfront hat der Teufel erfunden.
ADOLF WILD VON HOHENBORN, 1916
«No boats for the Continent!»[1], ruft der Zeitungsjunge, sein Extrablatt schwenkend: «Keine Schiffe zum Kontinent!» Cordt von Brandis wirkt beunruhigt. Eben ist sein Nachtzug aus Glasgow eingefahren. Nur ungern hat er eine Kajak-Tour abgebrochen. «Was haben wir an herrlichen Aussichten, an Freude an Sonne und Meer, an Spaß mit Seehunden und Delphinen erlebt!»[2] Doch ihn drängt es nach Hause. Der Leutnant will zu seinem Regiment nach Neuruppin. Wie ganz London weiß auch Brandis im Juli 1914 um die Kriegsgefahr. In der Euston Railway Station nimmt er die U-Bahn zur Victoria Station, kann dort aber kein Ticket nach Köln erwerben. «We dont’t book for Cologne!», erklärt der Verkäufer: «Are you German?» – «Sind Sie Deutscher?»[3] Brandis steigt in die Linie 8, in einen Doppeldeckerbus, um das Konsulat am Bedford-Place zu erreichen. «Bei zunehmender Hitze und Müdigkeit»[4] nimmt er auf dem Oberdeck Platz. Die Fahrt führt über die Mall bis zum Trafalgar Square, dann rollt das Fahrzeug am Picadilly Circus und am Hyde Park vorbei nach Westen. Neben Brandis sitzt ein jüngerer Passagier, den er bittet, ihm mitzuteilen, wo er aussteigen soll. «Sind Sie Deutscher oder Österreicher?», entgegnet der junge Nebenmann, «jeder Deutsche sieht soldatenmäßig aus.»[5] Brandis fürchtet, verhaftet zu werden. Dann aber trifft es ihn «wie ein elektrischer Schlag: In den Straßenlärm hinein, ihn vielfach übertönend», mischt sich «ein tiefer Unterton», dem Dröhnen der Brandung vergleichbar, findet Brandis, «das mir in den letzten Wochen so vertraut geworden war». Der Leutnant hört den Gesang einer riesigen Menschenmenge. «Bedford-Place!», erklärt ihm sein Nebenmann, «die Deutschen!».[6] In der Straße marschieren Reservisten in Kolonnen immer wieder auf und ab. Schwarz-weiß-rote Fahnen flattern. Alle Passagiere sind «völlig verstummt». Auch Schaffner und Fahrer starren auf die Marschierer. Dem Bus schlägt Kriegsgesang entgegen: «Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!»[7] Begeistert reiht sich Brandis in die Kolonne ein. Neunzehn Monate später werden viele Sänger nicht mehr am Leben sein. Und das Regiment aus Neuruppin wird in einer Schlacht zum Einsatz gelangen, die nicht nur in Europa aufhorchen lässt.
Verdun 1916 – längste Schlacht der Weltgeschichte, Sinnbild des totalen Krieges, Markstein für das 20. Jahrhundert. «So furchtbar kann nicht einmal die Hölle sein»[8], entsetzte sich ein Augenzeuge. Nie wieder starben mehr Soldaten auf so engem Raum. Deutsche und französische Truppen verloren über 700.000 Soldaten.[9] Der Erste Weltkrieg zerstörte die Großreiche Deutschlands, Russlands, Österreich-Ungarns und der Türkei. Er war der Anfang vom Ende der Vorherrschaft Europas, zwang die USA auf die Weltbühne, führte zur Gründung der Sowjetunion und bot den Nährboden für den Aufstieg von Kommunismus und Nationalsozialismus.[10] Erfahrungen und Folgen des Großen Krieges haben den Zweiten Weltkrieg vorgeprägt – in so hohem Maße, dass Historiker die Zeit von 1914 bis 1945 als zweiten Dreißigjährigen Krieg bezeichnen.[11] Kein Zweifel: Die «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts prägt noch unsere Gegenwart.[12] Und einer ihrer Wendepunkte war die Schlacht bei Verdun.
Dreihundert Tage und dreihundert Nächte tobte die Urschlacht des Jahrhunderts: vom deutschen Angriff am 21. Februar 1916 bis zum Ende der letzten französischen Großoffensive am 20. Dezember. Sie stieß die Entwicklung moderner Luftwaffen an, durchkreuzte die alliierten Pläne an der Somme, führte zum Sturz der beteiligten Heerführer, verschob die politischen Gewichte in Frankreich und Deutschland. Drei Viertel der französischen Streitkräfte kämpften an den Ufern der Maas. Bei Verdun entbrannte die – bis dahin – größte Materialschlacht der Geschichte. Zugleich bezeichnen die Kämpfe jenen Punkt, an dem die Hauptlast des Krieges von Frankreich auf Großbritannien überging. Hatte vorher für das Kaiserreich noch die Aussicht bestanden, den Krieg nicht zu verlieren, schwand diese Möglichkeit im Laufe der Schlacht dahin. Verdun befeuerte die Dolchstoßlegende, prägte das operative Denken beider Seiten, begünstigte den Bau der Maginot-Linie und legte auch dadurch den Keim für Frankreichs Niederlage 1940 im «Blitzkrieg» der Wehrmacht. Darüber hinaus verdichtete die Schlacht den Charakter des Weltkriegs als zivilisatorische Krise.[13] Viele Zeitgenossen erkannten eine Art Wasserscheide: vorher Licht, danach Schatten; von der Ordnung ins Chaos; zunächst Glanz, schließlich Elend. Für Historiker markiert der Weltkrieg den Abschluss des bürgerlichen Zeitalters. Es folgten Jahrzehnte, die in Diktatur, Vertreibung, Rassenkrieg und Shoa gipfelten.[14] Fest steht: Zwischen dem Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts und dem Ausklang einer Ära totaler Völkerkriege stand die Erniedrigung des Menschen zum bloßen «Material». In solchem Licht betrachtet, erscheint Verdun als Inbegriff der Enthegung militärischer Gewalt.
