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Hier im Regen

Der Autor dankt der Fachstelle Kultur des Kantons Zürich,
dem Stuttgarter Schriftstellerhaus und den Autören.

© 2009 Jung und Jung, Salzburg und Wien
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg
Druck: CPI Moravia Books, Pohorelice
ISBN 978-3-902497-50-5

LORENZ
LANGENEGGER

Hier im Regen

Roman

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Für Nina

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Eines Tages, unschlüssig, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte, beschloss ich, einige Stunden in der Gare de Lyon zu verbringen.

Emmanuel Bove, Meine Freunde

I

Wenn Jakob Walter erwacht, ist um ihn herum erst einmal nichts. Die ersten Sekunden des Tages, in denen die einen den Schattengestalten ihrer Träume begegnen, andere im Kopf bereits Unerledigtes auflisten und ihr Tagwerk vorbereiten, braucht Walter, um sich im Schlafzimmer seiner eigenen Wohnung zurechtzufinden. Es ist ihm, als ob er jeden Tag zum ersten Mal in diesem Doppelbett neben Edith erwachen würde. Stück für Stück setzt er die altbekannte Welt zusammen. Die Hand seiner Frau greift über ihn hinweg und stellt das Klingeln des Weckers ab. Sie steigt aus dem Bett, fast nackt, aber noch ganz ohne Bewusstsein für ihren Körper. Das Licht im Flur geht an und wirft einen ersten Fleck von Tag durch die offene Tür aufs Bett. Walter schlägt die Decke zurück und setzt sich auf. Seine müden Augen mustern die wenigen Gegenstände des Schlafzimmers und ordnen sie ein in den neuen Morgen. Die ebenmäßig weiße Schiebetür von Ediths Kleiderschrank bietet seinen Augen keinen Halt. Aus der Decke ragen drei Drähte, da wo eine Lampe hingehört. In der Ecke neben dem Fenster steht der Stuhl mit seinen Kleidern.

Es ist Freitag, ein weiterer gewöhnlicher Tag in seinem Leben, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass er sich auf Überraschungen gefasst machen müsste. Er will schon aufstehen, den Schlaf in Gestalt der im Bett gespeicherten Wärme hinter sich lassen und den Tag beginnen, als ihm eine Ungewöhnlichkeit ins Auge sticht. Auf dem Stuhl mit seinen Kleidern liegt ein fremdes Kleidungsstück. Nie hat er einen Pullover mit einem solchen Muster getragen, und doch weiß er mit Sicherheit, dass niemand außer ihm Kleider auf diesen Stuhl ablegt. Edith hängt ihre ordentlich in den Schrank. Walter steht auf und indem er sich dem Stuhl nähert, erkennt er, dass er am gestrigen Abend beim Überstreifen des Pullovers einen Ärmel verdreht hat und dieser nun aus dem Halsausschnitt hervorschaut. Die Rückseite des Ärmels hat ihn getäuscht. Er dreht den Ärmel um und legt den Pullover zurück auf den Stuhl. Er ist froh, dass sich das Rätsel um den fremden Pullover so schnell geklärt hat, nicht auszudenken, was ein fremder Pullover auf seinem Stuhl hätte auslösen können. Er hätte Edith bezichtigt, dass sie in irgendeiner Form mit fremden Männerpullovern zu schaffen habe. Sie hätte ihm heftig widersprochen und er hätte ihr glauben müssen, weil es keine schlechtere Lügnerin als Edith gibt. Das aber hätte zur Folge, dass es eine Verbindung zwischen ihm und dem Pullover gäbe, weil sich außer Edith und ihm noch nie eine Drittperson in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer der Kleider entledigt hat. Walter bricht das Gedankenspiel ab. Er mag sich nicht ausmalen, was es bedeuten würde, wenn er der Integrität und Einheit seiner Person nicht mehr trauen könnte. Gestern schon hat er sich den ganzen Abend mit einer unangenehmen Frage herumgeschlagen, erinnert er sich, heute will er unbeschwert zur Arbeit gehen.

