Religionsforum
Herausgegeben von
Urs Altermatt
Mariano Delgado
und Guido Vergauwen
Band 10
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und des Hochschulrats Freiburg Schweiz.
Redaktion: Séverine Décaillet
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart
Reproduktionsvorlage: Séverine Décaillet
Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher
Gesamtherstellung:
W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart
Print ISBN - 978-3-17-023277-8
Pdf ISBN - 978-3-17-023479-6
ePub ISBN - 978-3-17-025405-3
Mobi ISBN - 978-3-17-025951-5
Mit diesem Buch dokumentieren wir für einen weiteren Interessentenkreis die Vorträge des Symposions „Franziskanische Impulse zur interreligiösen Begegnung“ vom 4./5. Mai 2012 an der Universität Freiburg/Schweiz. Der Flyer, der zum Anlass einlud, zeigt Franz von Assisi und den Sultan El-Kamil von Ägypten in einem heftig gestikulierenden Gespräch. Bis heute ist nicht nur die Erinnerung an die Begegnung der beiden in Damietta lebendig, sondern auch das Bewusstsein, dass dieser große Bedeutung für die Gegenwart zukommt.
Dafür zwei Beispiele: Ende der 1980er Jahre besuchte Marco Orsolic OFM, Soziologieprofessor in Sarajevo, Anton Rotzetter, einen der Mitorganisatoren des genannten Symposions, um ihn zur Mitwirkung an der Gründung eines „Internationalen multireligiösen und interkulturellen Zentrums“ einzuladen. „Wir müssen die Aufklärung nach Bosnien bringen, sonst schlagen sie einander die Köpfe ab!“, sagte er, und fügte hinzu: „Wir Franziskaner in Bosnien sind heute leider eher Capistraner.“ Der hl. Johannes Kapistran (1386 –1456), einer der großen Franziskanerprediger, gilt als Retter Europas bzw. Belgrads, weil er mit seiner Predigt den Siegeswillen der Krieger beflügelte. Marco Orsolic verwies dagegen auf Franziskus, der im Gespräch mit dem Sultan die gewaltlose Alternative zum Programm erhob und wohl anders gehandelt hätte. In diesem Sinne kam dann das genannte Institut zustande, 2012 wurde sogar in Belgrad ein zweites Institut mit gleicher Zielsetzung eröffnet.
Das zweite Beispiel: Seit 2005 betrachten sich alle franziskanischen Orden und Kongregationen mit Sitz in Rom als Trägerschaft der so genannten „Damietta Initiative“, die im Geiste der Begegnung zwischen Franziskus und dem Sultan ein Programm für ganz Afrika vorschlägt. Auf der Homepage (http://www.damiettapeace.org.za) wird das Projekt, das auch Begegnungen mit den Vertretern und Vertreterinnen des Islams, der Volksreligionen und der anderen Konfessionen impliziert, wie folgt definiert: „Die Damietta Friedens-Initiative ist ein franziskanisches interreligiöses Friedensprojekt für den afrikanischen Kontinent auf der Grundlage von Gewaltlosigkeit, Versöhnung und Respekt vor der Schöpfung. Es ist eine proaktive Antwort auf ein weitherum vorhandenes Bedürfnis: Die Spaltungen in unserer Gesellschaft müssen überwunden werden, um miteinander die großen menschlichen Fragen teilen zu können, die uns sonst verschlossen bleiben. Alle Menschen müssen lernen, Teil der Schöpfungsgeschichte zu sein. Wir müssen lernen, miteinander und gegenüber der Natur in Freundschaft zu leben. – Die Damietta Friedens-Initiative konzentriert sich auf einen bestimmten Aspekt der großen Geschichte: Sie ver-pflichtet zu einem praktischen Weg, Verhaltensweisen müssen sich ändern, Gewaltlosigkeit, Versöhnung und Bewahrung der Schöpfung als kulturelles Unterfangen begünstigt werden. Wir wollen in ganz Afrika Gruppen bilden, die geschult sind, Spannungen und Konflikte zu beobachten und zu lernen, schnell zu intervenieren.“
Was ist damals in Damietta zwischen Franziskus und dem Sultan wirklich passiert? Welcher Geist hat sie verbunden bzw. getrennt? Die Beiträge von Niklaus Kuster, Leonhard Lehmann, Laurent Gallant und Jan Hoeberichts zeigen nicht nur die komplexe historische Situation auf, sondern versuchen auch, im Detail auf die genannten Fragen einzugehen. Tatsächlich entsteht ein faszinierendes Bild, das an sich als Modell interreligiöser Begegnung fungieren könnte.
Im zweiten Abschnitt des Buches wird diese Modellhaftigkeit in einem historischen Durchgang geprüft. Anton Rotzetter beschreibt den mehr pastoralen Weg des Antonius von Padua, der sich durch Predigt und Disputation der fremden „Religion“ (der Katharer) anzunähern versucht. Dagegen zeichnet Luciano Bertazzo den polemischen Weg der franziskanischen Erstlingsmärtyrer in Marokko nach, die in erstaunlicher Weise recht lange brauchten, bis sie die Ehre der Altäre erlangten. Ausgesprochen interessant ist der wahrhaft dialogische Weg des Ramon Llull, wie ihn Annemarie C. Mayer darstellt. Er ist ge-tragen von der wahrscheinlich trügerischen Hoffnung, dass sich über Vernunftgründe die gemeinsame Wahrheit herausstellen könnte. Claudia von Collani untersucht Wege und Methoden der Franziskaner in China, was Mariano Delgado und Michael Sievernich auch im Mexiko des 16. Jahrhunderts tun.
