DIE ERSTE
VERSUCHUNG
GREGOR EISENHAUER
mitteldeutscher verlag
Liebe ist ein Produkt der Wechselreizung
Novalis
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Titel
Zitat
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Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Impressum
Wer ich bin, ist nicht von Belang. Was ich tue, lieber Leser, wird Sie hingegen interessieren. Ich kümmere mich um die Kinder alleinerziehender Frauen. Seit geraumer Zeit schon.
Kümmern kommt von Kummer. Und Kummer bereitet es mir, dass so viele Menschen allein sind. Dabei hat Einsamkeit etwas sehr Verbindliches. Einsame Menschen erkennen einander sofort. Ein seelischer Trauerrand umgrenzt sie. Deswegen scheuen sie voreinander zurück und finden so selten zusammen. In dieser Stadt leben sehr viele einsame Menschen, sehr viele. Und immer wieder stellt sich die Frage – warum? Wie kann eine so schöne, so kluge, so gewinnende Frau so einsam sein? Die Antwort ist einfach: Sie glaubte sich dem Leben gewachsen. Aber sie ist es nicht.
Aus unterschiedlichen Gründen, so scheint es ihr, tatsächlich aber ist die Ursache eine sehr banale: Selbstüberschätzung. ›Du kannst es schaffen‹, souffliert ihnen ihr Ehrgeiz, und sie bringen es meist auch weit, diese Frauen, denn sie existieren im Plural, Kopien singulärer Hoffnungen. Sie sind erfolgreich im Beruf, sind stolz auf ihr Kind, sind sicher, allein bestehen zu können. Doch es sind nicht die großen Hindernisse, es sind die kleinen Hürden des Alltags, die sie immer häufiger stolpern lassen. Und irgendwann ist der Wunsch da, liegen zu bleiben. Denn wer müde ist, dem wird die kleinste Hürde zur Schranke seiner Existenz.
Wer ruhig durch unsere Stadt geht, sieht viele solcher Frauen, in allen Gegenden. In Armutsgegenden allerdings suchte ich nie. Die Frauen dort haben einen Blick für das Böse, sie begegnen ihm ja täglich.
An anderen Orten ist es leichter zu helfen. Frauen am Flughafen, mit sehr ernsten Kindern, die ihre eigene Tasche tragen, die zu leicht gepackt wurde, während die Mutter am schweren Koffer zerrt. »Darf ich Ihnen …« Und meist ist ein Wiedersehen selbstverständlich.
Frauen mit hektischem Tempo den Kinderwagen vor sich her schiebend, so als könnten sie immer noch Schritt halten mit denen, die ohne Kind sind – herausgeputzt meist, als dürften sie durch die Hintertür noch einmal den Heiratsmarkt aufsuchen, der ihnen einst als Skandalplatz des Menschenhandels galt.
Frauen mit müden Gesichtern, hochglanzgeschminkt, aber ohne Ruhe im Blick, weil der Radar ihres Herzens unentwegt Inseln der Sehnsucht ortet, deren Betreten ihnen aus ganz unterschiedlichen Gründen versagt ist. Denn sie könnten sich ja ein besseres Leben durchaus vorstellen, wäre da nicht die Verantwortung für ein Kind, dem sie niemand anderen zur Seite wünschen als sich selbst, und natürlich einen Vater, von dem sie längst jede Ahnung verloren haben, weil sie sich zutrauen, auch seine Rolle ausfüllen zu können.
Man erkennt diese einsamen Frauen am Geschrei, am Geschrei der Kinder, am Gequengel, an der Art, wie die Mutter das Kind zu beruhigen versucht, wenn es im Supermarkt die Regale leer wischt. Als würde ein Erwachsener zu einem Erwachsenen reden. Als gäbe es etwas zu verhandeln.
Im Speisewagen, wenn sie sich mit einem entschuldigenden Lächeln an den Tisch setzen, wohl wissend, dass die Manieren des Kindes nicht hinreichen. »Nein, leider kein Urlaub, nur ein Wochenende …«, sie pendeln ja häufig zwischen ihrer Welt und der des Vaters oder der Großeltern.
Und die Teddybären der Kinder, die herabbaumeln, die Art, wie sie im Zug zwischen den Reihen hindurchrennen, jeden anfassen, dort einen Vater suchen, hier eine Mutter, oder einfach nur Halt. Hänsel und Gretel allerorten.