Mit der Erinnerung an die unangenehme Frage stellt sich selbige aber auch schon wieder ein, ganz von selbst, er kann es nicht verhindern. Ich weiß es nicht, möchte er rufen, keine Ahnung, weshalb ich in dieser Stadt lebe, stattdessen zieht er sein Pyjama aus. Entblößt trete ich der Frage entgegen, denkt er, und sie hat die Unverschämtheit zu bleiben, irgendein Motiv muss es schließlich geben, ein Mensch lebt nicht grundlos an einem Ort, er kann sich bewegen. Die Sesshaftigkeit, der das Menschengeschlecht so viel zu verdanken hat, löst sich nach vielen tausend Jahren Beständigkeit langsam wieder auf. Walter nimmt ein Hemd vom Stuhl, schlüpft hinein und knöpft es zu. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, er wird sich während des Frühstücks und vermutlich, zumindest am Vormittag, auch bei der Arbeit damit beschäftigen müssen, weshalb er in Bern lebt. Wenn er Pech hat, wird ihm die Frage auch nach dem Mittagessen nicht aus dem Kopf gegangen sein, und ist es einmal so weit, wird er sich auch abends nur schwer auf etwas anderes konzentrieren können. Ein Ärger diese Frage, gestern war sie plötzlich da, heute zerrt ihn der Wecker aus dem Nichts an die Oberfläche des Tages, er wird von einem vermeintlich fremden Pullover abgelenkt, und schon hat sie sich zurück in sein Bewusstsein gedrängt. Während er den Ledergürtel durch die Schlaufen seiner Hose zieht, lobt er still für sich jene bescheidenen Fragen, die mit ja oder nein beantwortet werden können. Egal wie kompliziert sie im ersten Moment daherkommen, es gibt nur zwei mögliche Antworten.

Regentropfen trommeln in regelmäßigen Abständen auf den Sims vor dem Küchenfenster. Walter reibt sich die Stirn und schlürft Tee. Es ist eine schlechte Angewohnheit, das Tee Schlürfen, er ist kein geduldiger Mensch. Das wäre eine angenehme Frage zum Aufstehen: Wie wird das Wetter heute? Oder im Fall dieses Sommermorgens: Ob es immer noch regnet? Es ist der fünfte Tag in Folge, und die Meteorologen haben weitere heftige Regenfälle angekündigt. Walter schüttelt den Kopf. Ob eine schwierige Frage einfacher wird, wenn er sie mit jemandem teilt? Edith steht am Herd und kocht Kaffee. Er hört sie einen Popsong summen, der seit ein paar Wochen in aller Munde ist, und beschließt, sie mit seiner Frage nicht zu behelligen. Sie kocht Kaffee für mich, denkt Walter. Er könnte den Kaffee selber kochen und Edith dafür mit seiner Frage konfrontieren, aber er glaubt, ihre praktischen Antworten bereits zu kennen. Sie würde lachen und leicht verständliche Worte wie Freunde, Umfeld und Arbeit sagen, womit das Thema für sie erledigt, ihm aber in keiner Weise geholfen wäre. Er verwirft den Gedanken, in die allmorgendliche Ordnung einzugreifen.

– Es regnet immer noch.

Walter steht auf und schlüpft in seine Hausschuhe, als ob der Bemerkung zum Regen die Aufforderung zugrunde liege, die Zeitung zu holen.

Im Treppenhaus riecht es nach Seife. Das muss Frau Breitenstein sein, sie wohnt einen Stock höher und kann seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr schlafen. Früher wurde Walters Schlaf von ihren nächtlichen Wanderungen durch die Wohnung gestört, inzwischen hat er sich an die dumpfen Aufschläge ihrer behäbigen Schritte, an das Knarren der Türen, das Plätschern der Wasserspülung und an die unverständlichen Wortfetzen aus dem nächtlichen Fernsehprogramm gewöhnt. Es erstaunt ihn nicht, dass sie im Treppenhaus feucht aufwischt, bevor es draußen ganz Tag geworden ist. Der erste helle Streifen am Horizont erlöst Frau Breitenstein von der quälenden Untätigkeit in der Nacht, und sie nimmt erleichtert die Arbeit auf.

