Friederike Gräff
Warten
Erkundungen eines
ungeliebten Zustands
Editorische Notiz
Einige Interviewpartner haben darum gebeten,
ihren Namen zu ändern. Diese sind bei der ersten Nennung
mit einem * gekennzeichnet.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, März 2014 (entspricht der 1. Druck-Auflage von März 2014)
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Umschlaggestaltung: Stephanie Raubach, Berlin,
unter Verwendung eines Fotos von Thinkstock (Nr. 98178188)
Satz: Ch. Links Verlag, Berlin
Druck und Bindung: Druckerei F. Pustet, Regensburg
ISBN 978-3-86284-279-7
Im Saal der verlorenen Schritte
Über das Warten in der Literatur
Im Wartesaal: Mariana Leky wartet
auf die nächste Romanidee
Ein Gespräch mit der Schauspielerin
Victoria Trauttmansdorff
Geduld als Startkapital
Warum aus geduldig wartenden Kindern
erfolgreiche Erwachsene werden
Im Wartesaal: Jule wartet
auf den Schulbeginn
Warten als Mangelerscheinung
Die Warteschlange im Ostblock und
wie man sich am besten vordrängelt
Wie wir auf die Liebe warten
Ein Gespräch mit der Partnervermittlerin
Ulrike Grave
Im Wartesaal: Leyla Belloumi* wartet
auf einen Freier
Gibt es Gerechtigkeit beim Warten?
Wie man eine Transplantationswarteliste organisiert,
obwohl sie nicht gerecht sein kann
Im Wartesaal: Katharina Eggers wartet
auf eine neue Niere
Vom Warten in der Trauer
Warum die viktorianische Witwe länger trauert
als der viktorianische Witwer
Im Wartesaal: Irmtrud Hillinger* wartet auf
die Heimkehr ihres Mannes aus dem Krieg
Auf den Anfang warten
Ein Gespräch mit der Biologin Dr. Anette Gräff
Im Wartesaal: Martina Rieken* wartet auf
die Geburt ihres ersten Kindes
Im Wartesaal: Helmut Pammler wartet
auf seine Freilassung
Wenn das Warten krank macht
Im Wartesaal: Basim Ahmadi* wartet auf
die Bewilligung seines Asylantrags
Warten als himmlische Hoffnung
Was es bedeutet, auf den Messias zu warten, und
warum man dafür angefeindet wird
Vom Warten auf den Tod
Im Wartesaal: Paul Lüdtke* wartet im Hospiz
auf den Tod
Der Auszug aus dem Wartesaal
Anhang
Anmerkungen
Literatur
Quellen
Dank
Über die Autorin
»Alles nimmt ein gutes Ende
für den, der warten kann.«
Lew Tolstoj
Nach dem Unglück in Fukushima wartete ich am Eingang der Japanischen Botschaft, um mich in das Kondolenzbuch einzutragen. Die Sonne schien, und ich saß allein auf der Treppe vor der Botschaft, als um ein paar Minuten vor zwei eine Frau kam. »Sie waren zuerst hier«, sagte sie. »Ja«, sagte ich, »aber das spielt eigentlich keine Rolle.« »Das finde ich ja auch«, sagte die Frau, die grau-weißes Haar und etwas Weitfallendes trug. »Aber viele Leute sehen das mit dem Warten sehr eng.« Sie fügte noch etwas darüber hinzu, dass das Warten bei den Frauen etwas anderes sei als bei den Männern und etwas über Macht. Vielleicht hätte ich ihr besser zuhören sollen, denn Macht und Geschlecht sind zwei wesentliche Kategorien, wenn man über das Warten nachdenkt. Aber ich rätselte noch darüber, was an mir ihr den Eindruck vermittelt haben konnte, dass ich auf einer geordneten Warteschlange aus zwei Personen hätte bestehen können. Inzwischen war es zwei Minuten nach zwei, die Frau sah auf ihre Uhr und wurde sehr unfroh. »Sie wollten doch um zwei öffnen«, sagte sie und guckte zornig auf das Pförtnerhaus der Japanischen Botschaft. Ich hätte sie darauf hinweisen können, dass sie in ihrer Ambivalenz gegenüber dem Warten die Moderne repräsentierte, aber möglicherweise wäre sie dafür unempfänglich gewesen.
