Dalai Lama
Ratschläge
des Herzens
Aufgezeichnet
und mit einem Vorwort von
Matthieu Ricard
Aus dem Französischen von
Ingrid Fischer-Schreiber
Dieses Buch ist aus Gesprächen entstanden,
die Matthieu Ricard mit dem Dalai Lama in tibetischer Sprache geführt hat.
Kusho Lhakdor transkribierte sie auf tibetisch,
Christian Bruyat übersetzte sie ins Französische und versah sie mit Anmerkungen.
Titel der 2001 bei Presses de la Renaissance, Paris, erschienenen Originalausgabe: ›Conseils du coeur‹
Copyright © 2001 by Presses de la Renaissance, Paris
Die deutsche Erstausgabe erschien 2003 im Diogenes Verlag
Covermotiv: Foto von Phil Borges
Copyright © Phil Borges
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2019
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23534 0
ISBN E-Book 978 3 257 60362 0
[9] Vorwort
Die Residenz des Dalai Lama überragt die unendlichen Ebenen Indiens, die sich vor ihren Fenstern ausbreiten, so weit das Auge reicht. Im Norden erinnern einige schneebedeckte Gipfel den Besucher daran, daß Tibet nur an die hundert Kilometer Luftlinie entfernt ist – so nah und doch so fern.
Überall herrscht eine wohltuende Stille. Man spricht wenig und wenn, dann nur leise, denn man ist sich der Nichtigkeit unnützer Worte bewußt. Die Stille wird nur vom wohlwollenden Lachen des Kundun unterbrochen, des »Gegenwärtigen«, wie die Tibeter den Dalai Lama respektvoll nennen.
Der Dalai Lama verbringt mehrere Monate im Jahr damit, den Wünschen der Menschen in seiner Umgebung nachzukommen und die Sache Tibets zu vertreten, seines Landes, das von der unerbittlichen chinesischen Diktatur im Schraubstock gehalten und von den Demokratien, denen es mehr um neue Märkte denn um Gerechtigkeit geht, im Stich gelassen wird. Dieser unermüdliche Pilger des Friedens stürzt sich dann in einen Strudel von Aktivitäten, in dem sich die Ruhepausen nur mehr in Minuten messen lassen. Aber trotz dieses fast [10] unerträglichen Rhythmus, den ihm sein Terminkalender aufzwingt, bewahrt sich der Kundun seine Gelassenheit und ist immer für alle da. Egal, wem er begegnet – ob einem alten Freund, einem Besucher oder einem zufällig am Flughafen an ihm vorbeigehenden Reisenden –, er ist immer unmittelbar präsent, voll und ganz, mit diesem ihm eigenen Blick, in dem sich sowohl Güte wie Einfachheit als auch viel Humor widerspiegeln.
Seine Botschaft ist immer dieselbe, und er wiederholt sie für jeden, der sie hören will: »Jedes Wesen, selbst eines, das uns feindlich gesinnt ist, fürchtet wie wir das Leiden und strebt nach Glück. Es hat wie wir das Recht, glücklich zu sein und nicht zu leiden. Kümmern wir uns also aufrichtig um die anderen, um unsere Freunde genauso wie um unsere Feinde. Das ist die Grundlage wahren Mitgefühls.«
Vor einigen Jahren wollte Alain Noël, Verleger der Presses de la Renaissance, den Dalai Lama bitten, ein »spirituelles Vermächtnis« zu verfassen. Aber nach einigem Überlegen schien es uns, die wir aufrichtig hoffen, der Dalai Lama würde seinen hundertsten Geburtstag erleben, eine bessere Idee zu sein, ihn um eine Reihe einfacher Ratschläge zu bitten, Ratschläge für alle Menschen, egal, welchen Charakter, welche gesellschaftliche Stellung oder welchen Beruf sie haben. Gerade in Tibet wurden derartige Ratschläge großer Meister oft in Büchern gesammelt, die dann [11] manchmal den Titel »Ratschläge des Herzens« trugen. Titel und Form waren also gefunden.