Schlachten sind zu Symbolen für Kriege und Epochen oder schlicht sprichwörtlich geworden. Jedes «Waterloo» bedeutet eine endgültige Niederlage. «Stalingrad» steht für den Zweiten Weltkrieg. «Trafalgar» meint den Krieg unter Segeln. «Issos» beschwört die griechische Phalanx. «Verdun» ist der Erste Weltkrieg – jedenfalls für Franzosen und Deutsche.[15]
Warum Verdun? Noch immer hat die Forschung Schwierigkeiten, auf diese Schlüsselfrage eine Antwort zu finden.[16] Um den Sinn der «Blutmühle» strategisch zu erklären, verweisen Historiker gewöhnlich auf die «Weihnachtsdenkschrift» des Generalstabschefs Erich von Falkenhayn. Die französische Armee, behauptete Falkenhayn in seinen Memoiren, sollte bei Verdun «verbluten». Schon Falkenhayns Zeitgenossen misstrauten dieser Begründung.[17] Und das Wort «Ausbluten» weckt Abscheu noch in unserer Gegenwart. So erklärte die Gesellschaft für deutsche Sprache den Begriff «Menschenmaterial» zum «Unwort des zwanzigsten Jahrhunderts».[18] Gerd Krumeich hielt die Weihnachtsdenkschrift für einen «der ungeheuerlichsten Texte des Ersten Weltkriegs»; er sei in Frankreich «berühmt-berüchtigt».[19] Hinter der Weihnachtsdenkschrift, ergänzte Michael Salewski, verberge sich «der unmenschlichste strategische Plan des ganzen Krieges».[20]
Welchen Plan verfolgte Falkenhayn für 1916? Weshalb ein Angriff auf Frankreichs stärkste Festung? Warum dauerte die Offensive so lange? Und warum hat die französische Heerführung die Schlacht angenommen? Konnte der Besitz einer Kleinstadt über Sieg oder Niederlage im Weltkrieg entscheiden? Was hat den Schlachtverlauf bestimmt? Wer eigentlich hat den Kampf gewonnen? Das französische Heer, wie fast alle Zeitgenossen glaubten? Oder vielleicht doch die Streitkräfte des Kaisers, wie deutschsprachige Autoren nach dem Krieg erklärten?[21] Gab es überhaupt einen Sieger? Und wie ist es um die Folgen der Kämpfe bestellt?
Bisher gibt es keine Darstellung der Schlacht bei Verdun, die aus archivalischen Quellen schöpft und das Wechselspiel zwischen dem «Krieg des kleinen Mannes» und dem Handeln der Heerführer beleuchtet.[22] Die wohl mit Abstand größte Forschungslücke betrifft die deutsche Führungsebene – vor allem aus Gründen, die im Zusammenbruch der militärgeschichtlichen Forschung in beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg wurzeln.[23] Dabei erscheint die Quellenlage eher günstig. Zwar sind viele einschlägige Akten 1945 bei der Zerstörung des Heeresarchivs verbrannt; doch mit dem Schriftgut der «Forschungsanstalt für Kriegs- und Heeresgeschichte» steht seit 1996 im Bundesarchiv Freiburg eine Ersatzüberlieferung bereit.[24] Dieses Schriftgut zur Schlacht entstand Anfang der 1930er Jahre im Zuge der Vorarbeiten zum amtlichen Weltkriegswerk. Jahrelang stellten die Potsdamer Historiker Nachforschungen an. So gibt es Kommentare, Randbemerkungen, Briefe und Stellungnahmen wohl aller damals lebender Stabsoffiziere, die bei Verdun mit operativen Fragen befasst waren: von der Obersten Heeresleitung und dem Oberkommando der Kronprinzenarmee über die Führung der Armee- und Reservekorps bis hinab zu den Stäben der Divisionen. Dutzende Augenzeugen aus den obersten Rängen versahen auf Bitten der Forschungsanstalt die Fahnen des Weltkriegswerkes mit ihren Anmerkungen. Zahllose Hinweise, Stellungnahmen oder Briefe schafften es nicht in die Druckfassung – gelegentlich auch deshalb, weil eine Veröffentlichung politisch unangebracht erschien.[25] Die Akten der Forschungsanstalt erlauben einen neuen Blick hinter die Kulissen der deutschen Führung. Weitere Bestände treten ergänzend hinzu: die Erinnerungen des Grafen von der Schulenburg-Tressow zum Beispiel, Erster Generalstabsoffizier der Kronprinzenarmee, aber auch die Aufzeichnungen von Frontoffizieren und einfachen Soldaten.[26]
Wer das Geschehen auf dem Schlachtfeld möglichst ungefiltert nachzeichnen möchte, ist durch die Akten gleichfalls begünstigt. Den Angriff auf das Fort Douaumont etwa haben Dutzende Augenzeugen ausführlich geschildert: vom Bataillonskommandeur über die Kompaniechefs und Zugführer bis hinab zu den Unteroffizieren und Mannschaften. Wohl kein anderes Infanteriegefecht des Krieges ist auf deutscher Seite ähnlich dicht überliefert.[27] Die oft ausführlichen, ungewöhnlich offenen Berichte waren ganz überwiegend nicht zur Veröffentlichung gedacht. Und kein Beteiligter hat sie für seine Angehörigen geschrieben, die aus persönlicher Rücksichtnahme oder aufgrund der Zensur üblicherweise kaum Einzelheiten der Kämpfe erfuhren.[28] Die meisten Berichterstatter waren erkennbar bemüht, sich möglichst genau zu erinnern. Denn jedermann wusste, dass die eigene Aussage ehrengerichtlich überprüft und mit den Darstellungen anderer Augenzeugen verglichen werden würde. Und so eröffnen die Aussagen der Angehörigen des Infanterieregiments 24 einen raren, fast unverstellten Blick auf das Antlitz des Weltkriegs. Auf französischer Seite ist die Schlachtfeld-Ebene schon seit Jahrzehnten dicht erforscht.[29] Ein «Glücksfall» freilich wie die zeitnahe kriegsgerichtliche Untersuchung der Kampfhandlung eines ganzen Bataillons ist französischen Historikern offenbar nicht zu Hilfe gekommen.
