Petra Ramsauer
MUSLIM
BRÜDER
Ihre geheime Strategie
Ihr globales Netzwerk
ISBN 9783990402603
© 2014 by Molden Verlag
in der Verlagsgruppe Styria
GmbH & Co KG
Wien · Graz · Klagenfurt
Alle Rechte vorbehalten
Bücher aus der Verlagsgruppe Styria
gibt es in jeder Buchhandlung und
im Online-Shop
LEKTORAT: Elisabeth Wagner
LAYOUT: Hannes Strobl, Satz·Grafik·Design
COVERGESTALTUNG: Bruno Wegscheider
COVERFOTO: Mohammed Saber/EPA/picturedesk.com
1.DIGITALE AUFLAGE:
Zeilenwert GmbH 2014
COVER
TITEL
IMPRESSUM
VORWORT
1 SUPERMACHT MUSLIMBRUDERSCHAFT
WIE SIE DIE ARABISCHEN REVOLUTIONEN GEWANN, VERLOR UND SICH JETZT NEU ERFINDET
Das neue Image der ältesten Islamisten-Gruppe
Der Konflikt nach 2011: Islamismus versus Nationalismus
Terrorverdächtig, demokratiefähig
2 DER KULT DER BRÜDER
IHR MYTHOS, IHRE GEHEIME STRUKTUR, WIE DIE BEWEGUNG ENTSTAND UND WAS SIE PLANT
Unter Brüdern: Disziplin, Gehorsam, Zusammenhalt
Die Visionen: der perfekte Mensch, das islamische Reich
Welche Rolle spielen Gewalt und Extremismus?
3 ÄGYPTEN
DER STAAT DER BRÜDER
Der lange Marsch an die Macht
Traum und Trauma: Wie die Brüder ihren Sieg verspielten
Moschee und Militär: zwei Machtblöcke im Kriegszustand
4 MACHTSCHWESTERN
DIE FRAUEN DER BRÜDER: FUNDAMENT DES ERFOLGS
Von Syrien bis Libyen: neue Frauenpower im Männerbund
Die stille Reserve in Phasen der Unterdrückung
Die ideologische Mutterbewegung
5 LIBYEN
UNFREUNDLICHE ÜBERNAHMEVERSUCHE DER ÖLMILLIARDEN
Ein fast perfekter Putsch in Zeitlupe
Eine Cashcow in Geiselhaft
Modell Libyen: die Wiedererweckung der Bruderschaft
6 GROSSES REICH IM ROHBAU
DIE ISLAMISTISCHE INTERNATIONALE: ARABIENS WELT IM BANN DER BRUDERSCHAFT
Die Terror-Connection: die Hamas und Scheich al-Qaradawis Dogmen
Brüder unter Waffen: die schwierigen Lehren Syriens
Tunesien, Jordanien, Marokko: die „Generation Demokratie“
Freund und Feind am Golf: Spielball der Öl-Großmächte
7 DIE GLOBALE BRUDERSCHAFT
RÜCKZUGSGEBIETE UND NERVENZENTREN IM EXIL: DAS NETZ IN EUROPA UND AMERIKA
Wie die Brüder von München aus in Europa Fuß fassten
Das Netzwerk von Wien bis Brüssel
Die London- und Amerika-Connection
Anmerkungen
Das Foto am Cover dieses Buches überrascht: eine Frau als Symbol der Muslimbruderschaft. Es zeigt sie bei einer Demonstration Anfang Oktober 2013 im Zentrum Kairos gegen die Absetzung von Präsident Mohammed Mursi. Auf ihrem Stirnband ist der Beginn der „Schahada“ zu lesen: das islamische Glaubensbekenntnisses auf Arabisch. La ilaha illa ilahu – „Es gibt keinen Gott außer Allah“. Sie trägt eine niqab – ein schwarzes Tuch, das sie von Kopf bis Fuß verhüllt. Diese ultrakonservative Bekleidung ist unüblich für Frauen der Bruderschaft, die sich meist nur mit einem hüftlangen Kopftuch zeigen. Dieses Bild ist nicht irreführend, sondern illustriert eines der zentralen Themen dieses Buchs: die Gefahr, dass die ägyptische Muslimbruderschaft nach dem Sturz „ihres Präsidenten“ von konservativen, auch radikalen Strömungen erfasst wird.
Wahrscheinlich wird für viele, die dieses Buch in die Hand nehmen, gerade das Kapitel über Frauen und Bruderschaft zu den größten Überraschungen der Lektüre gehören. Tatsächlich ist die Muslimbruderschaft kein Männerbund; in Ägypten, dem Mutterland der Gruppe, dürfte die Hälfte der einen Million Mitglieder weiblich sein, aber auch in den 79 Ländern weltweit stellen Frauen eine beträchtliche Gruppe des „Männerbundes“. Führungsrollen in der Bewegung blieben ihnen allerdings lange vorenthalten – noch: Zu den vielen Veränderungsprozessen, die momentan synchron ablaufen, zählt auch ein neues Selbstbewusstsein der muslimischen Schwestern, die gerade jetzt im gesamten arabischen Raum eine wachsende Rolle spielen.