Da der Dalai Lama für diese Gespräche nur begrenzt Zeit zur Verfügung hatte, schien es uns sinnvoll, ihm eine Liste von Themen vorzulegen, die er nach Lust und Laune aufgreifen oder verwerfen konnte. Er steuerte seinerseits einige Themen bei, an die wir gar nicht gedacht hatten, die ihm aber am Herzen lagen, zum Beispiel die Ratschläge an Häftlinge und an Homosexuelle.
Im Laufe dieser Gespräche schien er einmal ernst, dann wieder fröhlich, manchmal sprach er sehr entschlossen, um sich dann wieder fast in Träumereien zu verlieren. Und immer wieder wurde die Unterhaltung von seinem herzerfrischenden Lachen unterbrochen. So vermittelte er uns wirklich den Eindruck, ganz frei zu sprechen, ohne jemandem gefallen zu wollen. Immer aber zeigte er sich zutiefst von den menschlichen Problemen berührt, und nie war auch nur die geringste Selbstgefälligkeit zu spüren.
Der Dalai Lama ist bekannt dafür, daß er sehr klare Worte findet und es ihm völlig fern liegt, etwas, was ihn selbst oder den Buddhismus betrifft, beweisen zu wollen. Er sagt oft: »Ich bin nur ein Mönch.« Sein einziges Ziel ist es, seine Erfahrung mit anderen Menschen zu teilen, um ihnen so pragmatisch wie möglich zu helfen, ein glückliches Leben zu führen.
[12] Er flüchtet sich weder in eine geschwollene Ausdrucksweise noch in schwer verständliche Begriffe, um eine Verlegenheit oder ein Zögern zu vertuschen. Wenn er für ein Problem keine klare Lösung in seinem Geist findet oder wenn sie nicht einer von ihm tief empfundenen Wahrheit entspricht, dann zieht er sich nicht mit einem geschickten Schachzug aus der Affäre, sondern zeigt seine Verwirrtheit sehr deutlich und zögert auch nicht, ein lapidares »Ich weiß nicht« von sich zu geben, das den Zuhörer sowohl überraschen als auch zum Lachen bringen kann.
Für alle, die den Dalai Lama auch nur ein bißchen kennen, ist es klar, daß sowohl seine Antworten selbst als auch seine Art zu antworten ganz unmittelbar das widerspiegeln, was er ist und was er denkt. Er versucht nie, etwas vorzugeben.
Seine Ratschläge sind oft sehr einfach, denn er sieht keinen Sinn darin, Dinge kompliziert auszudrücken. Mancher mag es naiv finden, wenn er ständig wiederholt, man müsse »ein gutes Herz« haben, aber dafür gibt es gute Gründe. Erstens ist es schwer, ein wirklich gutes Herz zu haben, zweitens kann, wer kein gutes Herz hat, noch so oft vom Frieden in der Welt und anderen großen Ideen sprechen – es bleibt leeres Gerede.
Der Dalai Lama fordert uns auf, aus dem Potential an Güte und Liebe zu schöpfen, das – davon ist [13] er überzeugt – in uns allen angelegt ist. Indem er über ganz alltägliche Erfahrungen spricht, zeigt er uns, wie wir ein »guter Mensch« werden und das Beste aus unserem Leben machen können. Er betont, daß wir alle eine »universelle Verantwortung« tragen, und will uns bewußtmachen, daß ein jeder von uns als Mitglied der menschlichen Familie ein Schmied des Friedens, ein Beschützer aller Wesen sein kann. »Die äußere Abrüstung geht über die innere Abrüstung«, sagt er oft.
Die Einfachheit seiner Worte macht uns das Wesentliche sichtbar. Wir sollten sie nicht als Unfähigkeit interpretieren, tiefschürfende oder komplexe Ideen auszudrücken. Wenn das Thema einer Unterweisung oder einer Unterhaltung philosophische, metaphysische oder spirituelle Fragen berührt, legt der Dalai Lama einen Reichtum an Sichtweisen an den Tag, deren Tiefe oft auch die Gelehrtesten verblüfft.
