STERBEN IST TÖDLICH
Erzählungen
von
RICHARD BIRKEFELD
Impressum
Copyright 2014, Richard Birkefeld, Hannover
Ebook-Erstellung: Belbook by Satzweiss.com GmbH
ISBN 978-3-8450-1363-3
Alle Rechte vorbehalten.
Im Rückblick war es wohl einer der schlimmsten Tage seines Lebens, den er bis dato erlebt hatte, aber auch einer der folgenreichsten, denn nur zwei Wochen später machte der Job als Aushilfsgärtner in einem ostfriesischen Blumenpark aus ihm einen neuen Menschen.
An diesem besagten Tag aber fühlte sich Puscha bereits früh im Stress. Sein Großonkel aus Wiesmoor hatte schon vor Tagen seinen Besuch angemeldet und im Maritim am Friedrichswall ein Zimmer gebucht. Er wollte das Wochenende in Hannover verbringen, um Puscha endlich mal persönlich kennenzulernen, denn der Großonkel hatte fast sein ganzes Leben im Ausland verbracht und von Puschas Existenz erst vor wenigen Monaten erfahren, als er in seine alte Geburtsstadt zurückgekehrt und bei seiner Schwester, Puschas Großmutter, eingezogen war. Die Oma hatte Puscha telefonisch berichtet, dass ihr Bruder ein stattlicher und vermögender Mann geworden war, der angeblich für einen internationalen Arzneimittelkonzern gearbeitet hätte, sie aber glaubte, dass so manches Ereignis im Leben ihres Bruders nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könnte und seine früheren Arbeitgeber wohl eher Dunkelmänner eines italienischen Familienunternehmens als ehrbare Geschäftsleute gewesen sein dürften. Aber nichtsdestotrotz wäre ihr Bruder ein charmanter und großzügiger Siebzigjähriger, dessen liebenswerte und gepflegte Erscheinung solche Zweifel an seinem Lebenslauf schnell vergessen machten. Trotzdem glaubte sie, dass ihr Bruder immer noch ein recht gefährlicher Kerl sei, mit dem nicht zu spaßen wäre.
Puscha jedenfalls freute sich auf dieses geheimnisvolle Neumitglied seines kleinen Familienkreises, hatte er doch seinen Erzeuger nie kennengelernt und seine Mutter nach dem Studium durch einen tragischen Autounfall verloren. Wenn er seinen Großonkel am nächsten Tag vom Bahnhof abholte, wollte Puscha unbedingt einen guten Eindruck machen, schick gekleidet sein und einen generösen Gastgeber mimen. Aber dafür brauchte er Geld. Und das hieß: Früh aus den Federn und dealen, dealen, dealen.
Erst wollten die Junkies ihm am Morgen das Zeug fast aus der Hand reißen; machten ein Geschrei und ein Getue dabei, dass er schon befürchtete, die Bullen hätten ihn an der Kandare, bevor er das erste Gramm vertickert hatte.
Während die braven Hannoveraner oben am Steintor aus der U-Bahn in Richtung Georgstraße an ihm und seinen Trabanten vorbeiströmten, um ihrer Arbeit nachzugehen, schleppte sich die Harz-Vier-Fraktion, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, durch die Lange Laube zur Brühlstraße, um in der Agentur für Arbeit als Nichtsnutze abgestempelt zu werden.
Puscha kannte den Laden dort, das Gesocks, das dort arbeitete und den penetranten Geruch von Verbitterung und Resignation, der zwischen Goethe- und Otto-Brenner-Straße durch die hässlichen Gassen zog, wie der Qualm einer brennenden Windel.
Acht Jahre Quälerei durchs Amt. Nach dem Magister in Soziologie und Politik erst ABM-Stellen, dann Werk-Verträge, dann Ich-AG, dann ARGE-II, Ein-Euro-Jobs und schließlich drauf gepfiffen, auf all die verfluchten Bestimmungen, Fragebögen und Rumschnüffeleien, auf endlose Bewerbungsschreiben, Vorstellungsgespräche, Absagen und Ausbeutungen durch Leihfirmen, die einen für fünf Euro Stundenlohn an irgendwelche Verbrecherfirmen verhökerten. Was sagt ein Soziologe ohne Arbeit zu einem Soziologen mit Arbeit: Einmal Pommes mit Mayo, bitte! Das war sein Lieblingswitz, den er damals bei jeder Gelegenheit erzählt hatte.