Walter geht die Treppe hinunter und öffnet den Briefkasten. Er ist leer. Auch im Briefkasten seines Nachbarn Moser liegt keine Zeitung. Möglich, dass er sie bereits auf dem Küchentisch ausgebreitet hat und liest. Es kommt vor, dass der Austräger einen Briefkasten vergisst, das ist nicht persönlich zu nehmen, denkt Walter, da kommt ihm Moser auf der Treppe entgegen.

– Hast du deine Zeitung heute bekommen?

Moser in Turnhose und Joggingschuhen lächelt ihn an. Der rennt durch den Regen, denkt Walter.

– Sag mal, heute ist der 1. August. Da gibt’s keine Zeitung.

Und weg ist Moser, im Laufschritt durch die Tür. Nationalfeiertag, denkt Walter, natürlich. Er steigt die Treppe wieder hoch. Schon auf dem ersten Absatz vor einer der vergilbten Schwarz-Weiß-Fotografien, auf denen Berggipfel, Brücken und Eisenbahnen abgebildet sind und die das Treppenhaus seit mehreren Jahrzehnten zieren, besetzt die Frage, auf die er keine Antwort weiß, seinen Kopf erneut.

Edith gießt das kochende Wasser in den Kaffeefilter. Sie hat einen Apfel und eine halbe Melone aufgeschnitten.

– Was hast du gemacht?

– Die Zeitung geholt.

– Ist denn eine gekommen?

– Eben nicht.

– Möchtest du ein Ei?

Walter schüttelt den Kopf. Der Wecker hat geläutet, wie er immer läutet, wie gestern und vorgestern, obwohl er heute frei hat.

– Weshalb sind wir so früh aufgestanden?

– Ich fahre nach Hause. Das habe ich dir doch gesagt.

Walter staunt immer wieder, mit welcher Selbstverständlichkeit seine Frau von zu Hause spricht, wenn sie zu ihren Eltern fährt.

– Was ist mit dir los? Ist es immer noch die Schildkröte, die dir nicht aus dem Kopf will?

Edith stellt Walter ein weiches Ei auf den Teller und hält in ihrem ansonsten reibungslosen Ablauf von Frühstückshandlungen einen Moment inne, um ihn zu mustern. Er schüttelt den Kopf und sie wendet sich wieder dem Kaffee zu, nimmt den Filter von der Kanne und stellt ihn in den Ausguss. Die zwei dunklen Tropfen, die daneben gehen, reibt sie mit dem Zeigefinger ins Holz der Ablage.

– Was hast du heute vor?

Bis vor wenigen Minuten hat Walter vergessen, dass er heute nicht wie jeden Tag ins Büro fahren wird. Edith kann nicht von ihm erwarten, dass er die Angelegenheit eines arbeitsfreien Tages auf dem Weg vom Briefkasten zum Küchentisch löst, außerdem weiß sie, dass er an freien Tagen selten ausgeht, schon gar nicht alleine. Wenn Edith vorschlägt, ins Kino oder Museum zu gehen, geht er mit. Anders verhält es sich mit Tagen, an denen Edith zu ihren Eltern fährt und er einen freien Tag für sich hat. Normalerweise freut er sich im Voraus auf solche Tage, neigen sie sich dem Ende zu, ist er froh, kommt Edith wieder nach Hause und befreit ihn von der Last, seine Freizeit sinnvoll gestalten zu müssen. Wenn heute der 1. August ist und morgen Samstag, dann stehen ihm jetzt drei freie Tage bevor, das ist eine lange Zeit, er kann beim besten Willen nicht jetzt schon darüber Auskunft geben, wie er vorhat, sie zu verbringen. Walter zuckt mit den Schultern. Es wird ihm klar, dass es mit seiner Laune nicht zum Besten steht und Edith nichts dafür kann. Es ist der vermeintlich fremde Pullover, die unangenehme Frage, der anhaltende Regen, die fehlende Zeitung oder eine Kombination aus verschiedenen Faktoren, die seine Laune ungünstig beeinflusst.