Der Ruf des Wartens ist auf den Hund gekommen. Es ist ein Zustand, den wir literarisch verklären und praktisch scheuen wie die Pest. Wir verlieren in Warteschlangen die Fassung und erkennen zugleich in den gelassen Wartenden große Liebende, denen wir zumindest im Kino gern zuschauen. Sieht man sich bei den Russen um, die viel Erfahrung mit dem Warten haben, findet man spätestens ab der Jahrhundertwende Figuren, die darin erstarrt sind wie stehen gebliebene Uhren. Anton Tschechow ist ihr Haupt-Porträtist, und seine Figuren eignen sich weder im Guten noch im Schlechten für Heldengeschichten. Aber wenn man weiter zurückgeht, zur Mythologie und zu den Sagen, findet man die Helden des Wartens. Penelope etwa, die sich zwanzig Jahre in Geduld übte und auf die Rückkehr ihres Mannes Odysseus wartete, oder Barbarossa, der im Kyffhäuser die Wiederkehr seines Reiches abwartet. Es muss diese Treue zu einer Person oder einer Sache sein, die die Menschen fasziniert. Wer freiwillig wartet, strahlt eine Zuversicht aus und eine Freiheit von der steten Furcht, etwas zu verpassen, die den Eiligen abgeht.
Eine alte Frau erzählte mir, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Rückkehr ihres Mannes, eines U-Boot-Kommandanten, wartete, weil sie nicht glauben konnte, dass die Todesnachricht stimmte. Sie ist 91 Jahre alt und erzählte aus Gutwilligkeit, aber eigentlich war all dies viel zu privat für sie, um es einer Fremden anzuvertrauen. Ich glaube, dass sie darin typisch ist für die Wartenden. Denn das Warten und die Hoffnung, die in ihm liegt, sind etwas Intimes und Zartes, und sie nehmen die Menschen ein Stück weit aus ihrer Umgebung und der Gegenwart heraus.
Es gibt selten eine Garantie, dass sich das Warten lohnt, es ist eine wilde und manchmal unbegründete Hoffnung. Der US-Soziologe Leon Festinger hat sich gefragt, um welchen Preis religiöse Gruppen an ihren Endzeit-Erwartungen festhalten, und er war entzückt, als er 1951 in einer Lokalzeitung auf die Annonce einer Hausfrau stieß, die den Untergang der Welt für den 20. 12. des Jahres ankündigte, lediglich eine Gruppe Auserwählter sollte von einem Ufo gerettet werden. Tatsächlich wartete eine kleine Gruppe rund um die sogenannte Mrs. Keech vergeblich am 20. 12. auf jenes Ufo. In diese Leere hinein kündigte eine Frau aus der Gruppe den Tod und die Wiederbelebung des Gatten von Mrs. Keech an, der der Bewegung fernstand und statt auf das Weltende zu warten, im Nebenzimmer schlief. Bei mehrfachen Kontrollen im Schlafzimmer zeigte sich Mr. Keech beharrlich lebendig, woraufhin das Medium, das die Prophezeiung ausgesprochen hatte, schließlich befand, dass Mr. Keech bereits vorher unbemerkt gestorben und ebenso unbemerkt wiederauferstanden sei. Die Forscher dagegen deuteten die Auferstehungsankündigung eher nüchtern als typische Reaktion auf das Ausbleiben des Erwarteten: Je größer die Gefühle und Taten, die man investiert hat, desto dringlicher wird das Festhalten am Erhofften. Es ist leicht, über die ausgebliebene Auferstehung von Mr. Keech zu lachen, aber es ist ja gerade die Zuversicht ohne Gewähr, das Sichanvertrauen, was Religion kostbar macht. Und es geht weit hinaus über das, was Psychologen über die glänzende Karriere von Menschen herausgefunden haben, die als Kinder auf ihre Belohnung warten konnten.