Die vorliegende Darstellung nutzt Material auch anderer Archive: des Tagebucharchivs Emmendingen oder des Pariser Nationalarchivs etwa. Aufschlussreich waren private Funde, besonders die Erinnerungen Gerhard von Heymanns, Verfasser des Angriffsentwurfes für Unternehmen Gericht.[30]
Die Abläufe innerhalb der französischen Führung sind besser erforscht als auf der Gegenseite. Die Amtshistoriker der Dritten Republik unterlegten in den 1920er und 1930er Jahren ihr Weltkriegswerk mit dem Abdruck tausender Quellen.[31] Aber auch dort fehlen Aktenstücke, die politisch heikel erschienen.[32]
«Was Kriegsbücher lesbar macht, ist das, was an Geist in der Kriegführung stecken kann», so der Historiker und Publizist Sebastian Haffner. «In den Materialschlachten, von denen Verdun eine war», glaubte Haffner, «steckte kein Geist. Es waren geistlose Schlächtereien.»[33] Wer hüben wie drüben in die Chefzimmer der Generalstäbe blickt, macht eine Entdeckung. Sie beunruhigt weit stärker als Berichte über Giftgas und Flammenwerfer: Verdun war eine Schlächterei – aber keine geistlose.
Wir müssen mehr Feinde töten,
als sie von unseren Männern töten können.
JOSEPH JOFFRE, 1915
Montag, 11. Oktober 1915. Mézières, Präfektur. Ein sonniger Herbsttag: Am Horizont grollt der Donner der Geschütze. Fast ist die Spannung mit Händen zu greifen. Sechzig Kilometer entfernt, in der Champagne, tobt seit drei Wochen ein gewaltiges Ringen. Riesige Truppenmassen haben die deutschen Linien eingedrückt. Noch immer scheint ein Durchbruch möglich. Der Ausgang des Krieges, glauben viele, steht auf Messers Schneide. In Mézières ist das Artilleriefeuer Tag und Nacht zu hören. Doch am 11. Oktober 1915 dröhnt der Lärm so laut wie nie herüber.[1]
Generalleutnant Constantin Schmidt von Knobelsdorf steigt vor der Präfektur aus seinem Wagen. Am Eisengitter, das den Vorplatz vom Ehrenhof trennt, prangt ein Hinweisschild: «Generalstab».[2] In dem weitläufigen Gebäude, unmittelbar am Ufer der Maas gelegen, arbeiten die Halbgötter der Heeresleitung – eine Art Bruderschaft, die Elite des deutschen Offizierskorps. Unweit von Mézières konnten preußisch-deutsche Truppen 1870 das Heer Napoleons III. vernichten. Die Schlacht bei Sedan gilt als Geburtsstunde des Deutschen Reiches und Preußens Generalstab als sein Geburtshelfer. Jetzt aber kämpfen zwölf Nationen aus vier Kontinenten: zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Dagegen wirkt der Sedan-Feldzug beinahe wie eine Fingerübung. Im August letzten Jahres, als der Weltkrieg begann, haben die Generalstäbe der sächsischen, württembergischen und bayerischen Armee den Großen Generalstab zur Obersten Heeresleitung erweitert.
Präfektur von Mézières, seit Ende 1914 Sitz der Obersten Heeresleitung
Die Wache salutiert, als Schmidt von Knobelsdorf den Ehrenhof durchschreitet. Landwehrmänner aus Sachsen-Weimar sichern in Mézières alle wichtigen Gebäude.[3] Vielleicht blickt der Generalleutnant kurz zum Himmel: Französische Flieger werfen über Mézières gelegentlich Bomben.[4] Schmidt von Knobelsdorf ist Chef des Stabes im Oberkommando der Fünften Armee. Im Namen des ältesten Kaisersohnes führt er zugleich die «Heeresgruppe Deutscher Kronprinz». Ihr unterstehen neben der Fünften Armee auch die Dritte Armee und die Armee-Abteilungen Strantz, Gaede und Falkenhausen, also sämtliche Truppen von der Champagne bis zum Oberelsass. Damit trägt Schmidt von Knobelsdorf Verantwortung für etwa die Hälfte der deutschen Westfront. Erstarrt im Patt des Stellungskrieges, reichen die Linien von der flandrischen Nordseeküste rund siebenhundert Kilometer weit bis nach Pfetterhausen an der Grenze zur Schweiz.
Schmidt von Knobelsdorf lässt seine Ankunft melden. Im Herbst 1914 hat Erich von Falkenhayn, «Chef des Generalstabes des Feldheeres», sein Hauptquartier von Luxemburg nach Mézières verlegt. Dass Falkenhayn ausgerechnet von hier aus die Operationen gegen Frankreich leitet, mag viele Einwohner zusätzlich erbittern. Einst haben die Räume der Präfektur eine der berühmtesten Militärschulen des Landes beherbergt: die École royale du génie. Marschall Berthier und General Bertrand, Napoleons enge Vertraute, haben in Mézières ihr Handwerk erlernt; Rouget de Lisle, Komponist und Dichter der Marseillaise; Lazare Carnot vor allem, Schöpfer der Revolutionsarmee von 1793 und Organisator des ersten Millionenheeres in Europa.
Gegenwärtig liegt Mézières von der Westfront mindestens fünfzig, von den Fronten in Russland und auf dem Balkan sogar bis zu zweitausend Kilometer entfernt. Generäle der Revolution führten ihre Truppen auf dem Scheitelpunkt einer Schlacht manchmal noch in vorderster Linie. Bonaparte etwa stürmte 1796 auf der Brücke von Arcole seinen Truppen voran, die Soldaten durch das eigene Beispiel ermunternd. Dabei hatten die Entwicklungen der Waffentechnik, besonders der Artillerie, aber auch das Anwachsen der Streitkräfte schon zu Napoleons Zeiten seit langem darauf hingewirkt, den Befehlshaber vom Schlachtfeld zu vertreiben. Um die Kämpfe mehr oder weniger lenken zu können, mussten Heerführer abwägen: zwischen der Notwendigkeit, sich hinreichend von Gefahren fernzuhalten, und dem Erfordernis, durch persönliches Beispiel zu führen. Noch Friedrich der Große und Napoleon suchten Mittelwege zwischen Feldherrnhügel und «heroischer Führerschaft».[5] Erst der Stellungskampf des Weltkrieges prägt endgültig einen anderen Führungsstil: die Châteaux-Generalität. Jetzt lenken Oberbefehlshaber mithilfe von Stäben die Schlacht am Telefon. Fernab der Front, meist einquartiert in beschlagnahmten Schlössern, fassen die Führer der Stäbe kaum noch einmal den Gedanken, sich in die Todeszone zu begeben.[6] Erzogen im Geiste von Wissenschaftlern des Krieges, auf den Militärakademien durch Prüfungen einer scharfen Auslese unterzogen, befehligt in allen Hauptstreitkräften Europas eine Kaste, die das Denken für wichtiger erachtet als das Kämpfen – auch wenn die meisten Stabsoffiziere sich hüten, diese Meinung offen auszusprechen. Noch die Oberkommandos der Armeen und der Korps schlagen ihre Hauptquartiere kilometerweit hinter der Kampflinie auf; erst die Divisionsstäbe liegen oft in Reichweite der jeweils feindlichen Artillerie.
