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Alexander Emmerich

Der Doktor und sein Fälscher

ALEXANDER EMMERICH

DER DOKTOR UND SEIN FÄLSCHER

MANNHEIM-KRIMI
Teil 2

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Alexander Emmerich, Jahrgang 1974, lebt in Mannheim und Paris. Während er im Zug zwischen beiden Städten pendelt, schreibt er Kriminalliteratur, Sachbücher, Drehbücher und Hörbücher. Er ist promovierter Historiker und lehrt an der Universität Mannheim.

Ähnlichkeiten mit Personen und Sachverhalten sind reiner Zufall und vom Autor nicht beabsichtigt. Mörder und Opfer sind frei erfunden.

Impressum

G. BRAUN

Lektorat: Andrea Hahn, Literaturbüro am Cottaplatz, Marbach a. N.

Umschlaggestaltung: Röger & Röttenbacher GbR, r2 Büro für Gestaltung, www.roeger-roettenbacher.de

Umschlagbild: table/photocase.com

ISBN: 978-3-7650-2106-0

Dieser Titel ist auch als Print-Buch erscheinen: ISBN: 978-3-7650-8806-3

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

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Inhalt

prolog

erster tag

zweiter tag

dritter tag

epilog

prolog

Hass ist ein menschlicher Gefühlszustand, der durch eine heftige und anhaltende Antipathie ausgelöst wird. Er ist das Gegenteil von Liebe und reicht bis weit in die Abgründe der menschlichen Seele. Ausgelöst wird Hass durch Eigennutz, Neid, gekränkten Ehrgeiz, Eifersucht oder verschmähte Liebe. Er ist das Ergebnis einer tiefen Verletzung, der der Betroffene ohnmächtig gegenübersteht. Im Moment der Kränkung ist er seinem Gegenüber hilflos ausgeliefert. Sein Körper kennt dann nur eine Reaktion: Er lernt zu hassen. Der Wille, dem anderen zu schaden, brennt sich tief in die Seele ein.

Hass bezieht sich immer und ausschließlich auf Lebewesen. Dinge kann man nicht hassen, denn nur einem Lebewesen kann ein Mensch schaden wollen – nur dann vermengt sich Abscheu und Verachtung mit dem Trieb, jemanden unbedingt verletzen, ja, ihn nicht nur verletzen, sondern ihn voll und ganz auslöschen zu wollen.

Ein Mann schritt über den Paradeplatz und ging geradewegs auf die seit ihrer Gründung im Jahr 1967 im Mannheimer Schloss untergebrachte Universität zu. Als er die Quadrate verlassen hatte und an der vielbefahrenen Bismarckstraße stand, hielt er einen Moment inne und betrachtete das Farbenspiel am Firmament. Schon lange, seit seinem Studienbeginn, lebte er in dieser Stadt, doch im Herbst erstaunten ihn die Sonnenuntergänge über Mannheim jedes Mal aufs Neue. Besonders schön waren sie seiner Meinung nach im September, doch auch dieser Novembersonnenuntergang hatte es in sich.

Feuerrot glühte der Himmel über dem nahen Pfälzerwald, als seien seine Berge die Pforten zur Hölle. Jenseits des Höllenfeuers mischte sich ein tiefes, sattes Orange hinzu, wie man es sonst nur am Abendhimmel Afrikas vermuten würde. Das beeindruckende Farbenspiel am Himmel tauchte die gesamte Rheinebene bis weit in das französische Elsass hinein in eine warme und dennoch dunkle Atmosphäre. Schön und schauerlich zugleich war der Eindruck, dessen Abbild auch aus einer Oper von Richard Wagner hätte stammen können, schoss es ihm durch den Kopf.

Der Mann war fasziniert. Er ließ mehrere Grünphasen der Fußgängerampel vorbeiziehen und starrte weiter Richtung Westen in den Himmel. Die Sonne wirkte auf einmal nah, beinahe zu nah. Satt und vollgesaugt schwebte sie über dem fernen Neustadt, bis sie schließlich versinken und sich immer weitere purpurne Streifen durch das zurückbleibende Höllenfeuer ziehen würden. Er war über seine Assoziation selbst erstaunt. Die Hölle … Er schüttelte sich. Genau in diesem Moment sprang die Fußgängerampel wieder auf Grün, und er setzte seinen Weg zur Universität fort.

Viele Gebäude der Quadratestadt waren mittlerweile in ein warmes Orange gehüllt, doch besonders schön reflektierte das Schloss die Strahlen des Sonnenuntergangs. Es glühte wie ein Lagerfeuer, und seine Fenster flackerten im rötlichen Licht, was der Atmosphäre zusätzlich Wärme und Glanz verlieh. Der Winter stand unmittelbar bevor, daher genoss der Mann den Anblick.

„Irgendwie passend“, murmelte er, „heute werden noch einige ihren ganz persönlichen Sonnenuntergang erleben.“

Für einen Moment blieb er am Eingang zum breiten Ehrenhof stehen, der von der Universität u-förmig umklammert wurde. Hier hatte er früher unterrichtet, und hier hatte er ursprünglich Karriere machen wollen. Doch dann war vieles anders gekommen, als er es sich vorgestellt hatte. Irgendwann war er vor dem Nichts gestanden, und es hatte für ihn nur einen Ausweg gegeben.

