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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Shamim Sarif

Die verborgene Welt

Roman

 

 

Aus dem Englischen
von Andrea Krug

K+S digital

Für Hanan, die meinem Leben Leidenschaft verliehen hat, meinen Gedanken Klarheit und meinen Worten eine Stimme.

In unermesslicher Dankbarkeit und unendlicher Liebe.

Titelei

Widmung

Kapitel 1

Pretoria, April 1952

Delhof, bei Pretoria

Kapitel 2

Springs, November 1952

Delhof

Pretoria, September 1951

Kapitel 3

Delhof, November 1952

Kapitel 4

Springs, Dezember 1952

Kapitel 5

Delhof, April 1953

Kapitel 6

Delhof, Mai 1953

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Pretoria, 1892

Delhof

Kapitel 10

Delhof

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Die Autorin

Impressum

Weitere Titel

KAPITEL 1

Pretoria, April 1952

Sie lag bäuchlings auf dem Dach, im Blickfeld nur die billigen Ziegel, und wusste dennoch, dass es sich um einen Streifenwagen handelte. Es lag etwas Unbekümmertes im Schlittern der Reifen über die sandige Straße und in der Art, wie die Handbremse angezogen wurde, noch während die Räder sich drehten, was ein leises Kreischen in der drückenden Luft verharren ließ. Sie hielt mit dem Hämmern inne und lugte über den Dachvorsprung. Sie waren so dicht an der Eingangstür des Cafés zum Stehen gekommen, dass sie einen der Blumentöpfe, die Jacob erst am Vortag bepflanzt hatte, beschädigt hatten.

»Mistkerle!«, murmelte sie leise.

Sie ließ das Schild halb angenagelt hängen und kletterte die Leiter hinunter. Ihre Bewegungen waren bedächtig und ließen ihr Zeit zum Überlegen. Ein Jahr zuvor noch wäre sie binnen Sekunden im Café gewesen – sie wäre voller Eifer herbeigelaufen, um sich jedem neuen Hindernis, das ihr in den Weg geräumt wurde, zu stellen und es zu beseitigen. Doch die vielen Monate des Kampfes gegen Regeln und Vorschriften, die für sie keinerlei Sinn ergaben, hatten ihr die Lust auf Auseinandersetzungen genommen und so handelte sie nun gemächlicher, zügelte ihre Impulsivität, und als sie zu dem Streifenwagen hinübersah, erschienen winzige Falten der Konzentration auf ihrer Stirn.

Einer der beiden, der Fahrer, saß noch im Wagen. Sie kannte viele der einheimischen Polizisten, doch dieser war ihr fremd, und einen Augenblick lang war sie von seinem Äußeren eingenommen – ein ebenmäßiges, attraktives Gesicht, umrahmt von weichem blondem Haar –, bis sie seinen kühlen blauen Blick sah, der von purer Arroganz kündete. Er musterte sie von oben bis unten, und sie hielt seinem Blick stand.

»Noch nie eine Frau in Hosen gesehen?«, fragte sie – zu leise, als dass er es hätte hören können, doch zu ihrem Bedauern kurbelte er das Fenster herunter.

»Was?«

Sie hatte keine andere Wahl, als es zu wiederholen. Sie sprach klar und deutlich, und sein Mund verzog sich ein wenig.

»Jedenfalls keine Inderin, das steht fest«, erwiderte er.

Sie wandte sich um und betrat das Haus, blieb jedoch gleich an der Tür stehen. Das Café war mehr als halb voll, dennoch konnte sie die boerewors in der Küche brutzeln hören. Niemand sprach und niemand blickte zu ihr hinüber – alle Augen waren verstohlen auf den Polizisten gerichtet, der da am Tresen stand. Sie wusste, dass Jacob sie im Blick hatte, aber er ließ sich nichts anmerken. Er polierte weiter das Glas in seiner Hand und nickte ab und an. Officer Stewart stützte sich mit dem einen Arm friedlich auf die polierte Theke und zupfte mit der anderen Hand gedankenvoll an seinem gestutzten Bart.

»Hör mal, Jacob. Ich will euch beiden ja nichts Böses, aber diese Gesetze machen uns Polizisten das Leben verdammt schwer.«

»Uns machen sie auch nicht gerade Vergnügen«, sagte Amina hinter ihm. Sie sah, wie Jacob leicht den angegrauten Kopf schüttelte.

Stewart drehte sich um und tippte sich an die Mütze. »Amina. Lange nicht gesehen.«

»Ja.«

»Hast wohl zugesehen, dass du dir keinen Ärger aufhalst, wie?«

Sie quittierte seinen Versuch zu plaudern mit einem gezwungenen Lächeln. Dann trat sie hinter die Theke, öffnete den unförmigen Eisschrank, nahm eine Flasche Cola heraus und hielt sie ihm ihn. Um Jacobs willen gab sie sich alle Mühe.

»Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten, Officer Stewart?«

Der Polizist schüttelte den Kopf und sah zu, wie sie die halbe Flasche in einem Zug leerte. Dann hielt sie inne, holte schleunigst Luft und lächelte.

»Was ist mit Ihrem Kollegen? Will er nicht reinkommen?«, fragte sie.

»Nein, danke. Mir ist es lieber, wenn er draußen im Wagen bleibt. Er ist ein bisschen übereifrig. Ein wenig hitzköpfig. Er hat ein Problem mit euren Gepflogenheiten.«

Er wies auf den hinteren Teil des Cafés, und als hätte sie keine Ahnung, was er meinte, drehte sie sich um und blickte zu der Sitzecke hinüber, wo ihre afrikanischen Arbeiter tagsüber abwechselnd saßen und aßen. Doris und Jim waren im Augenblick da, und sie sah, wie Doris trotzig das Kinn hob, auch wenn ihre Finger, die um die Kaffeetasse lagen, leicht zitterten. Amina lächelte sie ermutigend an und wandte sich wieder dem Polizisten zu.

»Welche Gepflogenheiten genau sollen das sein, Officer?«

»Nun hör mir mal zu, Amina. Du weißt, wovon ich spreche, und dich mit mir anzulegen, macht die Sache nicht besser, klar? Du und ich – wir wissen beide, dass es ein Vergehen ist, wenn Schwarze da essen, wo Weiße essen.«

Sie stellte die Cola auf die Theke und sah sich um.

»Hier gibt’s keine Weißen. Sie natürlich ausgenommen.«

»Wie Nicht-Weiße dann eben. Dies ist ein Lokal für Asiaten. Und Farbige«, fügte er mit einem Nicken in Richtung Jacob hinzu. »Das heißt: keine Schwarzen.«

»Sie arbeiten für mich.«

»Dagegen ist nichts einzuwenden«, erwiderte der Polizist und schlug bekräftigend auf die Theke. »Aber sie dürfen nicht mit dir zusammen essen. Das ist verboten.«

»Wo sollen sie denn sonst essen?«, fragte Amina.