Die Muslimbruderschaft ist also derzeit an einer zentralen Weggabelung zwischen Radikalisierung und Modernisierung angelangt. In welche Richtung sie sich entwickeln wird, ist eine Weichenstellung von globaler Bedeutung. Bei dieser Bewegung handelt es sich um die größte Islamistengruppe des sunnitischen Islam, dem zirka drei Viertel der weltweit 1,5 Milliarden Muslime angehören. Wie viele davon weltweit Mitglied der Muslimbruderschaft sind, zählt zu den großen Rätseln der mysteriösen Bewegung, die lange keine Außenseiter hinter ihre Kulissen blicken ließ. Dieses Buch ist deshalb ein in weiten Teilen sehr gewagter Versuch, diese Geheimnisse zu lüften. Möglich war es dank einer neuen Offenheit. Seit dem Sturz Mursis in Ägypten zeigt sich die Bruderschaft bewusst transparent. Im Zuge der Recherchen für dieses Buch erlaubten mir einige führende Mitglieder in Europa Einblicke in die Funktionsweise der Bruderschaft. Keiner von ihnen möchte namentlich genannt werden; auch nicht in Form eines Danks für die Kooperation. Das Buch ist aber mehr als eine Sammlung von Interviews, es ist vor allem das Ergebnis vieler Reportagereisen in die Länder des „Arabischen Frühlings“: nach Ägypten, Libyen, Syrien – wo die Bruderschaft zu dem Machtfaktor der neuen Ära wurde.
Eines sei gleich vorweggenommen: In diesem Buch geht es nicht um den Islam, sondern einzig darum, das Phänomen der „Muslimbruderschaft“ einem breiten Publikum vertraut zu machen. Wer in meinem Buch nach Vorurteilen oder auch bloß nach einer Beurteilung sucht, wird nicht fündig. Es geht mir darum, das zu beschreiben, was an Fakten zu recherchieren ist. Sie sind mitunter, wie schon eingangs erwähnt, widersprüchlich: Bewusste Verschleierungstaktik und chaotische Machtkämpfe innerhalb der Gruppen spielen nach wie vor eine große, unberechenbare Rolle. Selbst Verfassungsschützer und Geheimdienste in der westlichen Welt macht es ratlos. Eine meiner anonymen Quellen aus diesen Kreisen meinte dazu: „Die Bruderschaft einzuordnen, kommt dem Unterfangen, einen Pudding an die Wand zu nageln, gleich.“
Dieses Buch besteht aus sieben Abschnitten. Zunächst einer Einleitung, in der die aktuellen Entwicklungen nach dem „Arabischen Frühling“ zusammengefasst werden. Dann befasst sich ein Abschnitt mit den Mechanismen und der Geschichte der Bewegung; darauf basierend kommen die zentralen Ereignisse in Ägypten seit dem Gründungsjahr der „Muslimbruderschaft“ 1928 zur Sprache. Kapitel vier widmet sich der Frauenpower in der Muslimbruderschaft. Die „Schwestern“ sind unabdingbar für den Erfolg der „Brüder“. Weiters werden die Entwicklungen in Libyen in einem eigenen Kapitel – exemplarisch für das Wirken der Bruderschaft in der arabischen Welt – unter die Lupe genommen. Die Wahl fiel auf Libyen, weil der enorme Ressourcen-Reichtum des Landes nach einer etwaigen Machtübernahme durch die Muslimbruderschaft eine tektonische Verschiebung ihrer Bedeutung nach sich ziehen würde. Die letzten beiden Kapitel beschreiben die globale Bruderschaft in der arabischen Welt und in Europa.
Noch ein Wort zu den Formalismen dieses Buches: Jene Quellen, die mir zentrale Gedanken lieferten, beziehungsweise jene, aus denen ich Wort für Wort zitiere, sind durch Endnoten ausgewiesen. Um die Nachvollziehbarkeit meiner Gedanken einem Publikum zu ermöglichen, das nicht Arabisch spricht, basiert dieses Buch vor allem auf Werken, die in Deutsch und Englisch verfasst worden sind.
Arabische Begriffe kommen nur in einem sehr geringen Ausmaß vor: Die Transkription richtet sich nicht nach den wissenschaftlichen Regeln, sondern ist lautmalerisch und orientiert sich vor allem an der Praxis in deutschen Medienberichten. Vieles ist deshalb auch nicht logisch stringent. So ist es im Arabischen üblich, bei einigen Konsonanten den Artikel „al“ an den ersten Buchstaben anzupassen. Ein Beispiel dafür ist der Name des ägyptischen Militärchefs, Abdel Fattah as-Sisi. Häufig wird er als „al-Sisi“ bezeichnet, in diesem Buch verwende ich aber die richtige Form, „as-Sisi“. Wenn die saloppe Form „al“ in der Schreibung eines Namens lange schon gängig ist, verzichte ich auf diese Anpassung. Dazu habe ich, im Sinne einer einheitlichen Schreibweise, sämtliche Artikel auf „al“ belassen und, außer bei Eigennamen in Publikationen, die ebenso richtige Version „el“ weggelassen.
Abschließend sei hier allen jenen herzlichst gedankt, die es ermöglichten, dass dieses Buch zustande kam. Es war ein schwieriger Moment für eine Bestandsaufnahme. In der über 80-jährigen Geschichte der Bruderschaft wird dieses Jahr 2014 als zentrale Weichenstellung identifiziert werden. Während die letzten Zeilen hier geschrieben werden, sind abermals Präsidentenwahlen in Ägypten fixiert worden, Militärchef Abdel Fattah as-Sisi bringt sich in Position, als aussichtsreichster Kandidat anzutreten.