Aber diese Qualität ist aus dem Blick geraten. Heute scheint es, dass nur die Hilflosen warten, die Zaudernden und die Machtlosen. Die Alten in den Pflegeheimen, die auf den Besuch hoffen, der endlich Zeit für sie findet. Der Verlassene, der sich nach der gescheiterten Beziehung nicht schnell genug nach einem neuen Partner umsieht. Der Kassenpatient, der doppelt so lange auf einen Termin beim Facharzt wartet wie der Privatpatient. Warten ist ein Zustand, den das moderne Individuum scheut wie kaum einen anderen, weil er allem entgegen zu stehen scheint, was es sich erkämpft hat: Freiheit, Gleichheit, Selbstverantwortlichkeit.
Man könnte einwenden, dass die Schlange am Postschalter nicht unmittelbar unser Wahlrecht gefährdet und dass die Unfähigkeit zu warten vor allem damit zusammenhängt, dass wir unsere Zeit als knappes Gut empfinden, das wir möglichst effizient einsetzen müssen. Selbst die kürzesten Warte-Momente erscheinen uns gefährlich, wer weiß, wohin die Pause führen könnte. Also tippen wir Nachrichten mit unserem Handy oder zücken die Schöner-Warten-App. Und sollten wir es fatalerweise nicht dabei haben, erwarten uns überall und jederzeit die Infotainment-Bildschirme. Damit wir auch ja keine Minute verlieren in einer Welt, in der die »Echtzeit« längst den Alltag regiert.
Die Franzosen haben ihre Warteräume früher »salle des pas perdus«, den »Saal der verlorenen Schritte« genannt. Die Deutsche Bahn will solche Gedanken nicht aufkommen lassen, sie nennt ihre Warteräume DB Lounge, und der Reisende kann dort mit Wireless-LAN und Laptop-Anschluss seiner Arbeit nachgehen. Die Camouflage des Wartens ist ein eigener Geschäftszweig, in dem Menschen darüber nachdenken, welche Musik in der Telefonwarteschlange die Anrufer am längsten bei der Stange hält, und ob es hilfreich oder abschreckend ist, wenn der Kunde erfährt, wie viele andere vor ihm an der Reihe sein werden. Und je höher der soziale Status, desto weniger wird der Kunde der Zumutung des Wartens ausgesetzt. Sei es die Bahn, seien es die Fluglinien oder Leihwagen-Anbieter: Der Erste-Klasse-Kunde hat seinen eigenen Schalter, an dem weniger Wartende schneller bedient werden. Unsere Zeit ist so kostbar geworden, dass wir viel und hektischen Aufwand betreiben, um sie in jedem Augenblick zu füllen.
Aber es gibt einen zweiten Grund, warum wir das Warten so scheuen: Weil wir eine Ahnung jener Zeiten haben, als es ein Instrument war, um Menschen zu disziplinieren. Schriebe man eine Geschichte des erzwungenen Wartens, müsste man drei Viertel der Kapitel für Frauen reservieren. Man kann die traditionelle Trauerzeit von Frauen aus heutiger Perspektive als Wartezeit verstehen, bis sie sich wieder dem normalen sozialen Leben anschließen durften – und die dauerte wesentlich länger als die der Männer. In Frankreich hatten Edelfrauen beim Tode des Mannes sechs Wochen im Bett zu bleiben, und während Witwer lediglich vier Wochen lang nicht tanzen sollten, war es den Frauen ein Jahr lang verboten. Es hat einen gewissen malerischen Reiz, sich die französischen Edelfrauen trauernd im Bett vorzustellen, die Dauer abgestuft nach Höhe ihres Rangs und dem des Verstorbenen – die Gründe für diese Übergangszeit waren sehr pragmatisch: Man brauchte Zeit, um Erbansprüche zu klären oder neue Ehen in die Wege zu leiten, und bei möglichen Schwangerschaften sollte zweifelsfrei sein, ob der Verstorbene oder ein neuer Partner der Vater war.