Ich gab mir für jeden Fall sechs Monate. Selten, dass ich überzog. Es war der ewig gleiche Rhythmus von Annäherung und Abstoßung. Kalendarisch fixierte Emotionen. Als stünde das Schicksal wirklich in den Sternen geschrieben. Mit solchen Sätzen fing ich sie. Denn wem der Alltag das Glück versagt, der wird abergläubisch, sieht das Leben zunehmend als Lotterie, zieht hektisch Lose.
Das erste Gespräch, die reine Fürsorge. Das Kinn gestützt auf die gefalteten Hände, die Augen fest auf sie gerichtet. Erzählen lassen.
Es kam selten Langeweile bei mir auf, auch wenn die Geschichten sich kaum unterschieden. Sie konnten, da sie junge Mütter waren, das Leben noch nicht aufgeben; sie konnten es aber auch nicht leben, zumindest nicht mit jener Leidenschaft, die sie noch in sich glaubten. Das war sozusagen mein Startkapital, mein Spielgeld. Ein hoher Betrag, aber nicht unerschöpflich. Man muss haushalten.
In meinem ersten Fall war ich dem Scheitern nah gewesen. Die bedingungslose Liebe der Frau hatte mich hochmütig gemacht, zu selbstsicher, unattraktiv letztlich.
Dank eines Schnitts mit dem Brotmesser über die Bauchdecke gelangte ich zurück zu ihr. Ich gab es als blutige Folge eines Überfalls rabaukenhafter Jugendlicher aus, die mich auf dem Weg zu ihr gestellt und mein Handy sowie meinen Geldbeutel geraubt hatten. Das war eine schmerzliche Erfahrung. Aber danach nahm sie mich noch inniger an. An Kindes statt. Und verstieß ihr eigenes. Umtauschen – das beherrschen diese Frauen selbst in der Not.
Verrückt, sagen Sie?! Natürlich, das verstehe ich sehr gut, dass Sie den Wahnsinn der anderen zunächst einmal mir anlasten. Aber nehmen Sie sich Zeit, lieber Leser, den Fall zu überblicken. Nehmen Sie sich Zeit, mich zu verstehen.
Ich sehe mich, um es vorläufig zu formulieren, durchaus als Instrument des Kindesglücks. Was Sie wiederum mit gutem Grund veranlassen könnte zu sagen, ich sei verrückt. Aber was ist verrückter: Mit einem weitgehend fremden Mann ein Kind zu zeugen, dann, nach der Trennung, zwanzig Jahre an die Erziehung dieses Kindes dranzugeben, das eigene Leben währenddessen aus den Augen zu verlieren und dennoch behaupten, alles richtig gemacht zu haben, weil sonst der Gram über das eigene Fehlverhalten erdrückend würde … Verrückt, oder? Vor allem, wenn man an das Glück des Kindes denkt. Was kann aus einem solchen Menschen werden, der letztlich nicht wirklich gewollt war? Dem ein Schutzengel fehlt, es sei denn – ich stelle mich ihm zur Seite.
Der Ehrgeiz eines jeden Menschen, der etwas Außergewöhnliches tut, hat das Recht auf Immunität, sei er Künstler, Staatsmann, Wissenschaftler, also geben Sie mir vorläufig Immunität.
Ich verschwand. Von einem Tag auf den anderen. Meist nach sechs Monaten, wie gesagt. Anfangs hinterließ ich gelegentlich einen Abschiedsbrief, derlei Rührseligkeiten stellte ich aber bald ein, denn in der Regel waren die Frauen stark genug, an sich selbst zu verzweifeln. Sie ließen mich in Ruhe. Zur Sicherheit wechselte ich dennoch die Wohnung, einen konkreten Anlass dazu gab es allerdings nie. Die Verzweiflung kehrte sich ganz nach innen. Auch der Zufall hatte ein Einsehen – ich war keiner dieser Frauen bisher je wiederbegegnet. Im juristischen Sinn musste ich mir ohnehin keinen Vorwurf machen: Stets waren die Frauen straflos ausgegangen. Nie war Anklage wegen fahrlässiger Tötung oder Kindesvernachlässigung erhoben worden. Immer waren sich die Unbeteiligten einig: Was für eine Tragödie! Aber Tragödien werden von Menschen gemacht. All diese Unfälle waren letztlich vermeidbar. Und doch unvermeidbar.
Das Böse! Kaum eine Frage ist so dumm, wie die allabendlich im Boulevardfernsehen gestellte, wie es denn habe geschehen können, das Böse? Ja, wie denn? Ganz einfach geschieht das Böse. Denn es ist von allen gewollt. Am sehnlichsten natürlich von denen, die darüber berichteten.