Als Schmidt von Knobelsdorf den deutschen Generalstabschef begrüßt, begegnen sich Rivalen. Im September 1914, während der Schlacht an der Marne, die das Scheitern des Schlieffenplans besiegelte, galt Knobelsdorf als möglicher Nachfolger des jüngeren Moltke, zog aber gegenüber Falkenhayn den Kürzeren.[7] Im Januar 1915 war Knobelsdorf an Ränkespielen gegen den neuen Generalstabschef beteiligt. Abermals wurde er als Nachfolger gehandelt.[8] Doch der Kaiser hielt Falkenhayn im Amt.
Die Familie Schmidt von Knobelsdorf hat ihr Adelsdiplom erst vor rund sechzig Jahren erhalten. In der Verwandtschaft wird gern darauf verwiesen, dass der berühmte Adolf Menzel die Mutter des Generalleutnants in Öl porträtiert hat.[9] Offiziere aus Knobelsdorfs Umgebung gewinnen den Eindruck, dass er «starken Einfluss auf v. Falkenhayn» ausüben oder doch «mindestens gewinnen»[10] wolle. Mehrfach ist er unaufgefordert in Mézières erschienen. «Eine gewisse Minderbewertung, eventuell sogar andere Ambitionen»[11] kann Schmidt von Knobelsdorf nur schwer verbergen. Wie der Generalstabschef steht er im fünfundfünfzigsten Lebensjahr, weist aber das höhere Dienstalter auf; und so war Knobelsdorf in Berlin-Moabit Falkenhayns Vorgänger als Kommandeur des 4. Garderegiments zu Fuß.[12]
Nicht nur bei Schmidt von Knobelsdorf hat der Generalstabschef einen schweren Stand. Falkenhayn ist jünger als sämtliche Armeeführer und Kommandierenden Generäle des Heeres – abgesehen von den Befehlshabern aus fürstlichem Hause: Kronprinz Wilhelm von Preußen, Erzherzog Albrecht von Württemberg und Kronprinz Rupprecht von Bayern.[13] Falkenhayn, ein schlanker, auffallend selbstbewusster Offizier mit «klugen Augen nahm wohl für sich ein».[14] Er «arbeitete leicht und schnell, war in Wort und Schrift gewandt und verstand die Menschen zu nehmen. Dabei war er, bei vollendeter Liebenswürdigkeit im persönlichen Verkehr, vorsichtig und zurückhaltend und kam selten mit dem heraus, was er dachte und wollte.»[15] Seinen Kaiser beeindruckte Falkenhayn schon im Amt des Kriegsministers. Während der «Zabern-Affäre» verteidigte er die Kommandogewalt des Monarchen und das selbstherrliche Auftreten von Offizieren im Elsass so entschlossen, dass es im Reichstag zu Tumulten kam.[16] Auch die schwungvolle, weltläufige Art des Generals nimmt den Monarchen für ihn ein. Durch das persönliche Regiment Wilhelms II. und die halbparlamentarische Form der Regierung im Reiche entscheidet das Verhältnis zum Herrscher mehr denn je über Besetzung und Ausübung hoher Ämter.
Jedem Beobachter sticht Falkenhayns Kühle ins Auge. Sogar engen Mitarbeitern begegnet der Generalstabschef stets mit Zurückhaltung. Nur Erika, die zehnjährige Tochter, vermag ihn aus der Reserve zu locken. «Alles konnte er vertragen, aber wenn mit Eta etwas los war, dann war die kalte Natur warm.»[17]
Wie viele seiner Zeitgenossen hängt Falkenhayn einer Weltanschauung an, die Nationales mit Biologischem vermengt: Die Sozialdarwinisten, angeregt durch Darwins Evolutionstheorie, denken nicht allein in nationalen, rassischen und völkischen Bahnen; vor allem vergleichen sie Nationen, Rassen und Völker mit Lebewesen, die in einem beständigen Kampf ums Dasein dem Recht des Stärkeren folgen – naturgesetzlich sogar folgen müssen. Es liegt auf der Hand, dass Sozialdarwinisten militärische Auseinandersetzungen nicht nur für unausweichlich, sondern für natürlich und begrüßenswert halten. Das wiederum verschärft die Gefahr einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Denn auch das Handeln von Bellizisten und Sozialdarwinisten wird durch die eigenen Erwartungen geprägt; in Zeiten diplomatischer Spannung kann sich diese Wechselwirkung zwischen Handlung und Erwartung so lange aufschaukeln, bis das Erwartete schließlich tatsächlich eintritt.[18] In der Julikrise 1914 hielt auch Falkenhayn einen Krieg für unvermeidlich.
Und wie die überwältigende Mehrheit seiner Zeitgenossen ist Falkenhayn ein Nationalist. Die nationalen Ideen in Europa haben schon Ausgang des 19. Jahrhunderts mehrere Änderungen erfahren. Die wohl auffälligste: Die liberalen Bestandteile zerfielen. Seitdem überlagert ein völkisch-rassischer Nationalismus die politisch-liberale Nationalidee.[19] Die Ursachen für diesen Wandel sind ebenso vielfältig wie strittig. Fest steht: Die europäischen Staaten wetteiferten immer fieberhafter um den Erwerb von Kolonien in Übersee. Dieser zugespitzte Wettstreit hat die Gefühle nationaler Bindung ohne Zweifel angeheizt. Überall in Europa werden die Wandlungen des Nationalismus weniger vom Adel oder der Arbeiterschaft, sondern vor allem von den Mittelschichten getragen. Ihr Glaube an die Bedeutung der Nation überhöht den eigenen gesellschaftlichen Rang; zudem betäubt er Ängste vor einer sozialen Bedrohung von unten. Denn der gesteigerte Nationalismus ist nicht zuletzt eine Antwort auf den Siegeszug neuer Weltanschauungen, die mit dem Aufstieg der Arbeiterbewegung verknüpft sind.