In diesem Geist hat uns Seine Heiligkeit der Dalai Lama im März 2000 in seiner Residenz in Dharamsala seine »Ratschläge des Herzens« anvertraut. Er hat sie in Tibetisch gegeben, und diese aufgezeichneten Gespräche wurden von Christian Bruyat und mir selbst übersetzt. In der entspannten, vertrauten und positiven Atmosphäre legte er Wert darauf, Dinge zu sagen, die allen helfen können, eine »profane Spiritualität« zu entwickeln. Dabei achtete er sehr genau [14] darauf, spezifisch buddhistische Begriffe zu vermeiden, soweit es das Thema erlaubte.
Wenn es uns gelingt, auch nur einen Teil dessen, was der Dalai Lama sagt, in unser Denken und Handeln zu integrieren, dann können wir uns glücklich schätzen.
Matthieu Ricard,
Kloster Shechen, Nepal
16. Juni 2001
[15] RATSCHLÄGE
DES HERZENS
[17] Einleitung
An alle
Wir müssen nicht erst lange nachdenken, um festzustellen, daß alle Wesen von sich aus nach Glück streben und Leiden vermeiden wollen. Sie werden nicht einmal ein Insekt finden, das nicht alles tun würde, um dem Leiden zu entkommen. Die Menschen besitzen darüber hinaus die Fähigkeit zur Reflexion. Mein erster Ratschlag besteht darin, diese Fähigkeit weise einzusetzen.
Lust und Leid beruhen auf sinnlicher Wahrnehmung und innerer Zufriedenheit. Für uns ist die geistige, die innere Zufriedenheit das Wichtigste. Sie ist das, was den Menschen ausmacht. Die Tiere sind, sieht man von einigen Ausnahmen ab, dessen nicht fähig.
Diese Zufriedenheit zeichnet sich durch inneren Frieden aus. Sie wurzelt in Großzügigkeit, Ehrlichkeit und in dem, was ich moralisches Verhalten nenne, das heißt in einem Verhalten, welches das Recht auf Glück der anderen Menschen achtet.
Ein großer Teil unseres Leids rührt daher, daß wir [18] zu viel denken und daß wir nicht auf gesunde Art und Weise denken. Wir sehen nur unsere unmittelbare Befriedigung, ohne die langfristigen Vor- oder Nachteile für uns selbst oder für andere zu bedenken. Diese Haltung wendet sich aber früher oder später zwangsläufig gegen uns. Mit Sicherheit könnten wir allein durch eine Veränderung unserer Sicht der Dinge unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten verringern und es vermeiden, neue Probleme zu schaffen.
Manchmal ist es unausweichlich zu leiden, so zum Beispiel bei der Geburt, bei Krankheiten, im Alter und im Sterben. Das einzige, was wir tun können, ist, die Angst davor zu verringern. Viele Probleme auf der Welt – angefangen bei unseren Konflikten mit dem Ehepartner bis hin zu den verheerendsten Kriegen – könnten vermieden werden, würden wir eine gesündere geistige Haltung einnehmen. Wenn wir aber unseren Geist nicht auf die rechte Art und Weise gebrauchen; wenn wir die Dinge nicht in einer langfristigen Perspektive sehen; wenn es unseren Methoden an Tiefe mangelt und wir den Dingen nicht mit einem offenen, entspannten Geist begegnen, dann verwandeln wir auch das, was anfangs nur eine unbedeutende Schwierigkeit war, in ein gravierendes Problem. Mit anderen Worten: Ein großer Teil unseres Leidens ist hausgemacht. Mir ist wichtig, das gleich am Anfang klarzustellen.
[19] DIE LEBENSALTER
[21] An die jungen Menschen
Ich freue mich immer, jungen Menschen zu begegnen, egal ob in unseren Flüchtlingsschulen oder auf meinen Reisen in Indien oder im Ausland. Sie sind direkt und ehrlich, und ihr Geist ist offener und geschmeidiger als der Geist erwachsener Menschen. Wenn ich ein Kind sehe, dann habe ich immer das Gefühl, daß es mein eigenes Kind ist oder ein Freund, den ich schon lange kenne und dem ich all meine Liebe angedeihen lassen muß.
