»Im Universum gibt es Dinge, die bekannt sind,
und Dinge, die unbekannt sind,
und dazwischen gibt es Türen.«
William Blake
Übersetzung: Sabine Elbers
Die deutsche Ausgabe von HOHLE ERDE: ANIMARE wird
herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Übersetzung:
Sabine Elbers; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;
Lektorat: Anika Klüver und Gisela Schell; Satz: Amigo Grafik;
Umschlagillustration: Peter Bergting; Illustrationen Innenteil: Peter Bergting
und Andrew Pinder; Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o.,
CZ-69123 Pohorelice. Printed in the Czech Republic.
Titel der Originalausgabe: HOLLOW EARTH
German translation copyright © 2014 by Amigo Grafik GbR.
Original English language edition copyright
© John Barrowman and Carole E. Barrowman 2012
First published in 2012 by Buster Books,
an imprint of Michael O’Mara Books Limited.
Printausgabe: ISBN 978-3-86425-308-9 · Digitale Ausgabe: ISBN 978-3-86425-327-0
April 2014
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TEIL EINS
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
TEIL ZWEI
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
SECHSUNDDREISSIG
SIEBENUNDDREISSIG
ACHTUNDDREISSIG
NEUNUNDDREISSIG
VIERZIG
TEIL DREI
EINUNDVIERZIG
ZWEIUNDVIERZIG
DREIUNDVIERZIG
VIERUNDVIERZIG
FÜNFUNDVIERZIG
SECHSUNDVIERZIG
SIEBENUNDVIERZIG
ACHTUNDVIERZIG
NEUNUNDVIERZIG
TEIL VIER
FÜNFZIG
EINUNDFÜNFZIG
ZWEIUNDFÜNFZIG
DREIUNDFÜNFZIG
VIERUNDFÜNFZIG
FÜNFUNDFÜNFZIG
SECHSUNDFÜNFZIG
SIEBENUNDFÜNFZIG
ACHTUNDFÜNFZIG
NEUNUNDFÜNFZIG
SECHZIG
EINUNDSECHZIG
ZWEIUNDSECHZIG
DREIUNDSECHZIG
VIERUNDSECHZIG
FÜNFUNDSECHZIG
SECHSUNDSECHZIG
SIEBENUNDSECHZIG
ACHTUNDSECHZIG
NEUNUNDSECHZIG
SIEBZIG
EINUNDSIEBZIG
ZWEIUNDSIEBZIG
DREIUNDSIEBZIG
VIERUNDSIEBZIG
FÜNFUNDSIEBZIG
DANKSAGUNGEN
GLOSSAR
ROMANE BEI CROSS CULT
In Liebe und Dankbarkeit für Clare und Turner,
Kevin und Scott, Marion und John.
Das Kloster Era Mina
Insel Auchinmurn
Westküste Schottlands
Mittelalter
Das Buch, das der alte Mönch illuminierte, begann mit folgenden Worten:
DIESES Buch handelt von der Natur der Fabelwesen.
Betrachtet diese Seiten auf eigene Gefahr.
Der alte Mönch gähnte, sein Kinn sank ihm auf die Brust, und seine Augen fielen zu. Die Schreibfeder glitt aus seinen Fingern und hinterließ eine Spur aus kleinen Tintentropfen, die wie winzige Tränen aussahen, auf dem Pergament. Er war gerade mit der Arbeit an einer der letzten Seiten des Buchs beschäftigt, einer Miniatur eines majestätischen Greifs. Die Klauen der Kreatur krallten sich in den unteren Teil einer beeindruckenden Initiale, die ein G darstellte. Nachdem der alte Mönch eingedöst war, sprang der Greif von seinem Platz in der Ecke der Seite und schoss über den Pergamentbogen. Während seiner hastigen Flucht, streifte das Wesen mit seinen rauen Flügeln die Finger des alten Mönchs.
Der Mönch öffnete die Augen. Sofort schlug er mit der geballten Faust auf den hin und her peitschenden Schweif des Greifs und hielt die Kreatur auf der Seite fest. Er starrte ihn an. Der Greif schnaubte wütend und grub seine Krallen tief in das dünne Pergament. Der Mönch schüttelte seine Müdigkeit ab, konzentrierte sich, und in einem Wirbel aus Farbe und Licht kehrte der Greif nun wieder an seinen angestammten Platz oben auf der Seite zurück und umklammerte das G.
Als der alte Mönch einen Blick hinter sich warf, erspähte er die nackten Füße seines jungen Lehrlings. Sie lugten unter dem Holzrahmen hervor, auf dem die Häute zum Trocknen aufgespannt waren, aus denen neues Pergament entstehen sollte.
Da wird wohl etwas geschehen müssen, dachte der Mönch.
Sobald er sich sicher sein konnte, dass das Bild fest auf der Seite verankert war, bückte sich der alte Mönch, um seine Schreibfeder aufzuheben. Er ärgerte sich über sich selbst. Er würde dafür büßen müssen, dass seine Konzentration auf so schreckliche Weise nachgelassen hatte, und ohne Abendbrot zu Bett gehen. Er tätschelte seinen weichen runden Bauch. Diese Maßnahme würde er wohl überstehen.
Aber – der Junge. Was sollte nun mit dem Jungen geschehen, nachdem er Zeuge dieses Vorfalls geworden war? Der Verlust wäre schmerzlich. Dem alten Mönch war nicht wohl bei dem Gedanken, einen anderen Lehrling ausbilden zu müssen. Ihm fehlte sowohl die Kraft als auch die Motivation für solch eine Aufgabe. Doch es war nicht nur das. Dieser Junge hatte bereits sein großes Talent für die Pergamentherstellung unter Beweis gestellt. Er hatte ein Gefühl dafür, wie lange die Häute in der Kalklösung gebeizt werden mussten und wie man sie vorsichtig reinigte und abschabte. Darüber hinaus war er bereits in seinem jungen Alter ein talentierter Schreiber und erwies sich bei der Farbherstellung als brillanter Alchemist. Nur zu zweit hatten sie in den vergangenen Monaten die letzten Seiten des Buchs der Fabelwesen beinahe fertiggestellt. Der Junge und seine vielfältigen Talente würden ihm fehlen.
Der Junge spürte, dass der alte Mönch gerade über seine Zukunft entschied. Er konnte die schwerwiegenden Gedankengänge des Mönchs in seinem Kopf hören. Es war eine Art Trommeln tief in seinem Verstand. Er brachte dieses Geräusch deshalb mit dem Mönch in Verbindung, weil es am lautesten war, wenn sich der Mönch besonders stark konzentrierte, und es dabei tief und voll und rund klang, ähnlich wie der Mönch selbst.
Die Mutter des Jungen war die einzige andere Person, die der Junge in seinem Kopf wahrnehmen konnte: Das Gefühl war nicht gerade unwillkommen, doch irgendwie merkwürdig. Nicht weil er sie vermisste, ganz im Gegenteil. Seine Mutter und seine Brüder lebten noch immer in dem Dorf vor den Toren der Klosteranlage. Doch das Echo seiner Mutter in seinem Kopf hatte ihm viele Male dabei geholfen, ihrem Zorn zu entkommen, ob er nun berechtigt gewesen war oder nicht. Rasch hob er die Schale und den Stößel auf und beendete seine Arbeit. Die Eisensalze und Eicheln waren nun bereit, für seine nächste Portion Tinte weiterverarbeitet zu werden.