Anke traf ich in einem Supermarkt. Sie rammte meinen Einkaufswagen. Der ihre war randvoll. Sie hatte für die Geburtstagsparty ihrer Tochter eingekauft. »Diese Tüten können Sie doch unmöglich alle selbst tragen …!« Sie protestierte. Ich half ihr dennoch, die Taschen im Kindersitz ihres Fahrrades zu verstauen. Wachsamen Auges ging ich neben ihr her, unterhielt sie mit Alltäglichem, verabschiedete mich mit einem frohen Lächeln vor ihrer Haustür.
»Wir könnten doch …« – »Ja, könnten wir …« Mein Echo war ihr Lachen.
Wir trafen uns wieder zum Kaffee, küssten uns im Park, redeten viel.
Nach zwei Wochen nahm sie die Pille. Ich hätte ihr sagen können, dass Kondome sicherer und sauberer sind, aber das hätte sie nicht erwärmt. Ich hatte es einmal getan, bei einer ihrer Vorgängerinnen, und war von da an nur noch als Liebhaber behandelt worden. Mütter wollen Väter.
Anke war eine wunderbare Frau. Sie hatte bezaubernde Sommersprossen, die wölkchenweise über ihr sehr flächiges Gesicht verteilt waren. Und sie hatte dieses Lächeln, in dem sich ihre Weiblichkeit mengte mit einer bizarren Naivität. Sie war zum Träumen. Ohne sich dessen bewusst zu sein. Wie viele schöne Frauen hatte sie keine sonderlich hohe Meinung von sich selbst. Komplimenten gegenüber war sie misstrauisch, wenn nicht gar feindlich eingestellt. Als wollte sich jemand auf Schleichwegen in ihr Herz stehlen.
Als ich ihr die Tür zum Café aufhielt, musste sie lauthals lachen. Das war ihr lange nicht passiert. »Nie eigentlich«, resümierte sie nach kurzem Nachdenken. Und so war es einfach, mit ihr ins tiefere Gespräch zu kommen.
Es war eines dieser Cafés, in denen Mütter gedankenverloren in ihren Milchkaffees rühren, nachdem sie ihre Kinder zur Musikstunde gebracht haben. Die freie Viertelstunde vor dem Einkauf. In solchen Momenten stellt sich zuweilen eine Ahnung der Belanglosigkeit ihres Lebens ein. Eine Einsicht, der sie früher mit einem Lachen entkommen wäre, denn sie liebte ihre Tochter, sie liebte ihren Beruf, sie liebte ihren Alltag, aber nicht mehr auf diese frohe, uneingeschüchterte Art wie früher.
Die Unruhe in der Stadt ängstigte sie zunehmend. Die Gewalt in den Gesichtern. Die Dummheit. Die ständigen Rempeleien.
»›Ich fick dich, du Schlampe!‹ So was hör ich jeden Tag. Jeden Tag. Immerhin voll die korrekte Grammatik.« Es sollte belustigt klingen.
Ihr Weg zur Arbeit führte durch eines jener Quartiere der Stadt, das den Migranten überlassen worden war. Sie fuhr Fahrrad, denn in der U-Bahn war es längst unerträglich.
Die Schmierereien, die irrlichternden Blicke, als suchte jeder einen Verantwortlichen für seine Misere, die Heimtücke. Sie hatte sich dem immer entgegengestemmt, verkleidete sich mit farbenfrohen Schals, lachte, bot ihren Blick ganz offen dar, bis sie eines Morgens sah, wie einer dieser Jugendlichen einer alten Frau, die nicht schnell genug ausstieg, auf den Rücken spuckte.
Der Alltag hatte sie überwältigt, nicht auf brutale Weise. Unmerklich war sie in einen Kokon eingesponnen worden, der sie an der Verpuppung hinderte, die sie selbst immer erträumt hatte. Alle waren laut um sie herum, umso leiser war ihr Hilfeschrei.
»Eigentlich würde ich gern hier wegziehen.«
»Wohin?«
»Aufs Land.«
Sie hob trotzig ihr Kinn.
Was ist gegen das kleine Glück einzuwenden, schien sie fragen zu wollen.
Nichts, hätte ich entgegnen können, gar nichts. Aber es hat seinen Preis.
»Du bist süß!«
Über vieles, was ich tat, lächelte sie, nannte mich scherzend Gentleman, aber sie genoss es, wie einen alten Film an einem verregneten Sonntagnachmittag.
Es stellte sich bei ihr das Gefühl ein, ich sei verlässlich und normal. Ein ganz normaler Mann.