»Das ist mir doch egal! Sie können draußen essen. Oder in der Küche, verdammt noch mal. Oder wenn sie nach Hause kommen.«

»Kommen Sie zwölf Stunden am Stück ohne Essen aus, Officer?«

Jacob fuhr sich nervös über den geschorenen Schädel und sah zu, wie Amina zu ihrem Grammophon hinüberging. Er wünschte verzweifelt, er könnte eingreifen und für Frieden sorgen, irgendeinen Kompromiss vorschlagen. Doch das würde die Grenzen, die ihm als angeblicher Geschäftsführer des Cafés gesetzt waren, überschreiten – Officer Stewart wusste nicht, dass Jacob in Wahrheit Aminas Geschäftspartner war. Es war Farbigen und Indern verboten, gemeinsam ein Unternehmen zu betreiben, doch ein hilfsbereiter Anwalt hatte ihnen geholfen, insgeheim eine Generalvollmacht für Jacob aufzusetzen, und inzwischen war ihre Partnerschaft von den entscheidenden Menschen weithin anerkannt, und ihr Geheimnis wurde gut gehütet.

Amina kniete sich nieder, den Rücken dem Polizisten zugewandt, und ging ihren kleinen Stapel Schallplatten durch. Stewart setzte entschlossen seine spitz zulaufende Mütze auf und schlenderte zu der hintersten Nische hinüber, wo er stehen blieb und auf die Sitzenden herabsah.

»Papiere!«, sagte er und streckte die Hand aus. Doris und Jim sahen instinktiv zu Amina hinüber.

»Sie wissen doch, dass die beiden Papiere haben«, sagte sie.

»Ich will sie sehen. Und zwar sofort.«

Jim zog seine Papiere hinten aus der Hosentasche. Der Einband war knittrig und abgetragen, und selbst wenn es aufgeschlagen wurde, wies das Dokument eine bleibende Krümmung auf, weil so oft auf ihm gesessen wurde. Stewart drehte es in der Hand und blickte auf den Koch hinunter.

»Das ist bloß eine Reisegenehmigung.«

»Ja, Sir!«

»Wo ist dein Pass?«

»Ich habe keinen Pass, Sir. Ich bin ein Farbiger.«

Stewart begutachtete das Dokument, um sich dieser Tatsache zu vergewissern.

»Du bist ein Farbiger?«

»Ja, Sir!«

»Für mich siehst du aus wie ein Kaffer«, bemerkte Stewart.

»Sie sagen, ich bin ein Farbiger. Die Kommission. Sie haben mich klassifiziert.«

Jacob war neben dem Polizisten erschienen, ohne dass jemand wahrgenommen hätte, dass er sich bewegt, geschweige denn beeilt hatte.

»Sein Großvater war weiß, Officer. Holländer – wie mein Vater.«

»Okay.« Stewart warf das Dokument auf den Tisch, wandte sich um und ließ den Blick über das Café schweifen.

»Du verstehst, was ich euch sagen will, oder, Jacob? Ich will euch nichts am Zeug flicken. Ich tue bloß meine Arbeit.«

Der Knall eines Schusses elektrisierte den Raum – die schiere Lautstärke ließ alle Anwesenden für einen Sekundenbruchteil erstarren, bevor sie sich allesamt duckten.

Amina kniete noch immer vor dem Grammophon und sah, wie Officer Stewart hinter der Theke kauerte und Jacob neben ihm hockte. Die Fenster klirrten noch leicht, als wäre gerade ein Zug durch das Café gerauscht. Stewart zog vorsichtig seine Pistole und brachte sie auf dem Tresen in Anschlag, während er sich langsam erhob. Amina stand gleichzeitig auf. Sein Partner stand in der Tür und ließ die Pistole um seinen Mittelfinger kreisen.

»Was zum Teufel machst du da?«, fragte Stewart.

Der blonde Mann grinste. »Meine Arbeit«, sagte er. »Warum redest du überhaupt mit diesen Leuten hier?«

Er hielt die Pistole fest und feuerte einen weiteren Schuss in die Decke. Putz rieselte herab, und ein hohes Echo sang im Raum.

»Das hier verstehen sie«, meinte er. Er grinste wieder und sah Amina an.

»Wenn du weiterhin Kaffern bedienst, murksen wir sie alle ab. Dann wirst du neue Leute finden müssen.« Er lachte.

»Wenn Sie so weitermachen«, erwiderte Amina, »dann brauchen wir keine neuen Leute. Sie sind nicht gerade gut fürs Geschäft.«

Seine Miene verdunkelte sich, doch noch bevor er den ersten Fluch über die Lippen brachte, schob Stewart ihn zur Tür hinaus und in Richtung Wagen.

Amina sah sich nach Doris um, aber die Sitzecke war leer – ihre gesamte Belegschaft hatte sich in die Küche verzogen oder auf den festgetretenen Flecken Erde draußen vor der Hintertür. Die Gäste, die auf ihr Essen zum Mitnehmen gewartet hatten, waren bereits fort. Andere legten Geld auf den Tisch. Selbst das Gebrutzel aus der Küche war verklungen. Als sie wieder zur Tür blickte, um sich zu vergewissern, dass die Polizisten wirklich fort waren, sah sie, dass das Glas des gerahmten Bildes ihrer verstorbenen Großmutter, das darüber hing, zerbrochen war – der vertraute, herausfordernde Blick ihrer Großmutter wurde von einem Sprung verzerrt. Das schmerzte sie am meisten.

»Lass dich nie von jemandem zur Sklavin machen. Ich war eine Sklavin, mein Leben lang, und das hat mich ruiniert.« Das waren Begums letzte Worte an Amina Harjan gewesen. Sie hatte sie an einem sonnigen Samstagmorgen in Bombay geäußert, röchelnd, aber mit dringlicher Überzeugung, als ihre Enkelin bei ihr am Krankenbett saß und den Duft von zerstoßenen Kardamomschoten einatmete, der von dem Süßwarenhersteller im Stock unter ihnen heraufstieg. Bei Einbruch der Nacht war ihre Großmutter tot gewesen. Ihr Hinscheiden ließ ihre Enkelin in einem seltsamen Schockzustand dahintreiben, der ihren fohlenhaften Gliedern jegliche Energie raubte, und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Amina die Wochen verstreichen gespürt, ohne den Versuch zu machen, sie zu ergreifen und zu nutzen. Als ihr Vater dann wieder einmal seinen langgehegten Wunsch zum Ausdruck brachte, fern von Indien ein neues Leben zu beginnen, merkte sie kaum, dass die Vorbereitungen bereits im Gange waren. Mr. Harjan hatte sich an eine stillschweigende Übereinkunft mit seiner Schwiegermutter gehalten, nicht nach Südafrika auszuwandern, denn sie war vierzig Jahre zuvor aus jenem Land vertrieben worden, doch dieses Versprechen verlor seine Bedeutung, nachdem sie gestorben war.

Bei der Bestattung waren nicht genug Männer zugegen, um den kleinen, aber unhandlichen Leichnam von Aminas Großmutter sorgsam zu halten, und so glitt er in unschicklicher Hast in das Grab und landete mit einem Aufprall, der die versammelten Trauergäste zusammenzucken ließ. Rasch wurde Erde darüber geschaufelt, und Amina erinnerte sich an ihr Staunen, wie schnell Begum von der Erdoberfläche verschwunden gewesen war. Sie war die einzige anwesende Frau gewesen; die anderen waren nach der Trauerzeremonie nach Hause zurückgekehrt, wie es dem Brauch entsprach. Gegen den Wunsch ihrer Mutter hatte sie darauf bestanden, die Männer zu begleiten, und ihr Vater hatte weder die Energie gehabt, sich mit seiner temperamentvollen Tochter zu streiten, noch den Wunsch, ihr den letzten Abschied von seiner Schwiegermutter zu verwehren.