Im Großen Hauptquartier, Präfektur von Mézières, im Gelben Salon. Von links nach rechts: Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn, General Erich von Falkenhayn, Oberst Gerhard Tappen, General Eugen Ritter von Zöllner, Oberst Wilhelm Groener. Aufnahme von 1914
In der Präfektur von Mézières tauschen sich Falkenhayn und Knobelsdorf über die Lage aus. Der Generalstabschef trägt Zuversicht zur Schau. Einen Durchbruch in der Champagne hält er inzwischen für unmöglich.[20] Auch die britisch-französische Landung auf der Halbinsel Gallipoli scheint gescheitert. Konstantinopel ist vorerst gerettet; das Osmanische Reich bleibt an der Seite Berlins. Ähnlich günstig entwickeln sich die Dinge auf dem Balkan. Die Operationen deutscher und österreichisch-ungarischer Truppen gegen Serbien haben begonnen; vor zwei Tagen ist Belgrad in die Hände des Feldmarschalls August von Mackensen gefallen. Anfang September hat die Regierung in Sofia eine Allianz mit den Mittelmächten abgeschlossen. Jetzt steht die bulgarische Armee Gewehr bei Fuß, jeden Augenblick bereit, in Serbien einzufallen. Die Entente hält dagegen. Ein britisch-französisches Expeditionskorps, die «Orientarmee», ist in Saloniki gelandet. Sie soll den serbischen Bündnispartner stützen.
An der russischen Front hingegen scheint alles beim Alten. Die Zarenarmee leidet noch immer unter der Katastrophe des vergangenen Frühjahrs. Nach dem Durchbruch deutscher Truppen bei Gorlice-Tarnów in Galizien, nach der Rückkehr zum Bewegungskrieg und riesigen Gebietsverlusten russischer Truppen sind die Stellungen beider Seiten nunmehr auf einer Linie erstarrt, die vom Rigaer Busen über Dünaburg und die Pripjet-Sümpfe bis zu den Karpaten verläuft und an der Grenze zum neutralen Rumänien endet. Schon treffen an der Westfront freie Divisionen aus Russland ein. Falkenhayn ist überzeugt: Die Entscheidung des Krieges kann nur in Frankreich fallen. Eben das ist der Grund für sein Treffen mit Schmidt von Knobelsdorf.
Anfang August hat Falkenhayn auf einen deutschen Massendurchbruch nördlich der Somme gesetzt, im britischen Abschnitt also.[21] Die eher unerfahrene, im Aufbau begriffene Streitmacht der Briten – eine Mischarmee aus Freiwilligen und Berufssoldaten – hält er für den leichter zu schlagenden Gegner. Nicht einmal die Hälfte der fünfzehn britischen Reserve-Divisionen in Frankreich, erläutern die Fachleute des Stabes, sei «voll zu bewerten»; die anderen acht seien «zur Zeit nicht vollwertig» oder bestünden «zum großen Teil aus jungen Truppenteilen». Auf den Britischen Inseln seien siebzehn Divisionen in der Ausbildung begriffen; nicht einmal Teile dieser Verbände könnten auf absehbare Zeit in Frankreich zum Einsatz gelangen.[22] Ohnehin sieht der Generalstabschef keineswegs in Frankreich, sondern in Großbritannien den Erzfeind des Reiches.
Seine August-Pläne diesen Jahres waren weit gediehen: Ein Ablenkungsangriff im Oberelsass gegen die Festung Belfort, hunderte Kilometer von der Somme entfernt, sollte erhebliche französische Reserven binden, die den Verbündeten zum Abriegeln des Einbruches bei den Briten fehlen würden. Doch aufgrund einer Denkschrift seiner Nachrichtenabteilung musste Falkenhayn schließlich alle Hoffnungen auf einen schnellen Massendurchbruch begraben.[23] Denn die Zahlen der Abteilung «III b» offenbarten ein unerwartet starkes Übergewicht der Gegner: 2,4 Millionen deutsche Soldaten stehen 3,5 Millionen Briten und Franzosen gegenüber.[24] Damit können die eigenen Kräfte in keinem Fall genügen, um an der Westfront einen Massendurchbruch zu erzielen. Und je länger der Krieg dauert, desto klarer muss sich dieses Verhältnis zum Nachteil der Mittelmächte verschieben. Während Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich ihre Truppenzahl kaum noch zu steigern vermögen, darüber hinaus eine Fernblockade durch die Royal Navy das Versorgen der Bevölkerung täglich weiter erschwert, verfügen Frankreich und England über die schier unerschöpflichen Mittel ihrer kolonialen Reiche. Zudem genießen sie alle Vorteile amerikanischer Kredite und des Handels mit den neutralen USA. Für die Mittelmächte, fürchtet der deutsche Generalstabschef, wird sich das Fenster der Möglichkeiten bald vollkommen schließen.[25] Eine militärische Vernichtung der Gegner, urteilt Falkenhayn, ist nicht mehr zu erzwingen – schon das gigantische «Über-Sedan», auf das der Schlieffenplan zielte, lag wohl niemals in Reichweite der verfügbaren Kräfte.[26] «Wenn wir auch darüber zugrunde gehen – schön war’s doch!»,[27] rief Falkenhayn, reichlich leichtfertig, bereits im August 1914. Und so hat der Generalstabschef nach Gorlice-Tarnów an Bethmann Hollweg, den Kanzler, die Bitte gerichtet, Möglichkeiten für einen Sonderfrieden mit Russland zu erkunden. Auch mit der französischen Regierung solle man möglichst zum Frieden gelangen. Frankreich allein, ohne Unterstützung durch Verbündete, ist für Falkenhayn kein gleichrangiger Gegner im Kampf um die Vorherrschaft in Europa. Gegenüber Paris und Sankt Petersburg will er sogar auf Eroberungen verzichten. Mit Blick auf das besetzte Belgien, dessen Annexion weite Teile der Öffentlichkeit lautstark fordern, möchte Falkenhayn alle Wünsche bis zu einem Sieg über das Empire zurückstellen. Erstmals seit Jahren kommt damit ein Chef des Generalstabes zu nüchternen, halbwegs ungeschminkten Beurteilungen der Stärkeverhältnisse in Europa – für Bethmann eine unangenehme Überraschung. Doch der Kanzler hält Falkenhayn für einen Schwarzseher. Zum Verzicht auf Annexionen ist er nicht bereit. Denn nach dem militärischen Sturmlauf der ersten Wochen hat sich in der deutschen Öffentlichkeit die Sorge der Vorkriegszeit, das Reich sei von Feinden umzingelt, in dem Wunsch entladen, auf dem Kontinent die Vormachtstellung zu erringen. Über die deutsche Niederlage an der Marne hat die Heimatfront – dieses Wort taucht nun auf – von amtlicher Stelle kein Wort erfahren. Und so nährt der halbe Erfolg des Heeres eine allgemeine Selbsttäuschung: Stehen nicht überall deutsche Truppen auf feindlichem Boden? Den Ernst der Lage erkennen weder die Abgeordneten des Reichstags noch der deutsche Kanzler. Eine «gänzliche Preisgabe» des eroberten Landes empfindet nicht nur Bethmann als «Pflichtverletzung gegenüber den Gefallenen».[28] Auf einen Siegespreis will er nicht verzichten. Zu groß erscheinen die bisherigen Opfer. Doch ohne tatkräftige Hilfe der Diplomatie ist ein Separatfrieden unter keinen Umständen denkbar. Wie also soll Falkenhayn handeln?