Wie kommt es, werden Sie fragen, dass ein Mensch so hohe Erwartungen in einen anderen setzt? Ganz einfach. Ich blieb blass, vermied alles Charakterliche und bot so eine weite Projektionsfläche für ihre Hoffnungen.
Ein normaler Mann! Wichtig sind die Schuhe. Welcher Mann läuft mit Turnschuhen durch die Welt? Chronisch Juvenile. Oder einer Brille, die für Jugendliche gemacht ist. Zu jung oder zu alt, selten kleiden sich Männer ihrem Alter gemäß und offenbaren so auf den ersten Blick ihre Defizite. Man muss sein Gesicht wahren können. Nur so gibt man seinem Gegenüber die Chance, die Maske zu lüften. Sich näherkommen heißt zunächst und vor allem, die Geheimnisse des anderen zu wahren. Einander wertschätzen, ohne es direkt in Ziffern ausdrücken zu wollen. Der Gesichtsausdruck bei vielen ist viel zu leicht zu deuten, sie reden mit sich selbst oder schweigen sich an. Beides ist zu vermeiden.
Man muss am Tisch sitzen können, ohne mit dem Fuß zu wippen. Oder sich am Kopf zu kratzen. Wie seltsam, sich ständig am Kopf zu kratzen. Diese nutzlosen Gesten zu eliminieren kostet keine Kraft, wohl aber Wachheit. Ich bin immer pünktlich, ich zahle, wenn wir ausgehen. Ich halte ihr die Tür auf, immer. Und sie gewöhnte sich daran.
»Beruflich?«
Consulting, erzählte ich ihr und ließ offen, in welchem Bereich. »In den guten Jahren der Börse hab ich ein wenig zurücklegen können, das erlaubt es mir jetzt, ein wenig entspannter zu sein. Drei, vier Privatkunden, die ich in Investmentfragen berate, das genügt.«
Sie nickte zufriedengestellt. Das erklärte meine Kleidung, mein gespreiztes Sprechen, meine betuliche Seriosität. Sie hat diese Angaben nie nachgeprüft. Nie war eine meiner Legenden von einer der Frauen infrage gestellt worden. Das Bedürfnis, glauben zu wollen, gab ihnen die Kraft, glauben zu können.
Anke arbeitete in der Charité. Sie war Krankenschwester auf der Krebsstation für Kinder.
»Aber lange mach ich das nicht mehr mit.«
Es waren Stellen eingespart worden, es war verfügt worden, zügiger zu arbeiten, das Reden einzustellen, die Angehörigen zu ignorieren. Sie wollte sich fortbewerben, seit Monaten schon, aber die Zukunft war ihr unheimlich. So viele ihrer Freunde und Freundinnen waren schon an ihr vorbeigegangen. Was sie daran störte, war nicht der Erfolg, den gönnte sie anderen, sondern die Unübersichtlichkeit der Lebensumstände. Ihr eigenes Leben erschien ihr zunehmend planlos und unbehütet. Angestellte zu sein war ihre einzige Sicherheit, dafür war sie dankbar. Aber sie vermisste Tag für Tag mehr die Wertschätzung ihrer Person.
Sie verdiente so wenig, dass sie vor der nächsten Autoreparatur geradezu körperliche Angst empfand. Der letzte gemeinsame Urlaub mit Clarissa war eine Mutter-Kind-Kur gewesen. Der Traum vom großen Aufbruch war ausgeträumt. Aber da blieben ja noch die vielen kleinen Fluchten, von denen sie ausführlich erzählte, als könne sie das Wenige auf diese Weise strecken.
Das Wellnesswochenende mit den Freundinnen aus der Schulzeit. Die Woche Sonne in Valencia, vor drei Jahren, für sie ganz allein.
»Warum gerade Valencia?«
Sie entschuldigte es mit der günstigen Gelegenheit, der Mann im Reisebüro habe es ihr empfohlen, Spanien sei ohnehin immer ein Kindheitstraum gewesen.
Ich ahnte, es war der Schlager »Valencia, alle Tage frohe Tage …« Das Kehrauslied im Ballhaus.
»Du kannst tanzen?«
Sie sah mich erwartungsfroh an. Ich nickte. Fasste ihre Hand, hob sie leicht, lächelte: »Darf ich demnächst bitten, ins Ballhaus?«
Sie hatte seit Jahren nicht getanzt. Sie träumte davon. Oft lag sie stundenlang nur auf ihrem Bett, hörte Musik und dachte daran einzuschlafen, für immer. Aber sie raffte sich immer wieder auf. Denn sie hatte ja für ihr Kind zu sorgen. Für ihr Ein und Alles.