Amina registrierte den Sprung im Glas des Bilderrahmens und betrachtete forschend Begums Gesicht. Sie brauchte einen Moment, bevor sie Jacobs Blick begegnen konnte, und als sie sich schließlich mit einem Lächeln zu ihm umdrehte, hätte er nicht zu sagen vermocht, ob das Leuchten in ihren Augen von unterdrückten Tränen herrührte oder von Zorn.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie ihn.

»Aber ja«, antwortete er. »Ich mag zwar alt werden, aber ich kann immer noch hinter den Tresen abtauchen, wenn’s sein muss.«

Sie lachte, wie er es vorausgesehen hatte, und ohne ein weiteres Wort begannen sie die Tische abzuräumen.

Delhof, bei Pretoria

Miriam stand reglos da, ein gutes Stück von ihrem neuen Zuhause entfernt, die Hand an der Stirn, um ihre Augen zu beschatten. Das Haus war einst ein Farmhaus gewesen, es war niedrig und langgestreckt. Alles schien niedrig zu sein an diesem Ort – die Bäume, die Hügel, selbst die wenigen Gebäude –, niedrig und flach und ohne Farbe, als würde alles vom Gewicht des Himmels und seinem sich ausdehnenden Blau erdrückt. Die Sonne traf ihre Hand mit rotgleißender Intensität, drang ungemildert durch die durchscheinende, geäderte Haut ihres Handgelenks, und als sie die Augen einen Moment fest schloss, spürte sie die Hitze unter ihren Lidern noch immer wie Kohlenglut.

Als sie die Stimme ihres Sohnes vernahm, öffnete sie die Augen rasch wieder. Sie wandte sich um, und der Junge und seine Schwester gerieten ins Zentrum ihres Blickes, klein und knochig standen sie auf der stoep des Hauses, und die sie umgebenden Stapel von Kisten und Möbeln ließen sie beinahe zwergengleich erscheinen. Sie betrachtete die Kinder stirnrunzelnd, als versuche sie sich zu erinnern, wer sie waren, und der Junge rief wieder nach ihr und wieder, seine hohe, schrille Stimme kam auf den schimmernden Wellen der Hitze, die zwischen ihnen flirrten, zu ihr herübergehüpft.

»Was ist? Was willst du?«, rief sie zurück. Sie sprach Gujerati, obwohl ihr Mann sie angewiesen hatte, ausschließlich Englisch mit den Kindern zu sprechen oder, sobald sie der Sprache mächtig genug war, Afrikaans. Doch sie war in Gedanken, und Gujerati war die Sprache, mit der sie aufgewachsen war, die Sprache, in der auch ihre Mutter sie erzogen hatte.

Der Junge verstummte beim Ton seiner Mutter.

»Geht rein, ich komme!«, rief sie, und gehorsam rannten sie ins Haus. Sie stand vollkommen reglos da, wie ein bedrohtes Tier, das auf das kleinste Geräusch lauschte. Als sie die heiße, trockene Luft einatmete, erhaschte sie den Geruch von verbranntem Staub, und sie wusste, dass er fortan Teil eines jeden Atemzugs sein würde; sie spürte ihn bereits leicht auf der Haut liegen. Allein die weichen Falten ihres Baumwollkleides bewegten sich ein wenig in der Hitze, und langsam, aber stetig rannen ihr Schweißperlen von den Schläfen über die hohen Wangenknochen. Sie hob die Hand und wischte sie ungeduldig fort. Sie verstand diesen Ort nicht, an den ihr Mann sie gebracht hatte. Sie wusste, dass Springs nicht mehr als eine halbe Stunde entfernt war, wenn das Wetter und die Straßen gut waren, und dass es ein hübsches Städtchen war, aber hier war nichts, gar nichts. Vielleicht eine halbe Meile entfernt gab es ein paar baufällige Häuser, aber sie sahen aus, als wären sie schon seit Jahren unbewohnt. Am fernen Horizont waren einige Gehöfte auszumachen – wahrscheinlich gehörten sie den Farmern, die künftig zur Kundschaft im Laden ihres Mannes zählen sollten –, doch ansonsten gab es nur noch die Eisenbahnschienen; hier vor ihrem neuen Zuhause lagen sie blank und unverrückbar auf der rostfarbenen Erde, vollkommen allein auf weiter Flur.

So viel Land – noch nie zuvor hatte sie so viel Land gesehen, das einfach dalag, leer. Was sollten sie hier anfangen? Wie sollten sie derart einsam leben? Nach dem beengten Zusammenleben in ihrer Großfamilie in Pretoria, den papierdünnen Wänden zwischen erstickenden Räumen, die ständig vor Nachbarinnen und Verwandten barsten? Es war Miriam nicht unrecht gewesen, das Haus ihres Schwagers zu verlassen, denn ihre Schwägerin hatte sie kaum besser behandelt als ein Dienstmädchen. Und Omars Laden hier draußen bedeutete einen Neuanfang: ein Laden, der alles anbieten würde, was die ansässigen Farmer brauchten. Doch sie fürchtete die stille Einsamkeit des Landstrichs und wusste nicht, wie sie damit zurechtkommen würde, einzig ihren wortkargen Gatten zur Gesellschaft zu haben.

Wieder hob sie die Hand, und diesmal fuhr sie sich mit dem Arm über Wangen und Augen. Dann schlang sie die Arme schützend um ihren Leib und kehrte zu ihrer Familie zurück.

KAPITEL 2

Springs, November 1952

Als die Mutter ihres Vaters Amina wiedersah, fiel sie beinahe in Ohnmacht. Die Ankunft der älteren Dame in Südafrika verursachte einen Wirbel im Haushalt der Harjans, der alle erfasste – bis auf ihre einzige Enkelin. Auch Amina hätte die Auswirkungen vermutlich zu spüren bekommen, doch sie war schlicht und einfach nicht da und konnte auch nicht gefunden werden. Sie sei fort, sie müsse ein paar Tage arbeiten, hieß es auf dem hingekritzelten, kaum lesbaren Zettel, den sie ihren Eltern auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, und da ihre Familie selten genau wusste, wo und welcher Art ihre Gelegenheitsjobs waren, war sie auch nicht aufzutreiben. Für gewöhnlich bereitete das ihrem Vater keine großen Sorgen; anders als andere Männer seines Alters und seiner Herkunft ließ er seine Tochter weitgehend tun, was sie wollte, seit sie einige Jahre zuvor nach Springs gekommen waren. Aminas Mutter war eine unterwürfige, gehemmte Frau, deren Sorge stumm blieb und nur aus den Falten zwischen den Brauen auf ihrer schmalen Stirn sprach. Sie verstand am besten, welche Auswirkungen die bevorstehende Ankunft ihrer Schwiegermutter auf ihrer aller Alltagsroutine haben würde, und sie machte sich die ungewöhnliche Mühe, ihre Küche zu verlassen, um im Café in Pretoria, mit dem Auto etwa eine Stunde vom Heim ihrer Familie in Springs entfernt, nach ihrer Tochter zu fragen. Jacob Williams bot Mrs. Harjan Tee an und hörte sie höflich an, erklärte jedoch, von Amina seit drei Tagen nichts gehört zu haben, da sie einen Taxijob angenommen habe und zwei Leute den langen Weg von Johannesburg nach Kapstadt fahre.

