Martin Kluger
Der Vogel, der
spazieren ging
Roman
Von Martin Kluger sind im DuMont Buchverlag
als eBook außerdem erschienen:
Abwesende Tiere
Die Gehilfin
eBook 2014
© 2008 DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Zero, München
Umschlagabbildung: Corbis
ISBN eBook: 978-3-8321-8666-1
www.dumont-buchverlag.de
Für Maureen
para siempre
I believe that while we are alive we lie
to protect ourselves from the truth itself.
The lies we tell are part of the life we live
and therefore part of the truth.
George Bernard Shaw
Erster Teil
Der große Frager
Nicht ich bin, sondern mein Vater ist der Schriftsteller in der Familie. In meiner Geschichte ist er der Absender, ich bin der ewige Bote.
Viele Jahre sind vergangen, Menschen gestorben, Herzen verbrannt. Aber der Bote lebt noch und muß die Botschaft überbringen, die ihm anvertraut wurde.
Wir waren beide Einzelkinder. Vater, ich, wir waren zu zweit, mehr waren wir nicht. Zwei selbstgebackene Yankees in Philadelphia, City of Brotherly Love. Der Rest der Sippe gesellte sich später zu uns, wie die als harmlose Hausgäste getarnten Mörder in Vaters Romanen. Bis auf Onkel Meyer natürlich. Meyer war immer schon dagewesen. Meyer, der Erlöser, hatte Vater und meine Wenigkeit von der Alten Welt über den Ozean in die Neue Welt gelotst. Wie viele Seelen Onkel Meyer später dann als Bote von Boss Neidelman ›erlöst‹, sprich ›vereist‹, sprich vom Leben zum Tode befördert hat, weiß niemand genau. Beim FBI existiert eine Akte über Meyer. Leider kann selbst weltliterarisches Interesse diese Leute nicht erweichen; die Akte bleibt uneinsehbar.
Meine früheste Erinnerung an Amerika, meine früheste Lebenserinnerung überhaupt, halte ich fest und werde ich festhalten bis zu meinem letzten Augenblick. Dort steht mein Vater in europäischen Lumpen am sonnigen Pier und fragt, kaum der Immigrantenbaracke und den eigenen Befragungen entronnen, einem Zeitungsjungen die Seele aus dem Leib. Was er wohl wissen wollte? Ich war ein Kleinkind und verstand kein Wort (die Dreijährigen damals waren noch nicht so artikuliert und intellektuell wie heute), doch erinnere ich mich an diesen ersten amerikanischen Zeitungsjungen meines Lebens, an sein füchsisch zugespitztes Gesicht und seine weltverspottend gelbgrünkarierte Jacke und die frischen Nachrichten in seinem Arm. Und an die Tränen, die plötzlich aus seinen Augen kullerten. Vaters Fragen konnten weh tun. Und die Schauerleute sehe ich noch vor mir, sie hingen in den Streben der kolossalen Kräne und sangen Schlager. Amerika, du hast es besser, wie Goethe richtig prophezeit hatte.
Vater, der in dunkler Vorzeit eine Reliquie aus Goethes Haus entwendet haben soll (laut Onkel Meyer war es die rosa Untertasse mit Goldrand, von der er, also Vater – wohl kaum der Geheimrat – alle halbe Stunde seinen Kaffee schlürfte), spuckte in die Hände und legte los. Schon als Siebenjähriger, so die Legende, hatte er sich mehrere Sprachen einverleibt, er schluckte Sprachen wie ein Fisch, las Dostojewski und Kant, debattierte mit den Hargenseer Alten unter der Linde über Gott und die Welt, vor allem über Gott. Was der sogenannte normale, schnurgerade Bürger einen ›richtigen Beruf‹ nennt, erlernte er allerdings nie. Dafür prägte er sich die Landstraßen ein, auf denen er von Städtchen zu Städtchen zog. Die Camouflage, den Größenwahn, die Lügenmärchen der Landstraße.
Während ich dies diktiere, wird mir klar, daß wir alle Berufslose waren, die gesamte Sippe, sogar Letitia. Und kamen doch eine Strecke weit in unseren Leben. Sehet die Vögel unter dem Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.
In unserer neuen Heimat Philadelphia ernährte Vater sich, mich und anfangs sogar Onkel Meyer als Hochzeitsklavierspieler und Beerdigungsorganist. Mendelssohns Hochzeitsmarsch und Chopins Marche Funèbre waren die Schlager meiner frühen Kindheit. Regen oder Schnee, Schule oder nicht, ich hatte dabeizusein, wie das Kid in Chaplins Film. Wie Chaplin setzte Vater auf Menschlichkeitsregungen, Mitleidskörnchen in der großen Goldgräberorganisation Vereinigte Staaten von Amerika. Die Schnappschüsse aus dieser Zeit, stets von Onkel Meyer aufgenommen, dem ein Photoapparat ›zugeflogen‹ war und der später ein rotledernes Album für mich anlegte, zeigen meine angeborene Lidhebeschwäche (Ptosis), die ich mit Aristoteles Onassis teile. Gewissen Goldfischen gleich, Himmelsgucker genannt, versuchte ich besser zu sehen, indem ich den Blick permanent ein wenig nach oben richtete. Der Effekt war (und ist) herzergreifend. Bemerkenswert auch die trügerische Wirkung, wenn ich mein Gegenüber einfach nur direkt anschaue. Die leicht herabhängenden Lider verleihen meinen Augen einen Ausdruck vornehmer Müdigkeit oder kontemplativer Versunkenheit oder, je nach Wunschvorstellung des Betrachters, erotischer Abgründigkeit, sexueller Abartigkeit. Als wir endlich über genügend Mittel verfügten, um mich operieren zu lassen, war es längst zu spät. Denn wer hatte mit diesen Augen, diesem Blick, dieser Behinderung in der Central High gegen die versammelte, muskelbepackte Konkurrenz von Baseballschleuderern und Basketballdribblern Body and Soul der vielbegehrten, rothaarigen, vollbusigen Melissa Green erobert? Melly war die erste in einer langen Reihe von Romantikerinnen, die hinter meinem Geburtsfehler eine gewisse Reinheit und Schönheit der Seele zu erkennen glaubten. Ich dankte es ihr nicht, ich verließ sie. Ich verließ sie alle. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang.
Vater spielte seine Märsche auf den Grand Pianos in den Livingrooms von Society Hill, an der Hammondorgel des Friedhofs von Laurel Hill, während ich, Sam the Kid, hundetraurig in fröhliche und katzenstoisch in traurige Augen zu schauen, Hände zu schütteln, Gratulation und Beileid zu spielen, fallengelassene Frauentaschentücher aufzuheben und Vaters amouröse Zettel hineinzuschmuggeln hatte: Tonight at Mincie’s, sweety. Wir waren unglaublich, lächerlich arm und noch nie im Kino gewesen, aber für Vaters eilige Kopulationen mit den Brautjungfern und Witwen von Philadelphia, von ihm (sofern er einmal Deutsch sprach, was er nur tat, wenn er außer sich war), auf gut Goethisch ›Schäferstündchen‹ geheißen, reichte es immer.