Der Mann schaute um sich und nahm einen tiefen Atemzug der kalten Luft, die ihn erfrischte. Er war wieder hier. Und heute sollte die Nacht sein, auf die er seit Jahren hingearbeitet hatte.

Der Mann schritt weiter. Mitten vor dem Schloss blieb er erneut stehen, bückte sich und band sich die Schnürsenkel. Dabei fiel ihm unweigerlich Schiller ein: „Heute muss die Glocke werden, frisch Gesellen, seid zur Hand. Soll das Werk den Meister loben …“, er unterbrach sich selbst und grinste: „… und der Meister, das bin ich.“

Vor der im östlichen Gebäudeflügel eingerichteten Cafeteria saß zu seiner Linken eine Gruppe Studenten an kleinen Tischen. Sie genossen die letzten Sonnenstrahlen des Herbstes und tranken das letzte Weißbier der Saison. Die dunkle Jahreszeit stand an. Zu ihnen hatten sich einige Kommilitoninnen gesellt, die sich mit Sonnenbrillen und sommerlicher Kleidung viel zu dünn für die Jahreszeit angezogen hatten. Mit aller Gewalt wollten sie die Stimmung des Sommers konservieren. Der Mann seufzte: „In zwei Tagen seid ihr erkältet, und dann jammert ihr bis Mitte Mai.“

Vieles sah noch genauso aus wie vor sechs Jahren, als er hier seinen letzten Tag verbracht hatte. In Gedanken begrüßte er die Studierenden mit einem gehässigen Nicken. Dann drehte er seinen Kopf, blickte reihum von einem Flügel des Schlosses zum anderen und dachte selbstzufrieden: „Liebe Professorenkollegen, genießt die Ruhe vor dem Sturm!“

Schließlich streichelte er mit seiner freien Hand über den braunen Aktenkoffer, den er bei sich trug. Heute würde er hier an der Uni eine Bombe hochgehen lassen, die ihresgleichen suchte. Mit seiner Tat würde er die Universitätslandschaft für immer verändern und sich für das rächen, was ihm angetan worden war.

Er presste seine schmalen Lippen zusammen und formte mit seinen Mundwinkeln ein kaltes, müdes Lächeln. Noch einmal blickte er an sich hinunter. Alles war korrekt. Die Krawatte saß, und die Schuppen waren von seinen Schultern gewischt. Er war bereit.

Wenige Minuten später lief er die Treppen in eines der oberen Stockwerke hinauf, zu einer Person, die ihn wahrscheinlich am allerwenigsten erwartete. Er hatte sich nicht angemeldet, wie das sonst an der Universität üblich war. Früher hatte er sich immer gefragt, ob man sich bei den Professoren anmelden musste, damit diese ihre Termine auf dem Tennisplatz koordinieren konnten. Ja, so waren seine Kollegen. Sie litten an dem allseits bekannten DiMiDo-Syndrom und waren nur dienstags, mittwochs und donnerstags an der Uni anzutreffen. Den Rest verbrachten die Herrn Professoren angeblich mit eigener Forschung zu Hause. Wie jeder andere wusste auch der Mann, dass es schwarze Schafe gab, die seit Jahren nicht mehr geforscht oder publiziert hatten. Montags und freitags waren sie nicht an ihrem Schreibtisch, sondern zumeist beim Tennis- oder Golfspiel. Um die Universität kümmerten sie sich längst nicht mehr. Sie verwalteten ihre Plätze und blockierten den Aufstieg anderer. Seinen Aufstieg. Er war immer da gewesen, auch am Wochenende. Irgendwer musste schließlich die ganze Arbeit tun. Zu ihm hatten immer alle kommen können. Aber das hat an der Universität niemanden interessiert, auch sein Opfer nicht.

Obwohl er schon seit einigen Jahren nicht mehr an der Uni arbeitete, drehten sich seine ganzen Gedanken noch immer Tag für Tag um die kaputte akademische Karriere. Es war eine Qual. Er war süchtig nach Informationen über die Hochschule, und er wusste über den universitären Alltag Bescheid. Er kannte die neuesten Forschungsarbeiten, las Rezensionen, verfasste Aufsätze. Ja und er kannte, hier musste er lächeln, die Gewohnheiten seiner ehemaligen Kollegen. Er wusste, wann und wo sein Opfer an der Universität anzutreffen war. Er hatte es seit Jahren beobachtet und analysiert, um auf den heutigen Tag vorbereitet zu sein. Und heute Abend war das Opfer zugegen. Es rechnete nicht mit ihm und noch weniger mit seinem Vorhaben.