Mehrere hundert Jahre später sollten sich Frauen wieder wartend finden, diesmal allerdings in zahlreicher Gesellschaft und in der Öffentlichkeit. Die Warteschlangen vor den Läden des sozialistischen Realismus waren weiblich, so haben es US-amerikanische Soziologen in den achtziger Jahren bei Feldforschungen in Polen festgestellt – nur in denen, wo es um Alkohol und Zeitungen ging, war der Männeranteil von Belang. Immerhin durfte man warten. Noch unter Stalin waren Warteschlangen im öffentlichen Raum verboten, weil das Ausharren der Menschen vom Land vor den städtischen Läden zu Produktionseinbrüchen führte. Sie behalfen sich, indem sie sozusagen undercover warteten. Sie standen in Hofeingängen herum oder blieben vor Bushaltestellen stehen – und hielten doch immer die Wartereihenfolge ein.
Stalin hatte bei seinem Verbot auch die möglicherweise subversive Kraft von Menschenansammlungen in der Öffentlichkeit im Blick – tatsächlich sind aus den wenigsten Warteschlangen Revolutionen hervorgegangen. Im Gegenteil: Gerade hier werden klare Regeln eingehalten, zur Freude der Soziologen, die sich dort einreihten. Da sie im eigenen Land kaum einmal längere Schlangen auftaten, waren es US-amerikanische Wissenschaftler wie der Soziologe Joseph Hraba, der Anfang der achtziger Jahre mit seinen Studenten Hausfrauen in Polen befragte. Er stellte fest, dass Frauen in Schlesien 1981 im Durchschnitt drei Stunden und 37 Minuten mit den täglichen Einkäufen verbrachten. Das Misstrauen gegen die Verkäuferinnen war groß, deshalb gab es selbst organisierte Warteschlangenkommittees, die die Reihenfolge der Wartenden überprüften. Einige der Frauen erklärten, dass sie die Wartezeit als Erholung betrachteten, andere sagten, dass die feineren Taktiken des Schlangestehens wie das »Jockeying« – so nannten die Forscher das Wechseln zwischen Schlangen in unterschiedlichen Geschäften – Spannung in ihr Leben brächten.
Letztendlich aber war das Leben in der Warteschlange verlorene Zeit und ein ziemlich genauer Spiegel der umgebenden Gesellschaft. Immer wieder fanden sich selbst ernannte Chefs der Warteschlangen, die in der Regel mittleren Alters und männlich waren. Es gab Begünstigte, die an den Schlangen vorbei in die Läden geführt wurden. Und es herrschte großer Argwohn gegen diejenigen, die sich in die privilegierten Schlangen einreihen durften: Alte, Behinderte, Schwangere und Mütter mit Kindern, die immer wieder als »ausgeliehen« angefeindet wurden.
Gerade weil das Stehen in einer Schlange Gleichheit suggeriert, reagieren die Menschen so empfindlich auf eine mögliche Verletzung ihrer Rechte. Gleich lange auf das Gleiche zu warten, schafft in einer Gesellschaft Gerechtigkeit, spätestens, wenn es nicht mehr um Bahnfahrkarten geht, sondern um Lebensentscheidendes. Eine Organspende etwa, die Adoption eines Kindes oder die Einbürgerung. Deshalb verweisen Flüchtlingshilfsorganisationen mit Unmut auf die Schnell-Einbürgerungen prominenter Sportler, deswegen wurde die Adoption eines russischen Kindes durch den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder nicht nur wegen seines hohen Alters kritisch beäugt, sondern auch wegen des begründeten oder unbegründeten Verdachts, dass das oft langjährige Verfahren hier relativ zügig abgehandelt worden sein könnte.