Der alte Mönch richtete sich an seinem Schreibpult auf. Was sollte er tun? Was würde geschehen, wenn er das nächste Mal beim Illuminieren einschlief und nicht rechtzeitig erwachte? Er wagte es nicht, sich die Konsequenzen eines solch schrecklichen Fehlers auszumalen. Nur ein einziges Mal zuvor hatte er so etwas geschehen lassen – mit tragischem Ausgang. Er war ein junger Mann gewesen und noch nicht so gut ausgebildet wie heute. In seinen Albträumen konnte er noch immer die Schreie seines Lehrlings hören. Oh, und da war so viel Blut gewesen.
Nein, wegen des Jungen musste auf jeden Fall etwas unternommen werden.
Er starrte seinen Lehrling quer durch den Arbeitsraum an, auf dieselbe Weise, wie er soeben den Greif angestarrt hatte.
Doch der Junge war mutig und schlau. Ihm war bewusst, dass es sich um einen entscheidenden Augenblick in seinem kurzen Leben handelte. Er liebte alles an dem Kloster und wollte es nicht verlassen. Er mochte den alten Mönch, mit dem er beinahe ein ganzes Jahr lang zusammengearbeitet hatte – seit ihn sein Vater, im Gegenzug für das Recht, sein Vieh auf einem guten Stück Kirchenland außerhalb des Dorfs weiden zu lassen, in die Obhut der Mönche gegeben hatte.
Der Junge wusste, wie viel solch ein Handel für seine Familie bedeutete. Und ihm bedeutete er alles. Dies waren Zeiten, in denen Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen an Wunder und Magie glaubten. Es waren Zeiten, in denen Könige und Königinnen mit mächtigen Kriegsflotten und Armeen, deren Loyalität sie sich mit Land und Ernten und noch größeren Armeen erkauften, um ihre Kronen kämpften. Und es waren Zeiten, in denen Hoffnung und Wohlstand allein davon abhingen, wo man geboren worden war und unter wessen Schutz man stand.
Ja, der Junge wusste nur zu gut, dass er bei dem alten Mönch bleiben musste, damit er weiterhin ein Teil dieses alten heiligen Ordens sein konnte. Also tat er das Einzige, was er in solchen Situationen vermochte. Er stand auf und starrte den alten Mönch ohne zu blinzeln und mit einem großen Maß an Konzentration an.
Der Mönch fixierte ihn weiterhin.
Das Herz des Jungen klopfte laut in seiner Brust. Das Trommeln in seinem Kopf war so laut, dass es sich anfühlte, als würde man seinen Kopf in einen Schraubstock spannen. Er war sich sicher, dass sein Kopf zerspringen würde. Seine Nase begann zu bluten, und das Blut tropfte in die Schale, die er in den Händen hielt. Der Junge konnte erkennen, dass der Schweif des Greifs hinter dem Mönch gegen die Seite peitschte. Doch er hielt seinem Blick stand.
Nach einer Ewigkeit – zumindest war es dem Jungen so vorgekommen – löste sich der Druck, der auf seinem Schädel gelastet hatte, die Gedanken des alten Mönchs hörten auf zu pulsieren, und der Junge glaubte, ein Seufzen in seinem Kopf zu vernehmen. Die Spannung wich aus den Schultern des Mönchs, und er wandte sich ab.
Der Junge atmete erleichtert aus und wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab.
Ah, dachte der Mönch, ich habe weder die Motivation noch die Kraft dazu, mich der Macht zu stellen, die diesem Jungen innewohnt. Etwas anderes wird unternommen werden müssen, um sicherzustellen, dass er die Geheimnisse des Klosters bewahrt.
Er drehte sich um und konzentrierte sich wieder auf die Kreatur.
Erleichtert wandte sich auch der Junge wieder der Schale und seinen Mixturen zu. Als er mit der Herstellung der Tinte fertig war, füllte er das Tintenfass des Mönchs auf und verwahrte den Rest für einen anderen Tag. Dann ging er zu der Ziegenhaut hinüber, die auf dem Holzrahmen aufgespannt war. Vorsichtig fuhr er mit den Fingerspitzen über die Oberfläche und überprüfte, ob die Haut beim Trocknen auch weich und dünn genug wurde, um die Tinte aufzunehmen. Er warf einen erneuten Blick auf den Mönch. Sein Körper war über das hohe Pult gebeugt, seine Schreibfeder tauchte immer wieder ins Tintenfass. Die Konzentration des Mönchs war so stark, dass nichts und niemand zu ihm durchdringen konnte, bis seine Arbeit auf der Seite beendet sein würde – dessen war sich der Junge sicher.
Schon bald wurde es dunkel im Raum, und der Mönch spürte, wie seine Gedanken erneut abschweiften. Er reinigte die Spitze seiner Schreibfeder und legte sie zusammen mit seinen anderen Schreibwerkzeugen in seine Ledermappe. Dann verschloss er das Tintenfass mit einem Wachspfropfen, bevor er die von ihm bearbeitete Seite mit zwei dünnen Schichten Pergament abdeckte. Er hob die Seiten auf und legte sie auf einen Regalboden in dem Schrank neben seinem Schreibpult. Die Ecken beschwerte er mit polierten Steinen. Die anderen Seiten, an denen er in den vergangenen Monaten gearbeitet hatte, waren in gleicher Weise auf den breiten Regalböden des Schranks untergebracht. Morgen würde er damit beginnen, das letzte Tier zu zeichnen. Es war das grässlichste von allen – der Grendel.
Der Mönch verschloss den Schrank und legte den Schlüssel in die Tasche seiner Kutte. Bevor er die Läden schloss, warf er einen Blick durch die breiten Scharten in den dicken Steinwänden. Einen Moment lang war er von dem Anblick einer Eule gefesselt, die gemeinsam mit einem ihrer Jungen von einem nahe gelegenen Ast davonflog. Ein Zeichen, dachte der alte Mönch, mit Sicherheit ein Omen. Ein gutes, so nahm er an.
»Nun ist es Zeit zu beten, und dann sollten du und ich vielleicht besprechen, was noch vor uns liegt.«
»Sehr wohl, Meister.«
Der Junge tat es seinem Meister nach, reinigte seine Werkzeuge, legte sie in ihre weiche Ledermappe und ließ sie an seiner Arbeitsstätte liegen.
Der alte Mönch übergoss das Stück Torf im Kamin mit Wasser und zog sich seinen Pelzmantel über. Währenddessen hob der Junge seine Mütze und seinen Schal vom Boden auf, zog seine Ledersohlen an und folgte seinem Meister zur schweren Eichentür hinüber.
»Solon, du tätest gut daran, zu vergessen, was du vorhin zu sehen glaubtest. Deine jugendliche Fantasie hat dir nur einen Streich gespielt.«
Der Junge trat vor den alten Mönch und hielt die Tür für ihn auf.