Der dritte Abschnitt stellt einige bemerkenswerte moderne Wege bzw. Gestalten vor, die mit dem Ursprungscharisma des Franz von Assisi in Zusammenhang gebracht werden können. So beschreibt Damien Isabell den belgischen Franziskaner Placide Tempels, der zunächst in einem traditionellen Verständnis Missionar war, sich dann aber zu einem völlig neuen Modell der Mission durchrang. Während er in der ersten Phase Inhalte von der europäischen Kultur in den afrikanischen Kontext übertrug, erschloss er später die zu verkündigenden Inhalte aus der afrikanischen Kultur selbst. Dabei erreichte er weitestgehende Anerkennung, aber selbstverständlich erntete er auch Widerspruch. Jürgen Neitzert fühlt sich in den Konvertiten und Franziskaner Jean-Mohammed Ben-Abd-el-Jalil ein, der zeitlebens mit seiner Herkunftsreligion verbunden blieb und islamische Werte mit dem Christentum verband. Ganz neue Wege geht Volney Berkenbrock., der auf leibhaft-existenzielle Weise mit den brasilianischen Afroreligionen in einen jahrzehntelangen Kontakt tritt und auf diese Weise nicht nur neue Erkenntnisse gewinnt, sondern auch franziskanische Impulse entdeckt.
Schließlich runden zwei grundsätzliche Beiträge den Band ab. Der Würzburger Fundamentaltheologe Elmar Klinger sieht im franziskanischen Ansatz eine prinzipiell andere Weise, das Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen zu bestimmen. Dabei stützt er sich auf die so genannte „Univozität des Seins“, wie sie vom Franziskaner Theologen Duns Scotus (†1308) vertreten wurde. Was ist, ist unverwechselbar und einzig, weil Gott selbst unverwechselbar und einzig ist und auf diese Weise das je Einzelne garantiert. So können Christentum und Religionen gar nicht als Gegensätze begriffen, sondern als aufeinander bezogen verstanden werden.
Ähnlich fundamental ist der Schlussbeitrag Adrian Holdereggers. Aufgrund der seit Franziskus abgelaufenen Mentalitäts- bzw. Moralgeschichte zeigt er auf, wie Franziskus gewisse Postulate moderner Ethik vorwegnahm, etwa im Zusammenhang mit den Aussätzigen die „Anerkennungspraxis“ oder bezogen auf seine Schöpfungsspiritualität die „umfassende Subjektgemeinschaft“. Des-wegen kann man sogar von einer „transkulturellen franziskanischen Ethik“ sprechen.
Mit diesem Referat hat Adrian Holderegger seine akademische Laufbahn als Prof. für Theologische Ethik an der Universität Freiburg/Schweiz beendet. Während Jahrzehnten hat er mit seiner Lehrtätigkeit und seinen unzähligen Pu-blikationen der wissenschaftlichen ethischen Auseinandersetzung gedient. Es war ihm wichtig, sein Werk mit diesem Symposion abzuschließen und somit seine existenzielle Zugehörigkeit zur franziskanischen Tradition zu bekunden.
Wenn man eine wissenschaftliche Bilanz des Freiburger Symposions ziehen möchte, muss man auf eine befremdliche Tatsache hinweisen. So sehr es überzeugende und modellhafte Beispiele echter Begegnung mit fremden Religionen von franziskanischer Seite gibt, in der Argumentation spielt die Begegnung von Damietta im Laufe der Jahrhunderte kaum eine Rolle. Auch die Auffassung, die ja den Geist von Damietta wiederspiegelt, Minderbrüder sollten „unter den Sarazenen oder anderen Ungläubigen“ (NbR 16: FQ 81) die reine Präsenz leben, ist kaum rezipiert und tradiert worden. Das gleiche gilt für die universalis-tische Deutung des Sonnengesangs, der in der Tradition kaum eine Rolle ge-spielt hat. Erst die von außen an Orden und Kirche herandrängende ökolo-gische und religiöse Problematik führte zur Wiederentdeckung, zuerst des Son-nengesangs mit den ökologischen Implikationen und dann des revolutionären Missionskapitels in der Nichtbullierten Regel und des dahinterstehenden Geistes, der Franziskus nach Damietta führte. In jüngerer Zeit spielt allerdings Damietta bzw. NbR 16 wieder eine starke Rolle.
Für die Aufnahme in das Publikationsprogramm danken wir dem W. Kohlhammer Verlag in Stuttgart. Ferner gilt unser Dank dem Schweizerischen Na-tionalfonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung sowie dem Hoch-schulrat Freiburg Schweiz für die großzügige Gewährung eines Druckkosten-zuschusses. Für die Korrekturen und die Aufarbeitung der Manuskripte sind wir Frau lic. theol. Séverine Décaillet vom Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Freiburg Schweiz zu Dank verpflichtet.