Keuchend war der Mann in den oberen Stockwerken angekommen. Er versuchte, tief zu atmen, denn aufgeregt wollte er nicht wirken. Daher wartete er eine Weile. Erst als er innerlich wieder ruhig und seiner Atmung nichts mehr anzumerken war, trat er an die Bürotür seines Opfers heran und riss sie mit einem gewaltigen Ruck auf. Das Opfer, das sich gerade am Schreibtisch befand, erschrak und stieß einen Schrei aus. Mit weit aufgerissenen Augen starrte es ihn ungläubig an. Ein Gespenst hätte es vermutlich nicht stärker schockieren können. Der Mann verhöhnte sein Opfer mit einem tiefen, künstlichen Lachen. Er genoss den Moment.

„Da bin ich wieder, und ich habe etwas mitgebracht!“, begann er.

Die Überraschung war geglückt. Dem Opfer hatte es die Sprache verschlagen. Der Mann blickte sich um. Er erinnerte sich, dass auch er einmal in diesem Zimmer gearbeitet hatte. Doch damals hatte er sich mit alten Möbeln begnügen müssen. Zwei Hiwis hatten zudem den Raum mit ihm geteilt. Er hatte sein Büro stets in Ordnung gehalten. Und das Chaos, in dem sein Opfer arbeitete, gefiel ihm nicht. Er ging einige Schritte auf den nagelneuen Designer-Schreibtisch zu und baute sich davor auf. Mit einer schnellen Armbewegung wischte er die Unterlagen von der Platte und sah seinem Opfer tief in die Augen.

„Hat man dir keinen Ordnungssinn beigebracht?“, fragte er eiskalt.

Nun fand sein Gegenüber die Sprache wieder.

„Sofort raus aus dem Zimmer, oder ich rufe die Polizei!“

„Glaube mir, die Polizei ist das Letzte, was du gleich sehen möchtest.“

Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich seinem Opfer gegenüber.

„Was willst du?“, fragte es ängstlich.

„Du armer Tor, stehst hier und bist so klug wie je zuvor“, lachte der Mann.

Auf seine Faust-Einlage konnte das Opfer nichts antworten. Im Gegenteil, das Zitat verwirrte es.

„Heinrich, mir graut’s vor dir!“, bellte der Mann. „Das wäre die richtige Antwort gewesen.“

Er stellte sein Köfferchen auf dem Schreibtisch des Opfers ab und schob damit die restlichen Gegenstände, die sich dort befanden, rechts und links vom Tisch. Kugelschreiber, Locher und Büroklammern flogen davon. Eine Kaffeetasse, auf der das große Y der Yale-Universität prangte, zerbrach, und ein mit Gold überzogener Briefbeschwerer, der aussah, als stammte er aus den 1950er-Jahren, donnerte auf den Boden.

„Was willst du?“, fragte das Opfer abermals. Seine unsichere Stimme verriet, dass es Angst vor ihm hatte. Es ließ ihn gewähren. Mit den Füßen drückte das Opfer seinen Schreibtischstuhl so weit wie möglich nach hinten zur Wand, weg von dem Mann. Es krallte seine Hände in den Schreibtischstuhl, als säße es in einer Achterbahn gefangen. Doch die Augen beschrieben ein anderes Lied. Fieberhaft suchte das Opfer nach einem Ausweg.

Der Mann ließ sich auf einen der Stühle fallen, die am Schreibtisch standen, und lehnte sich zurück. Er schaute nach rechts und zuckte mit den Schultern, er schaute nach links und zuckte mit den Schultern. Er wartete mit seiner Antwort noch etwas und putzte mit zwei schnellen Griffen seine Brille. Daraufhin beugte er sich wie ein Märchenonkel über den Schreibtisch nach vorne, um möglichst nahe an sein Opfer heranzukommen.

„Ich will Gerechtigkeit“, sagte er in einem ruhigen, sachlichen Ton, als hätte er gerade in einem Copyshop zwanzig DIN-A4-Kopien bestellt. Mit der rechten Hand wischte er sich währenddessen ein paar frische Schuppen von der linken Schulter und lehnte sich wieder zurück. Erneut presste er die Lippen zusammen und bestätigte sich selbst mit einem Nicken. Schließlich legte er ein künstliches Grinsen auf, das seinem Opfer offenbar Unbehagen bereitete, denn es rutschte auf dem Stuhl herum. Er wiederholte seinen letzten Satz, langsam und eher für sich selbst.

„Ich will Gerechtigkeit.“

Grinsend öffnete er sein todbringendes Köfferchen.

Sein Opfer hielt den Atem an.

erster tag

Am gleichen Abend stand Kriminalhauptkommissarin Olivia von Sassen vor dem alten, großen und ovalen Holzspiegel, den ihr einmal ihre Großmutter vermacht hatte und den sie regelmäßig in alle Wohnungen mitschleppte, in denen sie mehr als drei Tage lebte. Bereits in ihrer Ausbildungszeit und auch in den beiden Berliner Wohnungen auf dem Prenzlauer Berg, in denen sie vor ihrem Umzug nach Mannheim gelebt hatte, war der Spiegel stets ihr Begleiter gewesen. Mit großer Sorgfalt hatte sie ihn vor einem halben Jahr hierhertransportiert.