– Du bleibst über Nacht?

– Morgen gegen Abend bin ich zurück.

Edith bleibt immer über Nacht. Ihre Eltern wohnen in Winterthur. Es lohne sich nicht, so ihre Begründung, wenn sie nicht über Nacht bleibe, müsse sie gleich wieder los, kaum sei sie angekommen.

Walter spielt mit dem ausgegessenen Ei. Er zieht die dünne Haut von der Innenwand der Schale ab und rollt sie zwischen den Fingern zu kleinen Würstchen. Er hört, wie Edith im Schlafzimmer den Reißverschluss ihrer Tasche aufzieht und die Schranktür öffnet. Vielleicht hätte er sich der gestrigen Frage entziehen können, wenn er nicht auf der Bettkante sitzen geblieben, wenn er gleich aufgestanden wäre und sich unter das warme Wasser der Dusche gestellt hätte. Es ist ein Fehler, sich erneut darauf einzulassen, weshalb er in dieser Stadt lebt. Mit zwanzig ist er nach Bern gezogen, dieses Jahr wird er dreißig. Mit jedem Jahr ist sein Bewusstsein dafür gewachsen, dass er im Gegensatz zu Edith, die etwa gleichzeitig in die Hauptstadt gekommen ist, nicht dazugehört. Er besucht keine Konzerte von lokalen Musikgruppen. Er spaziert nicht auf dem Gurten. Er schwimmt nicht in der Aare und macht an ihrem Ufer nur auf Ediths wiederholten Wunsch ein Feuer, über dem sie mit Hilfe von angespitzten Haselruten Würste braten. Die Frage, weshalb er in Bern lebt, überfordert ihn, nur schon die nackte Frage, wie sie dasteht, kann er nicht beantworten, ganz zu schweigen von der Folgefrage: Wo will er leben, wenn er nicht in Bern leben will?

Walter steht abrupt auf. Der Stuhl kippt bedrohlich, fällt aber nicht, sondern wird von ihm an den Tisch zurückgeschoben. Er räumt die Teller ab und stellt die Butter in den Kühlschrank. Die ersten Jahre hat er einfach so in Bern gewohnt und gearbeitet, niemand hat danach gefragt, weshalb oder ob er gerne in Bern lebt. In letzter Zeit aber ist das Unbehagen gewachsen und hat sich gestern Abend schließlich in einer Frage formuliert, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht.

– Im Kühlschrank sind noch die Nudeln von gestern.

Edith kommt mit der Tasche in der einen und einem Schirm in der anderen Hand in die Küche. Walter gibt ihr einen Kuss und Grüße an die Eltern mit auf den Weg, und sie wünscht ihm einen schönen Tag.

Kurz nachdem seine Frau die Wohnung verlassen hat, klingelt es an der Tür. Walter überlegt sich, wer das sein könnte und ob er öffnen soll. Es klingelt ein zweites Mal. Moser steht vor der Tür. Sein Kopf ist rot und das Leibchen von Schweiß und Regen durchnässt. Er drängt sich in die Wohnung, kaum hat Walter die Tür geöffnet.

– Ich habe Edith auf der Straße getroffen. Sie hat mir erzählt, dass sie zu ihren Eltern fährt, da habe ich mir gedacht … Was machst du heute Abend?

– Keine Ahnung.

Walter befürchtet, dass auf sein Schulterzucken hin eine Einladung ausgesprochen wird, aber es fällt ihm keine bessere Antwort ein.

– Wir wollen runter an die Aare. Ins Eichholz. Wenn du Lust hast.

– Bei diesem Wetter?