Wir hausten in einem niedrigen, gespensterverseuchten Zimmer unter dem Dach einer handtuchschmalen, zweigeschossigen Backsteinbröckelbude mit kleinem Hintergarten, den zu betreten uns unter Androhung sofortigen Rauswurfs verboten war. Natürlich buddelte ich in dem trostlosen Geviert, klaute die stinkenden Kräuter, verkaufte sie an der Penn Central Station, erstand dafür Vaters linierte Schreibhefte und Würmer für seine selbstgebastelte Angelrute, mit der er im Schuylkill River fischte. Kaum ein Lichtstrahl fiel in dieses Haus, wir lebten wie die Nachttiere, wie in einem Gemälde von Breughel. Unsere Straße war die Mount Vernon, Spring Garden District, nahe Strawberry Mansion, damals eine russisch angehauchte Gegend. Nicht allzu weit entfernt vom noch unheimlicheren Edgar-Allan-Poe-Haus und seinen düsteren Stiegen, pochenden Gemäuern, füge ich hinzu – ein Umstand, den Vater in Interviews geflissentlich verschwieg. Der Leningrader Wucherer, falsche Arzt und Engelmacher Leon Zelenski, der sich an den Gestaden der Neuen Welt den Namen Dr. Lou London zugelegt hatte, war unser Tyrann und Hauswirt. Vater taufte das Haus ›Lenin Castle‹. Der Leningrader erhöhte prompt die Miete. Die Seelen der von Dr. Lou London mittels unbeschreiblicher Gartengeräte ausgeschälten Leibesfrüchte suchten mich in meinen Nächten heim, sie weinten auf Deutsch, in der Sprache meiner Mutter, sie klagten mich an, ihnen nicht zu Hilfe gekommen zu sein, auf daß sie geboren werden und irgendein Leben hätten haben können, sie schworen Rache. Die Zweige der Kastanie vor unserem Fenster malten Menetekel an die Zimmerwand, schauerlich vergrößert von Vaters Mitternachtslampe, in deren Schein er über seinem geheimen Plan brütete. Meine Angst vor Schatten wurde geboren. Vater legte seinen dicht behaarten Zeigefinger an die Lippen und bedeutete mir zu schweigen. ›Hab Geduld, Sam‹, sagte er leise. ›Nicht mehr lange …‹
Vater verfolgte einen Plan. Er hatte seinen Plan buchstäblich, und ich meine: Buchstabe für Buchstabe, nach Amerika eingeschleppt. Selbst Onkel Meyer wußte nicht um die Sprengkraft dieser Bombe.
Meyer lebte von amerikanischer Luft und drei geschnorrten Zigaretten pro Tag, legte mir sonntags heimlich seine Kohlroulade, die jetzt stuffed cabbage hieß, auf den Teller, schlief unter Vaters Bett, später unter meinem, blieb den Hochzeiten fern, konzentrierte sich auf die Beerdigungen, half den Sargträgern, lungerte herum, hörte sich um. Mied seine Bürgen, die braven Quaker, die ihm und uns Amerika erst möglich gemacht hatten, pumpte keinen Cent von ihnen und auch keine Camel, wollte ihnen als Meyer Nobody nicht unter die Augen treten, geschweige denn ihren sehr innigen, stummen Meetings beiwohnen, die man nur durchstand, wenn man wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon hatte, wer man war und was man auf Gottes Erde suchte.
Wartete also ahnungsvoll, mit dem sicheren Instinkt des östlichen Stetl-Eckenstehers auf das Begräbnis der Begräbnisse, auf seinen eigenen Erlöser: Neidelman den Jüngeren. Der eines düsteren Novembertages Neidelman den Älteren alias Black-Friday-Neidelman unter den verwehten Klängen von Vaters Marche Funèbre zu Grabe trug und in der gedrungenen, kleinen Vogelscheuche, die Meyer war, mit dem Instinkt des östlichen Großlandstreichers seinen neuen Laufboten, Todesboten und Märchenerzähler erkannte.
Neidelman ließ Onkel Meyer einkleiden und ausstaffieren, gewiß auch aufrüsten, und brachte ihn in einem, verglichen mit Lenin Castle, fast luxuriösen Zweizimmerapartment in Point Breeze unter – denn langsam wich die Depression, die unser Neues Weltchen just nach unserer Ankunft erfaßt hatte, wiederum der gewohnten kleptokratischen Manie. In Point Breeze verlebte ich die schönsten, längsten Stunden meiner Kindheit. Ich arbeitete mit den langen Stunden, wie nur Kinder es können, ich dehnte und streckte sie und tat alles, damit sie nie endeten. Die langen, trägen, besinnlichen Stunden der Gangster, wie ich sie liebte! Meyer und andere Neidelman-Männer in den tiefen grünen Polstersesseln mit den ingeniösen Aschenbecherhaltern, diesem uramerikanischen Patent. Die Zigaretten, filterlos, damals dufteten sie noch süß und schwer, wie Mädchenschenkel (stellte ich mir vor), sie dufteten nach Süden, Sünde. Die ausdrucksstarken Arten, eine Zigarette zu halten. ›Daumen und Zeigefinger‹, lehrte mich Onkel Meyer früh, ›alles andere wirkt weibisch.‹ Die Geldscheine und die funkelnden Geldclips, die Abendsonne auf den Geldscheinen. Die Abendsonne in den Whiskygläsern. Der winzige Schuß Whisky in meiner Hersheymilch. Das Befühlen der Talismänner, der Schmeichelsteine, gravierten Ringe, Schlüsselanhänger, der Hasenpfoten, Herzen und Heiligen, Meyers Kreuz-As im Hutband, jeden Morgen frisch gezogen, dreimal gefaltet. Das Schweigen. Der kurze Blick auf die Armbanduhr. Das Klingeln des Telefons im Flur. Die Geheimsprache. ›Jamie ist uns ganz fremd geworden, findet ihr nicht auch?‹ Lange Pause. Dann Meyer: ›Kennt einer von euch zufällig Jamies Schuhgröße?‹ Und im Radio meine Lieblingssendung I Love A Mystery.