Es ist ein Moment, in dem viele die Hoffnung auf den demokratischen Wandel durch die Revolutionen des „Arabischen Frühlings“ verlieren. Dazu zählen nicht bloß die liberalen Träger der Revolutionen, sondern auch Vertreter der Muslimbruderschaft, die darauf setzen, dass dieser demokratische Prozess der Anfang ihrer Ära Arabiens wird. Welcher Weg künftig eingeschlagen wird, hängt auch damit zusammen, ob es den politischen Verantwortlichen in Europa gelingen wird, die Mechanismen dieser mächtigen Bewegung zu verstehen beziehungsweise, welche Strömungen gestärkt werden können und müssen. In diesem Sinne ist dieses Buch hoffentlich vor allem ein Anstoß dazu, den Dialog zu suchen und die große unbekannte Bruderschaft zu entschlüsseln.
Petra Ramsauer
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Bei der Begegnung mit Muslimbrüdern gilt es meist, ein unausgesprochenes Übereinkommen zu respektieren: Die direkte Frage, ob das Gegenüber zur Bewegung gehört, ist tabu. Andeutungen und der Rahmen der Begegnung sollten reichen um zu wissen, wo er oder sie steht. Natürlich ist dieses Gesetz bei Interviews mit offiziellen Führungsfiguren, die eine klare Rolle innerhalb der Bewegung einnehmen, außer Kraft gesetzt. Aber eben nicht bei „einfachen“ Brüdern und Schwestern. Mitgliederlisten führt niemand, weder im Ausland noch im Mutterland der Bewegung; wo eine Million Menschen zu der Bewegung gehören. Auch während der 18 Monate an der Macht in Ägypten blieben viele Muslimbrüder diesem bewährten Erfolgsrezept treu. Über Jahrzehnte war ein Überleben der Bruderschaft nur möglich, weil dieser Schutzwall an Geheimhaltung existierte; hier und anderswo. Allerdings führte die Gründung ihres politischen Flügels, der „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“, dazu, dass viele Farbe bekennen mussten. Nicht bloß in Ägypten, auch in anderen Transformationsstaaten, wo politische Parteien entstanden: Dazu war die Gruppierung erstmals in ihrer Geschichte nicht verboten, ihr Hauptquartier befand sich nicht in einem staubigen Hinterzimmer, sondern in einer stolzen Villa in einer der besten Gegenden Kairos. Mit Beginn der Repressionswelle, der Einordnung der Gruppe als Terrororganisation nach dem Sturz Präsident Mursis war es aber mehr denn je wieder klar, dass ein eindeutiges Bekenntnis zur Gruppe in diesem Land ausgeschlossen ist. Sätze wie „Wir stehen hinter unserem demokratisch gewählten Präsidenten“ oder das Symbol der vier hochgestreckten Finger mussten reichen.
Das Gebot der Geheimhaltung galt und gilt auch für das Netzwerk von Wohlfahrtsorganisationen, Spitälern, ambulanten Kliniken, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Sie sind nur zum Teil offensichtlich mit der Gruppe verbunden. Jene 1.055 Nicht-Regierungsorganisationen, die von der interimistischen Führung Ägyptens im Winter 2013 verboten wurden, weil sie zum Netzwerk der Bruderschaft gehören, dürften nur einen Teil ausmachen.22 Für ebenso viel Rätselraten sorgt ein breites Geflecht von Unternehmen innerhalb und außerhalb Ägyptens. 702 Bankkonten von Mitgliedern wurden zu diesem Zeitpunkt eingefroren, der größte Brocken das Konto des Unternehmers Kheirat al-Shater, des stellvertretenden spirituellen Führers der Bruderschaft, der Millionen in der Möbelbranche verdient hat. Sein Wirtschaftsimperium steht im Zentrum der Islamisten, zu ihm gehören unter anderem Hotels in den Urlaubsregionen Ägyptens und große Ländereien im Sudan.23
Dieses Muster gilt auch für die internationale Muslimbruderschaft. Außerhalb der arabischen Welt wird die Bewegung nie mit ihrem eigentlichen Namen bezeichnet, sondern verbirgt sich hinter vielen Bezeichnungen, die wohl eine Nähe zum Islam nahelegen, aber mit keinem Deut erahnen lassen, dass es sich um Ableger des Netzwerks handelt. Selbst in der arabischen Welt gibt es immer wieder Versuche, sich öffentlich davon zu distanzieren. So meinte der 2011 gekürte Regierungschef Marokkos, Abdelilah Benkirane, im Februar 2013: „Unsere ‚Partei für Freiheit und Entwicklung‘ hat, so wie die gesamte islamistische Bewegung, nichts mit der Muslimbruderschaft zu tun. Wir gehen unseren eigenen Weg. Und wir müssen Marokko auch nicht islamisieren. Unser Land besteht ohnehin aus gläubigen Muslimen.“24 In den Jahren zuvor hatte er in mehreren Interviews die enge Verbindung zur Bruderschaft sehr wohl zugegeben, auch zahlreiche Studien belegen den Zusammenhang.25
Dieses Beispiel illustriert, wie schwierig es ist, den Aggregatzustand der Bewegung exakt zu definieren – vor allem die Machtsphäre ihrer globalen Dimension. Zum einen hat diese Strategie der Geheimhaltung vor allem in arabischen Ländern wesentlich zum Überleben der Gruppe in Phasen der Unterdrückung beigetragen, ihren Feinden allerdings nützte dies ebenso. Wo klare Fakten fehlen, ist viel Raum für Gerüchte, Dämonisierung und Angst. „Das ist exakt ihre Methode, in Libyen die Macht zu erringen. Sie werfen Nebelgranaten um ihre Netzwerke und führen die Menschen hinters Licht. So gelingt es ihnen, viele zu täuschen. Das macht sie so gefährlich und unberechenbar. Zu Hause und auch im Exil, wo sie oft ihre eigentliche Machtbasis haben“, sagt Najah Dawaji, eine Libyerin, die in den USA lebt und von dort aus Programme zur Förderung der demokratischen Entwicklung in ihrer Heimat betreut.
