Prolog
Hier eine Liste einiger Dinge, die sich aus Altersgründen – ich bin sechsundvierzig – bei mir eingeschlichen haben.
a) Ich stoße Geräusche aus, wann immer ich mich hinsetze oder bücke. Häufig klingt das wie »ächz!«, obwohl mir das Hinsetzen oder Bücken nicht die geringsten Beschwerden bereitet. Körperlich ist bei mir alles in bester Ordnung. Eigentlich bin ich sogar ziemlich gelenkig. Manchmal halte ich mir den Rücken, um die Sache noch zu betonen. Außerdem stöhne ich genüsslich, und zwar recht laut – »oh« –, wenn ich mich ins Bett oder in die Badwanne lege.
b) Ich frage laut und entrüstet: »Wer sind denn bloß diese Leute?«, wenn ich eine Klatschzeitschrift aufschlage. Hin und wieder zeige ich auch mit dem Finger auf die Fotos. Noch vor drei Jahren konnte ich jeden in Heat abgebildeten Menschen beim Namen nennen und seine Kurzbiografie herunterrattern: »Und das da ist Dyamondé, die sich von Loin hat schwängern lassen, du weißt schon, dem, der mit Pipette gegangen ist. Das ist die, bei der die Silikontitten den Geist aufgegeben haben. Du musst besser auf dem Laufenden bleiben!«
c) In den seltenen Fällen, in denen ich die Leute erkenne, murmle ich Unheil verkündende Kassandrasätze wie: »Das nimmt sicher ein schlimmes Ende mit denen.«
d) Beim Betreten eines unbekannten Restaurants jammere ich: »Huch, was für eine schreckliche Akustik«, als ob ich schwerhörig wäre, was nicht zutrifft. Zur Betonung beuge ich mich demonstrativ vor und spreche übertrieben laut. Dabei schneide ich Grimassen und rede gaaanz langsam und deutlich, um eine nicht vorhandene Hörbehinderung zu simulieren.
e) Ich habe absolut kein Interesse daran, neue Bekanntschaften zu schließen, zum Beispiel auf Partys. Natürlich bin ich zwar höflich, erspare mir aber das Tamtam mit dem Austauschen von Telefonnummern und E-Mail-Adressen.
f) Ich fühle mich zu alt für Hochzeiten und denke mir: »Eigentlich sollte ich hingehen, aber, uff, das wird sicher ein sehr langer Tag.« Plus: siehe auch e).
g) Angesichts der meisten – wenn auch nicht aller – Hochzeiten sage ich mir: »Schon gut, ich wünsche allen Beteiligten viel Vergnügen.« Wie eine alte Hexe.
h) Ich kann mir die Namen anderer Leute nicht mehr merken und wünsche mir, ich wäre schräg genug drauf, um einfach nur »Schätzchen, darf ich dir Schätzchen vorstellen?« zu sagen. Bin sowieso nicht mehr so schräg drauf wie früher.
i) Die Katerattacken dauern inzwischen zwei Tage. Manchmal sogar drei. Wir sprechen hier vom Liegen im abgedunkelten Zimmer, während sich die Axt eines Henkers in meinen Schädel bohrt und verschreibungspflichtige Schmerztabletten angesagt sind. Außerdem literweise Wasser.
j) Ich ertappe mich bei der Frage, wie es geschehen konnte, dass Menschen in Führungspositionen plötzlich jünger sind als ich. Dazu gesellt sich der starke Verdacht, dass hier etwas mächtig schiefgelaufen ist – ein Riss im Zusammenhang von Zeit und Raum, eine entsetzliche hyperabnormale Anomalie – und dass das doch jemandem auffallen müsste, der es dann in Ordnung bringt.
k) Ich stelle fest, dass die jungen Leute über die Achtziger sprechen so wie ich damals über die Fünfziger – das heißt, in Form einer eher anthropologisch ausgerichteten Erörterung einer prähistorischen Epoche. Weiterhin habe ich bemerkt, dass es die Filme meiner Jugend inzwischen als Remakes gibt. Dasselbe gilt für die Kleidung.
l) Mein Interesse am Wetter hat zugenommen, und zwar derart, dass ich immer häufiger darüber rede und nachdenke. Ich reagiere auf das Wetter wie auf ein menschliches Gegenüber – oder besser, einen Freund: Ich bin empört, wenn es regnet, und habe Angst, bei Schnee auszurutschen, obwohl ich Schnee über alles liebe und Schuhe mit extra-rutschfesten Sohlen trage.