Gegenwärtig scheitert in der Champagne der fünfte alliierte Großversuch, an der Westfront den ersehnten Massendurchbruch zu erzwingen. Schwierigkeiten bereitet vor allem die Lenkung der Angriffstruppen. Weil Telefondrähte, die Soldaten im Kampf beim Vorrücken entrollen, durch Artilleriebeschuss ständig zerreißen und es tragbare Funkgeräte nicht gibt, fehlt den höheren Stäben jede Nachricht in Echtzeit. Im Chaos des Trichtergeländes können die Generäle aus der Ferne wenig Einfluss ausüben. Und ohne Lenkung ist ein Massendurchbruch unmöglich. Dem Verteidiger wird es stets rechtzeitig gelingen, seine Reserven heranzuführen und den Einbruch abzuriegeln.
Aus solchen Erfahrungen hat Falkenhayn nunmehr drei Folgerungen gezogen. Erstens: Wegen der ungleichen, immer nachteiliger sich entwickelnden Kräfteverhältnisse im Westen, die über kurz oder lang zur Niederlage des Reiches führen müssen, ist die Kriegsentscheidung «nur durch einen Stoß und nicht defensiv zu erreichen».[29] Bloße Verteidigung wird unter keinen Umständen genügen. Zweitens: Für einen Massendurchbruch besitzt das deutsche Heer nicht die Mittel. Ohnehin versagt bei dieser Form des Stoßes aller Erfahrung nach die Lenkung. Drittens: Ein operativer Durchbruch kann ohne vorgeschaltete Zermürbung feindlicher Reserven nicht gelingen.[30] Diese drei Voraussetzungen muss der Generalstabschef also in Rechnung stellen: «Angriff», «kein Massendurchbruch», «vorgeschaltete Zermürbung». Hauptschwierigkeit ist die geringere Truppenzahl. «Unser Problem ist eben», erläutert Falkenhayn, «mit verhältnismäßig bescheidenem Aufwand dem Gegner schweren Schaden an entscheidender Stelle zuzufügen.»[31] Eines hat der Stellungskrieg bisher gelehrt – im Grundsatz ist der Verteidiger hinter Stacheldraht und Maschinengewehren stets überlegen. Falkenhayn ahnt: Künftig werden Briten und Franzosen die deutschen Reserven durch wearing-out-offensives und batailles d’usure langsam zu verbrauchen trachten. Für eigene Zermürbungsangriffe wiederum fehlen Falkenhayn Truppen und Material.
Der Generalstabschef verfällt auf den Ausweg, seinen Gegnern noch vor dem deutschen Hauptstoß verlustreiche Entlastungs- oder Gegenangriffe aufzuzwingen – ein Durchbruch über die Bande sozusagen.[32] Wie aber kann man britische oder französische Truppen zu eigentlich aussichtslosen, unverhältnismässig blutigen Angriffen zwingen?
Falkenhayn sieht im Abwandeln alter Belfort-Pläne die Lösung. Großbritanniens Armee hält er weiterhin für den leichteren Gegner.[33] Falkenhayns Eröffnungsoffensive muss ein Ziel bedrohen, das der Gegner nicht aufgeben will; nur so kann sich ein Zwang zum Gegenangriff entwickeln. Andernfalls wird der Verteidiger ausweichen und der eigene Hieb als Luftstoß verpuffen. Denn an der Westfront sind die Linien tiefgestaffelt – ein bis zwei Kilometer mit drei Grabenlinien. Wie ein Gummiband haben sie bisher die Wucht aller Hauptschläge erst gemildert und dann abgefangen. Unmittelbar nördlich der Somme, im Abschnitt der Dritten Britischen Armee, gibt es nirgendwo ein derart wichtiges Ziel; in Flandern, im Abschnitt der Ersten und Zweiten Britischen Armee, machen die Bodenverhältnisse jede Großoffensive im Frühjahr unmöglich. Bleibt die französische Front. Tatsächlich findet Falkenhayn dort einen Punkt, den der Gegner aller Voraussicht nach kaum aufgeben wird: die Festung Belfort, Frankreichs Wächterin an der Burgundischen Pforte.