Theoretisch sind die Ableger der Bruderschaft in weltweit 79 Ländern nichts als Filialen einer transnationalen Pan-Islamistischen Bewegung mit ihrer Zentrale in Ägypten; basierend auf der von Gründervater Hassan al-Banna formulierten Ideologie. Praktisch gingen viele Gruppen eigene Wege und ließen sich von der Zentrale in Kairo nicht immer beeinflussen. Versuche der ägyptischen Mutterorganisation, diese Gruppen formal unter ihre Kontrolle zu bekommen, starteten erstmals 1963. Damals wurde ein Exekutivbüro für arabische Staaten eingerichtet und kurzfristig vom syrischen Muslimbruder Issam al-Attar geleitet. Das Büro geriet mit der Spaltung der syrischen Bruderschaft in eine Krise und löste sich auf. 1982 wurde erneut ein Statut für die internationale Organisation verabschiedet und 1994 reformiert. Ein regional agierender beratender Rat (schura) und ein international agierendes Politbüro wurden geschaffen, weiters das Amt eines überregional amtierenden „Obersten Führers“. Diese Rolle wird seither vom Führer der ägyptischen Muslimbruderschaft eingenommen.26
Dieses Büro existiert nach wie vor, seine Existenz wird aber nur von Abtrünnigen der Organisation bestätigt; Insider bestreiten es. Auf allen Ebenen der Bewegung dominiert dieses Prinzip, möglichst nichts über das Innenleben preiszugeben. „Brüder“ und „Schwestern“ nennen sogar ihre Gruppe selbst selten beim eigentlichen Namen, sprechen schlicht von „der Gemeinschaft“ oder „der Organisation“. Die Bruderschaft ist keine Massenbewegung, der man sich einfach anschließen kann. Niemand kann beitreten, ohne eingeladen zu werden. Durch diese geschlossene Struktur, die einem Kult gleicht, ist sie mit all ihren Mechanismen prioritär darauf ausgerichtet, ihre Geschlossenheit zu sichern. Um diesen Kreis scharen sich viele Sympathisanten; doch bei Weitem nicht alle, die der Bruderschaft nahestehen, zählen tatsächlich zur Gruppe.
„Nein. Bin ich nicht. Ich bin kein Bruder“, sagt etwa Ayman Sayed, ein in Europa lebender Sprachlehrer, der zuvor mehr als bereitwillig in vielen Gesprächen über Aspekte der Organisation und ihren ideologischen Hintergrund Auskunft gab. Es schien offensichtlich, dass er zum innersten Kreis zählt. Immerhin konnte er problemlos die Spitzen der Bewegung, sogar den engsten Kreis um den damals amtierenden Präsidenten Mohammed Mursi, auch kurzfristig telefonisch erreichen. Nach einem Dutzend Gespräche reagierte er trotz der aufgebauten Vertrauensbasis irritiert, als die Frage ohne Umschweife im Raum stand. Der 35-jährige Absolvent der Islamwissenschaften an der al-Azhar-Universität in Kairo machte auch kein Hehl daraus, dass in seinem Heimatdorf Tanta im Nildelta nahezu die gesamte Bevölkerung Teil der Bewegung ist. „Alle meine Cousinen und Cousins gehören dazu.“
Seine Weigerung, sich offen zu bekennen, begründet Ayman Sayed aber nicht wie viele andere mit Angst vor Verfolgung. „Ich bin tatsächlich kein Mitglied. Und zwar aus einem sehr einfachen Grund: Bruder zu sein bedeutet, dass man sehr viel Zeit investieren muss. Die Bewegung ist alles, übernimmt quasi die Persönlichkeit. Das Individuum rückt an die zweite Stelle. Nein. So sehr ich an Präsident Mursi glaube. Und an das viele Gute, das die Bewegung leistet. Das wäre zu viel für mich.“
Es sei dahingestellt, ob die dann von ihm erzählte Geschichte – ein Detail aus der Biografie von Mohammed al-Beltagy, des Generalsekretärs des politischen Flügels der Muslimbruderschaft – stimmt oder nicht. Sie soll illustrieren, welch hoher Grad an Selbstaufgabe verlangt wird. Als Mohammed al-Beltagy kurz vor seiner letzten Prüfung im Medizinstudium stand, war er auch am Sprung zur Vollmitgliedschaft als Bruder. Dieses Uni-Examen stand am Ende seines jahrelangen Studiums. „Er durfte es nicht wiederholen. Sein Studium wäre umsonst gewesen“, erzählt Ayman Sayed: „Am Morgen des Prüfungstages rief ihn ein hochrangiges Mitglied der Bewegung an und sagte ihm, er solle den nächsten Zug von Kairo nach Luxor nehmen. Ein Paket, das nur persönlich befördert werden dürfte, müsse überbracht werden und er sei für diesen Dienst ausgewählt worden. Es war das Ende seines Traums, Arzt zu werden. Trotzdem fuhr er zum Bahnhof, nicht zur Universität und kaufte sich eine Fahrkarte. Nur eine Minute vor der Abfahrt kamen zwei Brüder, nahmen ihm das Paket ab und er konnte zur Prüfung.“ Mohammed al-Beltagy meisterte somit an diesem Tag zwei entscheidende Hürden: Er wurde Arzt und Bruder. Schon alleine, dass diese Geschichte verbreitet wird, beweist, wie verbissen das Prinzip propagiert und gelebt wird: Die Organisation geht immer vor.