Die letzten Monate waren wie im Flug vergangen. Im Frühsommer war sie gleich in ihren ersten Fall gestolpert, glücklicherweise hatte sie ihn gemeinsam mit ihrem Kollegen Moritz Martin schon nach wenigen Tagen lösen können. Seither war es verhältnismäßig ruhig in Mannheim. Verhältnismäßig im Vergleich zu Berlin, wo sie im Dauereinsatz gewesen war – bis man sie hatte versetzen müssen.

Der Spiegel stand am Ende des Ganges ihrer kleinen Wohnung, die in der Schwetzinger Vorstadt lag, und wirkte wie aus einem anderen Jahrhundert. Draußen wurde es allmählich dämmrig. Da Olivia das Licht im Flur noch nicht eingeschaltet hatte, war es um sie herum schummrig. Allmählich erkannte sie kaum noch ihr Spiegelbild.

Sie trug einen dunkelbraunen Hosenanzug und dazu eine schwarze Bluse, doch ihr Augenmerk war ganz auf ihre Schuhe gerichtet. Zwei, drei strenge Blicke trafen die dunklen Stiefel. Sie knipste das Licht an und blinzelte. Perfekt, sagte sie sich nach ein paar Sekunden, meinte jedoch lediglich die Stiefel, den Rest verwarf sie schnell wieder. Plötzlich flog der Hosenanzug durchs Zimmer, und Olivia griff zu einem schwarzen, halblangen Kleid. Der Spiegel verriet ihr, dass es hervorragend zu den Schuhen passte. Sie betrachtete sich lange. Doch etwas störte sie. Daher drehte sie sich noch einmal vor dem Spiegel in alle Richtungen. Irgendwie wirkte das Kleid nicht ernsthaft. Sie wollte auf keinen Fall aussehen wie das Anhängsel von Moritz, sondern wie eine selbstbewusste Frau. Mit diesem Kleid würde sie bei der Männerwelt einen Eindruck hinterlassen, den sie auf keinen Fall für gut hielt. So ging das nicht. Nun flog das schwarze Kleid dem Hosenanzug hinterher. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sie sich lediglich auf die Schuhe festgelegt, und ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie allmählich das Outfit für den heutigen Abend finden sollte. Sie hatte noch einen grauen Rock, den sie auch zu den Stiefeln tragen konnte. Aber welche Bluse würde zum Rock passen? Verzweifelt schaute sie sich im Zimmer um. Diese Bluse hatte sie bei der Arbeit angehabt. Das ging also gar nicht. Ein weiterer Blick auf die Uhr ermahnte sie, nun schnell etwas zu finden. Während sie im Zimmer umherschaute, fiel ihr Blick auf ihr neues Paar hellbraune, hochhakige Schuhe, das sie erst letzte Woche gekauft hatte und das wunderbar zum Hosenanzug passen würde. Sie griff wieder zum Anzug, schlüpfte hinein, zog die Schuhe an – und war zufrieden.

Eigentlich wollte sie mit dem Fahrrad zur nahe gelegenen Uni fahren. Ging das mit den Schuhen? „Es wird schon gehen“, seufzte sie und beschloss, sich lieber auf dem Rad zu quälen, als sich noch einmal umzuziehen.

Schnell brachte sie noch ihre wilde Lockenpracht in Ordnung, schnappte ihren Schlüssel und eilte die Treppen des Altbaus nach unten, wie sie es immer tat. Im Erdgeschoss angekommen, ging sie in den Hinterhof. Dort befanden sich neben den Mühltonnen die Fahrräder der Hausbewohner. Ihr Blick schweifte über den verwahrlosten Garten. Als sie letzten Sommer hier eingezogen war, hatte ihr Vermieter groß und breit damit angegeben, dass die Hausbewohner den Garten nutzen könnten. Doch schon damals hatte Olivia gefunden, dass man dazu Rasen hätte aussäen müssen, denn im Grunde bestand der Hinterhof aus einem langen Betonweg, der ein Feld aus Matsch in zwei Teile unterteilte. Nicht einmal die feierfreudigen Studenten aus dem zweiten Stockwerk hatten letzten Sommer den Hinterhof für ihre Grillpartys genutzt. Sie waren viel lieber im Luisenpark gelegen oder hatten zur Not auf dem Balkon gegrillt.

Das braune, verwelkte Laub des Herbstes lag überall herum und verschlimmerte den Anblickt von Elend und Trostlosigkeit. Nicht gerade einladend war außerdem die allzu schattige Lage des Hinterhofs. Im Hochsommer war diese sicher von Nutzen, aber den Rest des Jahres kam er gerade deswegen nicht für ein bisschen Erholung in Frage. Nur gegen Abend drang etwas Licht in den Hof, so wie in diesem Moment, als Olivia auf ihr Fahrrad zuging. Die dunkelrote Sonne erschien zwischen den beiden rückseitig gelegenen Nachbarhäusern und strahlte sanft auf die Kommissarin herab. Bevor sie ihr Rad aufschloss, blinzelte sie hoch. Welche atemberaubenden Sonnenuntergänge die Stadt doch zu bieten hatte!