Das Wesentlichste bei Kindern ist, ihnen eine wirklich umfassende Erziehung zu geben – wobei ich Erziehung hier im weitesten Sinn des Wortes verstehe: als den Erwerb von Fähigkeiten und Wissen, aber auch als die Entwicklung der grundlegenden menschlichen Eigenschaften. In der Kindheit wird das Fundament gelegt. Die Denkweise, die wir uns während dieser ausschlaggebenden Jahre aneignen, hat einen tiefgreifenden Einfluß auf den Verlauf unserer gesamten Existenz, genauso wie Ernährung und körperliche Hygiene sich auf unsere zukünftige Gesundheit auswirken.
Wenn junge Menschen nicht all ihre Anstrengungen aufs Lernen konzentrieren, dann wird es ihnen [22] später schwerfallen, diese Lücke zu füllen. Ich habe das am eigenen Leib feststellen können. Manchmal hat mich das, was ich gerade lernen sollte, überhaupt nicht interessiert, und meine Anstrengungen ließen sehr zu wünschen übrig. Später habe ich das dann bereut. Ich sage mir immer, daß ich damals etwas versäumt habe. Aufgrund dieser Erfahrung rate ich allen jungen Menschen, die Zeit des Lernens als eine entscheidende Phase ihres Lebens anzusehen.
Außerdem muß man schon als Kind lernen, andere zu verstehen und einander zu helfen. Kleinere Streitereien und Konflikte sind unvermeidlich, aber es ist wichtig, sich daran zu gewöhnen, Dinge auch gut sein zu lassen und keinen Groll zu hegen.
Manchmal glauben wir, Kinder dächten nicht über ernste Themen wie den Tod nach. Aber wenn ich die Fragen höre, die mir Kinder stellen, dann wird mir klar, daß sie sehr wohl über ernste Dinge nachdenken, vor allem über das, was nach dem Leben sein wird.
In der Kindheit entfaltet sich die Intelligenz, und der Geist ist voll von Fragen. Dieser intensive Wissensdurst ist die Grundlage für unser inneres Wachstum. Je mehr wir uns für die Welt rund um uns interessieren und je mehr wir nach dem Warum und Wie der Dinge fragen, desto klarer wird unser Bewußtsein und desto besser kann sich unsere Eigeninitiative entwickeln.
[23] Aber da ist noch ein anderer Punkt, der mir wesentlich zu sein scheint. In unserer modernen Gesellschaft neigen wir dazu, uns nicht für das zu interessieren, was ich die natürlichen menschlichen Eigenschaften nenne: Herzlichkeit, Mitgefühl, Verständnis, die Fähigkeit zu verzeihen. Kindern fällt es leicht, Beziehungen zu anderen herzustellen. Sie lachen einmal gemeinsam über etwas, und schon haben sie einen neuen Freund gewonnen. Kinder fragen nicht, welchen Beruf der andere ausübt oder welcher Rasse er angehört. Wichtig ist, daß der andere ein menschliches Wesen wie wir ist und wir eine Beziehung zu ihm aufbauen können.
Je älter wir werden, desto weniger Wert legen wir auf Zuneigung, Freundschaft oder gegenseitige Unterstützung. In den Vordergrund treten Dinge wie Rasse, Religion, das Land, aus dem man kommt. Wir vergessen das Allerwichtigste und konzentrieren uns auf Lächerlichkeiten.
Aus diesem Grund ermuntere ich die jungen Leute, die mit fünfzehn oder sechzehn Jahren zu mir kommen, sich die Frische des kindlichen Geistes nicht nehmen zu lassen und ihr einen wichtigen Platz einzuräumen. Ruft euch immer wieder in Erinnerung, was den Menschen im Innersten ausmacht. Macht euch das zunutze, um ein unerschütterliches Vertrauen in euer eigenes Wesen zu entwickeln, so daß ihr Sicherheit in euch selbst finden könnt.
[24] Wir müssen uns im klaren darüber sein, daß das Leben keine leichte Angelegenheit ist. Damit wir ein gutes Leben führen können und uns nicht schon beim ersten Problem der Mut verläßt, müssen wir innere Kraft entwickeln.