Vater hatte jetzt bündelweise Fragen an Onkel Meyer, er notierte sie auf seinen linierten Zetteln (Vater fürchtete sich vor unliniertem Papier), steckte die Zettel in einen Umschlag und schickte mich nach Point Breeze, was damals eine Stunde Fußmarsch bedeutete. Die Straßen, die Sprachen, die Ecken, die Pfützen und die Hochbahn, nichts war mir neu in der Neuen Welt, denn die Alte Welt lag, wie ich schon sagte, im Dunkel. Erinnerte ich mich gar nicht an den kleinen Weimar-Mensch, der ich gewesen war, an irgendeinen Pflasterstein, Mamas Hand vielleicht, oder an Paris, den Eiffelturm, die Place des Vosges, Southampton? Nein. Ich war ein neuer kleiner Mensch geworden in Philadelphia, war nie woanders gewesen, schleppte keinen Rucksack mit mir herum, randvoll mit alter, trauriger Wäsche, wie die Russen und Galizier der Mount Vernon Street und ihre Kinder und Kindeskinder. Und doch, manchmal, wenn ich mein Spiegelbild im Schaufenster von Fred Koenig’s Fischladen auf der Spring Garden betrachtete, beschlich mich das beklemmende Gefühl, nein, ich schmücke aus (die Berufskrankheit der Boten und Übersetzer): war ich mir sicher, nicht ich zu sein, Sam the Kid, sondern ein ganz anderer, der Sams Platz eingenommen und den wahren Sam, oder wie immer er wirklich hieß, um sein Glück in der Neuen Welt betrogen hatte. Der wahre Sam, sagten unter hängenden Lidern meine schuldigen Augen über den toten Kabeljauen in Koenig’s Schaufenster, schmachtete in einem Verlies, als Brandstifter zu lebenslanger Kerkerhaft und stündlichen Auspeitschungen verurteilt. Für einen Brand, den er nicht gelegt hatte. Natürlich erzählte ich Vater nichts von diesen Gott sei Dank seltenen Anflügen und Bedrückungen. Vater mochte mich eh nicht sonderlich leiden. Ich war ihm eine Last. Mein bloßes Dasein erinnerte ihn an Zeiten, Jahre, Fehler, Flecken. Ein Wunder, daß er mich nicht auf der Landstraße verkauft oder in der Seine ertränkt hatte. Soweit es möglich war, gingen wir uns während dieser schweren ersten Jahre in Lenin Castle aus dem Weg. Vielleicht spürte er auch, daß ich nicht der eigentliche Sohn war, Original Sam. Ich vertraute mich Onkel Meyer an. Meyer ließ sich in seinen grünen Sessel sinken, sortierte seufzend Vaters Fragezettel, notierte mit schneller, unwirscher Hand die Antworten an den Rand und bemerkte rätselhaft: ›Identität bedeutet Schuld. Das wußten wir immer schon, Sam. Das muß uns keiner erklären.‹
Ich will versuchen, Meyer Mushkin kurz zu beschreiben, er hat es verdient. Er war von kleiner, kräftiger Statur, fast quadratisch, er fraß wie ein Scheunendrescher, soff wie ein Ochse, rauchte wie ein Kombüsenschlot. Hatte nie eine Schule von innen gesehen, besaß jedoch die rapideste intuitive Auffassungsgabe, die ich je bei einem Menschen erlebt habe (nur Katzen reagierten schneller). Bücher waren nicht sein Ding, wohl aber Zeitungen und Zeitschriften, unter letzteren vor allem Reader’s Digest. Unsere ersten bettelarmen Jahre in Philly schmälerten den quadratischen Eindruck nicht, sondern bewirkten höchstens, daß er nun dastand wie ein leicht wackliger Kleiderständer für schlotternde Gnomenlumpen. Er maß einen Meter sechzig, trug jedoch Einlagen und pries später die Swinging Sixties mit ihren hochhackigen Herrenstiefeletten als die wahre Epoche des Fortschritts. Meyers tiefdunkelrote, drahtig gelockte, affendichte Haare signalisierten nicht gerade Gemütlichkeit, ebensowenig wie seine winzigen, kugelrunden, pechschwarzen Augen, die der nie um einen hübschen Vergleich verlegene Boss Neidelman Meyer’s muzzles, Meyers Pistolenmündungen nannte. Der Mund, den sich Gott für Meyer ausgedacht hatte, war indessen der einer Diva, orientalisch olivfarben und vollippig geschwungen, stets ein wenig schmollend. Seine Zähne, die er bis in die fünziger Jahre (als er sie überkappen ließ) selten zeigte, flößten wiederum Angst ein, sie liefen raubfischartig spitz zu. Sommersprossen umtanzten Meyers knollige Nase.
Er machte das Beste daraus. In Meyers Blütezeit besaß er in seinem Domizil am Rittenhouse Square zwei begehbare Ankleidezimmer mit vierhundert Maßanzügen, die sein britischer manservant Barkley jeden Ersten des Monats in einem eigens hierfür angeschafften Lieferwagen zu Applebaum’s Dry Cleaners karrte. Anders als viele Altweltler (unser Nachbar Chaim Elender, der sich nun Chip Hollander nannte, oder Moshe Gewirtz, aus dem Morris Worthington wurde) nahm Meyer Mushkin keinen neuen Namen an. Seine Quaker, zu deren priesterlosem, pazifistischem Glauben er bald übertrat, waren voll des Lobes für die Integrität ihres neu-en Freundes. Mehr sein als scheinen, im stillen wirken, lautete ihre Devise. Meyer nahm es sich zu Herzen, wirkte im stillen, schraubte den Schalldämpfer auf.
Ich wiederhole: dies sind Vermutungen, bewiesen ist nichts. Im Leben eines Menschen, so habe ich gelernt, ist alles, absolut alles möglich, aber nichts, absolut nichts beweisbar. Meyer wurde mehrmals angeklagt, nie verurteilt, auch nicht, nachdem er auf mysteriöse Weise bei Boss Neidelman, dessen Verbindungen angeblich bis ins Weiße Haus reichten, in Ungnade gefallen war.
Er hatte Vater und mich nach Amerika geführt. Und war dazu bestimmt, uns ein zweites Mal zu erlösen, wie sich auf diesen Seiten herausstellen wird. Meyer Mushkin, der zwanzig Jahre jüngere Bruder von Amelia ›Mali‹ Mushkin: Landstreicherin, Traumdeuterin, in Milch badende Hexe, die Vaters Mutter wurde. Meine Großmutter, die ich nicht mehr kennenlernte, die mich nachts in Träumen besuchte und eine Sprache sprach, die ich nicht verstand.
Ach, Mali, sagenumwobene Mali, Friede deiner Asche, wenn du wüßtest, wenn die Toten wüßten. In gewisser Weise stehst du im Mittelpunkt der Geschichte, die ich zu erzählen habe. Sokrates sagt, wir müssen das Sterben üben, indem wir uns von Dingen trennen, von Menschen lösen. Aber die Erinnerungen bleiben, sie sterben nicht mit uns, sie lösen sich auf und erschaffen sich neu, wie die Wolken. Du wirst es erleben: Durch die schiere Willenskraft und Widerborstigkeit einer Dreizehnjährigen, deiner Urenkelin, wirst du noch einmal unter uns sein, werden wir uns wiedersehen.
An jenem schwülfeuchten Sonntagnachmittag Ende August, als ich meine Tochter Ashley Inès Djuna, Rufname Ashy, endlich am Flughafen Orly in Empfang nehmen durfte, hatte ich vorher noch ein unerfreuliches transatlantisches Telefonat mit dem greisen Hutbinder geführt. Er stehe kurz davor, teilte er mir in seiner geschwurbelten Art mit, die Worte finis opera Hutbinderi unter das ›Konvolut‹ zu setzen, welches die erste autorisierte Biographie meines Vaters zu werden drohte. Ich versuchte mich zu beruhigen, indem ich aus dem Fenster guckte. Nachschauen, was die Wolken so treiben, das half immer. Mittelhohe Schäfchen weideten trügerisch heiter über den Giebeln von Montparnasse, bildeten aber nur die Vorhut für die unheilschwangeren, revolutionären Massen, welche sich von der Porte d’Orléans heranwälzten.