Warten ist ein unspektakulärer Zustand, aber die Art, wie man ihn erlebt, ist ein interessanter Indikator für gesellschaftliche und individuelle Verfassungen. Kürzlich wartete ich in einer Mensaschlange, als sich ein schratiger Mann zur Kasse vordrängelte. »Ich war zuerst dran«, sagte ich. »Ich bin Analphabet«, sagte der Schrat. »Ich bin Legastheniker und möchte zahlen«, erwiderte ich voller Zorn. Niemand lachte, ich fühlte mich schuldig und dachte an die Frau vor der Japanischen Botschaft und dann an den Gleichmut Kafkas. Der hat einen der schönsten Sätze der an schönen Sätzen eher armen Warte-Literatur in sein Tagebuch geschrieben: »Ich bin unpünktlich, weil ich die Schmerzen des Wartens nicht fühle. Ich warte wie ein Rind.«
Dieses Buch betrachtet Spielformen gesellschaftlich bestimmten Wartens: die Warteschlangen des Ostblocks, das Trauerjahr der Witwen, das Warten auf den Messias. Es fragt, wie man das Warten auf lebensrettende Organe gerecht organisieren kann. Und ob die Fähigkeit zu warten, und sei es nur eine Minute, Menschen erfolgreicher und vielleicht sogar glücklicher macht.
Daneben gibt es Wartesäle. Dort erzählen Menschen, warum und wie sie warten: auf ein Kind, auf die Freiheit, auf den Tod. Manchmal ist es ein freudiges Warten, manchmal ist es gelassen. Oft aber auch zornig oder verzweifelt. Manchen ist das Vergehen der Zeit, das Warten als solches sehr bewusst, bei anderen ist es versteckt hinter Fragen von Schuld oder Gerechtigkeit. Gemeinsam ist ihnen eines: Ihre Geschichten sind Geschichten von Hoffnungen. Enttäuschten, erfüllten, ungewissen.
»Man kann sagen, dass er die Woche konsumiert
hatte, indem er auf die Wiederkehr derselben
Stunde in sieben Tagen wartete, und warten heißt:
Voraneilen, heißt: Zeit und Gegenwart nicht als
Geschenk, sondern nur als Hindernis empfinden,
ihren Eigenwert verneinen und vernichten und sie im
Geist überspringen. Warten, sagt man, sei langweilig.
Es ist jedoch ebenso wohl oder gar eigentlich kurzweilig,
indem es Zeitmengen verschlingt, ohne sie
um ihrer selbst Willen zu leben oder auszunutzen.
Man könnte sagen, der Nichts-als-Wartende gleicht
einem Fresser, dessen Verdauungsapparat die Speisen,
ohne ihre Nähr- und Nutzwerte zu verarbeiten,
massenhaft durchtriebe. Man könnte weitergehen
und sagen: wie unverdaute Speise ihren Mann nicht
stärker mache, so mache verwartete Zeit nicht älter.
Freilich kommt reines und unvermischtes
Warten praktisch nicht vor.«
Thomas Mann, Der Zauberberg
Warten ist kein dramatischer Zustand, er eignet sich nur begrenzt für Heldengeschichten. Aber als Ausgangspunkt für große Literatur. Dann nämlich, wenn es den Raum für Fragen öffnet, wenn die Figuren innehalten, weil sie eine nicht zu stillende Leere spüren. Es gibt einen Vorläufer dieses existenziellen Wartens, eine sozusagen praktische Variante: Wenn wartende Frauen den Hintergrund für die Abenteuer ihrer Männer bilden. Penelope wartete zwanzig Jahre auf die Rückkehr von Odysseus, aber Homer widmet sich vor allem den Heldentaten und Irrfahrten ihres Mannes. Wartende Liebende sind in der Literatur lange vor allem Inbegriff von Treue, so wie die Greisin in Friedrich Hebbels Erzählung Treue Liebe aus dem Jahr 1828, die zum Leichnam ihres Geliebten gerufen wird, der jahrzehntelang in einem Bergwerk verschüttet gewesen war.