»Verzeihung, Meister, aber war es nicht eher ein Streich Eurer Fantasie?«
Die National Gallery
London
Gegenwart
Die zwölfjährigen Zwillinge Matt und Em Calder saßen auf einer harten Holzbank. Im Inneren des Museums war es still, da es noch nicht geöffnet hatte, und die beiden waren unglücklich. Heute Morgen hatte ihre Mum ihnen versprochen, ihre Pläne für diesen drückend heißen Tag in die Tat umzusetzen, und sie konnten sich nicht daran erinnern, dass es Teil der Abmachung gewesen war, sich Bilder ansehen zu müssen.
Sie stellten ihre Rucksäcke vor sich ab und sahen ihre Mum mit finsterer Miene an.
»Benehmt euch bloß«, warnte Sandie. »Lasst es euch nicht einfallen, euch von dieser Bank fortzubewegen. Denkt noch nicht einmal daran. Ich meine es ernst. Ich bin höchstens zehn Minuten weg und befinde mich gleich da drüben.«
Sie zeigte auf den hochgewachsenen blonden Mann im dunklen Anzug, der einen Stapel Bücher im Arm hielt. Der Mann nickte ihnen zu, so wie er es immer tat. Em lächelte höflich, doch Matt wandte sich ab. Er war viel mehr an der Frau interessiert, die einen Handwagen mit einer darauf festgeschnallten Holzkiste, die in etwa die Form und Größe eines Gemäldes hatte, durch den angrenzenden Ausstellungsraum schob. Ein Sicherheitsmitarbeiter des Museums hielt sich dicht bei ihr. Am Aufzug angekommen zog der Sicherheitsmitarbeiter eine Schlüsselkarte über das dafür vorgesehene Gerät. Die Türen öffneten sich. Die Frau gab dem Wachmann mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie seine Hilfe nicht länger benötigte, und schob den Handwagen in die Aufzugskabine. Der Wachmann zog sich zunächst zurück, doch als sich die Türen schlossen, änderte er seine Meinung und steckte den Fuß in die Türöffnung. Dann schlüpfte er zu der Frau und dem Gemälde in die Aufzugskabine.
»Matt! Hörst du mir überhaupt zu?«
Matt sackte auf der Bank zusammen und schob seine Schwester damit an den Rand der Sitzfläche.
»Das ist ein wunderschönes Bild, das ihr euch ansehen könnt, während ihr wartet«, meinte Sandie. »Es ist von Georges Seurat. Er setzte mit dem Pinsel häufig kleine Farbpunkte auf die Leinwand, anstatt mit Pinselstrichen zu arbeiten.«
Die Zwillinge warfen ihr einen finsteren Blick zu. Gleichzeitig.
»Das wissen wir«, sagte Em.
Doch Sandie fuhr unbeirrt fort. »Mir ist klar, dass das hier nicht Teil unserer heutigen Pläne ist, aber ich muss mich um ein paar Sachen kümmern, und zwar mit …« Sie brach mitten im Satz ab und änderte ihre Taktik. »Wie wäre es denn, wenn wir schwimmen gehen, sobald ich hier fertig bin? So wie der Junge auf dem Bild.« Mit diesen Worten schwang sie ihre Ledertasche über die Schulter. »Was sagt ihr? Einverstanden?«
»Einverstanden«, sagte Em, die, zumindest in Situationen wie diesen, stets als Erste zustimmte.
Matt zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen.«
Sie sahen dabei zu, wie ihre Mutter zu dem blonden Mann hinüberging, um sich mit ihm im angrenzenden Ausstellungsraum auf eine ähnliche Bank zu setzen. Der Mann lehnte sich weit zu ihrer Mutter hinüber, als wollte er ihr ein Geheimnis anvertrauen. Daraufhin öffnete Sandie ihr Skizzenbuch, das sie stets bei sich trug, und gab dem Mann ein Blatt Papier, das sie zwischen den Seiten aufbewahrt hatte.
Langweilig.
Em wandte sich wieder dem Bild zu. Sie lehnte sich weit nach vorn und versuchte, mit zusammengekniffenen Augen all die Punkte auszumachen, ohne mit ihrem Hintern die Bank zu verlassen. Währenddessen kippte Matt seinen Rucksack auf dem freien Bereich zwischen ihnen aus – die Stifte, Malkreide und Zeichenkohle, die er immer in einer verbeulten Keksdose mit sich herumtrug, sein iPod, Kopfhörer, zwei Captain America-Comics, eine Auswahl an Schokoriegeln, ein Päckchen Kaugummi, eine leere Cola-Dose und ein Zeichenblock purzelten heraus. Er riss ein Blatt Papier vom Block und reichte Em einen Stift.
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber schwimmen würde doch echt Spaß machen«, sagte er. »Niemand beachtet uns.«
Em nahm den Stift an und sie begannen zu zeichnen.
Bevor sich die Zwillinge versahen, waren sie in dem Bild und planschten gemeinsam mit einem Jungen mit rotem Hut in der Seine. Er sagte, sein Name sei Pierre, und er sprach Französisch mit ihnen. Die Zwillinge verstanden ihn. Er sagte, er habe nur noch ein paar Minuten Zeit, bevor er zurück an die Arbeit müsse.
»Ist das dein Hund?«, fragte Matt Pierre, da er befürchtete, dass der Hund nicht wusste, wo er hin sollte, wenn Pierre zurück zur Arbeit musste. Doch Pierre antwortete nicht auf seine Frage, also beließ Matt es dabei und bespritzte die Männer, die am Ufer lagen, mit Wasser. Doch sie ignorierten ihn.
Matt ließ sich eine Weile lang auf dem Rücken treiben. Er konnte spüren, wie Em neben ihm im Wasser planschte. Er sah in den Himmel hinauf, doch da war keiner, und er glaubte, den Grund dafür zu kennen – aber dann lagen beide plötzlich pudelnass in einer riesigen Pfütze vor dem Bild auf dem Boden der National Gallery. Zwei sehr verärgerte Wachleute kamen eilig auf sie zu, dicht gefolgt von Sandie. Der blonde Mann war verschwunden.
Sandie entschuldigte sich bei den Wachleuten und sammelte schnell die Sachen der Zwillinge ein. »Es tut mir so leid. Sie müssen sich gegenseitig mit ihren Wasserflaschen nass gemacht haben. Es ist aber auch heiß heute.«
Sie warf den Zwillingen einen bösen Blick zu. »Ich habe euch nur um zehn Minuten gebeten. Zehn Minuten!« Sie zog beide auf die Füße. »Oh Gott, ihr habt keine Ahnung, was ihr da gerade angerichtet habt.«
Einem der Wachleute taten die Zwillinge leid, also sagte er ihnen, dass es nicht so schlimm sei, da das Museum ja noch nicht geöffnet habe. Die Angestellten könnten das Wasser noch schnell aufwischen, bevor jemand in den Ausstellungsraum kam. Doch er wollte lieber kein Risiko eingehen, daher eskortierte er die drei nach draußen in die morgendliche Hitze auf dem Trafalgar Square. Eine Putzfrau der National Gallery wurde in den Raum mit den postimpressionistischen Ausstellungsstücken gerufen und wischte das Wasser sogleich auf. Sie musste lächeln. Ihre Jungs hätten wohl viel Schlimmeres angestellt als eine Wasserschlacht, wenn sie sie gelangweilt in dieser Hitze hätte herumsitzen lassen.