Olivia holte tief Luft und fand, dass diese bereits nach Winter roch, was sie noch melancholischer machte. Sie schloss ihr altes, orangefarbenes Damenrad auf und lächelte über die Quietscheente, die ihr Kollege Moritz als Klingelersatz geschenkt hatte.

Gerade als sie den Schlüssel ins Fahrradschloss gesteckt hatte, meldete sich ihr Handy mit einer SMS. Olivia war sofort klar, wer das war. Nur Moritz schickte ihr noch SMS, ihr restlicher Freundeskreis war längst auf What-sApp und Ähnliches umgestiegen. In der Tat war es ihr Kollege:

„Holst du mich ab? Ich schaff es sonst nicht. Der Dienstwagen steht bei dir.“

Olivia hatte große Lust gehabt, mit dem Fahrrad zu fahren, um so den vielleicht letzten schönen Tag des Herbsts zu genießen, aber da Moritz sie zu dieser Veranstaltung eingeladen hatte, blieb ihr keine andere Wahl. Sie seufzte, schrieb ihm schnell eine Antwort und schloss ihr Fahrrad wieder ab. Dann ging sie zurück ins Haus und verließ dieses durch die Eingangstür. Am Abend zuvor war sie mit dem Dienstwagen nach Hause gefahren und hatte ihn zwei Straßen weiter an einem kleinen Platz in der Schwetzingerstadt geparkt. Braunes Herbstlaub pflasterte den Boden. Immerhin war es trocken und nicht matschig, sodass der Wind einige Blätter über die Straßen blies. Olivia schlenderte die dicht beparkten Straßen entlang und wunderte sich, wie manche Leute ihre Autos abstellten. Eigentlich müssen Kreuzungen doch freigehalten werden, oder? Sie beobachtete ein junges Pärchen, das quer auf der Straße parkte, um gemeinsam und glücklich mehrere Möbel und Umzugkartons aus dem Auto zu tragen. Die Turteltäubchen gefielen Olivia gar nicht. Paare, die auf einer rosaroten Wolke lebten, passten nicht in ihre Gegenwart. Sie dachte an ihre letzte Beziehung in Berlin und daran, wie diese gescheitert war. Das reichte ihr erst einmal für eine Weile. Es ist schon gut so, redete sie sich ein, dass sie für den Moment allein war.

Wenige Schritte weiter wunderte sich Olivia über ihren Zynismus, denn eigentlich hatte sie den ganzen Tag über gute Laune gehabt. Sie war weder verbissen, noch war ihr eine Laus über die Leber gelaufen. Lag es an Moritz’ SMS, dass sie nun anfing zu stänkern? Manchmal konnte er sie mit seiner Art richtig auf die Palme bringen, und gewisse Handlungen von ihm lösten in ihr Unmut aus. Darüber, dass dem so war, war sie sich bereits seit ihrer Ankunft im Klaren.

Als Olivia endlich an ihrem Dienstwagen angekommen war, entdeckte sie im Licht der Dämmerung etwas an ihrer Windschutzscheibe. Neugierig ging sie um das Auto herum. Sie hob einen der Scheibenwischer hoch und erkannte, dass es sich um einen Strafzettel handelte. Das konnte doch wohl nicht wahr sein, sie hatte falsch geparkt. Nein, doch nicht sie, ausgerechnet sie. Wütend zog sie den Strafzettel unter dem Scheibenwischer hervor, wobei sie ihn beinahe zerissen hätte, weil er sich nicht so leicht entfernen ließ.

Olivia stampfte wütend mit dem Fuß auf, und die hochhakigen Schuhe hinterließen ein schallendes Geräusch auf der Straße. Dann ging sie um das Auto herum, um festzustellen, warum sie das Ticket überhaupt erhalten hatte. Weit und breit war kein Parkverbot zu finden. Verärgert lief sie an der Motorhaube vorbei und entdeckte ein umgefallenes Schild: „Privatparkplatz Prof. Dr. Fechte“. Das hatte sie am Abend zuvor nicht sehen können.

Ihr war die Sache sehr peinlich, denn im Grunde bekam sie nie einen Strafzettel. Wütend riss sie die Fahrertür auf, schmiss ihre Tasche auf den Rücksitz und legte den Strafzettel in das Handschuhfach. Sie drehte den Zündschlüssel um, legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas. In letzter Sekunde erkannte sie einen Fahrradfahrer, der hinter ihrem Wagen vorbeifuhr. Sie trat das Bremspedal durch und konnte gerade noch stoppen. Der Radfahrer schüttelte erbost den Kopf und zeigte ihr den Vogel.

„Ich geb dir gleich den Vogel … Das ist Beamtenbeleidigung!“, knurrte sie vor sich hin und ließ ihrem Ärger freien Lauf. Das tat gut!

Bevor sie endgültig aus der Parklücke rollte, sah sie sich vorsichtig um. Während sie zu Moritz fuhr, verschlechterte sich ihre Laune von Minute zu Minute.