»Sie ist bald wieder da, Lady«, sagte er, benutzte dabei die ehrerbietige Anrede, die in der farbigen Gemeinschaft am Kap üblich war, und schenkte der besorgten Mutter ein aufmunterndes Lächeln. »Sie bleibt nie lange weg. Nie.«

Obwohl Amina in der Tat bald wieder da war, so doch nicht rechtzeitig genug, und so wurde die alte Dame allein von ihrem Sohn abgeholt. Das entsprach nicht dem überschwänglichen großen Bahnhof, den sie sich auf ihrer langen und von Übelkeit erschwerten Reise ausgemalt hatte. Mr. Harjan war ein erschöpfter, durchscheinend wirkender Mann, dessen hagere Gestalt in seinen ausgebeulten Arbeitskleidern fast ausgemergelt wirkte. Er kam ein wenig zu spät und fand seine Mutter am Ende des Bahnsteigs, wo sie wie angewurzelt stand und den staubigen Bahnhof und die herumwuselnden Schwarzen voller Widerwillen betrachtete. Er begrüßte sie ohne große Begeisterung, als hätte er sie am Tag zuvor erst gesehen, und verfrachtete sie in sein klappriges Auto. Wortlos fuhr er nach Hause zurück, ohne dem Unbehagen seiner beleibten Mutter groß Beachtung zu schenken – als hätte er bloß ein Paket abgeholt, das nicht weiter wichtig war. Die wiederholte Aufzählung all ihrer Zipperlein zog über ihn hinweg wie eine Wolke von Stechmücken, irritierend, aber letztlich nicht weiter von Bedeutung.

Gleich an diesem ersten Tag erhob die alte Dame Anspruch auf ihre Position im Haus; sie beseitigte alle persönlichen Spuren, die auf ihren Sohn und ihre Schwiegertochter hinwiesen, und breitete sich stattdessen aus. Sie thronte in dem kleinen Wohnzimmer im Sessel ihres Sohnes, als hielte sie Hof und begann die ganze Verwandtschaft und sämtliche Nachbarinnen und Nachbarn zu empfangen – gütig, aber nicht ohne sicherzustellen, dass diese begriffen, welch ein Entgegenkommen sie ihnen damit erwies. Ihre Besorgnis über die Abwesenheit ihrer Enkelin war beträchtlich gewesen, aber Aminas Eltern begegneten ihren Nachfragen zu deren Aufenthaltsort derart vage und unbestimmt, dass sie sich mit einer kurzen Standpauke begnügt hatte und es dann auf sich beruhen ließ. Zwei Tage später tauchte Amina auf.

Die alte Dame hörte, wie draußen vor der Haustür unvermittelt ein Motor ausgestellt wurde, und von ihrem Sitzplatz beim Fenster zog sie die vergilbten Tüllgardinen zurück, die schlaff vor den Scheiben hingen, und schaute hinaus. Viel konnte sie nicht erkennen, aber irgendetwas veranlasste sie, die junge Frau gründlich zu mustern, die aus dem Wagen da draußen gesprungen war, und sie beobachtete, wie die Mutter aus der Hintertür geeilt kam und ihrer Tochter dringlich etwas zuflüsterte und auf das Haus wies. Amina nickte und lächelte und lud etwas ab – es sah aus wie Mehlsäcke – und übergab es der Magd, Rosemary, die lächelnd aus dem Haus getreten war, um sie zu begrüßen. Dann reichte Amina Mrs. Harjan zwei Kleider, hielt sie ihr an, doch ihre Mutter legte sie sich rasch über den Arm. Die alte Dame runzelte die Stirn – wozu brauchte die neue Kleider? Sie ließ sich in ihren Sessel zurücksinken und runzelte verblüfft die Stirn, während Amina zum Haus herüberschritt und durch die Fliegentür eintrat. Ihre Großmutter sah, dass sie etwas trug, das aussah wie ein Paar alte Arbeitshosen ihres Vaters, Hosenträger und ein kragenloses Hemd. Dazu hatte sie einen breitkrempigen Hut auf, weit in den Nacken zurückgeschoben, so dass er den Großteil ihrer langen schwarzen Locken zurückhielt, die ihr sonst ins Gesicht gefallen wären. Sie sah aus wie einer der Burenfarmer, die zur Tankstelle ihres Vaters kamen, um Treibstoff in ihre Wagen zu füllen.

»Gott vergib uns«, murmelte die alte Dame. Das Mädchen hatte schon in Indien nicht besonders sittsam oder fügsam gewirkt, aber das hier war etwas ganz anderes. Das Entsetzen verfestigte sich in ihrem Gesicht, so dass Amina, als sie das Zimmer betrat, groß und lächelnd, erschrocken innehielt, als sie die Miene ihrer Großmutter sah. Sie folgte ihrem Blick und begriff sofort, dass ihr Vergehen in ihrer Kleidung lag, ihrer Haltung, ihrer Art, sich zu geben. Amina hatte die letzten sechs Jahre ihres Lebens in diesem Haus so gelebt, wie es ihren Wünschen entsprach, und ihre Eltern schienen den Freiheitsdrang ihrer einzigen Tochter zumindest zu dulden, auch wenn sie ihn wohl nicht verstanden. Im Laufe der Jahre waren sie müde geworden; ihre größten Bemühungen, Aminas Eigensinn Einhalt zu gebieten, hatten nie etwas gefruchtet, nicht einmal als ihre Tochter noch klein gewesen war. In Indien hatte ihre Mutter sie jeden Tag mindestens ein, zwei Mal aus den Augen verloren. Dann wurde das ganze Haus durchsucht, Dienstmädchen und Kinderfrau wurden befragt, der kleine Garten durchkämmt, und schließlich fand man das Kind, wie es einen neuen Ort erkundete, lächelnd und den erleichterten Frauen zunickend, die es umringten. Nur ein Dienstmädchen, eine gewitzte junge Frau von neunzehn Jahren, die eine ähnliche Energie ausstrahlte wie das Kind, konnte mit Amina mithalten. Doch sie war nur ein Jahr bei den Harjans geblieben, dann brannte sie mit dem Hausburschen von nebenan durch, und danach war Amina von niemandem mehr zu bändigen gewesen. Sie war kein unartiges Kind – jede Spur von Falsch oder Verschlagenheit war ihr fremd –, aber ihre Neugier und ihre Tatkraft waren unerschöpflich, und ihre stillen Eltern schienen neben dem wissbegierigen Verstand und dem unbezähmbaren Bewegungsdrang ihrer heranwachsenden Tochter immer mehr in den Hintergrund zu treten.