Freiburg/Schweiz, im August 2013
Adrian Holderegger, Mariano Delgado, Anton Rotzetter
Auf den 27. Oktober 1986 lud Johannes Paul II. zum ersten großen Friedensgebet der Weltreligionen. Deren Delegationen trafen sich weder an den UNO-Sitzen New York oder Genf, noch in Rom, der Stadt des Gastgebers, sondern im mittelitalienischen Städtchen Assisi.1 Im Frühjahr 2002 kam es da nach dem Schock des traumatischen 11. Septembers zu einem weiteren großen Frie-densgebet, an dem 300 Delegierte der Welt- und Naturreligionen teilnahmen. Angesichts des drohenden Afghanistankrieges verwarfen sie in einer Erklärung jede Form von Gewalt im Namen Gottes und wahrer Religiosität. Der Zen-Buddist Shido Munan begründete die Ortswahl mit dem „Geist von Assisi“.2 Der polnische Papst sah diesen Geist explizit in Franziskus wirken: „einem Propheten des Friedens, der nicht nur von Christen geliebt wird, sondern auch von vielen anderen Glaubenden und von Menschen, die sich auch fern der Religion in seinen Idealen der Gerechtigkeit, der Versöhnung und des Friedens wiedererkennen“.3
Im Herbst 2011 lud Benedikt XVI. anlässlich des 25. Jahrestags zu einem dritten großen weltweiten Treffen, an dem neben den Welt- und Naturreligionen auch Nichtgläubige beteiligt waren. Im Geist des Franziskus nannte der Papst sie alle zusammen mit agnostischen Menschen und seine eigene Kirche „Pilgernde zu Wahrheit und Frieden“. Die Delegationen wiesen auf Franziskus als gemeinsamen Propheten, suchten bei der Portiunkula-Kapelle miteinander von der Weisheit in jeder Religion zu lernen, beteten bei San Francesco und dankten zum Schluss am Grab des Bruders.4
Ein erster Schritt dieses Referats zeichnet biografisch nach, wie der Kleinbürger einer Kleinstadt schrittweise zu seiner universalen Offenheit kommt: einer Offenheit, die in der geschaffenen Welt keine Fremde und nichts Fremdes mehr kennt, weil alles geschwisterlich verwandt ist. Ein zweiter Teil folgt Franziskus auf den Weg nach Ägypten und sammelt die Früchte dieser friedlichen Begegnung mit al-Kâmil Muhammad al-Malik. Sie öffnete seine Vision grenzenlos und macht den Mystiker zum Propheten des interreligiösen Dialogs.
Franziskus kommt aus der kleinräumigen Welt eines mittelalterlichen Städtchens, das sich um 1200 sozial und politisch klar abgrenzte.5 In den jungen Jahren des Kaufmanns bekämpften sich Adel und Bürger der Stadt. Obdachlos nächtigten Arme und Bettlerinnen in engen Gassen, und vor den Mauern kämpften jene Entwurzelten ums Überleben, die es nicht schafften, in der aufstre-benden Kleinstadt Fuß zu fassen. Die arbeitende Landbevölkerung blieb über den Bürgerkrieg hinaus unterdrückt: Bauernfamilien lebten weiterhin leibeigen unter dem Joch des Adels oder der zwölf benediktinischen Klöster.6
Franziskus war der Spross eines reichen Bürgers.7 Nannte ihn jemand „rusticus“, weil sein Reden oder Tun „bäuerlich“ wirkte, fühlte sich der ehrgeizige Kaufmannssohn beleidigt. Jede Verbindung des urbanen Modeexperten zum Bauernstand vor den Mauern war eine Zumutung. Franziskus bewegte sich jahrelang in der engen Welt seiner privilegierten Familie, der führenden Zunft und einer zerstrittenen Kleinstadt, die sich über ihre Landbevölkerung erhob und gegen ihre bedeutendste Nachbarstadt Krieg führte. Der Juniorchef eines Handelshauses, das Luxusstoffe importierte, entdeckte zugleich beruflich weite Horizonte: Er lernte Latein, die internationale Sprache des Mittelalters, und Provenzalisch für die Handelskontakte mit Frankreich. Seine besondere Liebe zu diesem Land weckten Geschäftsbeziehungen zur Provence, die er als junger Erwachsener mit seinem Vater bereiste. Die Quellen erzählen zudem von einer Wallfahrt nach Rom, in den größten Pilgerort Europas, wo sich Menschen aller Sprachen tummelten. Schließlich lockte den jungen Mann auch das Heilige Land, wohin damals Kreuzritter aus dem ganzen Abendland aufbrachen.8 Eine Kleinstadt mit sozial engen Mauern und ein Italien, das mit seiner langen Mittelmeerküste weite Horizonte eröffnete, prägten den Bürgersohn Francesco – der zunächst nicht von Frieden, sondern von Krieg träumte.
Dass Franziskus kein egozentrischer Kaufmann in einer Kleinstadt wurde,9 sondern ein solidarischer „Bruder aller Geschöpfe“,10 liegt zunächst an einer schmerzlichen Entfremdung. Die geliebte Welt seines Städtchens wurde ihm durch das Scheitern seines Rittertraums fremd. Ein missratener Kriegszug, monatelange Kriegsgefangenschaft im feindlichen Perugia und eine bedrohliche Krankheit führten dazu, dass die bürgerliche Welt von Assisi „ihre Farbe verlor“. Franziskus wurde seiner Zunft, Familie und Stadt fremd. Es dauerte Monate, bis er nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft wieder geheilt war. Dann trieb sich der Kaufmannssohn mit offenen Sinnfragen draußen in den Wäldern und unten in der Ebene herum. Er änderte seine Blickrichtung, schaute von außen auf das Treiben der Stadt und durchschaute die engen Kreise seines Lebens. Einst fremd und abstoßend, zogen ihn nun die Milieus der Arbeiterschaft, der Bettler und schließlich der Verstoßenen an. Sie öffneten ihm nicht nur die Augen für sein eigenes Betteln nach Lebenssinn, sondern weckten eine bisher nicht gekannte Liebe: „In der Begegnung mit Aussätzigen ist mein Herz erwacht“, beschreibt er die Schlüsselerfahrung in dieser Krisenzeit. Sie bereitete auf eine überraschend neue religiöse Erfahrung vor: In San Damiano erkannte er Gottes Sohn selbst als obdachlos, nicht als der gefeierte Weltenherrscher der Romanik, dem Assisi eben einen Prachtdom baut, sondern halb nackt und wehrlos am Kreuz, arm und vergessen in einer Kirchenruine, ein Fremder unter Randständigen vor den Stadtmauern.11
Franziskus wechselte auf die Seite des „armen Christus“: Eben noch Modeverkäufer und Lebemann an vielen Festen, wurde er im Konflikt mit seinem Vater zum Narren erklärt, für verrückt gehalten und nach seiner Enterbung aus der Stadt verstoßen. Eben noch privilegierter Immobilienhändler, klopfte Franziskus mittellos bei Mönchen an. Dabei erlebte er eine kleine Abtei, die ihre Küchenhilfe so übel behandelte, dass der Heimatlose nach Gubbio weiterzog und dort im Aussätzigenhospital diente: Der früher umschwärmte Sohn eines Luxuskaufmanns und Bankers lebte plötzlich in der fremden Stadt namenlos mit den Ungeliebten. Nach Monaten wagte er sich zurück nach Assisi und ließ sich dort beim armen Christus von San Damiano nieder. Verachtete er früher als Städter hoch zu Ross das Ländlich-Bäuerliche, die Welt vor den Stadtmauern, wurde diese nun sein Zuhause: ein Zuhause ohne Mauern und Grenzen. Franziskus erlebte sich fortan als Geschöpf unter Geschöpfen. Das exponierte Leben draußen tauchte ihn ein in eine Schöpfung, deren Schönheit er später im Sonnengesang besingt: In Hitze und Kälte, Dürre und Sturm teilte Franziskus das Schicksal jener, die ungeschützt in der Natur leben: die Ausgeschlossenen, die Tiere auf den Feldern und die Vögel am Himmel.