Während sie ihren Mopp über dem Putzeimer auswrang, fiel ihr etwas ins Auge, das unter der Bank lag. Sie bückte sich und hob ein gefaltetes Blatt Papier auf, das aus einem Zeichenblock herausgerissen worden war. Es musste wohl von einem der Kinder stammen, denn sie hatte diesen Teil des Museums früher an diesem Morgen bereits gereinigt und war sich sicher, dass ihr nichts entgangen war.
Als sie das Papier auseinanderfaltete, war sie erstaunt, eine deutlich erkennbare Skizze von Eine Badestelle in Asnières vorzufinden. Zwar wirkten die Farbpunkte um den Jungen mit dem roten Hut herum etwas seltsam, die Körperproportionen der Männer, die am Ufer lagen, stimmten nicht ganz, und der kleine braune Hund sah eher wie ein schmutziges Würstchen aus, doch alles in allem handelte es sich um eine recht gute Kopie des Bildes.
Sie schaute sich die Zeichnung noch einmal an. Das Wasser der Seine war mit breiten blauen Strichen im unteren Teil der Seite dargestellt, doch die obere Hälfte des Blattes war vollkommen leer.
Kein Himmel.
Sie nahm ihren Mopp und den Eimer, rollte ihren Putzwagen in Richtung Ausgang und zerknüllte das Blatt Papier. Auf ihrem Weg aus dem Ausstellungsraum warf sie es in einen Mülleimer.
Sie hätte schwören können, ein Platschen gehört zu haben.
Arthur Summers konnte nicht glauben, was er soeben mit angesehen hatte. Während Sandie, die Mutter der Zwillinge, durch den Ausstellungsraum zu ihren Kindern gelaufen war, war er in die entgegengesetzte Richtung davongegangen. Am Aufzug für die Angestellten angekommen zog er seine Schlüsselkarte über das Kartenlesegerät. Die Aufzugstüren öffneten sich sofort, und er sprang hinein. Er drückte drei oder vier Mal auf den Knopf für das dritte Untergeschoss, in der Hoffnung, es würde so schneller gehen.
Sein Puls raste. Er schwitzte unter seinem Hemd, und sein strohblondes Haar fühlte sich feucht an. Er kannte die Zwillinge bereits seit ihrer Geburt. Seine Aufgabe bestand darin, ihre Entwicklung zu überwachen und sicherzustellen, dass die Gesellschaft von der Manifestation ihrer Fähigkeiten erfuhr, bevor es dem Wächterkonzil gelang. Doch er hätte es sich nie träumen lassen, dass sie bereits in so jungen Jahren so starke Fähigkeiten entwickeln würden. Das veränderte einiges.
Er zwängte sich hinaus, noch bevor sich die Aufzugstüren vollständig geöffnet hatten, und eilte auf die großen Türen zu, hinter denen das Rekonstruktionslabor der National Gallery lag. Die meisten Angestellten des Museums nannten dieses Stockwerk »die Leichenhalle«, da es sich um die umgebauten Katakomben handelte, die von der Kirche St. Martin-in-the-Fields aus unter der Charing Cross Road entlangführten. Doch Arthur war schon immer der Meinung gewesen, dass das riesige unterirdische Labor eigentlich eher »Fegefeuer« heißen sollte, denn obwohl es sich um einen Ort handelte, an dem Gemälde zu neuem Leben erweckt wurden, fühlte es sich stets wie eine Strafe an, hier unten zu arbeiten. Unglücklicherweise interessierte es niemanden in der National Gallery, was Arthur dachte, allerdings gelang es ihm wohl deshalb so gut, seine Geheimnisse zu bewahren.
An den Türen zum Labor angekommen, benutzte Arthur abermals seine Schlüsselkarte. Dieses Mal wartete er, bis das Kartenlesegerät aufsprang und einen Fingerabdrucksensor enthüllte. Er wischte seinen Daumen erst noch an seiner Hose ab, bevor er ihn auf das Sensorfeld drückte.
Die Türen öffneten sich zischend, und er trat in eine abgeschlossene gläserne Kammer, eine Luftschleuse, in der er darauf wartete, dass sich die ersten Türen schlossen und die Luft angepasst wurde, bevor sich ein zweites Paar Türen öffnete.
Nachdem sich die ersten Türen geschlossen hatten, erkannte Arthur eine in einen Mantel mit Kapuze gehüllte Gestalt, die von der Treppe in die Schatten des Flurs trat. Als sich das zweite Paar Türen öffnete, schlug Arthurs Herz so schnell, dass er befürchtete zu hyperventilieren.
Er rannte in sein Fegefeuer, hinter ihm schlossen sich die Türen. Die Gestalt würde ihm nicht folgen. Sie konnte nicht. Oder doch?
Das Labor war etwa so groß wie eine Schulsporthalle. Obwohl überall im Raum hochmoderne Gerätschaften standen – tragbare Röntgengeräte, Scanner, Mikroskope, Kopierer und Computer mit riesigen Flachbildschirmen –, lagen auf den Arbeitstischen der Männer und Frauen, die die Gemälde restaurierten und in neuem Glanz erstrahlen ließen, eher traditionelle Werkzeuge wie Farbpinsel und Malpaletten. Mehrere Reihen Staffeleien standen wie Schildwachen an die Wände gelehnt. Während Arthur den Mittelgang entlangging, der den Raum in zwei Teile gliederte, fiel sein Blick auf eine Reihe von Gemälden, die für eine Ausstellung vorbereitet wurden, deren Kurator er war: »Das Grauen in der Kunst«.
Als Arthur nur noch zehn Schritte von seiner Bürotür entfernt war, ging das Licht aus. Er fluchte stumm. Mit zitternden Händen fischte er eine Taschenlampe aus seiner Innentasche und setzte seinen Weg fort, jedoch nicht, ohne sich hin und wieder umzuschauen.
Vor dem letzten Bild im Raum hielt er inne, und sein Atem stockte.
Obwohl das Bild durchaus zum Thema passte, hatte Arthur ganz gewiss nicht Hexe mit Wechselbalg für seine Ausstellung angefordert. Auf dem Bild schaute nur die große pockennarbige Nase der Hexe aus dem Schatten ihrer abgewetzten Wollkapuze hervor. Auf ihrem knochigen Schoß saß ein kleinwüchsiges Dämonenkind mit unförmigem Kopf, Knollennase, bleicher wächserner Haut und Augen, die wie winzige gelbe Murmeln tief in dem fleischigen Gesicht saßen.