»Du hättest ein Junge werden sollen«, hatte ihre Mutter mehr als einmal erschöpft zu ihr gesagt, und diese Bemerkung hatte das Mädchen verwundert – und gekränkt. Sie dachte gründlich darüber nach, wie sie über alles gründlich nachdachte. Sie maß sich gern im sportlichen Wettkampf mit den Jungen in der Schule und sie machte ihre Hausaufgaben gut – wenn sie ihre Aufmerksamkeit fesselten –, und wenn sie erwachsen war, wollte sie ein Geschäft oder ein Gewerbe betreiben. Waren das Dinge, die nur einem Jungen zustanden? Die Schule abzuschließen, um anschließend zu heiraten, ergab in ihren Augen keinen Sinn und schien ihr auch nicht besonders attraktiv, und obwohl diese Bestimmung so tief im Bewusstsein der Menschen um sie herum verankert war, war sie ihr selbst doch nahezu unverständlich. Manchmal kam es ihr vor, als lebe sie in einer vollkommen anderen Welt, als atme sie eine andere Atmosphäre als andere Menschen, und als sie heranwuchs, fand sie Zuflucht in der Arbeit und ihren Büchern. Sie ergriff jede Möglichkeit zur Arbeit, die sich ihr bot, doch nur in ihrem Elternhaus – es war einfach nicht möglich, andernorts körperlich zu verrichtende Arbeit anzunehmen –, und wenn Haus und Garten in tadellosem Zustand waren, dann las sie. Zerfledderte alte Romane, Gedichte und Biographien folgten einander in einem tanzenden Reigen durch Herz und Hirn, und mit jeder Lektüre wuchs ihre Wahrnehmung der Welt und deren Vielschichtigkeit.

Im Alter von sechzehn Jahren verließ sie schließlich die Schule, weil ihr Vater beschlossen hatte auszuwandern. Seit Jahren hatte er Geschichten von anderen Familien gehört, denen sich in Südafrika große Chancen boten, doch obwohl er nur eine bescheidene Anstellung als Buchhalter hatte und ihm seine Arbeit verhasst war, wagte er es nicht, die Möglichkeit, nach Südafrika auszuwandern, anzusprechen, solange seine Schwiegermutter noch am Leben war. Er wusste nur zu gut, dass ihre Zeit dort grausame Spuren hinterlassen hatte – in ihrem Leib die zerschlagenen, verformten Knochen und in ihrer Seele die Erinnerung an die brutalen Prügel. Amina hatte viel von Begum gelernt. Ihre Großmutter besaß ein Ausmaß an Wissen und Weisheit, das zu erwerben sich wenige Frauen ihrer Generation getraut hatten, geschweige denn, es an ein junges Mädchen weiterzugeben. Ihre Großmutter mütterlicherseits sprach von ihrem Stolz, von Selbstvertrauen und von Mut. Das waren die Dinge, die es zu kultivieren galt, hatte sie ihrer Enkelin erzählt, und nicht eine sklavenhafte Bindung an Pflichten und traditionelle Gepflogenheiten, die auf Unterwürfigkeit und Schmerz und Angst basierte.

Amina wusste, dass dieser Rat gut war, denn er entsprach ihrem natürlichen Sinn für Integrität und Gerechtigkeit, doch noch war ihre Bewunderung abstrakt, denn die Schrecken, von denen ihre Großmutter erzählte, hatte sie nicht erlebt. Als ihr Vater dann einige Monate nach Begums Tod beschloss, dass die Familie nach Südafrika übersiedeln würde, empfand Amina weder besondere Aufregung bei dieser Vorstellung, noch war sie unglücklich darüber. Dem Leid, das ihrer Großmutter widerfahren war, begegnete sie mit Respekt, doch sie wusste, dass sie um eines anderen Menschen willen nicht ein ganzes Land hassen konnte, nicht einmal um Begums willen. Mit siebzehn lag die ferne Zukunft nicht mehr als sechs Monate entfernt, und sie wusste nur, dass sie und ihre Eltern in sechs Monaten die Hälfte ihrer Seereise nach Afrika zurückgelegt haben würden.

Am Morgen ihrer Ankunft hatte sie bei Tagesanbruch fast allein auf dem oberen Deck gestanden und zugesehen, wie die Küste aus dem Nichts erwuchs, aus dem Meer, so klar und sauber wie die Ränder einer Karte, und bei diesem Anblick hatte sie gelächelt. Zunächst konnte sie nur wenig erkennen außer dem goldenen Streifen der Strände, aber sie schienen sich endlos zu erstrecken, und Amina fühlte sich gleich zu Hause, befreit, in der Lage, Atem zu schöpfen, und ihre innere Zuversicht vereinigte sich mit der spontanen Zuneigung zu diesem Land, dem sie sich näherten, und verlieh ihr eine Entschlossenheit, der sich niemand widersetzen konnte. Ihre Eltern gaben es bald schon auf. Die halbherzigen Versuche, die sie in Indien unternommen hatten, ihre Tochter zu bewegen, sich den landläufigen Konventionen zu beugen, entfielen in Südafrika vollständig. Die Familie ging direkt von Durban nach Pretoria, ließ sich aber nicht unter ihresgleichen im asiatischen Basar nieder, sondern entschied sich für ein Haus und einen Betrieb – eine Werkstatt mit einer Tankstelle – außerhalb von Pretoria, in Springs, wo der Konformitätsdruck weitgehend von Aminas Vater genommen war. Ihre Mutter wurde in ein Leben geworfen, das härter war als zuvor in Indien. Ihr wöchentliches Haushaltsgeld musste jetzt sorgfältig zusammengehalten werden, und sie hatte keine Dienstmädchen mehr, die rund um die Uhr da waren, sondern nur Rosemary, die tagsüber kam und nicht immer so arbeitete, wie sie sollte. Und Amina war letztlich doch lieber mit ihrem Vater in der Werkstatt, statt ihrer Mutter in der Küche zur Hand zu gehen. Mrs. Harjan konnte nichts tun, als besorgt mitanzusehen, wie ihre Tochter Benzin pumpte, Windschutzscheiben putzte und sich in ihr eigenes Leben an diesem neuen Ort fand. Das unerprobte und oft ungezähmte Land passte Amina wie ein gut geschnittenes Gewand, und ihre Ungezwungenheit und ihre Zuversicht, die inzwischen einige Jahre lang gewachsen waren, waren genau das, was ihre Großmutter, die nun vor ihr saß, vollkommen verstörte. Amina ließ nicht einmal den Anschein von Fügsamkeit und Demut erkennen – und obwohl ihre Großmutter nichts von alledem verstand und meinte, es seien die Hosen mitsamt den Hosenträgern, die sie abstießen, so bildeten doch in Wirklichkeit Haltung und Auftreten ihrer Enkelin den größten Affront.

Die alte Dame fiel jedoch nicht in Ohnmacht. Im Gegenteil, sie erholte sich ziemlich schnell, und in ihrem Kopf nahmen die wesentlichen Punkte ihrer Gardinenpredigt, die sie ihrem Sohn und seiner Frau halten würde – gewiss trug sie die Hauptschuld –, bereits Formen an. Doch bevor sie etwas sagen konnte, entzog Amina sich ihr. Die junge Frau war derartige Reaktionen, insbesondere von Älteren, mittlerweile gewöhnt, und ihre Art, damit umzugehen, hatte sich allmählich gewandelt – Zorn und Rechtfertigungsversuche waren dem höflichen Rückzug gewichen, den sie jetzt antrat.