Aber das war Vergangenheit. Er hatte vor zwei Jahren in der Wartezone der Agentur seinen alten und ebenfalls arbeitslosen Kommilitonen Eckbert O. wiedergetroffen, dem es gut zu gehen schien, und der ihm riet, die Stütze doch auf unakademische Art und Weise aufzustocken: Die wirtschaftliche Notsituation verlangt nach außergewöhnlichen Maßnahmen. Heute machte Puscha zwar mehr Knete, als der Agentur lieb sein dürfte, nur erwischen lassen sollte er sich lieber nicht.
Aber all diese Cold Turkeys, die ihn oben auf der Treppe zur U-Bahn-Station umringten, nahmen da keine Rücksicht drauf, konnten gar nicht früh genug ihren Schuss bekommen. Sie bedrängten ihn, streckten ihm die Kohle entgegen oder, wie die Heroinen, die beim nächtlichen Anschaffen glücklos gewesen waren, ihre Becken oder Brüste, wollten ihm einen blasen, für eine kleine Spritze Seligkeit, für eine Nase Selbstbewusstsein oder für eine Tauchtour mit dem Yellow Submarine, um nicht ständig diesen ekligen Gestank im Steintorviertel ertragen zu müssen.
„Ohne cash kein flash!“ Sein Standard-Spruch, während er die hartnäckigsten She-User zu verscheuchen suchte. Aber die Sucht-Traube, die an ihm hing, war zu auffällig und zu laut, als dass er in Ruhe seinen Stoff an die zahlungswilligen Bedarfer hätte loswerden können. Und tatsächlich sah er sie zwei Minuten später aus der Nordmann-Passage kommen, Brockmann und Pirkner, die zwei zivilen Drogenfahnder aus dem Bullen-Headquarter Herschelstraße, die ihn auch sofort ins Visier nahmen.
Da hieß es nur noch ab durch die Goldene Mitte, und schon jagte er über die Fußgängerzone, bog in die Steintorstraße und fand sich schließlich auf der Toilette des Strip-Schuppens El Dorado am Marstall wieder, um dort das Zeug im Klo zu versenken, die Hosen herunterzuziehen, das Angst-Ei zu legen und alles wegzuspülen. Eine Sekunde später flog ihm die Kabinentür um die Ohren. Pirkner riss ihn von der Schüssel, Brockmann stierte enttäuscht in den stinkenden Syphon, und Puscha fragte scheinheilig, warum er sich hier nicht in Ruhe erleichtern und den Hintern abwischen könnte. Das durfte er großzügigerweise unter Aufsicht - dann filzten sie seine Taschen und ließen ihn wieder laufen. „Wir kriegen dich noch, Puscha, beim Arsche des Proleten!“
Und tschüss, ihr Drug-Tore - wie er sie insgeheim nannte.
Puscha war wütend. Kaum etwas verkauft, und schon war seine Investition flöten. Schlappe fünftausend Euro ins sanitäre Porzellan gespült, um nicht wieder in den Knast wandern zu müssen. Doch das Geld musste er erst einmal wieder auftreiben, um von Kater Karlo neuen Stoff kaufen zu können. Schöner Mist aber auch! Nix mit neuen Klamotten, nix mit großzügigem Gastgeber.
Puscha verließ die Toilette, ging an der Stripperin vorbei, die sich vor den morgendlichen Besuchern auf dem kurzen Catwalk fläzte und diesen ihre gewaltigen Brüste präsentierte, als gälte es, die Bewunderer daran zu erinnern, Milch in ihre Kaffeebecher zu gießen oder weiterhin brav an ihren Bierflaschen zu nuckeln.
Die Luft war rein, die Bullen verschwunden, und schon eilte Puscha am Hohen Ufer entlang bis zur Schlossbrücke, die am Ende des Klostergangs die Leine überspannte. Dort, über der Pizzeria Mario, oben im Dachgeschoss, hatte er eine kleine möblierte Wohnung angemietet.