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Olivia lenkte den Dienstwagen auf die Augustaanlage, fuhr am Rosengarten vorbei und bog rechts in den großen Ring ab, der die Mannheimer Quadrate umspannte. Sobald sie das Nationaltheater passiert hatte, zwirbelte sie ihr Telefon aus der Jackentasche, setzte ihr Headset auf und wählte an der nächsten roten Ampel Moritz’ Nummer. Sie hatte mit ihm generell ausgemacht, dass sie auf seinem Handy anrufen und es zweimal klingeln lassen würde, sobald sie in die Nähe seiner Wohnung in der Neckarstadt kam. Zwar war sie noch ein gutes Stück davon entfernt, doch erfahrungsgemäß brauchte er immer länger, und diese Zeitspanne plante sie mittlerweile mit ein, wenn sie sich mit ihm treffen wollte.

Im Grunde schuldete sie ihrem Kollegen etwas. Er hatte sie selbstlos und freundlich in Mannheim aufgenommen. Seit einem halben Jahr bildeten sie ein Team. Während Moritz schon immer für die Kripo Mannheim arbeitete, ersetzte Olivia seinen alten Partner Fritz Such. In der Nacht bevor sie in Mannheim angefangen hatte, auf der Zugfahrt von Berlin, hatte sie in einer abgestellten S-Bahn einen Mord beobachtet, den ihr damals niemand hatte glauben wollen, weil Olivia selbst die einzige Zeugin war und sowohl Mörder als auch Leiche verschwunden waren. Einzig Moritz hatte ihr vertraut und bei den Ermittlungen geholfen. Nach drei turbulenten Tagen hatten sie den Fall gelöst – und waren zum gut funktionierenden Team geworden.

Doch je länger sie hier war, umso mehr Verantwortung schob Moritz auf sie ab. Ob er das mit Absicht tat? Häufig wunderte sie sich, wie bestimmend und entscheidungsfreudig er sein konnte, wenn er unter Druck stand und alleine ermittelte, sobald sie aber mit im Team war, verflüchtigten sich diese Eigenschaften. Olivia konnte es sich nicht erklären. Allerdings musste man bei Moritz aufpassen. Er war ein erfolgreicher Ermittler, der stets zu ungewöhnlichen Methoden griff. „Geht nicht“ gab es bei ihm nicht, und es oblag ihr, hin und wieder die Handbremse anzuziehen, wollten sie nicht in Schwierigkeiten geraten.

Darüber hinaus brachte sie Moritz’ nicht vorhandene Pünktlichkeit auf die Palme. Im Allgemeinen kam er mindestens eine Viertelstunde zu spät, selbst wenn sie ihn direkt vor seiner Haustür abholte. Olivia ärgerte sich maßlos über die Warterei, und normalerweise kam es prompt zum Streit, wenn sie ihn anrief, um ihm zu sagen, dass sie längst da sei. Deshalb war es ihr viel lieber, dass er den Anruf gar nicht erst abnahm, sondern stattdessen schnell aus seiner Wohnung eilte. Olivia schaute auf die Uhr. Hoffentlich war er diesmal pünktlich, denn viel Zeit blieb ihnen heute nicht.

Sie lenkte den Dienstwagen weiter über die Kurpfalzbrücke in Richtung Neckarstadt-West und kam endlich zu Moritz’ Haus. Erwartungsgemäß stand er nicht am gewöhnlichen Treffpunkt. Es war 16.40 Uhr, und die feierliche Promotionsveranstaltung, bei der Moritz’ Cousin seinen Doktortitel erhalten sollte, begann um 17 Uhr. Inklusive der Parkplatzsuche würde dies enorm knapp werden.

Olivia bemühte sich ruhig durchzuatmen. Sicher würde Moritz gleich kommen, es gab keinen Grund, sich aufzuregen. Doch als er fünf Minuten später noch immer nicht da war, wurde sie ungeduldig. Sie hupte zwei Mal laut. Ein Anwohner aus dem ersten Stock schob vorsichtig seinen Kopf aus dem Fenster und musterte Olivias Auto. Scheinbar kannte er den Wagen nicht und beschloss, dass die Huperei nicht ihm gegolten habe. Schnell zog er den Kopf wieder zurück und schloss das Fenster. Drei Stockwerke höher regte sich nichts, obwohl dort die Person wohnte, der das Hupsignal gegolten hatte. Olivia ärgerte sich, dass Moritz gar keine Reaktion zeigte.

Ungeduldig trommelte sie mit ihren Fingern auf dem Lenkrad und wartete eine weitere Minute.

„Okay, Moritz, du hast es nicht anders gewollt.“ Olivia wählte Moritz’ Nummer, doch anstatt des Freizeichens ertönte das Besetztzeichen. Olivia war außer sich. Doch gerade als sie lautstark nach ihm rufen wollte, tauchte ihr Kollege neben dem Auto auf und klopfte an die Scheibe. Olivia rollte mit den Augen, während Moritz um den Dienstwagen sprang und sich auf den Beifahrersitz fallen ließ.