Amina wich einen Schritt zurück, nahm den Hut ab und hieß ihre Großmutter mit einigen förmlichen und korrekten Worten in Gujerati willkommen. Dann hatte sie den Hut auch schon wieder auf, und noch ehe die alte Dame reagieren konnte, schloss sich die Fliegentür bereits wieder hinter ihr.

»Gott vergib uns«, murmelte die Großmutter erneut, als wolle sie einen bösen Geist bannen. Unsicher erhob sie sich und ging so schnell es ihr möglich war zu dem Vorhang vor der Tür. Doch bis sie ihn beiseite geschoben hatte und durch die dunstige Scheibe spähte, war ihre Enkelin bereits verschwunden, und alles, was von ihr blieb, waren Reifenspuren und eine Staubwolke, die einen Moment in der Luft hing und dann langsam zur Erde sank.

Delhof

Wenn Miriam in jenem ersten Jahr auf dem Lande abends im Bett lag, schmerzte ihr der Kopf vor lauter Stille. Sie war so umfassend und schien wie etwas Kaltes, Kompaktes vom Himmel herabzustürzen. Vor allem jetzt im Winter. Keine Grillen oder sonstigen Insekten, die auch nur das kleinste Loch in die Mauer der Stille bohrten. Dann schloss Miriam fest die Augen und zwang sich, auf Omars Atemzüge zu lauschen, den tiefen, festen Schlaf des Mannes, der neben ihr lag. Das leise Schnarchen, die Bewegung eines Kopfes auf einem Kissen – in den langen Nächten stürzte sie sich auf diese Geräusche wie eine Bettlerin auf einen Münzenregen.

Um fünf oder halb sechs stand sie auf, denn oft war sie bereits vor dem Morgengrauen und dem beharrlichen Krähen des jungen Hahnes auf der Nachbarfarm wach. Schon damals als junges Mädchen in Indien war sie in aller Frühe erwacht, aber regelmäßig noch vor der Morgendämmerung stand sie erst auf, seit sie verheiratet und zu ihrer Schwiegerfamilie in Pretoria gezogen war. Obwohl Omars ausgeprägtes Selbstvertrauen bedeutete, dass er sich gewöhnlich um die Belange der gesamten Familie kümmerte, war sein Bruder Sadru doch der Ältere, und deshalb stand Farah, seine Frau, in der unausgesprochenen Hierarchie der Frauen des Hauses über Miriam. Omars Schwester hätte über ihnen beiden gestanden, aber sie war geistig zurückgeblieben und kränklich, und Farah hielt sie mit Ohrfeigen und Schlägen mühelos unter ihrer Fuchtel. Farahs herrische Art gepaart mit ihrer Faulheit widerstrebte Miriam, aber sie hatte keine andere Wahl, als sich damit abzufinden und die Versäumnisse ihrer bhabhi wettzumachen, indem sie selbst noch mehr in der Küche schuftete. Sie war gezwungen gewesen, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen, um den Teig für die rotis zum Frühstück anzusetzen. Mit einem Kopfschütteln schob Miriam die Erinnerungen beiseite und glitt aus dem Bett.

Sie brauchte sich keine Mühe zu geben, leise zu sein – sie war von Natur aus leichtfüßig. Und außerdem war es ohnehin Zeit für ihren Mann aufzustehen – das wusste er, und so fand er sich allmählich ab mit den leisen Bewegungen seiner Frau im Zimmer, hinaus in das kalte Bad und durch den Flur zurück, wo er sie an der Tür zum Kinderzimmer innehalten hörte, bevor sie die Treppe hinunterging. In der frühmorgendlichen Düsterkeit der Küche sah sie, dass Robert, der Junge, den Omar eingestellt hatte, um im Laden zu helfen, das Feuer, das den ganzen Tag über im Herd brennen würde, schon mit Kohlen fütterte. Robert schaute sich mit einem Lächeln nach ihr um, den Jutesack mit dem Brennstoff noch in den Armen. Die Kohle wurde in Witbank, ganz in der Nähe, abgebaut und war billig und reichlich vorhanden. Miriam wünschte Robert leise und ein wenig befangen guten Morgen. Im Haus ihrer Mutter war sie es gewohnt gewesen, Dienstboten zu haben, aber das war etwas anderes gewesen. Omars Haltung den Schwarzen gegenüber war immer ein wenig herablassend und oftmals grob. Barsche Anweisungen zu geben lag nicht in Miriams Natur, aber Omar hatte ihr befohlen, streng mit ihnen zu sein, also musste sie sich darum bemühen.

Die Hintertür ging auf, und der Nachtwächter trat ein. Sie hatten bald festgestellt, dass hier auf dem Lande, genau wie in gewissen Bezirken Pretorias, nachts eine Wache vonnöten war.

»Die Kaffern«, hatte Omar gesagt, »die klauen, was nicht niet- und nagelfest ist.«

Deshalb erschien jeden Abend, wenn der Laden geschlossen wurde, John auf der Bildfläche – groß, kräftig, sein kurzgeschorenes Haar fast vollkommen ergraut. Sie sah ihn bereits zwanzig Minuten vor seinem Eintreffen im Laden herannahen; er tauchte am Horizont auf, von irgendwoher, wo, wie Miriam wusste, alle Schwarzen zusammenlebten. Er half Omar, die Gestelle mit den Auslagen von der Veranda in den Laden zurückzuräumen, und seine langen, mageren Arme – wiewohl älter als die ihres Mannes – hatten leichtes Spiel beim Anbringen der Vorhängeschlösser. Miriam nickte er stets respektvoll zu, doch ihre schüchternen Versuche, ihm etwas zu trinken oder zu essen anzubieten, lehnte er immer höflich ab, bis sie schließlich einsah, dass sie ihn nicht mehr fragen sollte. Dann ließ er sich für die Nacht auf seinem Stuhl auf der stoep nieder, gleich neben einer alten Wellblechtonne, in der einige Kohlen brannten, damit er nicht fror. Manchmal, wenn sie noch spät auf war und am Küchenherd saß und nähte, beobachtete Miriam John, wie er vor den Fenstern auf und ab ging, und sie sah das glühende Rot der Kohlen, die hin und wieder zischten und spuckten, vor allem wenn es windig war. In gewissen Abständen im Laufe der Nacht schlug John ein Tuch auf und nahm eine Portion mealies heraus, Mais, der hier so verbreitet war wie der Reis in Miriams Heimat, und röstete ihn langsam über dem Feuer, bevor er ihn aß.

»Wie geht es dir, John?«, fragte sie ihn.

»Gut, Madam, mir geht es gut.« Wie ein interessierter Onkel sah er zu, wie Robert den Ofen bestückte, und sobald er zufrieden war, dass der Junge es ordentlich machte, wandte er sich um und öffnete die Hintertür.

»Bis heute Abend, Madam«, sagte er, und Miriam hob zum Abschied die Hand.

Robert rüttelte die Kohlen noch einmal kurz durch, bevor er die schwere schwarze Ofentür schloss.