„Warum gerade hier bei uns in Ismailia unsere Bewegung entstand, ist leicht zu verstehen“, sagt Midhat Saki, einer der heute hier tätigen Muslimbrüder. „Die Briten liefen hier herum, als würde ihnen das Land gehören. Sie ließen Zehntausende beim Bau des Suezkanals verrecken, so verheerend waren die Bedingungen.“27 1928 war die Atmosphäre in dieser ägyptischen Stadt am Suezkanal von ausufernder Feindseligkeit gegen die europäische Dominanz geprägt. Ägypten war de jure keine Kolonie, als Protektorat der britischen Monarchie aber de facto annektiert. 1922 wurde der Staat unabhängig und eine Monarchie; in den Knackpunkten erwies sich dies aber als Formsache. Britisches Militär war im Land geblieben und die britisch-französische Suez-Kanal-Gesellschaft betrieb mithilfe von Massen schlecht bezahlter und ebenso schlecht behandelter ägyptischer Tagelöhner den Suezkanal. In Ismailia befanden sich das damalige Hauptquartier der Gesellschaft sowie zahlreiche Militärcamps der europäischen Großmächte.
In der Stadt bekam ein junger Arabisch-Lehrer seinen ersten Posten: Hassan al-Banna, der in seinem Brotberuf in erster Linie eine Existenzsicherung sah. Seine eigentliche Berufung war nicht die Alphabetisierung von Kindern, sondern die Erziehung der Gesellschaft nach den Prinzipien des – aus seiner Sicht – „wahren Islam“. Nur so könne man, meinte er, dem Los der entwürdigenden westlichen Dominanz entkommen. Mit sechs ägyptischen Arbeitern, die in diesen Militärcamps für einen Hungerlohn schufteten, gründete der damals 22-Jährige al-Banna die erste usra – „Familie“ – seiner neuen Organisation, der „Gemeinschaft der Muslimbrüder“. Er war der erste murschid, der spirituelle Führer dieser Bewegung, die bereits ein Jahrzehnt nach ihrer Gründung in Ägypten und in der gesamten arabischen Welt Millionen Mitglieder aufwies.
Bis heute ist der spirituelle Führer in Ägypten der Kopf der Bruderschaft und geblieben ist auch die Struktur der usras als Fundament der Bewegung. Dieser Mix aus einer nach außen hermetisch verschlossenen Bewegung und karitativem Einsatz – für Minderprivilegierte, in Schulen, bei der Hilfe für die Ärmsten oder im Gesundheitssystem – warb für ihr Weltbild und schuf einen robusten Machtapparat. Dieser ist in Ägypten, dem Mutterland der Bewegung, vollständig entwickelt. Er wurde zum Großteil von den Filialen in anderen arabischen Ländern übernommen, ebenso von den Exilgruppen in Europa und in den USA.
Das engmaschige Netz dieser Zellenstruktur ermöglicht die totale soziale und politische Kontrolle der Mitglieder, sorgt für einen engen inneren Zusammenhalt und schützt die Bewegung vor Infiltration. Etwa sechs bis acht Brüder bilden eine usra. Sie treffen sich mindestens einmal pro Woche für etwa vier Stunden in einem Privathaus. Der Ablauf und das Programm dieser Treffen folgen klaren Vorgaben. Ein gemeinsames Gebet macht den Anfang, danach wird die aktuelle politische Lage diskutiert. Die persönliche Situation jedes Bruders, seine privaten Probleme oder Schwierigkeiten bei der Erfüllung der da’wa – der Arbeit für die Bewegung – kommen zur Sprache. Dazu gibt es einen konkreten Lehrplan, der seit den 1970er-Jahren präzise festgelegt ist. Dieser beinhaltet die Befassung mit den Normen und Werten des Islam, das Auswendiglernen einzelner Suren des Korans sowie die Ausbildung des Einzelnen, etwa in Rhetorik.