Hutbinder hatte also tatsächlich das Ende des Tunnels erreicht. Und war autorisiert. Während ich, unautorisiert, in den tiefsten Tiefen meines Schreibtischs einen schmalen Ordner vor mir selbst versteckte, in dem sich magere neuneinhalb Seiten befanden. Ich beabsichtigte, das Gespinst aus Legenden, Lügen und Fiktionen zu zerreißen, das Vater und Meyer geduldig, systematisch gesponnen hatten. Bei den Steinen des Ersten Tempels, ich beabsichtigte, sehr weit vorne beziehungsweise sehr weit hinten anzufangen, wenn nötig bei Abraham, bei Isaak, bei Jahwe höchstpersönlich. Ganz gewiß bei der Frau, die meine Mutter war; hier hatte mir eine geldgierige Geheimquelle aus Weimar über meinen Mittelsmann Bruno Fetterly neue Informationen angekündigt. Noch wußte Vater nichts von meinem Vorhaben. Kein Mensch wußte davon.
Andererseits, wie oft hatte Hutbinder mich schon meschugge gemacht mit seinen Verlautbarungen aus Santa Monica, und dann war es doch nichts gewesen, nichts geworden. Franz Hutbinder, Vaters erster deutscher Übersetzer (ich wurde sein Nachfolger). Etwa um die Zeit, als ich die erotische Wirkung meiner Ptosis auf der Philly Central High an Melissa Green schulte, machte Hutbinder sich bereits anheischig, Vaters Biograph zu werden. Mehr über ihn später.
Ashys Flugzeug sollte um fünf landen, also blieb mir noch Zeit, letzte Hand an ihr Zimmer am Ende des schummrigen Flurs, vormals mein Pingpong-Zimmer, vormals das elterliche Schlafzimmer, zu legen. Ich stellte einen Teller mit einer Orange auf ihren Nachttisch. Ich pinnte das Poster eines vornehmlich aus Schminke bestehenden ›Sängers‹ an die Wand über dem angeblich aus dem Madrid des achtzehnten Jahrhunderts stammenden, jetzt knallgelb gestrichenen Sekretär, den ich meiner Spanischlehrerin abgeschwatzt hatte (sie benutzte ihn sowieso nicht). Ich bettete liebevoll meine alte, nicht illustrierte, sondern aus sich selbst sprechende Ausgabe der La Fontaine’schen Fabeln auf das Kopfkissen und krönte sie mit einer zweiten Orange. Die dritte aß ich selbst. Sie weckte meinen Appetit, und so ging ich hinunter zu Audrain.
Ich war sehr aufgeregt. Das Wolkendrama, sonst stets ein meditatives Schauspiel, das mir wenigstens zwei Joints oder drei Ricards, in Valiumwährung eine halbe Zehnertablette ersparte, kitzelte heute nur den sensitiven Beziehungswahn hervor, die Furcht vor den Winken des Demiurgen, vor dem ›Gemeint-Sein‹ (lieber böser Gott, sollte es dich wider Erwarten doch geben, mach, daß ich nicht gemeint bin), die Familienseuche. Zeichen, Vorzeichen, Menetekel, ein auf die Spitze fallendes Blatt, eine stehengebliebene Bahnhofsuhr, ein schielender Postbote, eine ungeschälte Weintraube, saure Milch, gewisse Zahlen, gewisse Vögel, um nur einige harmlosere Beispiele zu nennen – und Kübel von Unheil schwebten kippelig über unseren Köpfen. Und nein, andere waren nicht gemeint, wir waren gemeint, wir allein.
Ich hatte meine Tochter seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, Letitia, ihre Mutter, hatte es untersagt; damit das Kind ›zu sich komme‹; Bedeutung natürlich: zu ihr, zu ihr. Aber das Gegenteil war geschehen drüben am anderen Ufer des Ärmelkanals.
Ashley war in Montevideo geboren worden, Letitias Heimatstadt. Fünf Jahre später verpflanzten wir sie nach Paris. Dann trennten wir uns (selbstverständlich waren wir nicht verheiratet). Ashley ging mit Letitia nach England. Ich blieb in Paris, das mir nie viel gesagt hatte und ohne montevideanisches Kind noch weniger sagte. Aber wo sollte ich hin? Letitia verbrachte eine Zeit in Jerusalem, wo sie verhaftet wurde, und ließ Ashley im englischen Internat zurück. Ich durchlebte zu dieser Zeit einen amourösen Alptraum nach dem anderen, hatte sogar eine Affäre mit einer bleichen Blonden (die Frauen meines Lebens waren alle dunkel wie die Teufel). Währenddessen blieb Vater in Lenin Castle, pflanzte ein Bäumchen im Gärtchen, ersaß sich einen breiten Arsch und schrieb Romane, um seine eigenen Irrfahrten zu vergessen, mit Druckerschwärze unkenntlich zu machen, als hätten sie nie stattgefunden.
Ashy würde bald dreizehn sein und ein ›Bewußtsein‹ entwickeln, wie schrecklich. Und Himmel, ich sah sie schon alle schmachten auf den Boulevards und vor dem Haus, die maulfaulen, desorientierten, sich nurmehr in Zeitlupe auf Zehenspitzen durchs Desaster tastenden Jünglinge der Neuzeit, von denen die allermeisten aussahen wie ihre eigenen Schwestern. Beklemmenderweise hatte Ashley am selben Tag Geburtstag wie Vater.
I was born on a warm October morning, hatte Vater letztes Jahr dem staunenden Publikum bei seinem Auftritt in der ›Tonight Show‹ eröffnet, in Hargensee, a small idyllic town in what used to be known as Germany. Sogar Jonny Carson, nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, zeigte sich verunsichert, fast pikiert. Wen hatten die amerikanischen Leser da jahrzehntelang an ihrem Busen genährt, a fucking Kraut? Hutbinders Biographie warf ihre Schatten voraus. Vermutlich mußte er sich jeden einzelnen Satz absegnen lassen, kein Zuckerschlecken für Vaters dreiundachtzigjährigen Eckermann. Aber soviel stand nach der ›Tonight Show‹ fest: Vater war bereit, ein paar Krumen Wahrheit unter die Leute zu streuen. Möglich, daß er ahnte, was ich vorhatte, und mir zuvorkommen wollte. Möglich, daß er sich nicht mehr überschaute. Möglich, daß er einfach alt wurde. Angeblich war er sechsundsechzig. Er würde seinen Siebenundsechzigsten wie immer in Lenin Castle feiern, mit Meyer und Alan Altshuld junior, bei Kaffee und Mandelmuscheln und zur Musik seines geliebten George Frederick Handel.
›Wird Ashy mich denn noch verstehen?‹ fragte Audrain.
Ich warf ihm einen Blick zu.
›Entschuldige, Sam.‹
Wie ihre Mutter sprach Ashy vier Sprachen: Spanisch (Muttersprache), Englisch (Vatersprache), Französisch (Exilsprache) und ein wenig Deutsch. Die fünfte, jetzt tote Sprache, ein verzaubertes Kauderwelsch der Zärtlichkeit und Ausgelassenheit, das wir drei miteinander in glücklicheren Zeiten gesprochen hatten, gedachte ich, in den kommenden zehn Monaten wieder aufleben zu lassen. Und noch eine Überraschung hielt ich für meine Tochter parat. Ich wollte endlich Spanisch lernen. Ausgerechnet Letitias wundervolle Weltsprache hatte ich aus verschiedenen, teilweise irrationalen, teilweise guten Gründen nie gelernt. Spanisch sperrte sich, steckte voller Menetekel, war gefährlicher als saure Milch, brachte Kummer und Tränen, es war ein wunder Punkt. Lo siento. Audrain wußte das.