Noch mehr als das grausige Thema des Bildes beunruhigte Arthur jedoch die Geschichte desselben. Es wurde mit einer Reihe schrecklicher Todesfälle im Museum in Verbindung gebracht, die sich ereignet hatten, als das Bild im Jahr 1840 zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert worden war. Daher hielt man Hexe mit Wechselbalg für verflucht, und es war seitdem im Lager aufbewahrt worden, damit es niemals wieder an die Öffentlichkeit kam.
Bis jetzt. Wer hatte es hierhergebracht?
Arthur ließ das Licht seiner Taschenlampe über die verschrumpelten Hände der Hexe gleiten und dann hinüber zu der schrecklichen Kreatur auf ihrem Schoß. Als er das Gesicht des Wechselbalgs in den Schein seiner Lampe tauchte, erstarrte er vor Entsetzen. Er wusste, dass er es sich nicht einbildete.
Der kleinwüchsige Dämon grinste ihn an.
Die Zwillinge hatten schon ewig nicht mehr in einem Taxi gesessen – normalerweise fuhren sie immer gemeinsam mit ihrer Mutter mit der U-Bahn. Doch gleich nachdem der Wachmann sie aus der National Gallery hinaus auf den Trafalgar Square eskortiert hatte, scheuchte Sandie sie in ein Taxi. Sie nannte dem Fahrer ihre Adresse und nahm den Zwillingen gegenüber auf einem der Klappsitze Platz. Sie war so wütend auf sie, dass ihr fast die Worte fehlten.
»Anschnallen. Sofort.
»Warum regst du dich so auf?«, fragte Matt. »Wir haben doch nichts Falsches getan.«
»Ihr kennt die Regeln! Ihr wisst, dass das, was ihr getan habt, gefährlich war.«
»Das sind deine Regeln, nicht unsere!«, schrie Matt.
»Es tut uns leid, Mum. Wir wollten nicht, dass du böse auf uns bist«, warf Em ein, bevor sich die beiden noch richtig in die Haare kriegten. Matt und ihre Mutter schienen sich in letzter Zeit immer öfter zu streiten, seit ihr Vater einen weiteren ihrer Geburtstage ohne Anruf oder E-Mail hatte verstreichen lassen. Mit jedem weiteren Jahr, das verging, war Matt mehr davon überzeugt, dass ihre Mum ihren Dad vertrieben hatte. Em konnte sich kaum daran erinnern, wie ihr Dad aussah. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt vermisste.
»Ehrlich, Mum«, fuhr Em fort. »Wir sind nicht dumm. Wir wissen, dass wir in der Öffentlichkeit nicht malen sollen. Aber uns war so heiß. Wir machen es bestimmt nicht wieder. Versprochen.«
Sandie seufzte. Manchmal verlor sie vor lauter Angst die Kontrolle. Sie tätschelte Ems Bein. »Ich weiß, dass ihr nicht dumm seid. Ganz im Gegenteil.« Sie wollte durch Matts Haar streicheln, doch er lehnte sich zurück und ließ sich gegen die Sitzlehne sinken. »Es ist nur so, dass ihr älter werdet und die Dinge komplizierter werden …«
»Uns war heiß, und wir wollten schwimmen gehen«, schnauzte Matt. »Und du hast uns versprochen, dass keine weiteren Geschäftstermine anstehen. Zwei Tage hintereinander hast du uns in dieses blöde Museum geschleppt.«
Sandie lehnte sich vor, Angst schnürte ihren Magen nur noch weiter zusammen. »Willst du mir etwa sagen, dass ihr wusstet, dass ihr euch in das Bild versetzen würdet?« Sie wandte sich an Em. »Bitte sagt mir, dass ihr das nicht schon einmal getan habt.«
Sag jetzt bloß nichts, Em.
Em zögerte, als sie Matts Worte in ihrem Kopf vernahm. »Wir wussten nicht, dass wir das tun können – bis es gestern bei einem anderen Bild passierte«, sagte sie schließlich.
Sämtliche Farbe wich aus Sandies Gesicht. Die Dinge standen schlechter, als sie angenommen hatte. Viel schlechter. »Welches Bild?«
Sei still, Em!
»Ein Bild … mit römischen Ruinen. Es war leicht abzumalen.« Als sie die plötzliche Panik in den Augen ihrer Mum erkannte, platzte sie hervor: »Niemand hat uns gesehen. Ehrlich. Wir waren vorsichtig, Mum. Ich schwöre es.«
Halt den Mund, Em, oder ich verpass dir eine.
Ich lüge nicht gerne … und du schaffst es sowieso nicht, mich zu hauen, selbst wenn du’s versuchen würdest.
Em schleuderte ihren Rucksack gegen Matts Brust. Er schrie auf, lehnte sich über den Sitz und zahlte es seiner Schwester heim.
»Emily Anne Calder! Was in aller Welt sollte das?«
Nicht zum ersten Mal spürte Sandie, dass zwischen ihrem Sohn und ihrer Tochter etwas Seltsames vorging. Sie wusste, dass Zwillinge auf eine Weise miteinander verbunden waren, die die Wissenschaft gerade erst zu verstehen begann – Matt konnte spüren, wenn Em traurig war, Em war in der Lage, zu erkennen, wenn Matt wütend oder verletzt war. Und sie wusste, dass Zwillinge oftmals auf einzigartige Weise miteinander kommunizieren konnten. Doch wenn man bedachte, wessen Kinder die Zwillinge waren und was aus ihnen werden würde, begann sie langsam zu befürchten, dass hier etwas sehr viel Bedeutsameres im Gange war.
Sandie nahm ihrer Tochter den Rucksack ab und legte ihn auf ihren eigenen Schoß. Sie musste nachdenken. Sie brauchte Zeit zum Planen. »Wir unterhalten uns morgen darüber, wenn wir nach Hause kommen.«
Matt fingerte an seinen Kopfhörern herum und drehte die Musik auf. Em tat es ihm nach.
Sandie lehnte ihren Kopf gegen die kühle Scheibe des Taxis. Am Eingang des St. James’s Parks beobachtete sie eine Familie, die an der Fußgängerampel wartete. Eine Mutter schob ihr Baby im Kinderwagen vor sich her, ein Vater hielt ein Kleinkind an der Hand.
Alles war so viel leichter, als sie noch meine Hände hielten, dachte sie.
Nicht zum letzten Mal an diesem Tag fragte sich Sandie, ob ihre Kinder sich zu etwas entwickeln würden, das sie nicht kontrollieren konnte – eine Prophezeiung, die der Großvater der Kinder, Renard, Sandie bereits an dem Tag gemacht hatte, an dem sie ihre kleinen Zwillinge gepackt hatte und um ihr Leben gerannt war.
Arthur floh vor dem grinsenden Dämon. Ihm blieb nicht viel Zeit. Jemand anders hatte bemerkt, dass es Arthur nicht gelungen war, die Zwillinge und ihre erwachenden Kräfte im Auge zu behalten – und nun würde die Gesellschaft wissen, dass Arthur entbehrlich war. Er wusste zu viel. Er hatte zu viel getan. An seiner Bürotür angekommen tastete er nach seiner Schlüsselkarte und ließ sie fallen. Als er sich danach bückte, hörte er tapsende Schritte im Labor hinter sich. Er griff nach der Karte und öffnete seine Bürotür. Dann schlug er sie schnell hinter sich zu und verriegelte sie. Er lehnte sich gegen das kalte Metall und versuchte, sich zu beruhigen.