Das Haus gehörte dem schnell aufbrausenden Johnny Bertram, einer Kiezgröße, die vor zwei Jahren von Kater Karlo aufs Altenteil geprügelt worden war, und die nun direkt unter ihm wohnte und seit dieser Zeit auf Rache sann und gleichzeitig Puscha jeden Monat ermahnte, rechtzeitig die Miete zu überweisen.
Oben fand er im Blumenkasten seines kleinen Balkons, der zum Leineufer rausging, ein paar versteckte Heftchen Great White Open und in der Tasche einer Jogginghose noch einen Fünfziger. Er steckte alles ein und ging in die Markthalle zu Chetin, um sich einen Latte zu gönnen und beim Lesen des Sportteils der BILD seinen erhöhten Puls wieder auf Normal zu chillen.
Kaum hatte er sich in den Bericht über Mirko Slomkas Mannschaftsaufstellung für das Heimspiel der 96er gegen Schalke vertieft, als einer seiner Stammkunden ihn belästigte und völlig schweißgebadet und außer Atem weißes Zeugs verlangte und ihm zwei Hunderter unter das Kaffeeglas schob. Puscha gab ihm all seine Heftchen und beobachtete, wie der Junkie zwischen den Ständen hindurch zur Markthallentoilette hastete.
Ein paar Minuten später war die Hölle los, und die cerealische Feuchte der Markthalle schien in der spannungsgeladenen Atmosphäre zu verdampfen. Sirenengeheul, überall Bullen, ein Dutzend schwerbewaffneter und geharnischter Soko-Rambos drangen in die Toilette, Geschrei, Schüsse, und am Ende vom Spiel-mir-das-Lied-vom-Tod trugen sie den erschossenen Junkie auf einer Bahre aus der Toilette und es hieß, der durchgeknallte „Assi“ hätte eine halbe Stunde vorher die Sparkasse am Aegi überfallen.
Natürlich entdeckten Brockmann und Pirkner ihn hinter der BILD-Zeitung, und vor den Gästen seines Lieblings-Standes filzten sie ihn ein zweites Mal, während der Drogenhund ihrer Kollegen seine Hände leckte, als hätte er den Stoff nötiger, als sein erschossener Stammkunde, der draußen auf der Karmarschstraße gerade in einen schwarzen Kombi geschoben wurde. Into the Great Wide Open with a Black Limousine. Die Schnüffler fanden natürlich wieder nichts, hatte er doch die letzten verbliebenen Heftchen an den Erschossenen verkauft. Das konnte ihm aber keiner nachweisen, und die zweihundertundfünfzig Euro in seiner Tasche waren auch keine Summe, nach deren Herkunft man groß fragen musste. „Wir kriegen dich noch, Puscha!“
„Macht'n Lied draus, Leute!“ Puscha ordnete seine Klamotten und bestellte bei Chetin noch einen Latte. „Das könnte ein Hit werden.“
Zwei Stunden später war er bei Kater Karlo, einem muskulösen Schlägertypen und Herrscher des Kiezes, der in der Kombüse zu tagen pflegte und literweise Multivitaminsaft trank, bedient von zwei seiner Bodyguards. Als Puscha für seine restlichen Euronen Stoff kaufen wollte, brach Kater Karlo in schallendes Gelächter aus. „Bin ich der Vorsitzende des Kleingartenvereins Himmelsruh?“
„Ich habe immer gut gedealt! Ich dachte, du könntest mir mal ausnahmsweise...“
„Nix da, Puscha“, unterbrach ihn der Kater. „Fünftausend Minimum oder du verkaufst nur Luft für die Spritzen.“ Kater Karlo nahm einen Schluck Saft und schien darauf herumzukauen, als hätte er sich Dämmschaum in den Mund gedrückt. „Aber ich vertraue dir, Puscha, du kannst für mich auch auf Kommission verkaufen. Zehn Prozent für dich.“
Puscha hatte keine andere Wahl. Er musste leben, wollte sein Bier trinken, hatte seine Miete zu zahlen und wollte noch dringend Asche machen, bevor sein Großonkel anreiste. Eine Nachtschicht hinterm Bahnhof könnte all seine Probleme lösen.