Die zwei Jahre als Einsiedler bei San Damiano hatten wenig Romantisches an sich: Mit Randständigen und dem Priester Pietro baute Franziskus am Landkirchlein, betrachtete den „armen Christus“12 und suchte seinen Auftrag. Dabei kehrte er nach Assisi zurück, wo er Brot und Steine erbat. Nicht nur praktische Not drängte ihn zum Betteln, sondern die Liebe zum armen Christus in San Damiano: Franziskus folgte ihm, „der arm geboren ganz arm in dieser Welt gelebt hat, nackt und arm am Kreuz gestorben und in fremdem Grabe bestattet worden ist“.13 Dieser „Christus auf Augenhöhe“ öffnete dem jungen Eremiten zugleich neue Horizonte. Um den Auferstandenen zeigt das Ikonenkreuz Gefährtinnen und Gefährten in einem Kreis, der sich für die ganze Menschheit öffnet: Ein Jude und ein Römer stehen für Israel und das Weltreich, für das ersterwählte Volk und die vielen Völker, für die Menschheit, die unter der Hand des einen himmlischen Vaters zur Familie wird.14
San Damiano prägte Franziskus und bereitete den verspotteten Bettler und Freund der Verstoßenen auf ein neues Leben vor. Er fand seine Sendung in der nahe gelegenen Marienkapelle der Portiunkula: Im Hören des Evangelium erkannte er sich berufen, wie die Apostel zu den Menschen zu gehen, Frieden zu stiften und Reich Gottes erfahrbar zu machen. Franziskus wagte sich nach Assisi zurück und übte seine neue Rolle als Friedensbote ein. Erste Gefährten schlossen sich ihm an. Mit dem vornehmen Bernardo, dem Juristen Pietro und dem Handwerker Egidio entstand eine fraternitas, eine Gemeinschaft, die eine subversive Geschwisterlichkeit lebte. Bald stießen auch Bauern und Ritter dazu. Getrennte Stände, Städter und Landleute, Mitbürger und Fremde lernten einander und jedem Menschen Brüder zu werden.15 Der erste Biograf des Heiligen schildert die Freiheit und Freude, mit denen die Brüder jeden in ihren Kreis aufnahmen, „der von Gottes Geist inspiriert kam, um das Kleid ihrer Lebensform abzunehmen: Es war ganz gleich, wer oder was er war, ob reich oder arm, hoch oder niedrig, unbedeutend oder angesehen, klug oder einfältig, gebildet oder ungebildet, Kleriker oder Laie im christlichen Volk […] Weder niedere Herkunft noch drückende Armut bildeten ein Hindernis, […] denn Gottes Freude ist es, bei den Einfältigen zu sein und denen, die von der Welt verworfen sind“.16
Die Mächtigen von Assisi verfolgten den provokativen religiösen Aufbruch, der ihre soziale und politische Ordnung in Frage stellte. Schikaniert und drangsaliert wanderte die junge Bruderschaft ins Rietital aus. Dort gewannen die fremden Zuwanderer die Liebe der Bevölkerung, indem sie den Menschen mit Vorschussvertrauen begegneten.17 Die franziskanische Bewegung löste sich damit aus ihrer Heimatdiözese und begann in Mittelitalien heimisch zu werden.
Nicht nur Assisi verstieß die ersten Brüder,18 sondern auch die Kirche drohte sich gegen sie zu wenden. In Frankreich wütete damals der Albigenserkreuzzug gegen Laien – neben Katharern auch Waldenser, die das Evangelium als arme Wanderprediger verkündeten. Im Mai 1209 gelang es Franziskus in Rom, genau dafür den päpstlichen Segen zu erlangen. Innozenz III. erschloss den Brüdern „den ganzen Erdkreis“:19 urbi et orbi werden sie künftig lebenspraktische Predigten in Wort und Tat halten dürfen. Als sich den Brüdern nach zwei Jahren auch Frauen anschlossen, geboten Klugheit und Berufung den Schwestern, ein sesshaftes Leben zu wählen, um nicht mit den Waldensern verwechselt zu werden.