»Soll ich das Mehl holen, Madam?«

Sie wandte sich ihm zu. Er war fünfzehn Jahre alt und hinkte leicht, was von einem Unfall in seiner frühen Kindheit herrührte – als sie ihn danach gefragt hatte, hatte sie seine Antwort kaum verstanden, sein Englisch klang anders als ihres, und die Einzelheiten waren ihr entgangen. Robert war von kleinerer Statur als sie und hatte blitzweiße Zähne. Sie nickte zur Antwort und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie er sich über den Sack beugte und zwei Tassen voll abmaß. Wieder betrachtete sie voller Staunen die festgedrillten Locken seines Haares und die dunkle Kaffeefarbe seiner Haut, ein gänzlich anderer Ton als das Tintenschwarz, das Johns Haut aufwies. In den ersten zwanzig Jahren ihres Lebens hatte Miriam keinen schwarzen Menschen zu Gesicht bekommen.

»Du darfst nicht freundlich zu ihnen sein«, hatte ihr Mann gesagt. »Wenn sie dich für weichlich halten, nutzen sie das aus. Lass sie rackern. Dazu sind sie da.« Sie hatte zugehört; sie hatte hundert Fragen zu »ihnen«, die sie ihrem frisch angetrauten Ehemann nicht zu stellen gewagt hatte, und so hatte sie bloß genickt und ihm zugestimmt. Von oben vernahm sie das Knarren einer Bodendiele, und so wusste sie, dass Omar aufgestanden war und dass seine unbedachten schweren Schritte die Kinder aufwecken würden.

Dennoch war es hier besser als in Pretoria. Dort hatte es keine Ruhe gegeben, weder am frühen Morgen noch sonst irgendwann. Zumindest ihre bhabhi war mit ihr zusammen auf den Beinen gewesen, und das Schwatzen ihrer Nachbarinnen und das Greinen der Kinder drang durch die dünnen Wände und von der Straße herauf. Und dann hatte sie Omars Schwester Jehan füttern und waschen müssen, deren manisches Plappern und Lachen anhob, noch bevor sonst jemand voll erwacht war.

Dankend nahm sie das Mehl von Robert entgegen. Vor der Tür fand der Junge die Milch, die Mr. Morris, der farbige Farmer, dessen kleines Gehöft am nächsten lag, dort jeden Morgen in aller Frühe hinstellte – schaumbedeckt und noch ein wenig warm. Robert kämpfte mit dem Gewicht und trug die große Kanne mit raschen kleinen Schritten herein. Die Milch roch frisch, nicht stichig wie die in den abgestandenen Flaschen, die sie sich in Pretoria hatten teilen müssen. Eine von Miriams letzten allabendlichen Pflichten – nach dem Kochen, dem Auftragen des Essens, dem Abräumen und Spülen, nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht hatte und Omars Hemden gebügelt – hatte darin bestanden, Jehan ein Glas Milch zu bringen. Ihr Schwager hatte sie in seiner unbesonnenen, wohlmeinenden Art darum gebeten, denn er glaubte, es würde den Geist seiner Schwester vor dem Schlafen beruhigen, und seine eigene Frau machte sich selten die Mühe, seine Wünsche zu befolgen. Doch Farah schenkte Jehan immer die alten Milchreste ein, und Miriam lernte, keinen Widerspruch einzulegen, denn sonst bekamen ihre Kinder die alte Milch vorgesetzt, wenn sie nicht hinsah. Von dem Geruch dieser Milch in Jehans dunklem, stickigem Zimmer wurde Miriam immer übel. In diesen Augenblicken, wenn sie benommen war vor Schlafmangel und Hunger, erinnerte Miriam sich an die Worte ihrer Mutter, als sie gezögert hatte, Omars Heiratsantrag anzunehmen.

»Seine Eltern sind tot«, hatte sie gesagt. »Das wird dir das Leben leichter machen, denn keine Mutter ist je mit der Frau zufrieden, die ihr Sohn heiratet. Geh mit ihm nach Südafrika und sei froh, dass keine Schwiegermutter dich nötigen wird, wie eine Sklavin zu schuften.«

Keine Schwiegermutter vielleicht, aber Farah hatte einiges daran gesetzt, Miriam das Leben schwer zu machen. John und Robert hingegen lächelten sie zumindest an. Miriam sah zu, wie die Milch heiß wurde, und erinnerte sich an die Zeit in Pretoria, als ihr zehn Tage lang niemand ein Lächeln geschenkt hatte.

Pretoria, September 1951

Sie hatte gewusst, dass es zehn Tage waren, weil sie die Tage gezählt hatte. Der letzte Mensch, der sie angelächelt hatte, war der halal-Metzger gewesen, in dessen Geschäft sie am Donnerstag der Vorwoche eingekauft hatte. Sie war seitdem noch einmal dort gewesen und hatte gehofft, dass der Metzger die Kette der gezählten Tage unterbrechen würde, aber der Mann war damit beschäftigt gewesen, ein frisch geschlachtetes Lamm zu zerlegen, und hatte sie kaum gegrüßt.

Farah lächelte dann und wann, aber niemals aus reiner Freude. Wann immer sie lächelte, zeichnete sich unweigerlich eine Spur Überheblichkeit oder ein Anflug von Triumph auf ihrem Gesicht ab, was Miriam bewog, jedes Aufblitzen der Zähne bei ihrer bhabhi mit Vorbehalt aufzunehmen.

»Was machst du da mit dem Fleisch? Da bleibt ja nichts von übrig.«

Farahs Stimme drang in ihr Tagträumen und lenkte Miriams Aufmerksamkeit wieder auf das Häufchen gewürfeltes Hammelfleisch, das vor ihr lag. Mit flinken Messerstrichen schnitt Miriam die Fettränder ab und entfernte die Sehnen.

»Mein Mann möchte das Fleisch sauber haben«, erwiderte Miriam. In der Woche zuvor war sie gescholten worden, weil sie zu viel Fett an dem Lammfleisch für das Curry gelassen hatte.

»Mein Mann möchte es sauber haben!«, äffte Farah sie nach. »Mein Mann möchte das ganze Fleisch essen, für das er bezahlt hat, statt so viel abzuschneiden, dass nichts davon übrig bleibt.«

Sofort legte Miriam das Messer beiseite und schichtete das Fleisch in die große Schüssel, um es zu waschen, bevor es zu den Zwiebeln gegeben wurde, die bereits auf dem Herd bräunten.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie ruhig. »Es wird ihnen schon reichen.«

»Ja, aber was ist mit dir und mir?«, fragte ihre bhabhi.

Miriam wusch das Fleisch ab. Sie wusste, dass Farah noch nie zu kurz gekommen war, und wenn es knapp werden würde, wäre sie es, die leer ausginge.

»Vielleicht sollten wir mehr Fleisch kaufen«, sagte sie ruhig, »und mehr Mehl für die rotis …«

»So viel Geld haben wir nicht«, antwortete Farah. »Es ist schon erstaunlich, dass es mir überhaupt gelingt, genug Essen für alle auf den Tisch zu bringen, bei dem bisschen, was sie mir geben.«

Miriam begann die überreifen Tomaten zu häuten und klein zu schneiden, die Sadru vom Markt mitbrachte. Sie waren so weich, dass sie nur noch zum Kochen taugten. Sie wusste, dass Farah log – dass sie jede Woche etwas vom Haushaltsgeld abzweigte, um sich und ihren Kindern Kleider und billigen Schmuck zu kaufen, aber Miriam sah keine Möglichkeit, dagegen zu protestieren. Omar weigerte sich, seiner Frau ihren Teil des Geldes zu geben – Farah führe den Haushalt, hatte er gesagt, und er wolle sich keine Scherereien einhandeln.