„Okay, Boss, zweimal Minimum -- aber nächsten Monat arbeite ich wieder selbständig.“
„Das ist gepoppt wie gevögelt und mir völlig wumpe“, entgegnete Kater Karlo gelangweilt, „aber bis dahin gehört dein Arsch mir.“
Dann wandte er sich an einen seiner Beschützer und wies diesen an, für „zehn Mille Zeugs abzuwiegen“ und es in einer Stunde am Übergabeort zu deponieren. Schließlich wurde Puscha mit einer Handbewegung entlassen und nach draußen auf die Goethestraße komplimentiert. Immerhin – kein ganzer, aber ein halber Erfolg.
Weil sein Magen knurrte, beschloss Puscha, langsam zum Bratwurst-Glöckle zu schlendern, um sich dort ein Fischbrötchen oder eine Frikadelle mit Pommes einzuverleiben.
Er kannte das Procedere. Nachdem er beim Gehry-Tower in die Reuterstraße abgebogen war, betrat er nach wenigen Metern das unscheinbare Bordell am Ende der Gasse und fragte die Puffmutter nach Serena. Sie nannte ihm die Zimmernummer und er ging nach oben. Zwei Minuten später stand er in Serenas Zimmer, drückte der Hure einen Zwanziger in die Hand und bekam, nachdem er seinen Dealernamen genannt hatte, ein schuhkartongroßes Paket ausgeliefert. Daraufhin kehrte Puscha in seine Wohnung zurück, um die Ware ein wenig mit Backpulver zu strecken, zu portionieren und in kleinen Tütchen abzuwiegen.
Aber kaum hatte er die winzige Wohnung betreten, da klingelte es Sturm und Johnny Bertram stand mit seiner brutalen Gangstervisage vor der Tür, schrie ihn an, dass er es leid wäre, ständig hinter seiner Miete herlaufen zu müssen und drückte ihm die Kündigung in die Hand.
„Nächste Woche biste hier verschwunden, du Wichser, sonst mach ich mal einen auf Zwangsräumer und trete dich aus der Hütte.“
„Sag das meinem Anwalt.“ Puscha knallte die Tür zu und ärgerte sich, dass er nie in seinem Leben eine Rechtsschutzversicherung abgeschlossen hatte. Er ging in die winzige Küche, legte den Karton auf die Spüle und öffnete den Wandschrank, um nach dem Backpulver zu greifen, als unten vom Klostergang Lärm zu ihm hochdrang. Puscha trat auf den Balkon, blickte nach unten, sah den unauffälligen VW-Bus, der auf dem Bürgersteig geparkt war, die handvoll Zivilisten, vorneweg Brockmann und Pirkner, die sich gerade durch den Eingang ins Haus drängelten.
Mist, sie hatten ihn im Auge, wollten es wissen und ihm endlich den Rest geben.
Puscha hatte nicht viel Zeit. Er nahm das Paket in die rechte Hand, holte aus und wollte den Stoff durch die Balkontür im hohen Bogen in die Leine werfen, doch der Wurf misslang, das Paket streifte den Türrahmen, prallte unglücklich ab und wurde auf den Blumenkasten geschleudert, um von dort langsam über die Balkonbrüstung zu kippen. Während er auf den Balkon stürzte und das Paket nur wenige Meter unter sich auf Bertrams Terrasse liegen sah, krachte seine Wohnungstür aus den Angeln und ruckzuck wimmelte es in der Bude von schnüffelnden Bullen und Drogenkötern.
Sie fanden aber kein Gramm, die Töle leckte an seiner Hand, schien ihn aber eher zu begrüßen, als zu beschnuppern, und Pirkner und Brockmann zogen eine Fresse. Puscha nahm ihnen ihren Kommentar vorweg: „Ich weiß – eines Tages habt ihr mich am Arsch – aber heute ist das wohl nicht der Fall.“
Die Truppe zog ab, nicht ohne noch kleinlaut die Tür wieder notdürftig in die Angeln zu heben.
„Unser Fachdienst bringt das wieder in Ordnung.“
Puscha ging auf den Balkon und beobachtete, wie die Bullerei von dannen schlich. Das Päckchen auf Bertrams Terrasse war allerdings verschwunden.