Von den Kreuzzügen provoziert, öffnete Franziskus seinen Horizont in den folgenden Jahren über das Mittelmeer hinaus:20 1212 erlitt eine Expedition nach Syrien in der Adria Schiffbruch. 1214 brach der Poverello zu einer Friedensmission nach Marokko auf und erfuhr sich unterwegs durch Frankreich als Teil der pilgernden Menschheit: Noch heute erleben Jakobspilgernde, wie schnell Leute aus allen Ländern und Milieus einander Gefährtinnen und Gefährten werden. Ziel der Reise blieb für Franziskus nicht Santiago de Compostela, sondern die Welt des Islam. Es kam jedoch nicht zum erhofften Dialog mit dem maurischen Kalif Emir Al-Mumenim, da Franziskus in Spanien erkrankte und nach Assisi zurückkehrte.21
Im Herbst 1216 beschreibt der Franzose Jacques de Vitry die Fratres Minores Italiens in einer doppelten Dynamik: Sie würden die Nächte an einsamen Orten und die Tage engagiert im Dienst urbaner Menschen verbringen. Das örtliche Pendeln zwischen Stadt und Stille, contemplatio und actio, verbinde sich mit einer Wandermission, die inzwischen ganz Italien erfasse: „von der Lombardei über die Toskana und Apulien bis Sizilien“.22 Vier Jahre später wird der Kreuzfahrerbischof vom ägyptischen Damiette aus schreiben: „Diese Gemeinschaft breitet sich gegenwärtig in der ganzen Welt aus, weil sie ausdrücklich […] das Leben der Apostel nachahmt“.23 Tatsächlich hatte das Pfingstkapitel der Brüder 1217 in Assisi beschlossen, Expeditionen in alle vier Himmelsrichtungen zu senden, um das Evangelium dem Auftrag des Auferstanden-en gemäß bis an die Grenzen der Erde zu tragen (Mk 16). In der Folge entstanden Missionen und erste Provinzen in Marokko, Spanien, Frankreich und Syrien.24 In den frühen Zwanzigerjahren gelang auch die Expansion nach Deutschland und ab 1225 nach Britannien.25
1219 suchte Franziskus ein drittes Mal Kreuzzüge zwischen Christen und Muslimen zu beenden. Nach dem Pfingstkapitel gelangte er über Ancona und Syrien nach Ägypten. Während eines Waffenstillstands bei der belagerten Festungsstadt Damiette machte er eine überwältigende Erfahrung. Nachdem die Kreuzritter sich seiner Friedenspredigt verschlossen hatten, entdeckte der Bruder im Lager von Sultan Muhammad al-Kâmil eine Religiosität, die ihn tief be-rührte: Gottesliebe außerhalb der eigenen Religion. Obwohl die Friedensmis-sion am Kriegstreiben des Kardinallegaten Pelagius scheiterte, wurden die Tage des Poverello als Gast des islamischen Oberherrschers und deren freundschaft-liche Begegnung zum prophetischen Zeichen, das bis heute nachwirkt.26
Franziskus kehrte tief beeindruckt vom Islam nach Europa zurück. Die Art, mit der Muslime Gott in der Schrift, in 99 Namen und im fünfmaligen Gebet mitten im Alltag verehren, bewegte ihn ab 1220, sich in Rundschreiben an „alle Menschen, wo auch immer auf Erden“ zu richten. Er rief darin Gläubige in allen Völkern und Religionen „brüderlich“ auf, vom Islam zu lernen und in allen Alltagsgeschäften die eine verbindende Mitte zu finden: „den Höchsten“, von dem jeder Friede ausgeht. Im Brief an die Lenker der Völker „wünscht der kleine Bruder Franz, in Gott euer aller Diener, allen Bürgermeistern und Machthabern […] in der ganzen Welt und allen Menschen, zu denen dieser Brief gelangt, Lebensfülle und Frieden“. Weder Papst noch Kaiser richteten sich damals so universal an alle Menschen auf Erden, „die sind und die sein werden“.27
Das Bewusstsein, eine einzige Menschheitsfamilie zu sein, in der alle zur Gottesliebe berufen sind, spricht schließlich kurz nach der Begegnung mit dem Islam aus einem Gebet, das Franziskus in die Regel von 1221 einfügt und mit einer glühenden Einladung verbindet:28
Alle, die in der heiligen, katholischen und apostolischen Kirche
Gott dem Herrn dienen wollen […],
und alle Völker, Geschlechter, Stämme und Sprachen (Offb 7,9),
alle Nationen und alle Menschen wo auch immer auf Erden,
die sind und sein werden,
bitten wir Minderen Brüder alle, unnütze Knechte (Lk 17,10),
demütig und flehen sie an, sie möchten doch alle im wahren Glauben
und in der Umkehr verharren, denn anders kann niemand gerettet werden.
Lasst uns alle aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzer Gesinnung,
aus aller Kraft (Mk 12,30) und Stärke,
mit ganzem Verstand (Mk 12,33), mit allen Kräften (Lk 10,27),
mit ganzer Anstrengung, mit ganzer Zuneigung,
mit unserem ganzen Inneren, mit allen Wünschen und aller Willenskraft
Gott den Herrn (Mk 12,30) lieben,
der uns allen den ganzen Leib, die ganze Seele und das ganze Leben
geschenkt hat und schenkt.
Noch universaler zeigt sich die schönste Dichtung des Mystikers drei Jahre später: Der Sonnengesang oder die laudes creaturarum spricht alle Geschöpfe als Geschwister an, die auf den einen gemeinsamen Schöpfer und Vater verweisen. Gepriesen wird im Lied der Schöpfung auch jeder Mensch, der sich durch gelebte Liebe und Friedfertigkeit als Sohn und Tochter Gottes erweist.29 Besingt die Komposition, mit der die italienische Poesiegeschichte beginnt, alles Geschaffene als Familie Gottes, überwindet die Strophe über sora nostra corporale auch dunkle Bilder des Sensenmannes und die Angst vor dem Sterben, der letzten Grenze auf Erden. Sterbend ließ Franziskus denn auch im Herbst 1226 seine Brüder zurück und begrüßte seine „Schwester Tod“ vertrauensvoll: als wegkundige Gefährtin in die ewige Gemeinschaft Gottes, in der sich Himmel und Erde versöhnen.30
Der Mystiker Franz von Assisi ist der erste Christ, der die interreligiöse Begegnung in das Programm seiner Gemeinschaft aufnimmt. Die Ordensregel ermutigt dazu, geschwisterlich unter Andersgläubigen zu leben, mit ihrer Kultur vertraut zu werden, durch friedfertiges Leben und dienstbares Tun zu sprechen und erst aus dieser Erfahrung heraus – inshallah, „wenn es Gott gefällt“ – auch auf Glaubensfragen zu sprechen zu kommen.31 Basis dieses Programms ist die eigene Erfahrung mit dem Islam in Ägypten.