Alle drei Überlegungen – «schwache Briten», «Durchbruch über die Bande» und «Belfort» – führen schließlich zu einem neuen, wichtigen Grundgedanken, der die Schlacht bei Verdun nachhaltig prägen wird: «Greifen wir die Franzosen an, dann werden auch die Engländer gezwungen, anzugreifen, obwohl sie noch nicht dazu fertig sind. Daraus wird sich die Lage für den entscheidenden Stoß entwickeln.»[34] Nach wie vor soll eine Eröffnungsoffensive bei Belfort das französische Heer zur Festlegung starker Reserven zwingen. Und nach wie vor will Falkenhayn den operativen Durchbruch nicht dort, sondern nördlich der Somme, im Abschnitt der Briten, erzielen. Jetzt aber soll der Durchbruch nicht in einem Anlauf, sondern erst im Gegenstoß erfolgen, hinweg über die Trümmer einer gescheiterten britischen Entlastungsoffensive. Diesen Entlastungsversuch hält Falkenhayn aus bündnispolitischen Gründen für sicher.[35] Jeder überhastete Angriff der unerfahrenen, mit Artillerie eher spärlich ausgerüsteten Briten muss zwangsläufig fehlschlagen; dabei werden die Angreifer starke Reserven verbrauchen; eben das muss am Ende im Gegenstoß mit Divisionen der deutschen Heeresreserve die Möglichkeit zum Durchbruch eröffnen – so lautet die Rechnung Falkenhayns.
1916, erklärt der Generalstabschef, «müssen wir dem Gegner unseren Willen aufzwingen».[36] Das Heer benötige, so Falkenhayn gegenüber Knobelsdorf, einen «großen politischen und moralischen Erfolg», der einen «großen moralischen Eindruck»[37] mache. Ein zweites Sedan, die Vernichtung des feindlichen Heeres, hält er mit Recht für unmöglich. Lediglich eine «Art von Bewegungskrieg mit Feldbefestigungen»,[38] glaubt Falkenhayn, sei denkbar. Die neue Rolle von Artillerie und Maschinengewehr im Zeitalter der Millionenheere, die nur schwach motorisiert und ohne Panzer oder nachhaltige Unterstützung aus der Luft operieren, würde sogar nach einem operativen Durchbruch die Angriffsbewegung alsbald bremsen; damit wäre das Anlegen von Gräben und Unterständen wenigstens zeitweise erneut unausweichlich. Kein Zweifel: Falkenhayn darf, wenn überhaupt, tatsächlich nur auf einen Bewegungskrieg mit Feldbefestigungen setzen. Ein operativer Durchbruch aber, für die Heerführer aller Seiten im Stellungskrieg gleichsam der Heilige Gral, würde zweifellos nicht nur neutrale Staaten wie Rumänien beeindrucken, sie vielleicht sogar ins Lager der Mittelmächte ziehen; ein solcher Riesenerfolg, hofft Falkenhayn, könnte den Durchhaltewillen in Großbritannien und vor allem in Frankreich brechen. Das jedenfalls stellt die Nachrichtenabteilung der Obersten Heeresleitung seit Mai 1915 in Aussicht. Die Abteilung «III b» hat eine Denkschrift verfasst, die vor Zuversicht beinahe strotzt. Neben den Agenten-Berichten, die in der Kriegsnachrichtenstelle Lörrach einlaufen, fußt sie offenbar vor allem auf Angaben von Spion «17»: August Freiherr Schluga von Rastenfeld.[39] Schluga, ein kluger, findiger Beobachter, schöpft überwiegend aus offenen Quellen; seine Berichte sind keineswegs sensationell. Doch weil eine Vernichtung des Gegners unmöglich erscheint, spielt die Einschätzung der sozialen, politischen und massenpsychologischen Lage für Falkenhayn eine wichtige Rolle.[40] «III b» weist darauf hin, «dass der Kriegswille Frankreichs, so anerkennenswert seine Anspannung sei, zu Bruch gehen könne, nicht sowohl [sic] wegen einer Kette von Niederlagen, die weiteres militärisches Operieren unmöglich machten, als [sic] wegen der Schwere der Opfer, die die Volkskraft unrettbar zu knicken drohten.»[41] Kurzum: «Frankreichs Opfer sind in diesem Kriege so riesenhaft, dass die Regierung … in Bälde vor die Frage gestellt sein wird, zu entscheiden, ob nicht die Aufgabe des Widerstandes der Zukunft der Nation dienlicher sein wird.»[42] Ein solches Urteil deckt sich mit Einschätzungen aus der Friedenszeit. Der Große Generalstab hatte entsprechende Überlegungen schon unter dem jüngeren Moltke angestellt: «Wir hatten uns im Frieden immer gesagt», so Generalmajor Gerhard Tappen, Leiter der Operationsabteilung in Mézières, «dass die Franzosen keine Reserven hätten, um ihre Lücken auszufüllen. Woher sollten sie immer wieder neue Kräfte nehmen? Das verhältnismäßig kleine Volk hatte es dazu nicht. Es musste sich verbluten.»[43] Und so glaubt auch Falkenhayn, dass es nur einer letzten äußersten Kraftanstrengung bedürfe, um das französische Volk die Grenze «des noch Erträglichen»[44] überschreiten zu lassen.
Am Ende der Besprechung in Mézières stellt Falkenhayn vier Armeekorps für die Elsass-Offensive in Aussicht. «Nach Einfahren der Artillerie», notiert Schmidt von Knobelsdorf, «wird Infanterie in 120 Zügen heranrollen und sogleich den Angriff beginnen.»[45] Der deutsche Generalstabschef sucht die Entscheidung.
Mittwoch, 31. November 1915. Paris, Palais Bourbon. Unter der Glaskuppel des Halbrunds im Palais Bourbon tritt Oberst Émile Driant ans Rednerpult. Auf dem Prunksessel des Präsidenten hat General Jean Marie Pédoya seinen Platz eingenommen; er leitet die Armeekommission der Abgeordnetenkammer. Sie tagt in nichtöffentlicher Sitzung. Pédoyas Aufgabe ist schwierig. Die Armeekommission beaufsichtigt im Namen des Parlaments den Kriegsminister, General Joseph Gallieni – ein militärisches Schwergewicht, das seinerseits dem Oberkommando vorgesetzt ist. Die Beziehungen zwischen Parlament, Regierung und Oberkommando sind überaus gespannt. Als Driant, ein sechzigjähriger Berufsoffizier, die Tribüne besteigt, scheinen viele Parlamentarier beunruhigt. Erst gestern hat Abel Ferry in der Kommission einen unerhörten Angriff auf das Oberkommando geführt.[46] Ferry, aus den Vogesen gebürtig, war in der Regierung Viviani bis vor wenigen Wochen Unterstaatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten; durch den Rücktritt Vivianis hat er sein Amt verloren. Das mag die Schärfe von Ferrys Angriffen erklären. Am Pranger stand gestern Frankreichs beliebtester Feldherr: Joseph Joffre, Oberbefehlshaber aller Streitkräfte der Westfront. Im Grand Quartier Général, schimpfte Ferry, würden Offiziere befehligen, «die diesen Krieg nicht vorhergesagt, nicht studiert und nie gesehen»[47] hätten. In Zukunft müssten Angehörige des Generalstabes eine Zeit lang an der Front kommandieren. Darüber hinaus, klagte Ferry, gäbe es im Oberkommando zu viele Vertreter der technischen Truppen und zu wenige Infanterieoffiziere. Jedermann weiß: Joffre hat sein Handwerk bei den Pionieren erlernt. «Uns fehlt es an Führung»,[48] behauptete Ferry. Sein Wort hat Gewicht. Abel Ferry, vierunddreißig Jahre alt und Abgeordneter der Gauche Radicale, stammt aus einer berühmten Politiker-Familie. Er versteht sich als Sprachrohr der Front. Der Abgeordneten-Offizier dient freilich in einem ruhigen Abschnitt: im Sektor Verdun.