„Sorry, Prinzessin, ging nicht anders“, entschuldigte er sich – ohne Erfolg. Er merkte sofort, dass schlechte Laune in der Luft lag. Olivia schielte zu ihm hinüber. Ihr war klar, dass er auf Zeit spielte, bis sie sich wieder eingekriegt haben würde. Doch dieses Mal war sie wirklich genervt, weil er nie, nie, nie pünktlich war und das alles als selbstverständlich nahm. Sie legte ihre ganze angestaute Wut in ihren rechten Fuß, gab Gas und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

„Emerson Fittipaldi?“, fragte Moritz vorsichtig von rechts. „Den kennst du wahrscheinlich nicht, oder?“

Olivia reagierte nicht auf seinen Versöhnungsversuch. In der Tat kannte sie Emerson Fittipaldi nicht und wusste auch nicht, was er mit ihrer Situation zu tun hatte. Ohnehin hatte sie beschlossen, Moritz mit Ignoranz zu strafen, bis sie endlich in der Veranstaltung sitzen würden. Also schwieg sie.

Nachdem sie den Wagen gewendet hatte und noch einmal an Moritz’ Haus vorbeifuhr, bemerkte sie, dass ihr Kollege einem blonden Mädchen zunickte, das aus einem seiner Wohnungsfenster schaute. Es winkte ihm. Olivia kniff die Augen zusammen. Dieses Mädchen kannte sie doch. Sie überlegte ein wenig, bis ihr einfiel, wo sie sich schon einmal begegnet waren. Moritz war vor Monaten einmal mit ihr ausgegangen. Sie hatte die beiden an einem Abend in der Alten Feuerwache gesehen. Als sie Moritz am nächsten Morgen fragte, wer das Mädchen sei, schien er ungewohnt zugeknöpft und reserviert. Darüber, wer das Mädchen war, hatte er kein Wort verloren. Olivia konnte nicht glauben, dass es sich um Moritz’ Freundin handelte, immerhin schien der Altersunterschied weit über zehn Jahre zu betragen, das Mädchen war noch keine zwanzig. Olivias Neugierde war erneut geweckt.

„Wer ist das?“, fragte sie geradeheraus.

„Was meinst du?“

„Na, das Mädchen am Fenster.“

Moritz schwieg einen Moment.

„Kein Kommentar. Gib lieber Gas, wir sind spät dran!“

„Spät dran, sind wir wegen dir, Moritz!“

Er zog die Schultern hoch und machte eine Geste, die seine Schuldlosigkeit signalisieren sollte.

„Du erzählst mir ja auch nicht, warum du aus Berlin weg bist, Prinzessin!“

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Anja Kugler stand am Eingang der Katakomben der Mannheimer Universität und beobachtete wie die Besucher der feierlichen Promotionsfeier auf ihre Plätze strömten. Die junge, hochgewachsene Professorin mit der modischen Kurzhaarfrisur hatte sich diese Feier für den eigens geschaffenen neuen Promotionsstudiengang einfallen lassen, den sie an der Mannheim School of Economics betreute.

Die Verwirklichung der Graduiertenschule und des neuen Studiengangs war eines jener großen, ehrgeizigen Ziele, die sie sich gesetzt hatte, nachdem sie vor etwa fünf Jahren die Professur in Mannheim erhalten hatte. Der Ausschuss, der über den Ruf entschied, war von ihren Plänen derart begeistert gewesen, dass zum ersten Mal eine junge Frau die alteingesessene Professur bekam und die zehn männlichen Bewerber leer ausgingen. Sie hatte sich durchgesetzt, darauf war sie stolz. Jeder ihrer Mitbewerber war sich im Vorfeld sicher gewesen, dass ihm die Professur zustand, und als sie sie schließlich erhielt, war sie eisigem Gegenwind ausgesetzt. In der Folge wurde sie aus allen Ecken des wissenschaftlichen Betriebes gemobbt. Keiner wollte einstecken und ihr die Professur zugestehen. Einige Kollegen beeinflussten ihre Mitarbeiter, allen voran ihre Sekretärin. Ihre Arbeiten wurden harsch rezensiert, und auf Konferenzen wurde sie vorerst nicht eingeladen. Sie hatte damit gerechnet, weil sie wusste, dass in der Wissenschaft einige gelandet waren, die es außerhalb nicht geschafft hätten. Sie waren von Neid und Missgunst getrieben und versteckten sich häufig hinter einer schrulligen, harmlos wirkenden Fassade.

Sie ließ ihren Blick an sich hinabgleiten. Der schwarze Talar, den sie trug, war mit den Farben ihrer Fakultät verziert. Ihre Fingerspitzen glitten über den schweren Stoff. Zufrieden stellte sie fest, dass sie am Ziel angekommen war. Die Talare gehörten zu ihrem Konzept einer international angesehenen Graduiertenschule. Mit der Promotionsfeier wollte sie ihren Studierenden einen feierlichen Abschluss bieten, denn die Hälfte aller Doktoranden kam aus dem Ausland. Dort, in England, den Vereinigten Staaten, in Indien oder China waren solche Promotionsfeiern Tradition und ein Ereignis, zu dem die Studierenden ihre gesamte Familie einluden. Wie hätten sie da in Mannheim zurückstehen sollen? Nein, heute war es so wie in ihren Heimatländern. Die Eltern der chinesischen Studenten waren genauso gekommen wie die Familien der Amerikaner und Engländer. Alle hatten sich herausgeputzt und füllten die Katakomben der Mannheimer Universität bis auf den letzten Platz.