Seine Menschenliebe, die ihre Horizonte seit der eigenen conversio schrittweise geweitet hat, macht Franziskus immun gegen die antiislamische Propaganda seiner Kirche und lässt ihn schließlich mit einer riskanten Friedensmission in den Fünften Kreuzzug eingreifen. In der persönlichen Begegnung mit dem Islam entdeckt Franziskus echte Gottesliebe in der anderen Religion, lernt von der spirituellen Alltagspraxis der Muslime und schreibt danach einen „Brief an alle Menschen“. Dieser Brief und das „Sarazenenkapitel“ der nichtbullierten Regel zeugen von einer Spiritualität, die dem heutigen interreligiösen Dialog Wege weist.
Das Feuer für heilige Kriege wird von der mittelalterlichen Kirche mit religiösen Pflichten, Gefühlen und Verheißungen genährt. Innozenz III. ist der erste Papst, der sich europaweit als religiöser Führer um Heilige Kriege gegen die „perfiden Sarazenen“ bemüht. Nachdem der Vierte Kreuzzug 1202–04 in einem Fiasko geendet hatte, bereitete der Segnipapst den Fünften Kreuzzug mit massiver Propaganda und politischen Sondergesandten in ganz Westeuropa vor. Im April 1213 ruft die päpstliche Enzyklika „Quia maior“ alle Gläubigen auf, „das Kreuz auf sich zu nehmen und Jesus nachzufolgen“ – und zwar „in den Kampf“. Denn „wenn ein König durch seine Feinde aus seinem Reich verbannt“ werde, wird er „nach seiner Rückkehr die treulosen Vasallen verurteilen“. Der Papst droht allen den Verlust des Heiles an, die dem vertriebenen Herrn „nicht zu Hilfe kommen“ und die „dem Erlöser in dieser Notlage den Dienst verweigern“.32
Nicht genug damit, dass der päpstliche Kriegsaufruf die Heilige Schrift massiv vereinnahmt und missdeutet, indem er das Reich Christi politisch auf Erden ansiedelt und die Nachfolge des gewaltlosen Rabbi in eine militärische Offensive ummünzt: „Quia maior“ sieht diverse Maßnahmen vor, um alle Gläubigen ins Kreuzzugsprojekt einzubeziehen. In monatlichen Prozessionen muss für die Befreiung des Heiligen Landes gebetet werden, und Kreuzzugsprediger rufen alle zu Fasten und Almosen auf. In den täglichen Messfeiern müssen Laien sich auf die Erde werfen zum Psalm 79 („Heiden sind eingedrungen in dein Erbe“) und beten, dass „Gott seine Feinde zerstiebe“ (Psalm 68,2). Wer sich nicht selber aktiv am Kreuzzug beteiligen kann, soll durch Spenden, die Finanzierung von Kämpfern oder das Bereitstellen von Schiffen und Kriegsmaterial zum militärischen Erfolg beitragen.33
Franziskus hat vier Jahre vor dieser Enzyklika Papst Innozenz III. in Rom getroffen und von ihm die Erlaubnis zur brüderlichen Predigt erhalten. In einer weiteren Begegnung berichtet er 1212 dem Segnipapst von der Entwicklung seiner Bruderschaft.34 Umso mehr erstaunt, wie selektiv der Poverello mit päpstlichen Verordnungen umgeht. Während sich die Eucharistie-Enzyklika „Sane cum olim“ 1219 markant in seinen Schriften niederschlagen wird, scheint der Bruder aus Assisi gänzlich wegzuhören, wenn kirchliche Autoritäten zum Kreuz-zug aufrufen.35 Mehr noch: Als der Religionskrieg im Orient eskaliert, schreitet Franziskus gar zu einer Friedensmission, die der päpstlichen Politik entschie-den zuwiderläuft.
An Pfingsten 1219 beschließt Franziskus ins Nildelta zu reisen, wo sich der Fünfte Kreuzzug direkt gegen Sultan al-Kâmil richtet.36 Tausende von Kreuz-rittern sammeln sich an der ägyptischen Mittelmeerküste zum Kernland des islamischen Herrschers. Franziskus wandert mit Gefährten in den heißen Juni-tagen von Assisi nach Ancona und gelangt auf einem Nachschubschiff nach Syrien.37 Während einige Gefährten in Palästina bleiben, drängt es den Poverello ins Nildelta, wo sich die Heere bei der belagerten Festungsstadt Damiette gegenüberstehen. Der Bruder erinnert da seine kampfbegierigen Glaubensge-nossen ans Evangelium des Friedens, wird dafür aber verspottet. Ebenso er-folglos sucht ihn darauf Kardinal Pelagius Galvani, der das Kreuzfahrerheer befehligt, vom riskanten Weg zum Sultan abzuhalten. Während einer Waffen-ruhe setzt Franziskus mit seinem Gefährten Illuminatus über den Nil und lässt sich am gegnerischen Ufer gefangen nehmen. Dass die beiden Brüder gefesselt vor den Sultan kommen, verdanken sie wohl ihrer Ähnlichkeit zu islamischen Sufis, welche in ihrer Armut und Mystik unter Muslimen große Achtung genossen.38 Mehrere Tage im Lager des Sultans stehen im Zeichen verständnisvoller Toleranz. Arabische Quellen bestätigen den außergewöhnlichen Charakter dieser Begegnung. Fakhr ad-din al-Fàrisi etwa, ein Berater des Sultans, lässt auf seinen Grabstein schreiben, dass er bei den Gesprächen mit einem christlichen Mönch zugegen war. Franziskus’ Mut, in einem grausamen Religionskrieg Andersgläubigen größere Offenheit und Friedensliebe zuzutrauen als den Christen, seine Friedfertigkeit und die erfahrene Toleranz wirken bis in die heutigen Friedenstreffen der Weltreligionen in Assisi nach.39
Vor seiner Rückkehr nach Italien lernt der Poverello die Stätten aus dem Leben Jesu kennen. Assisi bewahrt ein elfenbeinernes Horn, mit dem der Sultan Franziskus freien Zugang zum Heiligen Land gesichert hat. Die biblischen Orte haben Franziskus zweifellos tief bewegt, erzählen sie doch von „den Fußspuren des Herrn“, denen er so leidenschaftlich folgt und die seinen Brüdern „Leben und Regel“ geworden sind. Anders als Papst Innozenz III. interpretiert Franziskus Nachfolge Jesu nicht militant als Kampf gegen Ungläubige, sondern im Sinn der Aussendung der Apostel (Mt 10): mit leeren Händen Frieden zu bringen, Kranke zu heilen, Ausgeschlossene in die menschliche Gemeinschaft zurückzuführen, und Gott als Vater aller Menschen zu verkünden, den Heiligen Geist in jedem Menschen wirksam zu glauben und in Christus den Erlöser zu sehen, der niemanden fallen lässt.