Auf der Tribüne hat er gestern ausgesprochen, was man in den Gängen des Palais Bourbon schon flüstert: Die Herbstschlacht in der Champagne war eine Katastrophe. 190.000 Mann neue Verluste, ein riesiger Munitionsverbrauch und nur vier Kilometer Geländegewinn;[49] am Patt des Stellungskrieges hat sich kein Deut verändert. Noch immer besetzen deutsche Truppen französischen Boden. Doch das Oberkommando verschleiert den Fehlschlag. Die Schlacht in der Champagne, so ist von Joffre nun zu hören, sei ein Erfolg seiner Strategie der Zermürbung. «Wir müssen mehr Feinde töten, als sie von unseren Männern töten können.»[50] In der Champagne sei das gelungen. Aber Joffre überschätzt die Verluste des Gegners erheblich. Vor allem die französischen, weniger die deutschen Truppen haben sich in der Champagne «verblutet».[51] Geplant als operativer Durchbruch, deutet Joffre die Schlacht nur deshalb als Zermürbungskampf, weil eine Rückkehr zum Bewegungskrieg gescheitert ist.[52]
Das Parlament schob Joffre während der Mobilmachung 1914 die Rolle des Militärdiktators zu und entmachtete sich im Taumel nationaler Begeisterung weitgehend selbst. Doch wider Erwarten zog sich der Kampf in die Länge. Die Kammer trat wieder zusammen. Seitdem sind Regierung und Oberkommando abermals der Aufsicht durch die Volksvertreter unterworfen, genauer: durch die Armeekommissionen von Senat und Kammer. Allerdings bleibt deren Aufsichtsrecht mehr Anspruch denn Wirklichkeit. Die Heeresleitung glaubt, sie allein halte das Schicksal des Landes in Händen. Parlament und Regierung sieht Joffre als Zuträger, die ihm die Mittel für seine Kriegführung beschaffen sollen. Das Kräfteverhältnis zwischen Oberkommando, Regierung und Abgeordnetenkammer so auszupendeln, dass weder diktatorische Verhältnisse einkehren noch die Arbeit von Armeeführung oder Regierung leidet, bleibt eine schwierige Aufgabe. Hart ringen Joffre auf der einen und Pédoya auf der anderen Seite um das Recht der Abgeordneten, die Armeezone besuchen zu dürfen – noch immer ein Gebiet, in dem Joffre wie ein Alleinherrscher waltet. Dort kann er Gerichte einsetzen, Durchsuchungen anordnen, Personen ausweisen, Besuche untersagen.[53]
Und nun also Driant, selbst Mitglied der Armeekommission; die Rede Ferrys hat er gestern im Halbrund verfolgt. Driant ist verheiratet mit einer Tochter des berüchtigten Boulanger; 1886 stand General Boulanger, der Abgott des Heeres, kurz vor einem Staatsstreich. Dann aber floh er nach Brüssel; Jahre später erschoss er sich am Grab der Geliebten: Als Cäsar begonnen, wie Catilina gelebt, als Romeo geendet – dieses Wort macht noch immer die Runde.[54] Auch Oberst Driant dient im Sektor Verdun. Landesweite Bekanntheit hat er als Verfasser von Zukunftsromanen erlangt. Es fällt schwer, eine Zeitung zu nennen, die seine Werke nicht abgedruckt hat. Der Oberst schreibt Abenteuergeschichten im Stile Jules Vernes. Es gibt Übersetzungen ins Deutsche, Spanische, sogar ins Japanische. Viele seiner Bücher spielen in Zeiten künftiger Kriege. Geschichten wie La Guerre de demain, L’Invasion jaune oder Le Journal de guerre du Lieutenant von Piefke spiegeln Driants nationale Idee: Nur durch Selbstabkapselung, innere Geschlossenheit und militärische Stärke werde Frankreich, das einzige Bollwerk der Zivilisation, sämtlichen Todfeinden trotzen: Asiaten, Afrikanern, Deutschen, Briten und Juden. La Guerre fatale zum Beispiel beschreibt, wie das moralisch überlegene französische Heer ein verweichlichtes Großbritannien erobert. Die Armee ist für Driant die Schule der Nation.
Oberst Émile Driant, Berufsoffizier, Schriftsteller, Abgeordneter von Nancy, Mitglied der Armeekommission der Kammer und Kommandeur des 56. und 59. Jägerbataillons im Sektor Verdun
Und so verwundert es nicht, dass Abel Ferry, der heute ebenfalls im Halbrund sitzt, von Driant keine Rede im Sinne des Parlaments erwartet. Doch als der Oberst zu sprechen beginnt, schlägt er in dieselbe Kerbe: Die Heerführung vernachlässige ihre Pflichten. Das Parlament müsse auf Joffre ein Auge werfen. Es gebe Mängel des Grabensystems. Manche Abschnitte der Front seien einem Angriff ausgeliefert: «Die Organisation unserer Front ist an bestimmten Punkten nicht sicher.»[55]
Tatsächlich hat im Sektor Verdun der Bau vieler Stellungen eben erst begonnen. Es herrscht ein Mangel an Soldaten, die hinteren Linien sind teilweise unbesetzt. Die Truppen beklagen vernachlässigte Gräben besonders in der rückwärtigen Stellung.[56