– Soll gegen Abend besser werden. Der Kleine hat in der Schule Schiffchen gebastelt, die man mit einer Kerze drin aufs Wasser setzt. Er war ganz verrückt danach. Hat über zwanzig gemacht.

Der Kleine ist Mosers Sohn. Er lebt zusammen mit seiner Mutter zwei Straßen weiter. Edith ist mit der Mutter schon länger befreundet.

– Dazu ein Feuerchen, etwas zwischen die Zähne und, wenn es dunkel ist, die eine und andere … Du weißt schon.

Moser ahmt mit den Händen eine Explosion und den darauf folgenden Funkenregen nach. Die Vorfreude ist ihm anzusehen. Wenn er nicht gerade verschwitzt in Walters Wohnung steht und sich bemüht, gute Laune zu verbreiten, ist Moser ein angenehmer Nachbar.

– Sag mal, Jakob, geht es dir gut?

Walter schüttelt den Kopf.

– Moritz ist gestorben.

Moser legt seinem Gesicht so viel Würde auf, wie es sein Zustand erlaubt.

– Wer ist Moritz?

– Meine Schildkröte.

Moser ist erleichtert. Er hält die angestrengte Ernsthaftigkeit in seinen Zügen nicht länger aufrecht.

– Edith hat mir davon erzählt.

Vor einer Woche lag Moritz reglos unter dem Balkontisch. Walter hat sich nichts dabei gedacht, erst als die Salatblätter abends, als er von der Arbeit nach Hause kam, unberührt waren, hat er die Schildkröte angestupst. Sie hat keinen Wank gemacht. Plötzlicher Schildkrötentod. Am Tag zuvor war sie noch munter und hat gefressen. Sie war auch erst zehn Jahre alt, kein Alter für eine Schildkröte.

– Wir gehen gegen sieben los. Kannst es dir überlegen.

Walter dankt für die Einladung und wartet, bis Moser die Wohnung verlässt, dann öffnet er das Fenster, um den Geruch nach Sport zu vertreiben.

Walter spült das Frühstücksgeschirr, dann zieht er Schuhe und Jacke an, nimmt einen Schirm aus dem Ständer und verlässt die Wohnung. Vielleicht kann ihn ein Spaziergang durch die Stadt zerstreuen. Er schlendert los und weicht dem offenen Lieferwagen des Hauswartes aus, der auf dem Gehsteig parkt. Zu zweit setzen sie der Eibe an der Ecke zu, die jedes Jahr einen neuen Versuch macht, über den Zaun hinweg auf die Straße hinaus zu wachsen. Seit fünf Jahren freut sich Walter jeden Sommer über die kleine Unordnung an der Straßenecke, wenn es der Eibe gelungen ist, ein Stück des öffentlichen Raums einzunehmen, fünf Jahre, so lange wohnt er schon im Breitenrain, so lange ist er mit Edith verheiratet.

Noch bevor sie sich richtig kennen gelernt hatten, hat Edith ihn dazu gedrängt, ein Studium aufzunehmen. Du hast alle Voraussetzungen dazu, hat sie gesagt, mit deinen Möglichkeiten säße ich schon längst im Hörsaal. Edith hat eine Bürolehre gemacht, eine Büroleere, denkt Walter, für ein Studium fehlt ihr die Matura. Sie sei zu alt, sagt sie. Walter war vor fünf Jahren ihrer Meinung nach im besten Alter. Er sei nicht mehr zwanzig, wisse, was er wolle, und ziehe das durch, waren ihre Worte. Weil er nicht so genau wusste, was es war, was er wollte, überzeugte Edith ihn von den Vorzügen eines Jurastudiums. Anfangs hat er sich ehrlich bemüht. Er hat die Vorlesungen und Seminare regelmäßig besucht und die Bücher gelesen, die auf den Literaturlisten standen. Seinen Mitstudenten ging er aus dem Weg. Die meisten waren deutlich jünger als er. Sie studierten Anzeigen für Zimmer in Wohngemeinschaften, sie organisierten Lerngruppen und Lektürezirkel. Die Gruppe war die vorherrschende Organisationsform der Studenten. In einer Zeitschrift las Walter, dass die Universität einer der wichtigsten Heiratsmärkte sei, ein Großteil der Studenten lerne ihren späteren Lebenspartner während des Studiums kennen. Weil er bereits verheiratet war und im zweiten Semester, entgegen Ediths Versprechen, nicht alles besser wurde, brach er sein Studium nach einem Jahr ab. Eine goldene Zukunft konnte nicht sein, was Edith sich von ihm erhoffte, und doch hatte sie ein Auge auf ihn geworfen, lange bevor er auf sie aufmerksam wurde. Sie saß damals noch am Empfang des Finanzamtes, Tag für Tag ist er an ihr vorbeigegangen, zuerst als Aushilfe, später als Sachbearbeiter.