Heutzutage legen wir viel Wert auf das Individuelle, auf das Recht jedes einzelnen, für sich selbst zu entscheiden, ohne sich den von Gesellschaft oder Tradition vorgegebenen Werten unterordnen zu müssen. Das ist eine gute Sache. Aber dabei lassen wir uns von Informationen leiten, die über die Medien, vor allem über das Fernsehen kommen, also von außen. Sie allein bestimmen und beeinflussen uns. Diese übermäßige Abhängigkeit macht uns unfähig, auf eigenen Beinen zu stehen und uns auf unsere eigenen Fähigkeiten zu verlassen. Wir verlieren das Vertrauen in unsere wahre Natur.
Aber das Vertrauen in sich selbst und die Fähigkeit, auf eigenen Beinen zu stehen, scheinen mir wesentlich zu sein für ein gelungenes Leben. Ich meine hier nicht eine dumme Selbstsicherheit, sondern das Bewußtsein für unser inneres Potential, die Gewißheit, daß wir uns ändern und bessern können – und daß es dafür nie zu spät ist.
Die Lieblingsthemen der Medien sind Diebstähle, Verbrechen und andere Handlungen, die von Gier oder Haß zeugen. Trotzdem wäre es falsch zu sagen, daß auf der Welt nichts aus Großmut passieren [25] würde, nichts, was aus unseren menschlichen Qualitäten erwächst. Gibt es denn niemanden, der sich um die Kranken, die Waisen, die Alten oder Behinderten kümmert? Niemanden, der aus Liebe zu anderen handelt? Doch, es gibt viele Menschen, die das tun, aber wir haben uns daran gewöhnt zu glauben, das sei normal.
Ich bin überzeugt, daß wir in unserem tiefsten Inneren weder töten noch vergewaltigen, noch stehlen, noch lügen, noch andere negative Handlungen begehen wollen und daß wir alle der Liebe und des Mitgefühls fähig sind. Wir müssen uns nur bewußt werden, welch wesentliche Rolle spontane Zuneigung in unserem Leben spielt, schon von Geburt an. Ohne sie wären wir schon lange nicht mehr am Leben. Wir brauchen nur zu beobachten, wie gut es uns tut, wenn uns die Liebe der anderen umgibt oder wenn wir selbst Liebe in uns fühlen, und wie schlecht wir uns in unserer Haut fühlen, wenn uns Zorn oder Haß entgegenschlägt. Liebevolle Gedanken und Handlungen wirken sich ganz eindeutig positiv auf unsere psychische und körperliche Gesundheit aus, denn sie entsprechen unserer wahren Natur. Gewalttätige, grausame, haßerfüllte Handlungen überraschen uns jedoch. Deswegen haben wir das Bedürfnis, darüber zu sprechen, und deswegen füllen sie die Schlagzeilen der Zeitungen. Das Problem ist nur, daß wir nach und nach beginnen zu glauben, die [26] menschliche Natur sei schlecht. Eines Tages werden wir uns vielleicht sagen, daß es nicht mehr die geringste Hoffnung für die Menschheit gibt.
Es ist daher wesentlich, den jungen Menschen zu sagen: Erkennt die menschlichen Qualitäten, die von Natur aus in euch angelegt sind. Baut auf sie und entwickelt ein unerschütterliches Vertrauen in sie, eine Sicherheit, und lernt, auf euren eigenen Beinen zu stehen!
Manche junge Menschen beginnen ihr eigenes Leben, ohne zu wissen, was sie wollen. Sie fangen mit einem Beruf an, der ihnen dann nicht gefällt, hören daher wieder auf und suchen sich einen anderen, bis sie auch den wieder aufgeben. Irgendwann geben sie dann alles auf und haben das Gefühl, daß sie nichts wirklich inspirieren kann.
Wenn ihr euch in dieser Lage befindet, dann macht euch klar, daß es kein Leben ohne Schwierigkeiten gibt. Erwartet nicht, daß euch alles beim ersten Mal gelingt und Probleme sich wie durch ein Wunder in Luft auflösen.