Im Widerspruch zu seiner Kirche sieht Franziskus in den Muslimen nicht Ungläubige und Teufelssöhne, die von Kreuzrittern niedergemacht werden sollen, sondern Gottes Geschöpfe.40 Er wagt sich unbewaffnet zu ihnen und stellt sich als christianus vor.41 Er sucht statt Streitgespräche zu liefern einen brüderlichen Dienst anzubieten, statt Kampf Dialog, statt heiligen Krieg die gewaltlose Suche nach Frieden, statt Verteufelung Verständigung, statt die gewaltsame Unterwerfung der anderen die eigene geschwisterliche Unterordnung.42
Mehrtägige Gespräche sind von Offenheit und Respekt gekennzeichnet, sowohl von Seiten des hochgebildeten al-Malik al-Kâmil wie auch des bettelarmen Mystikers aus Assisi. Der friedfertig-mutige Dialog mit Muhammad al-Kâmil verschafft Franziskus die Sympathie islamischer Großer. Er selber sieht sich ermutigt durch Begegnungen, die Lehre und Strategie seiner Kirche zuwiderlaufen. Nach seiner Rückkehr erarbeitet der Bruder ein Kapitel in der Ordensregel, das erstaunliches Vertrauen in andere Kulturen und Religionen ausdrückt. Es wird das erste Missionsstatut einer christlichen Bewegung: Nicht von der kirchlichen Lehre geleitet, sondern inspiratione divina sollen Brüder in die Welt des Islam gehen. Nicht Kampf contra, sondern Leben inter saracenos ist ihr Ziel. Um offen zu sein für Gottes Wirken in der anderen Religion, verzichtet Franziskus auf jede negative Wertung des Islam – im Kontrast zu Kreuzzugspredigern und antiislamischen Kontroverstheologen. Schließlich stellt Franziskus sich und seine Brüder in den Dienst Andersgläubiger: „Will ein Bruder von Gott bewegt unter die Sarazenen gehen, soll er mit der Erlaubnis seines Ministers gehen […]. Die Brüder aber, die hinausziehen, können in zweifacher Weise vom Geist geleitet unter ihnen leben. Die erste Art besteht darin, dass sie weder Streit noch Zank beginnen, sondern ‚um Gottes willen jeder menschlichen Kreatur‘ dienstbar sind und bekennen, dass sie an Christus glauben“.43
Jan Hoeberichts hat in seiner umfassenden Untersuchung Der Feuerwandler ausführlich und am Salzburger Kongress über „Das Charisma des Ursprungs und die Religionen“ ergänzend dargelegt,44 welch überraschend reichen Lernprozess die Begegnung mit dem Islam in Franziskus ausgelöst hat. Die einzelnen Punkte lassen sich in aller Kürze wie folgt benennen:
Leben die Brüder spiritualiter unter Andersgläubigen, erkennen sie, „dass der Geist auch unter den Sarazenen anwesend ist“ und Gott in anderen Religionen wirkt.45 Damit vollzieht der Mystiker aus Assisi im hohen Mittelalter einen Schritt, den die Gesamtkirche 1965 in der Konzilserklärung „Nostra Aetate“ mit Blick auf die Religionen umfassend tun wird.46
Im Vertrauen auf die inspiratio divina aufgebrochen, lässt Franziskus sich unter Muslimen beeindrucken „von der großen Ehrfurcht, die sie für ihr heiliges Buch, den Koran, wie auch für die heiligen Namen Gottes haben“. Zurück in Italien, animiert er in Predigten, Rundbriefen und Aktionen auch Christinnen und Christen, größere Ehrfurcht vor der heiligen Schrift und vor den heiligen Namen Gottes zu zeigen.47
Beeindruckt „von dem öffentlichen Gebetsaufruf zum Lobpreis des allmächtigen Gottes“ im Islam, lädt Franziskus in Rundbriefen alle Völker der Erde ein, es den Sarazenen als „gläubige und betende Menschen“ gleich zu tun.48 Öffentliche Gebetszeichen sollen überall auf Erden und in jedem Volk wenigstens einmal täglich alle zum Gotteslob aufrufen. Die Franziskaner werden den Aufruf in der Praxis des Angelusläutens aufnehmen, das sie im 13. Jahrhundert abends einführen, im 14. Jahrhundert auch morgens und schließlich zusätzlich mittags, worauf der Papst es 1571 zum Volksgebet der ganzen lateinischen Kirche erklärt.49
In Franziskus’ Schriften findet sich nach 1219 wiederholt die Wendung „wenn es Gott gefällt“. Sie ist dem Sinn nach dem islamischen „inshallah“ ähnlich und vertraut darauf, dass der Höchste seine eigenen Wege kennt und Menschen sich seinem Willen anvertrauen können.50
In der Erfahrung, dass das Wohlwollen Gottes auch Menschen anderer Religion gilt, kann Franziskus nach 1220 alle Menschen auf Erden zur Gottesliebe aufrufen, sich dabei als „Diener aller“ an die Menschheitsfamilie wenden und seine Brüder als fratres minores „allen Menschen unterordnen“ – im Gegensatz zu seiner Kirche, die jede Unterordnung von Christen und Christinnen unter Andersgläubige verbot und vielmehr deren Bekehrung und Unterwerfung propagierte.51
Die Friedensgebete der Weltreligionen sind das sichtbarste Zeichen dafür, dass Franziskus’ Praxis und Lehre als prophetisches Zeichen weit über die Kirche hinaus wirken. Ein letzter Abschnitt will konkrete Beispiele benennen, in denen sich das Miteinander der Religionen am Bruder aus Assisi orientiert.