Die Rolle der Bezugsperson innerhalb dieser Familie übernimmt ein Vorsteher, der naqib. Er gibt darauf acht, dass wesentliche Inhalte nicht bloß vermittelt, sondern von seinen Schützlingen gänzlich internalisiert werden, dass sie zum Gehorsam der Bewegung gegenüber erzogen werden und auch dass sie in ihren Herkunftsfamilien darauf achten, den Alltag strikt an islamischen Regeln zu orientieren. Allerdings sind in vielen Fällen ohnehin beide Ehepartner, deren Eltern und Kinder Teil der Muslimbruderschaft. Besonders großer Wert wird auf eine starke emotionale Bindung innerhalb der Wahlverwandtschaft gelegt, die mindestens so tief wie jene zu den Blutsverwandten gehen sollte: „Meine Treffen mit den anderen Mitgliedern der Organisation sind die zentralen Punkte der Kontaktaufnahme mit meiner Umwelt“, so Mohamed Badawy, ein 26-jähriger Computerfachmann, der in Nasser-City in Kairo lebt. „Ich kann hier selbst über intime Themen sprechen. Meine Brüder wissen alles von mir.“
In regelmäßigen Abständen informiert der Leiter der usra höherrangige Kader der Bewegung über die Fortschritte seiner Gruppe. Zum Muslimbruder wird niemand über Nacht, sondern nur jene, die dazu bereit sind, eine sehr lange Zeit in den Aufnahmeprozess zu investieren. Die Ausbildung zieht sich über fünf bis acht Jahre, durchläuft mehrere präzise definierte Stadien: Wenn ein Neuzugang in eine usra aufgenommen wird, gilt er als muhib, – als Sympathisant. Zwischen sechs Monate und vier Jahre hat er Zeit, zu beweisen, dass er es mit seinem Ansinnen ernst meint. Um in den nächsten Grad aufzusteigen, muss der Führer der usra schriftlich bestätigen, dass der Neuling über ein Basiswissen der relevanten islamischen Texte verfügt sowie glaubwürdig Bereitschaft zeigt, sich ins System zu integrieren. Danach folgt die Stufe des muayyad – des „Unterstützers“. In dieser Phase, die sich abermals über Jahre hinzieht, werden erste Aufgaben innerhalb der Organisation wahrgenommen. Dazu zählt etwa, Predigten in der Moschee zu halten oder in Vereinen mitzuarbeiten. Jetzt gilt es nicht bloß, religiöse Texte und Schreiben des Gründers Hassan al-Banna zu studieren, sondern erste Passagen des Korans auswendig zu beherrschen. In der nächsten Stufe wird der erste Schritt hin zur Vollmitgliedschaft getan: Als muntasib – „Angeschlossener“– darf der Aspirant entsprechend seiner Ausbildung beispielsweise an Schulen der Bruderschaft unterrichten, in ihren Spitälern aushelfen. Ab dieser Phase werden zwischen fünf und acht Prozent des Einkommens in die Kassen der Bruderschaft überwiesen.
Sind die Führungsfiguren mit der Arbeit zufrieden, dann steht die nächste Beförderung an: zum muntazim – „Organisator“. In dieser Phase werden die Loyalität zur Gruppe und die Fertigkeit in Glaubensfragen mehreren, mitunter überraschenden Tests, wie etwa die oben erwähnte legendäre Luxor-Reise am entscheidenden Prüfungstag, unterzogen. Nach diesem letzten Ausbildungsschritt müssen vierzig Koranverse beherrscht, fest geregelte Andachtszeiten eingehalten werden. „Es geht um dein Wissen, die Art, wie du denkst, deinen Einsatz für die auferlegten Pflichten, wie sehr du in der Lage bist, die Anordnungen auszuführen: bei Demonstrationen teilzunehmen, an Konferenzen“, beschreibt Mohammed Habib, ehemals einer der höchsten Funktionäre der Bruderschaft, diese letzte Prüfung. Gelingt sie, wird der Status als „arbeitender Bruder“ (udw ami’) und damit die Vollmitgliedschaft erreicht.28
Tauchen im Zuge dieser Laufbahn Probleme auf, legt das Verhalten eines neuen Mitglieds Misstrauen nahe, wird die Einbindung als Vollmitglied sofort gestoppt. Nur jene Brüder, die sich gänzlich dem System verschreiben, werden in die engen Zirkel eingelassen. Dieses hoch selektive System, die äußerst lange Probephase führen dazu, dass nur jene in die Zirkel der Bruderschaft Eingang finden, die sich gänzlich mit der Bewegung identifizieren. Dies ist die Basis für eine lückenlose und straffe Befehlskette innerhalb der Bruderschaft. Über grundlegende Entscheidungen stimmen die 120 Mitglieder des „Schura-Rates“ (majlis asch-Schura) ab. Sie werden von den regionalen Gruppen gewählt und küren wiederum die 18 Mitglieder des Exekutivorgans der Bewegung, meist als „Politbüro“ übersetzt. Korrekt nennt es sich „Führungsbüro“ (maktab al-irschad). Dies ist das eigentliche Machtzentrum der Bewegung, es ist aufgebaut wie eine Regierung mit Fachministern. An dessen Spitze steht der „Oberste spirituelle Führer“ (murschid). Trotz der demokratischen Strukturen hat diese Gruppe, vor allem der murschid, meist letzte Wort bei Richtungsentscheidungen. Das Politbüro koordiniert die einzelnen Abteilungen der Bewegung: jene für Wohlfahrt, Bildung, Rekrutierung, Außenkontakte. Solche Strukturen gibt es in allen Filialen der Bruderschaft, dabei variiert lediglich die jeweilige Mitgliederzahl in den Gremien.