›Wie kommst du mit deinem Spanisch voran?‹
›Langsam. Mühsam. Irgendetwas in mir weigert sich noch.‹
Audrain wechselte zu seinem, unserem Lieblingsthema.
›Was macht dein Vater?‹
›Ein Yakuza hat Perrone mit der Schwertspitze das Ohrläppchen abgetrennt.‹
›Yakuza? In Philadelphia?‹
›In Tokio. Perrone ist in Tokio.‹
›Mach keine Witze.‹
›Ich bin allerdings erst auf Seite fünfundvierzig.‹
›Aber das ist ein Skandal! Er hat Philadelphia noch nie verlassen. Was wird aus Heinrich? ‹
Ich zuckte die Achseln. Heinrichs Schicksal war das letzte, worüber ich mir im Moment Gedanken machte.
›Dein Vater ist doch nicht etwa krank?‹, sagte Audrain. ›Hast du eine Erklärung?‹
Audrain, Besitzer des Roi du Cous-Cous unten im Haus, sah mir beim Essen zu. Wir sprachen Französisch, das ich hier in entbrimborisierter Übertragung wiederzugeben versuche. Audrains Cous-Cous hatten etwas grützig Aufgewärmtes, doch ich schlang den Pamps hinunter, weil ich nicht mehr viel Zeit bis zu Ashys Ankunft hatte und meine Küche seit langem für mich gestorben war. Lebst du allein, ist die Küche der einsamste Ort der Welt. Brieflich waren Ashy und ich übereingekommen, unsere Abendmahlzeiten in den schlichteren Restaurants dieser (vermeintlichen) Feinschmecker-Hochburg Europas einzunehmen. Vermutlich würden wir über das Roi du Cous-Cous nicht hinauskommen.
Nein, ich hatte keine Erklärung für Paul Perrones Ausflug nach Tokio, er kam für mich ebenso überraschend wie für Audrain. Ich las den alljährlichen Roman meines Vaters prinzipiell nicht, bevor ich ihn eindeutschte. Ich übersetzte Satz für Satz, es gab mir das tänzerische Gefühl, ein wenig mitzuschreiben an seinen Büchern. Dream dancing, Pops, with you. Noch immer meinte ich, eines Tages dort in seinen Zeilen verschlüsselte Botschaften nur für mich finden zu dürfen; ein ›Erinnerst du dich?‹ oder ein ›Hallo, mein Sohn, wie geht’s dir?‹ oder ein ›Kala Nag! Kala Nag! Nimm mich bitte mit, o Kala Nag!‹
Da der Name Paul Perrone nun gefallen ist, wird jeder Leser, sei er kanadischer Holzfäller, schottischer Schafhirte oder indischer Ingenieur, wissen, wer mein Vater ist. Jonathan Still, Erfinder einer der bekanntesten Detektivgestalten der Neuzeit, weltweit summa summarum hundertachtzig Millionen verkaufte Exemplare (übertroffen nur von der Christie, Lenin und Gottes Wort), immer wieder, und immer wieder schlecht, verfilmt und seit Jahren viermal monatlich auch via Fernsehröhre der zivilisierten Menschheit die Zeit vertreibend.
Pumpt mich nicht an, der ganze Zaster gehört dem Alten, ich schlage mich gerade mal so durch. Das Mantra meines Lebens.
In neunundzwanzig Sprachen übersetzt, nicht eingerechnet die Raubkopien des Ostblocks, Herr und Gebieter also über neunundzwanzig Knechte des Wortes, die er alle fünfzehn Monate auf Kosten seines Verlegers nach Philadelphia zitierte, um sie in geheimer Sitzung im Rittenhouse Hotel auf die Feinheiten des neuen Manuskripts einzustimmen. Dort ging es jedes Mal hoch her. Der Neid und die Mißgunst unter den Übersetzern, es waren sogar drei Frauen darunter (Hebräisch, Esperanto und Braille), wurden nur übertroffen von dem mit Hilfe des reichlich fließenden kalifornischen Champagners mehr schlecht als recht niedergehaltenen, offenkundigen Haß auf den kahlköpfigen, sie mit seinen hageren einsfünfundachtzig alle überragenden Gebieter, den Multimillionär, der ihnen im Ballsaal des Rittenhouse die kleinen Eigenwilligkeiten seiner englischen Syntax erläuterte. Wie sie ihn sowohl für diese Syntax als auch für die pedantische Analyse derselben haßten, wie sie schwitzten und litten und grimassierend Aufmerksamkeit heuchelten, während sie insgeheim überschlugen, was Vater wohl für seine goldenen, muschelförmigen Manschettenknöpfe bezahlt haben mochte, seinen dunkelblauen Mohairanzug, die Jaeger-LeCoultre Reverso an seinem Handgelenk, die maßgeschneiderten Pferdelederschuhe. Der gemeine Übersetzer erhielt, wenn es hochkam, sechs Dollar pro Seite. Sobald der Meister endlich in Altshuld seniors Limousine gestiegen (Vater hatte nie Autofahren gelernt) und davonkutschiert worden war, stürzten sie ab wie die Lemminge. Um mich, der ich bei diesen Veranstaltungen, als ich sie noch besuchte, vorsorglich Sonnenbrille und die unsichtbare Narrenkappe des leicht debilen Prinzen trug, machte man einen großen Bogen. Wie seltsam, wie bezeichnend für alles, was später geschah, daß ich ausgerechnet dort zum ersten Mal Leti begegnete, Letitia Weintraub aus Montevideo. Sie war siebzehn damals, einzige uruguayische Gewinnerin irgendeines Quaker-Schulstipendiums. Sie schnitt den Braten auf, bediente die Übersetzer, trug eine gelbgrünkarierte Schürze. Brachte diese Schürze mit, als sie bei uns in Lenin Castle einzog.
Citizen Jonathan Still, Ehrendoktor der Universitäten von Pennsylvania, Southern California (Hutbinder hielt die Laudatio) und Case Western Reserve, Ehrenbürger von Philadelphia, Ehrenvorsitzender diverser gemeinnütziger Vereinigungen und Stiftungen, deren Liste länger ist als mein Arm, eine Zeitlang befreundet mit Frank Lloyd Wright, Otto Preminger, Billy Graham und Buddy Rich (der Onkel Meyer verblüffend ähnlich sah) – wie war er auf seine Goldmine gestoßen?