Die Geräusche im Labor wurden nun lauter und es klang, als würde jemand über die Tische hüpfen.
»Du hast Zeit. Du hast Zeit«, sagte Arthur zu sich selbst. Seine Nerven lagen blank, und es fiel ihm schwer, seine Angst im Zaum zu halten. Sandie konnte weder kontrollieren noch ändern, was die Zukunft für die Zwillinge bereithielt, und doch war er traurig darüber, dass er Sandie nicht auf das vorbereiten konnte, was vor ihr lag. Er hatte sie über die Jahre schätzen gelernt. Trotz der Art ihrer gemeinsamen Arbeit, waren sie ein gutes Team gewesen. Er wusste, dass sie ihm vertraute – jedenfalls so weit, wie jemand seinem Gefängniswärter vertrauen konnte.
Arthur seufzte. Sandie Calder hätte ihm besser nicht vertrauen sollen.
Er war solch ein Narr gewesen. Warum hatte er nur angenommen, dass die Pläne der Gesellschaft ohne den Einsatz weiterer Gewalt vonstattengehen würden? Arthur war nicht mehr als ein Bauer in einem mörderischen Schachspiel, das bereits seit Jahrhunderten im Gange war.
Während er an seinem überladenen Schreibtisch saß und das Gesicht in den Händen verbarg, geschah etwas Wunderbares mit Arthur. Er empfand ein wenig Mitleid und brachte gerade genug Mut auf, um Sandie von ihren Ketten zu befreien.
Es war an der Zeit, der Gesellschaft der Hohlen Erde seine Gefolgschaft aufzukündigen und stattdessen Sir Charles und dem Wächterkonzil die Entscheidung bezüglich der Zukunft der Zwillinge zu überlassen.
Er nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer. Ein paar Augenblicke später tippte er einen Code ein und legte auf. Nur wenige Sekunden verstrichen bis sein Telefon klingelte. Beinahe rutschte der Hörer aus seinen klammen Fingern, als er danach griff.
»Was ist passiert, Arthur?«
»Sir Charles, es geht um die Zwillinge. Sie … Sie haben sich selbst in ein Bild versetzt. So was habe ich noch nie zuvor gesehen. Mir war klar, dass es möglich ist, aber es zum ersten Mal mitzuerleben, war ein ziemlicher Schock. In einem Moment saßen sie noch auf der Bank und malten, und im nächsten Moment waren sie …«
»Arthur, ich bin ein Wächter. Ich weiß, wie eine Animation aussieht.«
Einen Herzschlag lang war es still in der Leitung, gerade lange genug, dass Arthur ein Trippeln vor seiner Tür hören konnte.
»Ich danke Ihnen, Arthur«, sagte Sir Charles Wren. »Von jetzt an wird sich das Konzil um die Zwillinge kümmern. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir das bereits vor Jahren getan.«
Arthur legte auf. Er war immer noch angespannt, aber sein Gewissen hatte sich beruhigt. Selbst wenn das Wächterkonzil entscheiden würde, die Kinder zu bannen, hoffte Arthur, dass es noch warten konnte, bis die Kinder sechzehn und damit volljährig sein würden. Er hoffte, dass er den Zwillingen und Sandie wenigstens etwas mehr Zeit hatte verschaffen können. Jetzt stand nur noch ein weiterer Anruf an.
Arthur griff erneut nach dem Telefon, als es plötzlich klingelte. Erschrocken stieß er den Hörer vom Schreibtisch. Als er sich hinunterbeugte, um ihn aufzuheben, sah er durch den Türschlitz hindurch einen Schatten.
»Weiß Sandie von den Plänen der Gesellschaft für die Zwillinge?«
Es war nicht Sir Charles.
»Ich glaube … Ich glaube nicht«, sagte Arthur leise.
»Gut. Gut. Oh, und Arthur?«
»Ja?«
»Öffnen Sie auf keinen Fall Ihre Bürotür.«
Das Taxi bog in Richtung Raphael Terrace ab, eine schmale Straße an der Spitze von Knightsbridge, wo sich die Häuser noch immer mit stiller Würde an ihre reiche Vergangenheit klammerten, auch wenn die Farbe von den Fassaden abblätterte und die Dächer undicht waren. Sandie und die Zwillinge stiegen vor einem dreigeschossigen Haus im viktorianischen Stil aus, das seit den Achtzehnhundertfünfzigern das Zuhause der Familie Kitten gewesen war. In den Neunzehnhundertsechzigern hatten die Kitten-Schwestern Violet und Anthea ihr Anwesen in ein Zuhause für moderne Künstler umgestaltet. Die oberste Etage, die bereits vor Jahren in eine Wohnung umgewandelt worden war, hatten sie an Sandie vermietet, als diese mit den Zwillingen in London angekommen war.
Violet und Anthea trugen gerade ihre Einkäufe durchs Treppenhaus, als die Zwillinge durch die Eingangstür stürmten, also halfen sie den beiden Damen mit ihren Einkaufstaschen. Auf diese Weise hofften sie, weitere wütende Vorhaltungen ihrer Mutter aufschieben oder vielleicht sogar ganz vermeiden zu können.
Sandies Handy klingelte. Sie eilte die Stufen hinauf und nahm den Anruf entgegen, während sie die Wohnungstür aufschloss.
»Sie sind hinter euch her«, sagte Arthur ohne jegliches Vorgeplänkel.
Sandie stützte sich hilfesuchend an der Wand ab. »Das Wächterkonzil? Aber sie können sie jetzt noch nicht holen. Sie sind noch zu jung. Sir Charles hat mir versprochen, sie mir nicht wegzunehmen, wenn ich nach London komme und ich … ich …«
Die Stimmen der Zwillinge drangen von unten zu ihr herauf. Sie konnte nicht riskieren, dass sie ihr Gespräch mit anhörten und erfuhren, auf welche Weise sie sie all die Jahre lang beschützt hatte. »Matt und Em wussten nicht, was sie taten, Arthur«, flüsterte sie stattdessen. »Ehrlich, sie wussten es nicht. Wie viel Zeit bleibt uns noch?«
»Nicht genug. Nicht genug. Es tut mir so leid, Sandie. Alles.«
Sandie klappte ihr Handy zu und blieb wie angewurzelt stehen. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie liebte diese Wohnung und wollte nicht weg von hier. Aber sie hatte bereits monatelang versucht, gewisse Anzeichen dafür zu ignorieren, dass dieser Tag kommen würde – und nun war er da.
Falls das Konzil die Zwillinge zuerst in die Finger bekam, würden sie mit Sicherheit dafür stimmen, ihre Kräfte zu bannen. So schrecklich diese Vorstellung auch war, gab es doch noch Schlimmeres, das ihren Kindern widerfahren konnte. Sie hatte Gerüchte gehört, dass die Gesellschaft der Hohlen Erde erneut aus ihrem dunklen Versteck hervorgekommen war.