Von dieser Zentrale aus werden die Anweisungen in Pyramidenform weitergegeben und erst den Führern der lokalen Sektoren, qita, und von dort aus den Vertretern in den lokalen Einheiten, muntaqa, kommuniziert. Die letzte Hierarchieebene, die sho’aba, ist dafür zuständig, die einzelnen Familienzellen zu informieren. Was schwerfällig klingt, klappt in der Ära der modernen Kommunikationstechnik reibungslos: SMS-Ketten orchestrieren die Bewegung binnen Minuten wie einen Vogelschwarm. Damit alles reibungslos und ohne interne Debatten abläuft, wird ein Gehorsamseid geleistet: Jedes einzelne Mitglied muss schwören, die Entscheidungen des „Schura-Rates“ anzunehmen. Dieses Prinzip, die Politik der Führung bedingungslos umzusetzen, hat Gründervater Hassan al-Banna in seinem „Sendeschreiben der Unterweisung“ auch um eine spirituelle Dimension ergänzt: die zehn Säulen des Schwurs der Bruderschaft. Diese Tugenden muss jeder Bruder einhalten. Al-fahm – „das Verstehen“ – ist in zwanzig weitere Grundsätze aufgeteilt und steht an erster Stelle. Danach folgen die Prinzipien: al-ihlas – „Treue“, al-amal – „Tat“, al-gihad – „Anstrengung“, al-tadhija – „Aufopferung“, at-ta’a’ –„Gehorsam“, as-sabat’ – „Festigkeit“, at-tagarrud – „Bereitschaft zum Verzicht“, al-uhuwa – „Brüderlichkeit“, at-tiqa – „Vertrauen“.
Am Ende dieses Schreibens legte al-Banna die Pflichten eines Muslimbruders fest, die sich aus diesen Prinzipien ableiten. Die grundlegende Voraussetzung ist es, Lesen und Schreiben zu können. In einem Land, in dem selbst heute noch 40 Prozent der Bevölkerung funktionale Analphabeten sind, keine Selbstverständlichkeit. Dazu gehört es zum Fundament jedes neuen Bruders, den Koran und die Biografie des Propheten zu kennen. Basierend darauf gibt es Gebote, deren Einhaltung den Brüdern vorgeschrieben ist: Wesentlich ist dabei die Pflicht, sich strikt an die Vorgaben aus Koran und Hadith (Überlieferungen aus dem Leben des Propheten und Sammlung seiner Sprüche) zu halten, die Aufforderung zum Gemeinschaftsgebet wie zum freiwilligen Gebet, dem ein Teil jeder Nacht gewidmet sein sollte. Ebenso entscheidend ist der Einsatz für das Gemeinwohl, um als Vorbild die Gesellschaft zu missionieren. Bereits mit der Gründung der Bruderschaft wurde eine „Checkliste“ gedruckt und an die Mitglieder verteilt. Diese umfasst Fragen wie: Hast du die fünf täglichen Gebete zum richtigen Zeitpunkt verrichtet? Hast du heute jemandem geholfen?29
Um den Zusammenhalt in der Gruppe und auch als Bewegung zu festigen, gibt es ein System verschiedener Konferenzen sowie anderer Großveranstaltungen. Besondere Bedeutung haben dabei Ausflüge, die für größere Gruppen organisiert werden. Sie werden als rihla bezeichnet und sollen über den Rahmen der Begegnung in der usra hinaus das Gemeinschaftsgefühl auch als größere Gruppe stärken. Im Fokus steht dabei vor allem die (männliche) junge Generation. Solche Campingausflüge führen in möglichst abgeschiedene und unwirtliche Gegenden. Neben religiöser Erziehung steht hier vorrangig körperliches Training am Programm. Das Ziel ist es, zu einem Team zu werden, das einander blind vertraut, eine geschlossene, in sich verschworene Einheit bildet.
Was es für eine Persönlichkeit bedeutet, sich dieser vereinnahmenden, in sich hermetisch geschlossenen Gemeinschaft anzuschließen, lässt sich für Außenstehende nur erahnen. Authentische Einblicke sind rar, es bieten sie nur jene, die es wagten, auszusteigen: „Es ist wie ein ‚second life‘ – ein zweites Leben –, das man führt. Ich traf meine Bruderschafts-Familie nicht bloß einmal die Woche, sondern täglich und das zwei Mal, zum Morgen- und Abendgebet“, beschreibt Abdel al-Galil al-Sharnubi, was es für ihn bedeutete, „Bruder“ zu sein. 23 Jahre lang war der heute 39-jährige Journalist Mitglied. 2011 verließ er die Bewegung, kurz nach der Revolution vom 25. Jänner. Der Chefredakteur eines Kunstmagazins gibt in seinem Büro im Zentrum Kairos nun offenherzige Interviews, in denen er sich seinen Frust mit den Muslimbrüdern von der Seele redet: „Jeder Moment meines Lebens, eigentlich auch meines Denkens, stand im Bezug zur Organisation. Sie dominierte alles. Du bist, wenn du ein vollwertiges Mitglied bist, nichts mehr als Teil der Bewegung. Dein ‚Ich‘ hört auf zu existieren, es wird durch ein ‚Wir‘ ersetzt. Es gelingt ihnen, dass du in einen Zustand gerätst, der einer wahnsinnigen Verliebtheit ähnelt.“