Ein weltweit erarbeiteter Fernkurs zum „franziskanisch-missionarischen Charisma“ überträgt 1994 das Beispiel des Poverello in die heutige Zeit.52 Er stellt zunächst die Dringlichkeit eines interreligiösen Dialogs fest. Durch die wirtschaftliche, politische und geistige Globalisierung werden die Religionen im zusammenrückenden Weltdorf zu Nachbarinnen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit dem Heilsexklusivismus der katholischen Kirche gebrochen. Es bekräftigt zwar, dass die Kirche „der allgemeine Heilsweg“ (UR 3) und das „universale Sakrament des Heiles“ (LG 48) ist. Es glaubt aber ebenso an das Wirken des Geistes in den anderen Religionen, die ihrerseits Wege zum Heil sein können (LG 16). Nach diesem Paradigmawechsel knüpft der franziskanische Weg des interreligiösen Dialogs neu an der Sultansbegegnung und am Regeltext des Poverello an und vereint ihre Grundsätze zu folgendem „Dekalog“:
1. Dialog aus der Dynamik des Gebetes: Jede echte Begegnung ist nicht allein Menschenwerk, sondern Geschenk Gottes. Franziskus hat vor dem Weg zu Malik al-Kâmil um Kraft und Vertrauen gebetet, dass ihm die Friedensmission gelinge. Der Sultan bittet den christlichen Mystiker beim Abschied, für ihn zu Gott zu beten. Unterschiedliche Bekenntnisse finden sich im Vertrauen auf das eigene und das Gebet des Dialogpartners.
2. Initiative ergreifen: Die Begegnung mit dem Sultan kommt zustande, weil Franziskus initiativ wird. Er vertraut auch unter ungünstigen Bedingungen auf den guten Willen des Gegners und macht sich gegen alles Abraten auf den Weg. Sein Mut und die Offenheit des Sultans für den fremden Ankömmling lassen eine gewagte Begegnung gelingen.
3. In allem den Frieden suchen: Die Brüder finden in Damiette die Eskalation eines Religionskrieges vor. Mit leeren Händen überschreiten sie die Frontlinie und lassen sich als Gefangene vorführen. Ihr innerer Friede und ihre gewaltlose Hoffnung überwinden gegnerische Vorurteile und ermöglichen den Dialog unter vermeintlichen Feinden.
4. Vertrauen: Franziskus erfährt seinen Gesprächspartner aufrichtig um den wahren Glauben bemüht und entdeckt Gottesliebe außerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft. Vertrauen in die Gottverbundenheit des je anderen schlägt Brücken und schließt Freundschaften über Glaubensgrenzen hinweg.
5. Jedem Menschen hilfreich sein: Wer anderen Gutes wünscht und tut, verbindet durch Taten, die stärker sind als Worte. Franziskanische Menschen („Minores“) fügen sich in die menschlichen Ordnungen anderer Kulturen, verstehen sich als Brüder und Schwestern jeder Kreatur und suchen „jedem Menschen dienstbar zu sein“ (NbR 16).
6. Die eigene Identität zeigen: Im Dialog begegnen sich Partner, die sich um Verständigung bemühen. Gelungene Begegnungen verdanken sich nicht nur Ort, Rollenverteilung und Wortwahl, sondern wesentlich dem klaren Profil der Gesprächspartner. Franziskus fordert seine Brüder auf, sich aufrichtig als Christen zu verhalten und zu bekennen.
7. Mitten unter ihnen leben: Begegnung und Dialog finden eine andere Basis, wenn Christinnen und Christen nicht einfach „zu“ Andersgläubigen gehen oder „für“ sie wirken, sondern „unter ihnen“ leben. Franziskus ermutigt seine Brüder, die Lebensbedingungen der Muslime zu teilen, ihnen hilfreich zu sein und aus dem Miteinander sensibel zu spüren, ob und wann Glaubensgespräche gut sind.
8. Durch das Leben sprechen
9. Nicht allein, sondern gemeinsam begegnen: Franziskus handelt nicht als Individualist. Seine Regel sendet Brüder zu zweit oder in kleinen Gruppen, um Frieden und das Evangelium in die Welt zu tragen. Ihr Verhalten im eigenen Kreis soll praktisch sichtbar machen, was sie verkünden.
10. Zuhören und lernen: Im Vertrauen auf die Offenheit des Sultans rudert Franziskus über den Nil und zeigt sich selber offen. So entdeckt er wahre Gottesliebe in der anderen Religion und gewinnt aus der Begegnung mit ihr Impulse für den Alltag der eigenen Glaubensgemeinschaft.