Hörensagen und Legende, mit mehr konnte ich an diesem Sonntagnachmittag, gebeugt über mein Cous-Cous, nicht aufwarten. Teil drei der Legende (Teil eins und zwei werden uns später beschäftigen), mit der auch Hutbinder angefüttert worden war, besagte folgendes: Vater hatte sich, Meyer und meine Wenigkeit im Gefolge, zu Fuß nach Paris durchgeschlagen, auf der Flucht vor der Polizei, schlimmer noch, der deutschen Polizei, schlimmer noch: der Gestapo. Wie die Verdächtigen in Vaters Romanen konnte ich mich ›an nichts erinnern‹. Ich war klein, drei Jahre vielleicht, wie mir Hutbinder gnädigerweise mitteilte. Wir lebten, hieß es, in einer Pension in der Rue de l’Université, unterm Dach natürlich, in einem Zimmer natürlich. Vater verließ dieses Zimmer nur des Nachts, um frisches Wasser aus einer Straßenpumpe zu trinken. Meyer Mushkin hingegen war auch tagaktiv, er verbrachte alle Stunden auf den Friedhöfen, stand herum, hörte sich um. Und siehe, es machte sich bezahlt. Ein gebildeter englischer Gentleman, zufällig oder eben nicht zufällig Quaker, der Balzacs Grab besuchte, erbarmte sich des Gnoms. Man parlierte über Balzacs Verlorene Illusionen, und zwar auf Deutsch (ich wäre gerne dabeigewesen), wobei Meyer wohl den gänzlich verlorenen, revoluzzerhaften Sturm-und-Drang-Rastignac gab und auch ein paar Lügenmärchen der Landstraße einstreute. Jedenfalls arrangierte der Gentleman, der in Meyer geradezu vernarrt war, ein Treffen mit anderen Gentlemen, amerikanischen Quakern aus Philadelphia, dem Quaker-Hauptquartier der Welt, wiederum vor Balzacs Grab auf dem Père Lachaise. Ganz einfach, meinten die Amerikaner, da gebe es doch diese ›American Guild for German Cultural Freedom‹, die bedrohten deutschen Poeten unter die Arme greife, ihnen sogar Einreisevisa in die Vereinigten Staaten von Amerika verschaffe. Bei ihnen werde man sich für Meyer einsetzen. Schon damals spielte Meyer seine Asse schwerblütig, beinahe desinteressiert aus. Das sei ja wundervoll, sagte er, doch solle man anderen Poeten diese Chance zuteil werden lassen, er falle dreimal am Tag in Ohmacht vor Hunger und wisse nicht, ob er das rettende amerikanische Ufer noch erreichen würde. Nicht doch, meinten die Wohltäter, die Guild biete achtunddreißig Dollar monatlich, es genüge eine kleine Probe des schriftstellerischen Schaffens, man könne ja nicht alle deutschen Genies mit Namen kennen, es gebe doch so viele.
Meyer befahl Vater, dem nichtsnutzigen Sohn seiner Schwester, sich einmal im Leben nützlich zu machen und irgendetwas zu Papier zu bringen. Du hast doch Dostojewski und Kant gelesen, sagte Meyer. Achtunddreißig Dollar waren immerhin tausendzweihundert Francs, kein Pappenstiel.
So fing es an.
Vaters frühe ›Erzählungen‹ sind leider, leider nicht erhalten. Laut Meyer handelten sie von allem, was er haßte, vornehmlich von Hunden, Katzen und Rabbinern. Die Quaker waren entzückt. Meyer galt als der ›kommende zornige Mann‹. Aber keiner der anderen exilierten Schriftsteller bekam ihn je zu Gesicht oder auch nur eine Zeile von ihm zu lesen. Für ein paar Monate wurde Meyer, eigentlich jedoch sein Ghostwriter, beinahe zum Stadtgespräch. Vater ging im Hotelzimmer auf und ab, den Mantel über die Schultern gelegt, die Hände in den Taschen vergraben, als warte er auf die Abfahrt seines Zuges. Dann setzte er sich an den wackligen Tisch und schrieb weiter. Dann waren wir auch schon in Southampton. Keine, nicht die kleinste Erinnerung an Southampton. Der Frachter, die Überfahrt, tabula rasa. Es war, als hätten mir erst die Tränen des New Yorker Zeitungsjungen Leben eingehaucht. Golem junior.
Die Amerikaner wollten Vater auf der Stelle verhaften. Er hatte nicht damit gerechnet, sich entkleiden zu müssen. In seiner Unterwäsche fanden die harten Hunde der Immigrationsbehörde drei Seiten, aus einem Pariser Mathematikheft gerissen, vollgekritzelt mit unleserlichen Zeichen und Minuskeln, Kreisen und Kurven. Sehr verdächtig bei einem Deutschen (laut Meyer waren sie beide mit ihren Hargenseer Pässen unterwegs). ›Planning to build a bomb?‹
Sie hätten viel eher nachforschen sollen, wo ›Hargensee‹ eigentlich lag. Kein Mensch wußte das nämlich, es war auf keiner Karte des Deutschen oder irgendeines anderen Reiches verzeichnet, es schien nicht zu existieren. Hargensee, Vaters und Meyers mythischer Ort, ihr Camelot.
›Oh yes. Yes, yes‹, soll Vater geistesabwesend geantwortet haben. Meyer klärte auch diese Situation. Meine Herren, soll Meyer, von Vater gedolmetscht, gesagt haben, die Mitglieder unseres Stammes sind seit jeher für ihre Friedensliebe bekannt, sie verabscheuen alles Militärische, man kann behaupten, sie drücken sich vor allem Militärischen, sie wollen im Grunde immer nur nach Hause. Dieser Mann ist mein Neffe, soll Meyer weiterhin erklärt haben. Und da lachten die Amerikaner dann. Meyer war gerade einmal zwei Jahre älter als Vater, besaß aber noch jedes einzelne seiner drahtigen, roten Haare und wirkte jünger. Diese Zeichnung, beendete Meyer seine hochfahrende Ansprache, ist keine Bombe, sondern die Skizze für eine Geschichte über Hunde und Rabbiner.
Aber es wurde eine Bombe. Als Never A Stranger erschien (von Hutbinder gewohnt ungelenk unter dem Titel Sprich nicht mit Fremden ins Deutsche übertragen), konnte das keiner ahnen. Nur Vaters Verleger, Alan Altshuld, hatte es angeblich von Anfang an ›kommen sehen‹.
Die Kritiker wußten nicht so recht. Es war nicht Chandler, es war nicht Hammett, besaß nicht deren Klasse. Es war nicht Spillane, Vater lehnte die erste Person Singular in Fiktionen kategorisch ab. Ein Feldwaldundwiesen-Whodunit war es allerdings auch nicht. Was zum Henker war es dann? Fast unerträglich spannend war es, blutrünstig, geradezu eklig, gewürzt mit einem guten Schuß Paranoia. Jeder fühlte sich von jedem verfolgt. Keine Figur, die hinter biederer Maske nicht wenigstens ein Doppelleben führte. Friedliche Nachbarn verwandelten sich in bösartige Oger, harmlose Hühnerzüchter in reißende Raubtiere, und Marybeth, das blonde Jungfräulein von der Heilsarmee, vergiftete halb Philadelphia mit verseuchtem Leitungswasser. Den Lesern kam das alles seltsam bekannt, unheimlich vertraut vor, als hätten sie es ›irgendwo‹ (in einem früheren Leben?) schon einmal gehört. Es lag ihnen auf der Zunge, aber sie konnten es nicht benennen: Sie hatten ein Märchen verschlungen.
Die Camouflage, der Größenwahn, die Lügenmärchen der Landstraße. Das war seine Schule gewesen. Den Rest klaute er sich zusammen.
Vater besaß die Angewohnheit, sehr viel, jedoch heimlich zu lesen, hinter verschlossener Tür, auf der Toilette, im Gartenschuppen, als hätte er Angst, mit einem Buch ertappt zu werden. Wir sprachen zu Hause nicht über Bücher, sie waren genauso tabu wie meine Mutter. Er legte mir die Bücher, die er liebte, die ich lesen sollte, aufs Kopfkissen. Ich paßte mich an, verschlang Kipling und Thomas Hardy und wiederum Kipling in meinen eigenen geheimen Ecken und Winkeln. Wir lasen weiß Gott keine Girlie-Magazine, Vater und ich, und dennoch hatte Lesen in Lenin Castle etwas Masturbatorisches.