Am Bahnhof stellen sich Walter zwei Kinder mit einer Kartonschachtel in den Weg. Sie wollen ihm ein Erstaugustabzeichen verkaufen. Der Erlös geht an eine Organisation, die damit etwas Gemeinnütziges unterstützt. Die Kinder widersprechen einander in ihren eifrigen Anpreisungen. Walter ist nicht geübt im Umgang mit Kindern. Er möchte gerne dankend ablehnen und weitergehen, findet aber nicht die richtigen Worte, also drückt er den Kindern das Geld in die Hand und nimmt das Abzeichen entgegen. Die Kinder lassen wie erwartet von ihm ab und stürzen sich auf den nächsten Passanten. Unschlüssig hält Walter das Abzeichen in der Hand. Ein geschwungenes weißes Kreuz auf rotem Grund. Vor dem nächsten Abfalleimer zögert er, steckt das Abzeichen dann aber doch in die Jackentasche.

Der Regen hält an, und Walter stellt sich vor, wie die Mosers abends mit Schirmen am Aareufer stehen werden, wie der Regen die Kerzen nach wenigen Metern auslöscht und die Schiffchen, begleitet von den Tränen des Kleinen, im schwarzen Wasser untergehen. Wenn das Wetter tatsächlich besser wird, geht er mit, nimmt er sich vor. An einem Feuer stehen, hin und wieder einen Ast nachlegen, dazu ein Bier trinken und zwischen den Wolken Sterne suchen, das ist, was die Einwohner dieser Stadt an einem Sommerabend tun, und es ist besser, als allein zu Hause zu sitzen.

Im Bahnhof setzt er sich auf eine Bank. Er schaut dem Treiben der vielen Menschen in der Halle gerne zu. Vor der Anzeigetafel mit den Abfahrtszeiten stehen immer mindestens drei Leute, und obwohl es nur Sekunden dauert, bis sie den richtigen Zug gefunden und sich des Gleises, auf dem er fahren wird, vergewissert haben, kommt es nicht vor, dass die Anzeigetafel unbeobachtet bleibt. Es verzögert immer schon ein Nächster den Schritt und hebt den Blick, wenn sein Vorgänger sich von der Tafel abwendet und eilig in der Unterführung verschwindet oder sich die verbleibende Zeit beim Stöbern im Zeitungskiosk vertreibt.

Vielen Menschen reicht die Möglichkeit wegzufahren, um an einem Ort zu bleiben, denkt Walter. Vom Wissen um ein Auto, das vor der Haustür steht, vom Bahnnetz, das ihnen stündlich direkte Verbindungen gewährt, geht eine beruhigende Wirkung aus.

Seit er nach Bern gekommen ist, fährt Walter jedes Jahr zwei-, dreimal nach Langenthal zu seiner Mutter, und seit er verheiratet ist, einmal im Jahr zusammen mit Edith in die Ferien. Immer wenn er wegfährt, löst er eine Rückfahrkarte. Er kann sich nicht vorstellen, wie sich das Wegfahren ohne Rückfahrkarte anfühlt.