Wie viele Brüder kam er früh, bereits als 13-Jähriger, zur Bewegung. „Mein Motiv war es schlicht, die Wahrheit zu finden. Die suchte ich in der Religion. Parallel dazu studierte ich Literatur und Philosophie, das war mein zweites Modell.“ An diesem Interesse stießen sich zwar die Kader der Bewegung wieder und wieder, für al-Sharnubis Karriere war dies aber kein Problem. Vom kleinen Angestellten arbeitete er sich hoch zum Leiter der externen Kommunikation; er war für den Internet-Auftritt und die Auslandskontakte der ägyptischen Bruderschaft zuständig. „Die Bedeutung wird kleingehalten, aber in Wahrheit ist die internationale Vernetzung besonders wichtig, vor allem wegen der globalen Investitionen. Aber das war nicht der einzige Grund: In vielen arabischen Ländern war die Muslimbruderschaft jahrzehntelang verboten. Nur die Exilgruppen hielten sie am Leben, deshalb verfügen sie über wichtige Machtstrukturen. Mohammed Mursi zum Beispiel wurde nicht in Ägypten, sondern während seines Studiums in den USA von lokalen Gruppen zur Bruderschaft gebracht. Das ist ein klassisches Beispiel.“ Und es waren auch die intensiven Kontakte zu den USA, die von der Bruderschaft nach dem Sturz Präsident Hosni Mubaraks gepflegt wurden, die zu einem Großteil seinen Frust bedingten. „Es war immer die Rede davon, dass unsere Agenda die Schaffung eines Staates aller Muslime ist, das Ideal einer neuen Ordnung. Doch in Wahrheit ist die Muslimbruderschaft nur an einem interessiert: die Macht zu übernehmen. Die Mittel sind ihnen egal.“
Nur wenige würden so wie er die Bruderschaft verlassen und dann öffentliche Kritik üben, die Geheimnisse ausplaudern: „Wenn jemand die Organisation verliert, verliert er sein ganzes Leben, den Freundeskreis, jede soziale Einbettung.“ Und, betont er, man riskiere, massiv unter Druck zu kommen. „Ich wurde bedroht; eine richtiggehende Rufmord-Kampagne startete.“ Wer geht oder zum Gehen gezwungen wird, müsse in der Lage sein, die enorme soziale Belastung dieses Schrittes auszuhalten. Dies bestätigt auch ein anderer Ex-Bruder, Khaled Dawood, der in Ungnade fiel: „Was nach meinem Ausscheiden geschah, glich einer moralischen Hinrichtung.“30 Immer wieder kam es zu internen Zerwürfnissen, zuletzt – schon lange vor der Revolution – weil es immer wieder Stimmen innerhalb der Bruderschaft gab, die eine Reform der zunehmend verknöcherten und konservativen Bewegung forderten. Zahlreiche Positionen der Muslimbruderschaft, die im Laufe der Jahrzehnte öffentlich wurden, betonen zwar den nötigen Einsatz für Menschenrechte und politische Freiheit. Dem steht aber das Konzept des genormten und völlig angepassten Mitglieds, das in der Bewegung völlig aufgeht, gegenüber.31
Den Bruch mit der Bruderschaft wagen wenige, da deren Mechanismen wie erwähnt darauf angelegt sind, es Aussteigern so schwer wie irgend möglich zu machen. Maßgeblich dafür war auch, dass die konservative Führung tunlichst darüber wacht, wer in die Muslimbruderschaft aufgenommen wird. Die Einheit für Ausbildung innerhalb der ägyptischen Bruderschaft steht unter der Kontrolle eines Mitglieds des Politbüros, das ein eigenes „Quasi-Ministerium“ führt, von wo aus die Neuzugänge genau überwacht werden und auch die jahrelange Prüfungsphase kontrolliert wird. Es ist ein höchst rigider Selektionsprozess, der damit beginnt, dass eigens mit der Rekrutierung von Mitgliedern beauftragte Brüder vor allem an den Universitäten Ausschau nach Nachwuchs halten. „Sie haben den Auftrag, in möglichst unverfänglichen Situationen, etwa bei Fußballspielen oder bei Tutorien für das jeweilige Fach, potenzielle neue Mitglieder zu rekrutieren“, berichtet Amr Magdi, ein Student, der kurz nach seinem Eintritt in der Universität von Kairo angeworben wurde.32 In den meisten Fällen wird die Mitgliedschaft aber über Generationen quasi vererbt und Kinder von Muslimbruder-Familien folgen den Eltern in die Bewegung. Entscheidend ist aber in jedem Fall, dass neue Mitglieder die Festigkeit des inneren Zusammenhalts nicht gefährden und dass sie im Idealfall die Einflusssphäre der Bewegung vergrößern.
Die Bildung bis hin zur Indoktrinierung ihrer Mitglieder, aber auch die Schaffung von Erziehungseinrichtungen für die breite Bevölkerung sind die offensichtlichsten Ziele der Muslimbruderschaft. Damit soll das Prinzip verankert werden, dass der Islam die perfekte Lösung für alle Fragen von Staat, Gesellschaft und Individuum bietet. So würde ein stabiler Gegenentwurf zu „westlichen“ Einflüssen entstehen; quasi eine eigene islamische Identität. Dazu wird nicht bloß versucht, in den jeweiligen Nationalstaaten ein eigenes Schulsystem parallel zur öffentlichen Infrastruktur aufzubauen, sondern auch Brüder in relevanten Positionen im jeweiligen Bildungssystem zu haben. Dazu werden gezielt Lehrer, Universitätsprofessoren und Ministeriumsmitarbeiter als Mitglieder angeworben. Es war ein Erfolgsmodell, schenkt man der eigenen PR Glauben. Anlässlich des 70-jährigen Bestehens der Bewegung zog Scheich Youssef al-Qaradawi – die heute globale spirituelle Führungsfigur der Bruderschaft – mit Genugtuung Bilanz: „Einer der größten Erfolge unserer Organisation war es, für die islamkonforme Erziehung ganzer Generationen gesorgt zu haben.“33
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