Ihr fiel nur eine einzige Maßnahme ein, die sie ergreifen konnte. Aber zuerst musste sie die Zwillinge in Sicherheit bringen.
Sie führte ein kurzes Telefonat und warf dann einen Blick auf die Uhr. Sie konnten in zehn Minuten hier raus sein, das hatte sie geübt. Sie hoffte nur, dass die Zeit reichte.
Mit schnellen Schritten betrat sie ihr Schlafzimmer und holte einen Koffer unter dem Bett hervor. Eilig öffnete sie den Reißverschluss, um zu überprüfen, ob alles darin war, was sie benötigte. Sie warf noch ein paar weitere Bücher dazu und holte ihre Hygieneartikel aus dem Badezimmer. Ihr Skizzenbuch lag auf ihrem Nachttisch, also verstaute sie es in ihrer Tasche. Dann schob sie den Koffer ins Wohnzimmer, gerade als die Zwillinge mit Sandwiches in den Händen und gefolgt von Violet die Wohnung betraten.
Noch sieben Minuten.
Von der Tür aus starrte Matt seine Mum erschrocken an. »Du kannst uns nicht auch noch verlassen!«
Em raste durchs Zimmer, schlang ihre Arme um Sandies Hüften und fing an zu weinen. »Mum, wir werden nie wieder zeichnen. Ich verspreche es. Wir versprechen es. Ist es nicht so, Matt?«
Sandie ließ den Koffer los und nahm beide Kinder in den Arm. »Ich verlasse euch nicht. Niemals.« Ein paar Herzschläge später, löste sie sich aus der Umarmung und warf einen erneuten Blick auf die Uhr.
Sechs Minuten.
»Aber wir müssen los. Jetzt sofort. Ich werde euch bald alles erklären, aber jetzt müsst ihr eure Reiserucksäcke holen.«
»Aber wo gehen wir denn hin?«, fragte Em schniefend.
Sandie sah zu Violet hinüber, deren unordentliche äußere Erscheinung dafür sorgte, dass man ihr ihre mehr als sechzig Lebensjahre ansah. »Sie kommen, Violet.«
Auf der Straße vor der Wohnung quietschten Reifen, und Türen wurden zugeschlagen. Die Zwillinge rannten ans Fenster.
Violet drückte Sandies Hand. »Sagt uns Bescheid, wenn ihr in Sicherheit seid. Anthea und ich senden euch alles nach. Nimm unser Auto. Verschwindet durch den Garten.« Sie fischte einen Schlüsselbund aus der Tasche ihrer Strickjacke und gab ihn Sandie.
»Warte«, sagte Sandie und rannte zurück in ihr Schlafzimmer. Als sie zurückkam, hielt sie einen Aluminiumzylinder in der Hand, in dem Künstler für gewöhnlich ungerahmte Bilder verstauten, und gab ihn Violet.
Violet hob instinktiv die Hand an den Mund und keuchte. »Ist das …«
Em und Matt wandten sich vom Fenster ab und beobachteten, wie Violet den Zylinder entgegennahm, als enthielte er Sprengstoff.
»Selbstverständlich nicht«, antwortete Sandie. »Aber ich will, dass sie es denken. Benutze ihn, um sie aufzuhalten, aber falls sie ihn dir abnehmen, lass es nicht so aussehen, als hättest du ihn ihnen kampflos überlassen.«
Violet klemmte sich den Zylinder unter den Arm. »Das schaffe ich schon, Liebes. Nun bringt euch in Sicherheit. Wir werden sie so lange wie möglich aufhalten.«
»Danke.« Die beiden Frauen umarmten sich. »Für alles, Vi. Ohne dich und Anthea hätten wir es hier niemals geschafft.« Sandie sah auf die Küchenuhr. Noch fünf Minuten.
Durch das Fenster erkannten Matt und Em einen Mann in dunkler Jeans, einem Hemd mit weißem Kragen und dunkler Sonnenbrille, der den Verkehr auf der Straße anhielt. Währenddessen öffnete eine Frau mit kurzem blondem Haar und einem leuchtend roten Kleid, die etwa so alt wie ihre Mutter sein musste, die hintere Wagentür für einen weiteren Mann. Er war älter, und an seinem Verhalten konnte man ablesen, dass er das Kommando hatte. Während er aus dem Wagen stieg und sich offensichtlich mit der Frau stritt, drehte er sich um und starrte zu den Fenstern der Wohnung hinauf. Matt und Em duckten sich instinktiv und stießen beide einen Schrei aus.
Hast du das gespürt?
Matt fuhr mit der Hand über seine Stirn. Als hätte jemand in mein Gehirn gekniffen.
Wer sind die?
Keine Ahnung.
Sandie stellte ihre Rucksäcke vor die Wohnungstür.
»Warum müssen wir verschwinden?«, verlangte Matt zu wissen.
»Wer sind diese Leute?«, fragte Em, die noch immer nach draußen schaute.
Warum war immer alles so schwierig? Sandie seufzte und schwang sich ihre Tasche über die Schulter. Die wahrheitsgemäßen Antworten auf ihre Fragen waren beängstigend. Aber besonders für Matt war es wohl schlimmer, eine Mum mit Geheimnissen zu haben, als zu wissen, was tatsächlich vor sich ging. Sandie war vollkommen erschöpft und brauchte wirklich ihre Mithilfe. Sie hoffte, dass Angst beide motivieren würde.
»Wir müssen deshalb verschwinden, weil diese Leute nicht gekommen sind, um uns zu besuchen. Sie sind gekommen, um euch wehzutun.«
Em wirkte vollkommen entsetzt. Matt starrte seine Mum an. Wieder etwas, das sie sich ausdachte, um ihn dazu zu bringen, etwas zu tun, was er nicht tun wollte.
»Em, Matt – sofort. Wir müssen Vis und Antheas Auto erreichen, bevor die Typen ins Haus kommen.«
Die Zwillinge drehten sich wieder zum Fenster um und beobachteten, wie die beiden Männer und die Frau die Stufen vor dem Haus hinaufstiegen. Sandie fasste sie an den Armen und zog sie vom Fenster weg. Matt wand sich aus ihrem Griff und rannte zurück.
Noch drei Minuten.
»Em, hol deinen Rucksack. Bitte.« Sandie trat vor Matt und flehte: »Ich weiß, dass du in letzter Zeit wegen einer Menge Dinge sauer auf mich bist, aber damit können wir uns jetzt nicht beschäftigen, Matt. Ein paar äußerst gefährliche Leute sind auf dem Weg hierher, und ich habe keine Zeit, dir zu erklären, warum, aber wir müssen weg von hier.«
Matt hatte seine Mutter nur selten weinen gesehen. Eigentlich weinte sie nur, wenn sie sich einen wirklich traurigen Film anschaute oder ein Bild betrachtete, an dem sie gerade arbeitete. Allerdings konnte er sich nicht daran erinnern, sie jemals zum Weinen gebracht zu haben. Er war sauer auf sie – damit hatte sie recht –, aber er wollte nicht, dass sie seinetwegen traurig war. Nicht wirklich. Als er sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, durchströmte ihn plötzlich ein seltsames Gefühl, das mit einer Art Trommeln in seinem Kopf einherging und ihm versicherte, dass sie ihm die Wahrheit sagte. Sie schwebten tatsächlich in Gefahr.