Ein Bettler setzt sich neben ihn auf die Bank und fragt nach einer Zigarette. Walter will schnell wegschauen, bleibt aber an den Gesichtszügen des Mannes hängen. Es sind die Züge einer Frau, dazu die tiefe Stimme und der Schatten eines Bartes um den Mund, er schafft es nicht, sich vom Gesicht des Bettlers zu lösen.

– Oder ein bisschen Kleingeld vielleicht?

Weil Walter im Umgang mit Bettlern ebenso ungeübt ist wie mit Kindern und er weder Zigaretten noch Kleingeld in der Tasche hat, steht er auf und geht davon, ohne ein Wort zu sagen. Der Bettler ruft ihm etwas nach, von dem Walter sich bedroht fühlt, obwohl er kein Wort versteht. Er kann es nicht gut mit ihm meinen, er lastet ihm sein wortloses Davongehen zu Recht als Hochmut an, denkt Walter, und gleichzeitig erinnert er sich daran, dass ihm in letzter Zeit eine neue Freundlichkeit vor allem bei jungen Bettlern aufgefallen ist. Mehrere haben ihm einen schönen Tag gewünscht, obwohl er sie in seiner Verlegenheit keines Blickes gewürdigt hat. Dabei macht es keinen Unterschied, ob er ihnen etwas gibt oder nicht, verlegen macht ihn der Umgang mit Bettlern in beiden Fällen.

Walter verlässt den Bahnhof und geht den Hirschengraben hinunter. Ohne auf ein Ziel hinzusteuern, hält er sich rechts und geht schließlich durch den Monbijoupark. Der Spielplatz ist verlassen, einzig ein Hund schnüffelt zwischen den Schaukeln verwaschenen Spuren von Kinderdüften nach. Seine Halterin steht wenige Meter daneben unter einem Schirm. Walter bleibt ebenfalls stehen und beobachtet, wie der Hund aus einer Pfütze trinkt. Er bemerkt den unfreundlich misstrauischen Blick der Hundehalterin erst, als diese mit einem kurzen trockenen Pfiff ihren Hund ruft und davongeht. Sein Stehenbleiben hat ihren Argwohn geweckt, seine Anwesenheit hat die zufriedene Zweisamkeit zwischen Hund und Frau gestört. Er möchte sich mit einem Blick oder einer Geste entschuldigen, aber die Frau verlässt den Park in die entgegengesetzte Richtung. Der Hund dreht noch einmal den Kopf, und es ist Walter, als ob auch in seinen Augen ein Vorwurf über die Störung zu erkennen wäre.

Wenige Gehminuten später steht Walter vor dem Haus, in dem er früher gewohnt hat. Der Dachstock strahlt in neuem Glanz. Hinter den Fenstern seiner ehemaligen Wohnung hängen Gardinen. Er hat keine Ahnung, wer nach ihm in seine Wohnung eingezogen ist. Er geht die Namensschilder durch. Obrist kennt er nicht, F. Obrist, das muss sein Nachmieter sein. Er legt den Zeigefinger auf den Klingelknopf und erschrickt, noch während er drückt. Was, wenn dieser Obrist zu Hause ist? Was will er von ihm? Er läuft einige schnelle Schritte die Straße hinauf, bis er sich der Lächerlichkeit seines Klingelstreichs bewusst wird. Er wartet eine bange Weile, dann atmet er auf. Obrist ist nicht zu Hause. Walter ärgert sich über sich selbst. An einem Haus vorbeizugehen, in dem man früher gewohnt hat, ist nichts Besonderes. Er versteht nicht, was ihn dazu veranlasst hat, den Knopf zu drücken. Hofft er, in der Vergangenheit Hinweise darauf zu finden, weshalb er in dieser Stadt lebt? Hier in der Sulgenau hat seine Berner Zeit angefangen. In dieser Wohnung hat er gewohnt, in Rolfs Kneipe hat er viele Abende zugebracht, und im städtischen Finanzamt hat er gearbeitet. Das war das Dreieck, in dem sich sein Leben bis zu jenem sonderbaren Winter vor fünf Jahren abgespielt hat.