m) Gleichzeitig habe ich ein starkes Interesse an der Natur entwickelt, obwohl ich als junge Frau eine eingefleischte Städterin war, die wirklich keine Ahnung hatte, wozu wir das flache Land überhaupt brauchen. Ich empfinde Freude beim Anblick von Pilzen, lächle Bäume an und betrachte Blätter. Außerdem beobachte ich nachdenklich Schafe, fotografiere Wolkenformationen und lerne ihre Namen auswendig.
n) Dafür hat mein Interesse an Babys nachgelassen, sofern sie nicht mit mir verwandt sind. Manchmal finde ich diese Babys sogar ein wenig anstrengend, nicht mehr – wie früher – absolut niedlich. Sobald sie wieder weg sind, seufze ich und mache mir erst einmal eine Tasse Tee.
o) Ach, ja, Tee. Literweise. Ganze Bäche aus Tee.
p) Ich bin auf ungesunde Weise auf den eigenen Stuhlgang fixiert, verspüre Freude, wenn »es klappt«, und Gereiztheit, wenn mir meine morgendliche Sitzung verweigert wird. Bin so begeistert von dieser neuen Beschäftigung – man könnte es beinahe Hobby nennen –, dass ich keine Scheu habe, mit meinen Freundinnen darüber zu sprechen. Und das, obwohl jeder Mann, mit dem ich je im Bett war, in dem Glauben gewiegt wurde, dass ich niemals kacke noch pinkle, weil Märchenprinzessinnen so etwas nicht tun.
q) Habe häufig das Gefühl, dass die Auswahl viel zu groß ist, und ertappe mich bei dem Wunsch, dass da nur zwanzig Paar Schuhe wären, zwischen denen ich mich entscheiden muss, keine zweihundert. Wünsche mir außerdem, dass Kaffee einfach nur Kaffee wäre, in höchstens drei Variationen, und dazu nur eine Sorte Milch. Ziehe inzwischen kleine Läden den Kaufhäusern vor, obwohl die für mich früher das Paradies waren. Sehne mich nach Verkäuferinnen, die nicht meine Töchter sein könnten. Bevorzuge den mütterlichen Typ.
r) Beim Belauschen junger Leute stelle ich nicht begeistert fest, dass die Sprache wächst und sich weiterentwickelt, sondern denke: »Die Sprache ist tot, und ihr habt sie ermordet.« Habe mich außerdem zur tyrannischen Rechtschreibfetischistin entwickelt und setze miserable Orthografie mit Dummheit gleich. Bin zur Grammatikpedantin geworden und sage Dinge wie: »Kann man überhaupt denken, wenn man nicht mal weiß, wie man richtig schreibt?«
s) Nach drei Jahrzehnten Abwesenheit schießen mir plötzlich Zeilen aus Gedichten durch den Kopf, die ich in der Schule gelernt habe. Nicht schlecht. Das Gleiche gilt für Kirchenlieder. Setze mich außerdem immer wieder mal in eine Kirche und fühle mich dann absolut mit mir selbst im Reinen, obwohl ich eigentlich nicht besonders fromm bin.
t) Gute Manieren gewinnen für mich an Bedeutung. Das ist nichts Neues, nur dass mich inzwischen ein heiliger Zorn packt, wenn die Leute nicht Bitte und Danke sagen. Dann erledige ich das für sie, und zwar in einem scheußlich sarkastischen, altjüngferlichen Ton. Apropos: Habe übrigens festgestellt, dass das Adjektiv »alt« den Beleidigungsfaktor einer Äußerung merklich erhöht.
u) Bin zu der Erkenntnis gelangt, dass ich schon mehr als die Hälfte meines … nun, ja … meines Lebens hinter mir habe. Ein Gedanke, den ich mit aller Macht verdränge.
v) Gerate in Wut beim Anblick von auf die Straße geworfenen Abfällen und Hundehäufchen. Verfolge Leute, die ihre Hinterlassenschaften nicht aufsammeln, und flöte so lange im Singsangton »Hallo?«, bis sie mich zur Kenntnis nehmen müssen.
w) Wenn ich, völlig harmlos und unschuldig, mit einem Kellner flirte, zeigt sich manchmal Verwirrung auf seinem Gesicht, und mir wird klar, dass er denkt, ich könnte seine Mutter sein.
x) Ich bin sicher, dass jemand meine jüngste Tochter, die ich mit achtunddreißig bekommen habe, eines Tages fragen wird, ob ich ihre Oma bin. Noch nicht jetzt. Aber irgendwann.
y) Ich recke die Brust und ziehe die Nase hoch, um mein Missfallen zu bekunden.
z) Nein, noch nicht ganz. Der letzte Punkt trifft noch nicht zu. Doch das ist nur eine Frage der Zeit.