Der europäische Kulturzusammenhang sei ihm schnurzegal, giftete er später Bruno Fetterly an, meinen zartbesaiteten Deutschprofessor am Oberlin College, Ohio, der es gewagt hatte, auf Einflüsse von Leo Perutz in Vaters Erstling hinzuweisen, in der fälschlichen Annahme, er werde für seinen Spürsinn auch noch gelobt. Jonathan Still sei American as apple pie, erregte sich Vater. Damals hatte er die Nabelschnur, die ihn mit Hargensee (wo immer es liegen mochte) und den Landstraßen des Ostens verband, bereits an der Garderobe abgegeben, um das blutige Ding nie wieder abzuholen. Aber er mochte es drehen und wenden, wie er wollte: Die Lesedroge, mit der Jonathan Still sein Publikum in aller Welt süchtig machte, hörte nie ganz auf, nach Märchen zu schmecken. Und nach seiner fernen Kindheit, wie ich sie mir vorstellte, den bittersüßen Mandelmuscheln, den fliegenden Fischen, tanzenden Zimtstangen, sprechenden Sträuchern, dem Kardamom, dem Öl, der Myrrhe, den traurigen Steinen der Landstraße und der Sehnsucht, nach Hause zurückzufinden.
Und natürlich hatte er sich bei Leo Perutz bedient. Wie im ›Meister des Jüngsten Tages‹ stellt sich am Ende von Never A Stranger heraus: Der Erzähler selbst ist das ›Gehirn‹, der Verführer, der Anstifter zum Mord. Für alle, die ihn noch erlebt, oder besser gesagt: überlebt hatten, unschwer als unser Vermieter Leon Zelenski alias Dr. Lou London wiederzuerkennen. Hinzu kamen ein gehöriger Schuß Horror und Terror vom toten Nachbarn Edgar Allan Poe und ein schmeichelhafter, freundlich-staunender, fast kindlicher Blick auf Amerika – für den die Leser Vater liebten. Sowie, last but not least, der erste Auftritt, noch als Nebenfigur, des merkwürdigen Detektivs Paul Perrone.
Never A Stranger erschien in einem nahezu unbekannten, nahezu vor dem Bankrott stehenden New Yorker Kleinstverlag an der East 8th Street, Porcelain Press, der danach trachtete, amerikanischen Hausfrauen die fernöstliche Küche schmackhaft zu machen. Alan Altshuld, Hobbykoch und von seiner Familie verstoßener Hobbybuddhist, der die Klitsche praktisch im Alleingang betrieb, hatte keine glückliche Hand gehabt (Pearl Harbour war dazwischengekommen) und saß nun ratlos auf einem kleinen Berg unverkäuflicher Kochbücher und einem großen Berg von Schulden. Auch sein eigenes Buch, Denn sie wissen nicht, was sie glauben (das Vater zu Alans Siebzigstem den neunundzwanzig ausländischen Perrone-Verlegern aufoktroyierte), lag wie Blei in den drei Buchläden, die es geordert hatten. Alan startete einen letzten Versuch und inserierte in der Zeitung, Porcelain Press suche den ›großen Roman aus dem Süden‹. Aber den suchten immer alle. Zeitungsleser Meyer stemmte mit meiner Hilfe Vaters Schreibtisch auf, schnappte sich das Manuskript, an dem dieser sonst bis zu seinem Lebensende weitergefeilt hätte, und brachte es zu Altshuld nach New York. Der wußte nicht so recht. Quaker Meyer redete ihm gut zu, appellierte an seine Menschlichkeit. Der Vertrag der Verträge wurde geschlossen. Altshuld war inzwischen derart pleite, daß er keinen Nickel Vorschuß zahlen konnte. Im Gegenzug bot er Vater höhere Tantiemen – für Never A Stranger und drei weitere Romane. Zwanzig weitere, diktierte Vater. Er war sich seiner Sache plötzlich sicher. Sie wurden beide reich, aber Vater wurde reicher.
Blieb die Frage nach der Identität des Autors.
Vater beabsichtigte, Paul Perrone zum Helden seiner nächsten zwanzig Bücher zu machen, der Detektiv war sein imaginärer Freund geworden (das Einzelkind bevölkert seine kleine Welt notgedrungen selber), mit dem er sich stundenlang unterhielt, als der er sich seinen Bettgespielinnen vorstellte, am liebsten hätte er unter dem Namen ›Perrone‹ veröffentlicht. Altshuld war dagegen, er wollte keinen Dago, keinen ›Makkaroni‹ als Autor. Eine Zeitlang spielte Vater mit verschiedenen abenteuerlichen und absonderlichen Lebensläufen, immerhin befand er sich nun im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Boxer, Cowboy und Cop entsprachen noch den gängigen Vorstellungen von Klein Moritz Emigrant, aber welche alten Teufel ritten ihn bei Findelkind, Einsiedler und Wandermönch? Schließlich entschied er sich für das Enigmatische. Wurde in Philadelphia geboren, wo er zurückgezogen lebt. Sollten die Leser reden und rätseln. Den Lesern war es herzlich egal, bereits nach wenigen Jahren prangte auf jedem Cover die Reklameblase A Paul Perrone Extravaganza.
Die Selbsttaufe wurde in Philadelphia vollzogen, im New Palace an der South Street, diesmal war ich sogar dabei. Wir sahen I Wake Up Screaming mit Carole Landis. Meyer bezahlte die Kinokarte für Altshuld, kaufte mir Erdnüsse. Vorher zeigten sie die Wochenschau, Kriegsbilder, Bilder von Treibjagden, tote Menschen unter toten Pferden am Rande der Landstraße. Die Maschinerie der Herrenrasse lief auf Hochtouren. Ich schämte mich jeder einzelnen Erdnuß. Der weinende Junge neben der toten Frau unter dem toten Pferd, war er nicht der echte, der wahre Sam, dessen Leben ich gestohlen hatte? Wann würde er kommen, um sich zu rächen?
Vater, sonst kein Lächler, lächelte.
›Still‹, murmelte er. ›Jonathan Still.‹
Meyer verstand nicht.
›I’m still here, ain’t I?‹ sagte Vater. Und aus Yehuda Leiser (denn das war Vaters Name) wurde Jonathan Still.
›Perrone ohne Ohrläppchen …‹ sinnierte Audrain.
›Keine Sorge‹, sagte ich, ›im nächsten Buch sind sie wieder dran.‹
›Tokio und die Ohrläppchen werden ihn Leser kosten‹, sagte Audrain. ›Kannst du das nicht einfach umschreiben, rausschreiben?‹
Ich schaute kurz von meinem Essen auf. Dann aß ich weiter.