Sie war zu jung, um aufzugeben; zu alt, um allein neu anzufangen. Sie hatte ein Kind und hätte doch so gern viele Kinder gehabt. »Aber die Männer gibt es nicht mehr, die sich das zutrauen.«
Was sie übersah, waren ihre eigenen körperlichen Gebrechen. Sie wurde alt. Und es war an der Zeit, dass sie sich das eingestand.
Ihr liebstes Hobby, auch das verriet sie mir schnell, war die Malerei, ein Hobby, dass sie eigentlich hatte zum Beruf machen wollen. Ein Jahr Auszeit hatte sie sich damals gegönnt, wollte durchstarten als Künstlerin, dann war das Kind gekommen.
Ich war nicht wirklich verliebt in Anke, aber auch nicht frei von Gefühlen. In ein neues Leben einzubrechen, das ist: eine Wohnungstür öffnen, in einem schönen Haus, gelegen im Märchenreich der Kindheit. Aufregend. Man sieht sich um, spaziert durch die Räume wie ein König und fragt sich: Was ist eigentlich das Wertvollste, was ich mitnehmen könnte. Das Wertvollste in Ankes Leben war Clarissa.
Natürlich denken Mütter immer, man wolle sich an ihren Kindern vergehen. Anke war in dieser Hinsicht sehr misstrauisch. Zu Recht. Clarissa war ein entzückendes Kind. Anke fürchtete Tag für Tag, dass ihr Gewalt angetan würde, aber dabei war sie es doch gewesen, die ihrem Kind den Vater genommen hatte, den Beschützer. Natürlich aus verständlichen Gründen. Ein Vater kann nicht besser sein als all die anderen Männer seiner Generation. Ich hatte zwanzigjährige Väter erlebt, die fürsorglicher waren als vierzigjährige. Und Senioren, die jugendfrisch den Kinderwagen ihrer ehemaligen Studentin schoben. Aber meist bekam ich die Väter gar nicht zu Gesicht, denn diese Männer zwischen dreißig und fünfzig taugen mehrheitlich nicht für eine Familie. Sie denken an ihre Karriere, an ihr Glück, an ihr Auto, an Sex, aber nicht an Familie.
Ich mache das den Vätern nicht zum Vorwurf, das können andere viel besser – sofern man sie ein wenig zum Nachdenken animiert. Alleinstehende Mütter haben immer einen Grund, sich des Vaters ihres Kindes zu schämen. Deswegen haben sie ihn verlassen, deswegen wurden sie verlassen. Deswegen sind sie alleinstehend.
In Ankes Fall war die Sache recht einfach. Sie verliebte sich gern in große Jungs. Männer, die viel Sport trieben, erfrischendes Deodorant benutzten, schnell und gern Auto fuhren. Die Liste ihrer Liebhaber war lang, und dass es ausgerechnet Jörg traf, der zum Vater ihres Kindes wurde, war Zufall. Es hätte jeden von ihnen treffen können. »Ich war da immer viel zu nachlässig«, gab sie freimütig zu. Und mit einer unmutigen Kopfbewegung warf sie die Haare nach hinten. »Ich hab schon viel Scheiß gebaut in meinem Leben.«
Ich nahm sie in den Arm. Die Vorwürfe würden später kommen. Eine Frage allerdings hatte ich, die las sie mir von den Lippen ab.
»Er interessiert sich nicht für sein Kind. Absolut nicht. Er ist ja selbst noch eins. Gestern hat er mich gefragt, ob er sie auf dem Motorrad zur Schule bringen darf. Der Fahrradhelm tut’s doch …« Unser gemeinsames Kopfschütteln quittierte seinen Unverstand.
Er sah Clarissa ein Mal die Woche, holte sie bei Anke ab, brachte sie zur Schule, holte sie an der Schule ab und ging ins Kino mit ihr. Mehr kam ihm nicht in den Sinn. Er tat, was er tun wollte. Mehr nicht. Und selbst das Wenige wurde ihm zur Last.
Meist kam er zu spät. In nicht allzu ferner Zeit würde er gar nicht mehr kommen.
Dabei war Clarissa ein entzückendes Kind. Zehn Jahre. Blondes Haar, durch das man gern mit gespreizten Fingern gepflügt wäre. Aber ich hütete mich, sie anzufassen.
Ich suchte immer nur Mütter mit Töchtern. Das war angenehmer im Zusammenleben. Mädchen sind scheuer, sie leiden