„Mein Plan geht auf!“, frohlockte Anja Kugler insgeheim. Unter den Gästen konnte sie nicht nur ihre Professorenkollegen von der Mannheim School of Economics begrüßen, die sich – zum Teil sehr erfreut und zum Teil sehr unwillig – ebenfalls in Talare gehüllt hatten, sondern viele Kollegen aus der übrigen Universität sowie aus Heidelberg oder den umgebenden Fachhochschulen. Auch Vertreter der lokalen Medien waren da. Niemand wollte sich die Show mit den Talaren und der feierlichen Zeugnisübergabe entgehen lassen.

In Gedanken schweifte sie ab und erinnerte sich an ihre eigene Promotion. Damals hatte sie einen braunen Briefumschlag erhalten, der das Zeugnis enthielt. Sonst nichts. Keine Feier. Keine Talare. Keine Party mit Freunden und der Familie. Kein Gänsehautgefühl. Die deutsche Universitätslandschaft war ihr damals rückständig und reformbedürftig erschienen.

Hier hatte man ihr zunächst keine Stelle als Wissenschaftlerin angeboten. Frauen – und mochten sie noch so gut sein – waren zu jener Zeit in den elitären Männerkreisen der Universitäten nicht erwünscht gewesen. Deshalb war sie den Umweg über die USA gegangen, wo sie schnell wissenschaftliche Erfolge feiern konnte. Dort gab es wesentlich mehr Stellen an den Hochschulen, und die akademische Gemeinschaft selbst schien ihr offener als hierzulande.

Anja Kugler schaute auf die Uhr. In 15 Minuten würde die Feier losgehen. Ein Blick in eine spiegelnde Tür sagte ihr, dass ihre Kurzhaarfrisur saß und ihr der Talar ausgesprochen gut stand.

„Werte Kollegin, meine Hochachtung!“

Anja Kugler fuhr herum.

Vor ihr stand Professor Dieter Meerstadt. Er war ein großer, korpulenter Mann, der selbst die hochgewachsene Professorin noch um einiges überragte. Sie schaute ihn an und hatte unweigerlich das Gefühl, dass er einem Schwarz-Weiß-Film entstiegen war. Das lag nicht daran, dass sein Kleidungsstil aus alten Zeiten stammte, vielmehr war alles an ihm schwarz-weiß, der Anzug, das Hemd, die Haare. Selbst seine Haut wirkte total fahl, als würde kein Blut in ihr fließen.

„Mir gefällt es, dass in Mannheim wieder Talare getragen werden.“

Kugler nickte erfreut über das Kompliment.

„Ich hielt es für diesen internationalen Elitestudiengang für angemessen, dass wir eine Feier veranstalten, die wir so festlich wie möglich gestalten. Für die Studenten ist das dank der Talare und der Kulisse irgendwie wie in Hogwarts.“

„Hogwarts? Kenne ich nicht. Eine amerikanische Universität?“, entgegnete der Professor, der wahrscheinlich niemals in seinem Leben jung gewesen war.

„Ist nicht so wichtig“, winkte Anja Kugler ab.

„Ich hoffe für Ihre Studenten, dass sie sich den Talar und den Doktortitel auch verdient haben!“, bemerkte der Professor spitz.

Kugler merkte, wie ihr heiß wurde. Sie kannte das, aber sie konnte nichts dagegen tun. Meerstadt hatte einen Knopf gedrückt, der Wut in ihr auslöste. Plötzlich war ihr, als betrachte sie die Realität durch einen Schleier. Zu gern hätte sie diesem aufgeblasenen Schnösel die Meinung gesagt, noch lieber hätte sie ihn angeschrien. Natürlich hatten sich ihre Studenten diese Feier und ihren Titel verdient! Was erlaubte er sich bloß? Aber klar, er nahm sie nicht ernst, das hatte er noch nie getan und das würde er wohl auch in Zukunft nie tun.

Es war nicht das erste Mal, dass sie Derartiges aus seinem Mund hörte, und auch andere männliche Kollegen urteilten so über sie. Sie nahmen sie nicht ernst. Nur weil sie eine Frau war, die in einer Männerdomäne arbeitete. Dieser Ungerechtheit fühlte sie sich hilflos ausgeliefert.

Mit aller Gewalt versuchte sie, ruhig zu atmen. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, dass Meerstadts Bemerkung sie getroffen hatte. Um sich bei ihm und anderen Männern in der akademischen Welt durchsetzen zu können, wollte sie nach außen hin den schönen Schein wahren – und sie wollte zeigen, dass sie aus dem gleichen Holz wie jene geschnitzt war, die sie kritisierten.

„Jeder erhält, was er verdient“, entgegnete sie dem Professor mit einem aufgesetzten Lächeln, wobei ihr sofort klar war, dass er ihr dieses Lächeln nicht abnahm. Selbst für sie wirkte es geschauspielert.