›So verliert er wenigstens keine Leser bei den boches.‹
›Die boches verschlingen ihn. Egal, was er macht.‹
In Kapitel zwei des neuen Perrone-Thrillers mit dem Titel Perrone Has No Clue, den ich damals in die Sprache meiner Mutter übersetzte (mein scherzhaft gemeinter Titelvorschlag Perrone hat keine Ahnung war in Philadelphia unkommentiert geblieben), erhielt der Detektiv einen Anruf von der Schwester des Ermordeten, die nach Tokio geheiratet hatte. In Vaters Büchern wurde außerordentlich viel herumgeheiratet, aber nur unter den Opfern. Es wurde auch kräftig Verrat geübt und Verstellung betrieben, darin war sich Vater, bei allen Metamorphosen, die sein Detektiv durchlaufen hatte, erstaunlich treu geblieben. Tokio. Jeder Perrone-Fan rieb sich vorfreudig die Hände. Nun würde eine der berühmten apodiktischen Abschweifungen des Meisters folgen. Man heiratete nicht nach Tokio, man verließ das Land nicht, die Stadt, das Viertel, das Gässel, man blieb zu Hause, Kant beispielsweise habe Königsberg zeitlebens nicht verlassen et cetera, et cetera. Die Leser in Baton Rouge, Norwich, Uptington, Kingston, Auckland, Brisbane und Bangalore, um nur einige zu nennen, schlugen ihre Handlexika beim Buchstaben K auf und durften finden: Kant, Immanuel, deutscher Philosoph, Erfinder irgendeines Imperativs, das mußte dann wohl der Imperativ sein, zeitlebens dort zu verharren, wo man hingehörte. Wieder auf unterhaltsame Weise etwas dazugelernt.
Zugegeben, Paul Perrone war ein trickreiches Konstrukt. Ursprünglich angetreten als von Nonnen in Philadelphia aufgezogener, tiefkatholischer Sohn eines wegen ›Hochverrats‹ lebenslang einsitzenden italienischen Einwanderers. Schon mal nicht schlecht, ein bißchen was für die Rührung. Vierzehn Romane dauert es, bis dieser Vater sich läutert, im fünfzehnten hängt er sich in seiner Gefängniszelle auf, Perrone trägt ihn schluchzend zu Grabe. Längst hat der Sohn die Detektivlaufbahn eingeschlagen, um nur einen Bruchteil des von meinem Vater an den Vereinigten Staaten von Amerika begangenen Unrechts wiedergutzumachen. Einsame Klasse, Perrone, der dankbare Emigrant, lange vor J.F.Ks ›Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst‹.
Dann kam Leti in unser Leben. Letitia Weintraub, Tochter des Entrepreneurs Ludovico Weintraub aus Montevideo, der meinem Vater seine Aufwartung in der Mount Vernon Street machte, ein Bündel luftiger Anleihen im Krokodillederkoffer. Ludovico brachte die weite Welt mit, erzählte uns Geschichten aus Zeiten und Ländern, wechselte die Sprachen wie seine monogrammierten Hemden. Erzählte, unter Tränen, von der großen Stadt Berlin, wo wir alle nie im Leben (behauptete Vater) gewesen waren. Meyer weilte zu dieser Zeit in Las Vegas, vielleicht hätte er Ludovico etwas gründlicher auf den Zahn gefühlt. Jedenfalls setzte Letis Vater bei meinem Vater irgendeinen verborgenen Hebel in Bewegung. Perrone begann Kant zu lesen und richtete in Black Christmas eine alte, schwarze Nutte mit den Worten auf: ›I believe, with Kant, that the mind is self-determined‹. In der Hutbinderschen Fassung, man lese und staune: ›Ich glaube, Kant hatte recht, ihr müßt euch wehren.‹ Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte nahm Perrone nun mehr und mehr deutsche und/oder jüdische Züge an. Zwar verführte er die Frauen noch auf italienische Art, ließ sich aber danach vom Deli ›Muskatbrot‹, ›Mandelkringel‹, ›Kugel‹ und ›ein Rösl Reformierten Tee‹ liefern und zitierte frei erfundene Platitüden deutscher Dichter und Denker, in jener leicht bekömmlichen Maggiwürfelform, die Vater mit links beherrschte. Wie sein Schöpfer durchlitt Perrone religiöse Sinnkrisen und wurde schließlich glühender Atheist. Altshuld bekam es mit der Angst zu tun. Aber das Publikum folgte Perrone bedingungsloser als dem Duce. Seine Fälle spielten, nach Ludovicos großer Berlin-Reminiszenz, jetzt immer häufiger im Milieu der Pennsylvania-Deutschen, um welches Yehuda im wirklichen Leben stets einen Riesenbogen gemacht hatte. ›Die Leute lieben so ein braves, gemütliches Milieu‹, sagte Meyer, ›die Leute lieben es, wenn das dann alles zusammenkracht.‹ ›Hast du schon mal darüber nachgedacht, Sam‹, fuhr Meyer fort, ›warum die Leute massenweise zu Holiday On Ice rennen? Ganz einfach: Sie wollen sehen, wie die Eiskunstshiksen auf die Schnauze fallen.‹ Die New York Review of Books hätte dieses zentrale Perrone-Erfolgsrezept, Aufbau und Zerstörung einer heilen Welt, nicht besser formulieren können. Obwohl Perrone zu anfallartiger Brutalität neigte und seine Kontrahenten, nachdem er sie zusammengeschlagen hatte, vorsorglich lieber auch gleich noch erschoß, blieb seine Hauptwaffe ein deutscher Rottweiler namens ›Heinrich‹, der nun schon so ewig lebte wie Argos, die Töle des Odysseus. Heinrich debütierte in Murder Is My Favorite Crime und war auf Anhieb ein Hit. Er bekam in jedem Roman eine eigene kleine Erzählstrecke, auf der er sich preußisch streng und in übelstem Deutsch-Englisch (vat is ze matter, you knoedelhead?) über Perrone, die anderen Zweibeiner und den Lauf der Welt auslassen durfte. Altshulds Ratgeberreihe für Hundefreunde, Heinrich’s Doggy Secrets, ließ die Kassen explodieren.
Zurück zum neuen Perrone, von dem ich, wie gesagt, erst fünfundvierzig Seiten übersetzt hatte. Diesmal kam Kant nicht, auch Schopenhauer und Nietzsche blieben aus. Statt dessen bestellte Perrone ein Taxi in die Juniper Street 8 und ließ sich zum Philadelphia International fahren. In einem Taxi, Perrone, der große Fußgänger, der exzentrische Antiautomobilist, der letzte Flaneur Amerikas! Wollte er vielleicht nur ein beliebiges japanisches, vorzugsweise weibliches Gesicht am Schalter der JAL studieren, dessen Züge ihm blitzartig ganz Japan offenbaren würden? Neben diversen anderen huldigte Vater in seinen Büchern dem Klischee des von der Landschaft geprägten Gesichts, ein verhinderter Ethnologe schlummerte in ihm, und er ließ Perrone oft inspirierten Nonsens der folgenden Art sagen: ›Zeigen Sie mir das Gesicht eines potentiellen Täters oder Opfers, und ich sage Ihnen, wie der Tatort aussehen wird.‹ (Heavy stuff, wenn man genauer darüber nachdenkt.)
Jedoch nein, Perrone tat das Ungeheuerliche, er nahm Flug 625 nach Tokio, er verließ Philadelphia ohne Vorwarnung, ohne Koffer, ohne Heinrich und verzehrte an Bord, , ein blutiges Steak. Was war los mit meinem Vater?