»Hat es etwas mit unserer Malerei zu tun?«
»Ja«, antwortete sie und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, »und ich verspreche, dir mehr zu erklären, sobald wir in Sicherheit sind. Aber bitte, bitte sei jetzt ein lieber Junge und tu nur dieses eine Mal, was ich dir sage, ohne mit mir zu streiten.«
Noch eine Minute.
Die Türglocke an der Eingangstür läutete.
Arthur knallte den Hörer auf die Gabel und sprang hinter seinem Schreibtisch auf. Er ging zur Tür und lauschte. Im Labor war es seltsam still, doch Arthur ließ sich nicht täuschen und wusste, dass dies nur die Ruhe vor dem schrecklichen Sturm war.
Eilig schloss er einen Aktenschrank hinter seinem Schreibtisch auf und zog eine flache Holzkiste heraus, die etwa die Größe eines Laptops hatte. Er erschauderte, als er den Deckel öffnete. Darin lag ein vom Alter verwittertes Blatt Papier, das aus einem Skizzenbuch herausgerissen worden war. Die Zeichnung darauf bestand aus sich überlappenden Wirbeln in Gelb-, Schwarz- und Grüntönen. In der Mitte klaffte ein düsteres Loch, das wie der Eingang zu einer Höhle aussah.
Das kratzende Geräusch an seiner Tür war wieder zu hören. Es klang, als würden sich winzige Krallen in den Metallrahmen bohren. Arthur wischte sich mit seinem Taschentuch über die Stirn und dachte an Sandie. Auf seine ganz eigene Weise, hatte er gelernt, sie wie eine Tochter zu lieben, und die Gesellschaft zu verraten, damit sie entkommen konnte, war das Mindeste, das er tun konnte. Er nahm die Zeichnung aus der Kiste und drehte sie um. Dann fuhr er mit den Fingern über die Inschrift, die mit Tinte auf der Rückseite stand.
An unsere Söhne und Töchter.
Möget ihr niemals vergessen, dass die Fantasie
die Wahrheit und die Ewigkeit ist.
Dies ist die Hohle Erde.
Duncan Fox, Edinburgh 1848
Arthur legte die Zeichnung zurück in die Kiste und schloss den Deckel. Er dachte nicht zu lange über seine Entscheidung nach, riss ein Blatt von dem Notizblock auf seinem Schreibtisch und begann zu schreiben:
Lieber Matt, liebe Em,
Ein hoher durchdringender Schrei ertönte aus dem noch immer verlassenen Labor. Zutiefst erschrocken beobachtete Arthur, wie die Ecken seiner Bürotür zu gleißendem Licht zerschmolzen. Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren, schrieb die Notiz zu Ende, zog einen großen gepolsterten Umschlag aus seiner Schreibtischschublade und steckte sowohl die Notiz als auch die Holzkiste mit der Zeichnung darin hinein.
Die Umrisse seiner Tür glühten nun vor Hitze. Durch die Schlitze zwischen Tür und Rahmen erkannte er die Umrisse der mönchartigen Person mit Kapuze, die er bereits im Flur gesehen hatte. Er schnappte sich einen Paketschein, füllte ihn aus und zwängte den Umschlag in die Vakuumröhre, die durch das gesamte Gebäude verlief und in der hauseigenen Poststation endete.
Arthurs Bürotür war nun nur noch eine silberne Pfütze auf dem Fußboden. Die hochgewachsene Person verstaute einen Zeichenblock in einem der weiten Ärmel ihrer Robe und betrat Arthurs Büro.
»Ich hatte nicht angenommen, dass Sie allein kommen würden«, sagte Arthur.
»Ich bin nicht allein.«
Etwas huschte durch die Türöffnung, raste zwischen den Beinen der Person mit der Kapuze hindurch und schoss unter Arthurs Schreibtisch. Arthur schaute noch gerade rechtzeitig nach unten, um zu sehen, wie der grinsende Dämon aus dem Bild mit seinen nadelspitzen Zähnen durch sein Hosenbein biss.
Der Wechselbalg bearbeitete Arthur eine ganze Zeit lang und erreichte schließlich die Oberfläche seines Schreibtischs, wo er die Überreste von Arthurs Morgenkaffee umstieß. Die Flüssigkeit ergoss sich wie dunkle Tränen über die Tischplatte.
Der Anführer der Gruppe ging vor dem Haus der Kittens auf und ab und läutete erneut. Es bestand kein Grund zur Eile. Noch nicht. Er konnte spüren, dass sich die Kinder noch in der oberen Etage aufhielten. Und obwohl Sandie schwieriger aufzuspüren war, konnte er sich doch sicher sein, dass sie sich in der Nähe der Zwillinge aufhalten würde.
Oben ließen Matt und Em, bepackt mit ihren Rucksäcken, einen letzten Blick durch die Wohnung schweifen.
»Wir können nicht mehr mitnehmen«, machte Sandie deutlich, schloss eine staubige Tür im oberen Flur auf und winkte die Kinder zu sich. »Wir müssen los!«
Die drei rannten durch das alte Angestelltentreppenhaus im hinteren Teil des Gebäudes. Die Zwillinge waren dicht hinter ihr, als Sandie die Terrassentür aufstieß, die in den Garten führte – und sogleich mit dem Mann mit der Sonnenbrille zusammenstieß, der hinter das Haus geschickt worden war, um dort Wache zu halten.
Sandies Schwung verschaffte ihr bei dem Zusammenstoß einen Vorteil. Beide krachten gegen die Gartenmauer. Der Mann stieß sich den Kopf an den Backsteinen, als Sandie auf ihm landete, die zwar außer Atem, aber unverletzt war.
»Lauft zurück in die Wohnung!«, schrie Sandie den Zwillingen zu.
Dieses Mal zögerten die beiden nicht. Sie rannten so schnell sie konnten durch das Angestelltentreppenhaus wieder hinauf. Panisch und voller Adrenalin folgte Sandie ihren Kindern. Sie konnte Violet und Anthea im unteren Teil des Treppenhauses rufen hören, dass sie die Türe nicht öffnen würden und die Polizei bereits auf dem Weg sei.
Sandie schloss die Wohnungstür hinter ihnen ab, lief in die Küche und wischte alle Utensilien von einem ihrer Arbeitstische. Farben und Pinsel fielen zu Boden. Sie kletterte auf den Tisch, stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich, um eines der Dachfenster zu öffnen.
Doch sie kam nicht an den Fensterhebel.
»Matt, Em – bringt mir einen Stuhl.«
Unten hörten sie Glas zerbrechen, Holz zersplittern und mehr Geschrei von Anthea und Violet.
»Mum, ich glaube, sie tun Tante Violet und Tante Anthea weh«, schluchzte Em.
»Ihnen geht es gut, Süße«, versicherte Sandie ihr und bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Vi und Anthea können einiges aushalten.«