Na, bravo! Das sah nach einem echten Super-GAU aus.
Puscha öffnete vorsichtig die in ihren Angeln knarzende Wohnungstür, stieg die zwei Treppen zu Bertram hinunter und klingelte.
„Willste die Miete löhnen?“ Big Johnny stand einen Augenblick später breitbeinig in der geöffneten Tür.
„Bezahl ich morgen. Ich wollte nur den Karton abholen, der mir aus Versehen auf deine Terrasse gefallen ist.“
„Da ist kein Karton und da lag auch kein Karton.“ Bertram trat zurück in seine Wohnung. „Zahl deine Miete, du Niete, und alles wird gut.“ Die Tür fiel ins Schloss.
Bertram wollte ihn also linken. Jetzt konnte ihm nur noch Kater Karlo helfen. Aber als Puscha in der Kombüse vor dem Kiezkönig stand und ihm den Sachverhalt zu erklären suchte, griff dieser zum Handy und rief Johnny Bertram an.
„Hast du Puschas Stoff?“
Kater Karlo lauschte kurz der Antwort. „Aber wenn du's hast, dann rück's raus, sonst mach ich dich alle.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer brutalen Grimasse. „Du mich auch, Blödmann!“ Er schaltete das Handy wieder ab. „Der Arsch sagt, er hat nichts und ich soll dir ausrichten, dass du deine Miete zahlen sollst.“
„Der lügt doch wie gedruckt.“ Puscha war der Verzweiflung nahe.
„Pass auf, du kleiner Putzlappen,“ Kater Karlos Gesicht bekam diesen fiesen Ausdruck, der anderen Mitmenschen wirklich Angst einjagen konnte, „mich interessiert euer Nachbarschaftsstreit nicht. Du stehst bei mir in der Schuld und Ultimo wird abgerechnet. Solltest Du mich um meine zehn Mille bescheißen wollen, bist du tot! Klaro?“
Puscha musste schlucken und nickte.
„Dann verpiss dich und bring die Sache in Ordnung.“
Hätte dieser Tag nur sechs Stunden gehabt, wäre er vielleicht noch als angenehmer Sommertag durchgegangen, so aber bekam er nach 17 Stunden von Puscha einen privaten Guiness-Buch-Eintrag als fürchterlichster Tag seines bisher zweiunddreißig Jahre währenden Lebens. Denn die Chance, dass er in zwei Wochen seinen nächsten Geburtstag feiern konnte, war nach dieser Ausgangssituation sehr, sehr gering.
Sein Großonkel war in der Tat eine imposante Erscheinung. Ein großer, weißhaariger Mann mit einer verwegenen Adlernase und einem immer noch recht sportlichen Körperbau.
„Nenn mich bloß nicht Opa oder Onkel – nenn mich Rippe – das machen alle.“ Er umarmte Puscha zur Begrüßung und hielt ihn dann auf Armeslänge fest, während er sein Gesicht betrachtete. „Du bist ein wenig blass um die Nase! Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, ja“, wich Puscha aus und führte Rippe vom Bahnsteig durch die Bahnhofshalle zum Taxistand am Ernst-August-Platz.
Während der kurzen Fahrt zum Maritim fragte ihn Rippe ein Loch nach dem anderen in den Bauch, und Puscha ärgerte sich, von keinem interessanten Privat- oder Berufsleben berichten, sondern nur ständig irgendwelche Ausflüchte, Ausreden und Entschuldigungen aneinander reihen zu können. Besonders unangenehm waren die Fragen nach einer festen Freundin oder Geliebten, denn Puscha hatte keine Lust davon zu erzählen, wie ihn vor zwei Monaten seine langjährige Freundin Katja wegen seines kriminellen und unmoralischen Lebenswandels verlassen hatte.