Zu Beginn des 19. und 20. Jahrhunderts betreten andere und aus heutiger Perspektive vielleicht interessantere Wartende die Bühne. Sie sind weniger selbstgewiss, es gibt auch Männer unter ihnen, und es bleibt unklar, worauf sie warten: Flauberts Emma Bovary etwa, die darauf wartet, dass sich die Leerstelle in ihrem Leben füllt – und in ihren Affären keinen Halt findet. Oder die Patienten in Thomas Manns Zauberberg, den man als einzigen großen Wartesaal verstehen kann, als einen Ort, an dem sich Menschen treffen, die in ihren immer gleichen Diskussionen die Ratlosigkeit des beginnenden 20. Jahrhunderts spiegeln.
Einer der eindrücklichsten Chronisten des Wartens ist Anton Tschechow. Seine Figuren sind im Warten auf das eigentliche Leben gefangen. Die drei Schwestern im gleichnamigen Stück etwa erhoffen sich von der Übersiedlung vom Land nach Moskau einen großen Umschwung für ihr Leben, »nach Moskau, nach Moskau«, das ist ihr Sehnsuchtsruf. Warum das Leben in Moskau aber für Olga, Irina und Maša besser sein sollte als das in der Provinzstadt, bleibt ungewiss. Es gibt kein klares Ziel, keinen Mann, der zurückkehren könnte, keinen Erlöser, der kommen soll. Das alltägliche Leben geht weiter, Maša stürzt sich in eine Affäre mit einem verheirateten Mann, Irina nimmt eine Arbeit als Telegraphistin an, und Olga wird Schuldirektorin. Aber wie ein Akkord, der im Hintergrund zu hören ist, bricht die Hoffnung auf Moskau hervor. Während beim Warten die entscheidenden Fragen verhandelt werden: Wie soll man leben? Arbeiten, sagt Irina, Glauben, sagt Maša. Es sind Figuren, die rühren, weil sie ernsthaft um das richtige Leben ringen und zugleich etwas Hilfloses haben wie Kinder beim Topfschlagen.
Die Schauspielerin Victoria Trauttmansdorff hat die Olga in einer Inszenierung am Hamburger Thalia Theater gespielt, sie hat viel Zärtlichkeit für diese Wartenden. »Sie selber haben gar nicht so sehr das Gefühl, zu warten. Das hat eher das Publikum«, sagt sie. Die Zuschauer zu Tschechows Lebzeiten haben oft in den Vorstellungen geweint – zum Ärger des Autors. »Sie sagen, Sie hätten über meine Theaterstücke geweint. Sie sind nicht der einzige«, schrieb er in einem Brief an den Redakteur Alexander Tichonow. »Dazu habe ich sie aber nicht geschrieben. Stanislawski war es, der sie so rührselig gemacht hat. Ich wollte etwas ganz anderes. Ich wollte einfach und ehrlich sagen: schaut euch an, seht doch, wie schlecht und langweilig ihr euer Leben führt!«
Heute, so sagt der Literaturübersetzer Andreas Tretner, würde Tschechow statt über den verarmten Landadel über die prekäre Bohème schreiben, über die unabgeholte Generation, die auf ihre erste Anstellung wartet.
Worauf die drei Schwestern warten, ist abstrakt, aber man könnte es doch benennen als die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben. In Samuel Becketts Warten auf Godot ist klar, worauf die beiden Landstreicher Estragon und Wladimir warten: auf einen Mann namens Godot. Doch tatsächlich erhellend ist das nicht. Denn wer Godot ist und wozu sie ihn treffen sollen, das wissen sie nicht. Sie warten auf diesen Mann, der sie immer wieder versetzt und durch einen Botenjungen mitteilen lässt, dass er noch kommen werde und dann doch nicht kommt.