Wenn ihr euch nach eurem Studium eine Arbeit sucht, dann laßt euch bei eurer Entscheidung von eurem Wesen, eurem Wissen, euren Stärken und Interessen, ja, vielleicht auch von eurer Familie, euren Freunden und Beziehungen leiten. Vielleicht ist es klug, einen Beruf zu ergreifen, den andere in eurer Umgebung schon ausüben. Dann könntet ihr euch [27] bei ihnen Rat holen und von ihrer Erfahrung profitieren.
Berücksichtigt alle Kriterien, zieht die Möglichkeiten in Betracht, die eurer Situation am ehesten entsprechen, und entscheidet euch dann. Habt ihr einmal eine Entscheidung getroffen, dann bleibt auch dabei. Auch wenn ihr auf Schwierigkeiten stoßt – seid entschlossen, sie zu überwinden. Habt Vertrauen in euch und mobilisiert eure ganze Energie.
Wenn ihr aber die verschiedenen Berufe, die in Frage kommen, wie Speisen behandelt, die man euch vorsetzt und in denen ihr lustlos herumstochert, dann habt ihr nicht viel Aussicht auf Erfolg. Sagt euch, daß irgendwann der Tag kommt, an dem ihr eine Entscheidung fällen müßt, und daß es nichts auf dieser Welt gibt, das überhaupt nichts Negatives an sich hat.
Ich habe manchmal den Eindruck, als verhielten wir uns wie verwöhnte Kinder. Solange wir noch ganz klein sind, sind wir vollkommen von unseren Eltern abhängig. Dann gehen wir in die Schule, man läßt uns Erziehung und Bildung angedeihen, man ernährt uns, man kleidet uns, und das ganze Gewicht unserer Probleme ruht nach wie vor auf den Schultern anderer Menschen. Wenn dann endlich der Augenblick gekommen ist, in dem wir unser Leben selbst in die Hand nehmen und unsere Bürde selber tragen können, dann erwarten wir, daß alles [28] ganz reibungslos vor sich gehen muß! Diese Haltung steht in Widerspruch zur Realität. In dieser Welt bleiben niemandem Schwierigkeiten erspart.
[29] An die Erwachsenen
Die vorangegangenen Überlegungen gelten auch für alle, die in das Erwachsenenleben eintreten, indem sie zu arbeiten beginnen oder eine Familie gründen.
Der Beruf, den wir ausüben, ist das Mittel, mit dem wir uns unseren Lebensunterhalt verdienen, aber er ist auch unser Beitrag zu der Gesellschaft, von der wir abhängig sind, denn zwischen uns und der Gesellschaft besteht ein Abhängigkeitsverhältnis: Blüht und gedeiht die Gesellschaft, dann profitieren wir davon; geht es ihr hingegen schlecht, dann leiden wir darunter. Unsere Gemeinschaft übt ihrerseits Einfluß auf jene aus, die uns umgeben, ja, in letzter Konsequenz auf die gesamte Menschheit. Wenn es den Bewohnern der Region, in der ihr lebt, wirtschaftlich gutgeht, dann wird dieser Wohlstand sich auf das ganze Land positiv auswirken. Die Wirtschaft eures Landes ist ihrerseits mit der des Kontinents verbunden und die Wirtschaft des Kontinents mit der Weltwirtschaft. Unsere modernen Gesellschaften sind aufs engste miteinander verflochten, und das Verhalten eines jeden von uns hat Einfluß auf das aller anderen. Ich glaube, man muß sich das einmal bewußtmachen.
[30] Wenn ich sage, die Gesundheit der Gesellschaft spiegle sich unweigerlich in jedem von uns wider, so soll das nicht heißen, daß man sein eigenes Wohlergehen dem der Gruppe opfern soll. Ich sage nur, daß beides nicht voneinander zu trennen ist. Heutzutage glauben wir, das Schicksal der Gesellschaft und das des einzelnen seien zwei verschiedene Dinge. Das Individuum zählt, nicht die Gemeinschaft. Wenn man aber sein Blickfeld ein bißchen erweitert, dann erkennt man, daß diese Haltung auf lange Sicht keinen Sinn macht.