Auch während einer kleinen selbstinszenierten Stadtrundfahrt mit Hilfe der ÜSTRA gab Rippe keine Ruhe. Ob auf der Aussichtsplattform des Neuen Rathauses, am Maschsee, Herrenhäuser Gärten oder in der Altstadt, stets wollte Rippe etwas über Puschas Leben wissen, bis der Alte im Waterloo-Biergarten nach dem zweiten Weizen in medias res ging. „Dir steht das Wasser doch bis zum Hals, mein Lieber. Erzähl mal, vielleicht kann ich dir helfen. Ich bin schließlich dein Großonkel.“
„Die machen mich fertig, die bringen mich um!“
Es war für Puscha ungemein tröstlich, mal wieder mit seinem Geburtsnamen angeredet zu werden. Hauke. Ja, er hieß Hauke und nicht Puscha. Sein Name war Hauke Rippens und der weißhaarige Mann neben ihm hieß Rippe Rippens. Ja – er war ein Rippens.
Warum nicht? Besser in Wiesmoor leben und arbeiten als in Hannover im Knast zu sitzen oder gar tot zu sein.
Ein High-Five besiegelte die Abmachung, und Hauke holte das Weißbier.
*
Hauke war auf dem Weg nach Wiesmoor und saß im Zug von Hannover nach Aurich. Seine persönlichen Dinge passten in einen alten Überseekoffer, den er am vorangegangenen Samstag auf dem Flohmarkt direkt vor seiner Haustür erworben hatte.
Nachdem sie am besagten Freitag den Biergarten verlassen hatten, musste Hauke seinem Großonkel noch alles über Bertram und Kater Karlo erzählen, was er wusste. Adressen, Telefonnummern, Gewohnheiten und Örtlichkeiten. Dann hatte Rippe Hauke gebeten, in irgendeiner Altstadtkneipe auf ihn zu warten und sich für eine Stunde verabschiedet.
Teestübchen
Als Hauke seinen Großonkel am Bahnhof verabschiedete, hatte er per Handschlag versprechen müssen, so schnell wie möglich nach Ostfriesland umzusiedeln.
„Das wird es. Ich hole dich dann in Aurich ab.“
Am nächsten Tag hatten sich die Ereignisse überschlagen. Im Haus war wieder die Hölle los, Geschrei, Brockmann, Pirkner, zig Kollegen in Uniform und Zivil, Drogenhunde und eine eingetretene Tür. Diesmal aber bei Johnny Bertram.
Er hatte sich die Artikel ausgeschnitten, zusammengefaltet und in seine Brieftasche gesteckt, als ob er damit sicher stellen wollte, auch keiner Täuschung aufgesessen zu sein.
Blutbad im Steintorviertel. In der Nacht von Sonntag auf Montag stürmte die ehemalige Rotlichtgröße Johann B. (54) in das bekannte Kiezlokal Kombüse und erschoss drei Männer, darunter den im Milieu unumstrittenen Steintorkönig Fritz Obentraut, Kater Karlo genannt. Die zwei anderen Opfer waren Mitarbeiter des bereits mehrfach wegen Körperverletzung, Drogenhandels und Zuhälterei verurteilten Obentrauts. Zunächst war der Täter flüchtig, konnte aber einige Stunden später in seiner Wohnung verhaftet werden. Wie ein Polizeisprecher mitteilte, sei das Motiv des ebenfalls wegen Gewalttaten vorbestraften Täters Rache gewesen. Er sei tags zuvor selbst von einem Handlanger Obentrauts in seiner Altstadtwohnung überfallen, ausgeraubt, erniedrigt und halbtot geschlagen worden. Nur weil der maskierte Täter wohl geglaubt haben müsse, er sei tot, habe dieser von ihm abgelassen und von seinem Festnetzapparat jemanden angerufen und hätte wortwörtlich gesagt: Alles erledigt, Kater Karlo, die Sau ist hin! Als sich B. am nächsten Tag wieder einigermaßen hergestellt glaubte, hätte er Rache geschworen und die Tat ausgeführt. B. wurde inzwischen dem Haftrichter vorgeführt und sitzt in Untersuchungshaft.
Als Hauke in Aurich den Zug verließ, holte ihn wie versprochen sein Großonkel mit einer Limousine ab.
„Ja, ja.“ Haukes Stimme klang immer noch fassungslos. „Die Probleme sind wie weggezaubert.“
Sein Großonkel hievte den schweren Überseekoffer mit einer erstaunlichen Leichtigkeit ins Auto.