Es ist interessant, wie unterschiedlich dieses ziellose Warten auf das Publikum wirkt. Für den Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht ist es ein »Spiegel der Nachkriegsgeschichte«, so hat er 2012 in einem Gespräch mit der tageszeitung gesagt: »Das beständige Warten, das Offensein für die Ankunft von etwas, was sich im Leben meiner Generation nie eingestellt hat.« Ganz anders sieht das Andreas Tretner: »Es wird immer gesagt, wie fatalistisch dieses Stück ist«, sagt er. »Ich finde vieles darin sehr heiter.« Warten auf Godot, das ist für ihn vor allem die Freiheit zu tun, was man will: und sei es, sich in ziellose Debatten mit dem Freund zu verstricken, Selbstmorde zu planen und Fremde zu piesacken. Warten bei Tschechow und bei Beckett, das ist vor allem eine Leerstelle – und wie man die empfindet, sagt viel über unser Verhältnis zum Brüchigen und dem, was wir nicht festhalten können.
Gut achtzig Jahre nach Tschechow hat der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin einen Roman mit dem Titel Die Schlange geschrieben, der 1986 in Frankreich veröffentlicht wurde. Es überrascht kaum, dass er damals nicht in der Sowjetunion erschienen ist, denn der Roman spielt im engeren Sinne in einer Warteschlange. Unklar bleibt, worauf die Menschen genau warten, es sind begehrte und zugleich knappe Konsumgüter – letztlich spielt es keine Rolle. Es ist eine ungleich leichtere Stimmung als bei Tschechow, verspielter und gelegentlich satirischer, mit langen Passagen, in denen das Druckbild Kapriolen schlägt, etwa, wenn seitenweise nur Namen aufgelistet sind, während sich die Wartenden in der Schlange ausweisen müssen. »Der Text funktioniert nur, weil die Personen im Warten für anderes freigestellt sind«, sagt Andreas Tretner. Tatsächlich geht es vor allem um ein Paar, das sich beim Warten findet, dann aber wieder trennt und neue Partner findet.
Die Warteschlange als Spielplatz des Lebens, als eine große, verrückte Möglichkeit in einer unfreien Gesellschaft. Jede Zeit hat ihre Form des Wartens, und diese Formen finden sich wieder in der Literatur. Bleibt zu fragen, welche Texte eine Gesellschaft hervorbringt, in der das Warten keine Rolle spielen soll.
Man merkt sofort, dass das Thema sie beschäftigt hat: Mariana Leky muss nicht lange in ihrem Gedächtnis kramen, um sich daran zu erinnern, wie mühselig die Zeit nach dem letzten und vor dem nächsten Buch war. Und sie glorifiziert das Autoren-Dasein keineswegs, im Gegenteil, sie hat einen sehr bodenständigen Blick darauf. Als wir telefonieren, ist gerade ihr vielfach gelobter Roman Die Herrenausstatterin erschienen, ein sehr trauriges und zugleich sehr lustiges Buch über eine junge Witwe, die zwei Schutzengel, ein Feuerwehrmann und der Geist eines Altphilologen, vor dem Absturz in die Verzweiflung bewahren. Trotzdem erinnert sich Mariana Leky gut an die Zeit davor: Wie intensiv sie auf eine Idee gewartet hat – und je dringlicher sie wartete, desto weniger fiel ihr ein. Sie beschönigt nichts, beschreibt es ganz genau. Und sie hat eine heitere Art, sich selbst dabei zuzusehen. »Wie man einem Kind zuschaut, das sich an einer total instabilen Sandburg abarbeitet«, sagt sie. Kein Wunder, dass ihr Sandburgen einfallen, an denen baut sie oft, denn ihr Sohn ist gerade im besten Sandkasten-Alter. Es klingt so, als hätte sie jetzt ein Gefühl für die Mitte gefunden, zwischen dem dringlichen Warten und dem Aus-dem-Blick-Verlieren des Gesuchten: eine schwebende Balance zwischen zu wenig und zu viel Spannung. Aber festhalten lässt sich das nicht.
dir