Später an jenem Abend, als die Männer sich gemeinsam zu Tisch setzten, hatte Miriam flink die lockeren, geschmeidigen Teigkugeln zu perfekten kreisförmigen Fladen ausgerollt. Sie nahm sie geschickt auf, gab sie von einer flachen Hand in die andere und legte sie in die heiße gusseiserne Pfanne. Geduldig wartete sie, bis sie fertig waren, während sie von einem Fuß auf den anderen trat, um die Schmerzen in ihren Knien zu lindern. Sie war seit halb sechs Uhr morgens auf den Beinen. Allein der Gang zur Toilette hatte ihr gelegentlich einige Momente verschafft, in denen sie sitzen konnte. Hin und wieder wendete sie die rotis mit den Fingerspitzen, die sich längst an die Hitze des Herdes gewöhnt hatten. Sobald sich hier und da braune Stellen auf der Oberfläche zeigten und ausbreiteten, wurde das Brot aus der Pfanne genommen und mit Butter bestrichen. Wenn zwei oder drei fertig waren, trug Miriam sie noch heiß zu den Männern hinein und zu Farah, die sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte.

»Komm und iss«, sagte Omar zu ihr. Miriam nickte leicht, doch bevor sie sich setzen konnte, begann Jehan in ihrem Zimmer zu schreien. Sie gab lange, irre Wortströme von sich. Die Männer blickten auf, aber Farah aß weiter.

»Hast du ihr zu essen gegeben?«, fragte Omar. Miriam nickte und ging nachsehen, welche Halluzinationen oder Träume die ältere Schwester ihres Mannes derart verstört hatten.

Jehan war ausnahmsweise leicht zu beschwichtigen. Miriam blieb zehn Minuten bei ihr, strich ihr über die Stirn und murmelte vage Erwiderungen auf die unsinnigen Worte, die Jehan von sich gab. Als sie in die Küche zurückkehrte, hatte Farah das schmutzige Geschirr bereits zum Abwaschen in die Spüle gestellt. Die Servierteller waren leer. Miriam trat an den Topf, wischte mit einem kalten roti die Sauce von den Rändern und aß. Wieder einmal hatte ihr niemand ein Lächeln geschenkt – Omar nicht, als er von der Arbeit nach Hause kam, und auch Sadru nicht, der trotz seines grobschlächtigen, ungehobelten Äußeren einen freundlichen Zug besaß und sich ihr gegenüber oftmals am respektvollsten zeigte. Sie presste sich die Hand auf das schmerzende Kreuz. Sie hatte ihren Sohn heute zu viel mit sich herumgetragen, aber er hatte sich vor Farahs Tochter gefürchtet, die älter und robuster war als er. Miriam grauste es bei dem Gedanken, Sam und Alisha neben den schlecht erzogenen Kindern ihrer Schwägerin aufwachsen zu sehen, aber sie sah kaum einen Ausweg. Durch die Gespräche der anderen Frauen und auch von Farah hatte sie jedoch erfahren, dass es Mittel und Wege gab, eine Schwangerschaft zu verhindern, zumindest eine Zeitlang. Omars Ansprüche an sie hatten nachgelassen, je erschöpfter sie sich beide im Laufe der Zeit fühlten, aber nichtsdestotrotz hatte sie diese Mittel und Wege ausprobiert, nachdem ihr zweites Kind geboren war.

Am nächsten Tag wurde Miriam in der niederdrückenden Atmosphäre des fensterlosen Badezimmers erneut übel, als sie auf den kalten Fliesen kniete und mit der Scheuerbürste den Boden schrubbte. Sie arbeitete schnell und war schon fast an der Tür, als diese aufgestoßen wurde und sie beinahe ins Gesicht traf. Sie blickte auf. Farah sah sie mit großen Augen an. Sie klatschte in die Hände, während sie sprach.

»Sie haben gesagt, wir können gehen! Ins Basar-Café. Zum Mittagessen!«

»Wir alle beide?« Miriam wagte kaum zu glauben, dass sie an einem solchen Glücksfall teilhaben sollte.

»Wir alle drei!«, erwiderte Farah und verdrehte die Augen. »Ich musste ihnen versprechen, die Verrückte mitzunehmen. Sie wollen, dass sie mal rauskommt.« Sie drehte sich um, doch dann hielt sie inne und wandte sich Miriam noch einmal zu.

»Beeil dich!«, befahl sie. »Geh und zieh sie an. Ich kleide mich inzwischen um.«

Während Miriam Jehan anzog, sang sie ihr ein Liedchen vor, eine Hindi-Weise aus einem Film, der Jahre zuvor in Bombay populär gewesen war. Als sie fertig war, lächelte sie, und auch Jehan lachte – Miriam verspürte eine Beschwingtheit, die es seit Monaten im Haus nicht gegeben hatte. Denn zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Südafrika würde sie ein Mahl zu sich nehmen, an dessen Zubereitung sie keinen Anteil hatte. Sie würde aus dem Haus kommen, ohne einkaufen zu müssen und ohne dem Geschwätz der Frauen ausgesetzt zu sein, die Farahs Freundinnen und Nachbarinnen waren. Und endlich würde sie Amina Harjan höchstpersönlich begegnen – dem Gegenstand von Klatsch und Tratsch.

Natürlich hatte Miriam von ihr gehört – das hatten alle. Denn trotz ihrer unkonventionellen Art war und blieb sie eine Inderin, eine noch sehr junge, unverheiratete Inderin, und ihre offenkundig unbegrenzte Freiheit und ihr Mangel an Schicklichkeit bot dem ganzen asiatischen Viertel Grund zu großer Besorgnis. Ihre Art, sich zu kleiden, die Tatsache, dass sie kürzlich ein eigenes Lokal eröffnet hatte (»mit einem farbigen Mann!«), selbst Begums Foto, das stolz im Café hing – all das beförderte das Interesse ihrer Umgebung. Man war bestürzt und entsetzt und schockiert, aber viele besuchten ihr Café, weil sie das Essen mochten und die Atmosphäre und die Preise.

Miriam begegnete Amina an jenem Tag voller Neugier, gewürzt mit einer Prise Missbilligung. Denn Farahs Freundinnen kamen mindestens zweimal in der Woche zu Besuch, um zu klatschen und tratschen. Sie hatten kistenweise grüne Mangos mit harter Schale dabei, um sie zum Einlegen klein zu schneiden, oder den Wochenvorrat Knoblauch zum Schälen, und bei der Arbeit schwatzten sie eben. Miriam blickte auf ihr eigenes Häufchen geschälter Knoblauchzehen und sah aus den Augenwinkeln zehn oder zwölf Messer um sich herum aufblitzen, während die Frauen schälten und hackten, und sie hatte zugehört, als sie ganze Arbeit leisteten und Aminas tote Großmutter für sämtliche Sünden ihrer Enkelin verantwortlich machten.

»Sie hat das Mädchen von Anfang an fehlgeleitet. Hat ihr Stolz und Hochmut beigebracht. Wo soll das hinführen?«