Martin Walker | Anica Jonas
Die Schweiz für die Hosentasche
Was Reiseführer verschweigen
FISCHER E-Books
Martin Walker, Journalist, Verleger, Autor und Urner, lebt in Zürich. Auch als Schweizer versteht er sein Land und seine Landsleute nicht immer.
Anica Jonas, vor sechs Jahren aus Deutschland in die Schweiz gezogen, lebt sehr gerne in Zürich, wundert sich aber noch täglich über die Schweiz. Die Germanistin ist in der Verlagsbranche tätig.
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Erschienen bei FISCHER Taschenbuch
Frankfurt am Main, April 2014
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Covergestaltung und -abbildung: bilekjaeger, Stuttgart
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402958-0
Man muss sie mögen, die Schweizer. Auch wenn sie es einem nicht auf Anhieb leichtmachen. Im Grunde genommen sind sie aber harmlos und umgänglich – wenn man im Umgang mit ihnen um ein paar Marotten weiß. Die Schweiz für die Hosentasche hilft zu verstehen, wie der Schweizer tickt, gibt zuverlässige Tipps für die richtige Ansprache und enthüllt Wissenswertes über die Schweiz und ihre Bewohner. Dass sich in der Fülle der Statistiken und Listen neben viel Nützlichem auch viel Überraschendes findet, versteht sich von selbst.
Dass die deutschsprachige Schweiz und damit das Verhältnis zu Deutschland ein wenig mehr im Fokus dieses Bändchens steht, möge man verzeihen. Und um gleich mit einem Vorurteil aufzuräumen: Schweizer mögen Deutsche. Wie sonst wäre es zu erklären, dass proportional zur Bevölkerung viel mehr Schweizer in Deutschland leben als Deutsche in der Schweiz?
Wir sagen Ihnen, wie die Begegnung erfolgreich verlaufen kann und wie Sie die größten Fettnäpfchen rechtzeitig erkennen können, wir klären Sie auf über Dos and Don’ts in der Confoederatio Helvetica.
Wenn auf den folgenden Seiten vom »Schweizer« die Rede ist, ist die Schweizerin natürlich immer mitgemeint, auch wenn sie heute selber wählen und abstimmen darf.
Anica Jonas und Martin Walker
Im Oktober 2013
Eine kleine Mentalitätsgeschichte der Schweiz
In der Schweiz ist alles ein bisschen gemächlicher, höflicher und rücksichtsvoller. Was nicht bedeutet, dass es langsamer, freundlicher oder nachsichtiger zu- und hergeht. Das Spiel, das in Deutschland »Mensch ärgere dich nicht« heißt, wird in der Schweiz »Eile mit Weile« genannt – und es gibt sogar noch »Bänkli«, Bänke, auf denen man »sicher« ist. Ob die Bänkli im Zuge des Gerangels um das Bankgeheimnis Bestand haben, wird sich zeigen müssen. Aber das Ziel des Spieles ist dasselbe: gewinnen. In der Schweiz lässt man sich dazu einfach ein bisschen mehr Zeit. Ja, man sieht die Schweiz sogar als Bank an sich, die man allerdings auch mal verlassen muss, will man ans Ziel gelangen.
Das hat verschiedene Gründe, einer ist die Tatsache, dass die Schweiz eine Willensnation ist. Sosehr der Appenzeller Appenzeller oder der Urner Urner ist, der Jurassier Jurassier und der Tessiner Tessiner, sosehr ist jeder doch auch Schweizer und glaubt an dieses seltsame Konstrukt, das sich geschickt durch alle politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Fährnisse manövriert, das versucht, keinem auf die Füße zu treten (das nennt sich Neutralität), sich aber trotzdem einen eigenen Weg sichern will (das resultiert in bilateralen Verträgen). Die Politik der Schweiz ist eine Konsenspolitik, innen- wie außenpolitisch. Der Schweizer ist der Meinung, dass er – auch wenn »die da oben« in Bern natürlich machen, was sie wollen – tatsächlich die Macht hat im Staat. Das traut er sich auch zu, indem er etwa über höchst komplexe Vorlagen abstimmt – mit zum Teil erstaunlichen Resultaten, die von verblüffendem politischem Sachverstand zeugen. Es wird auch vermutet, dass die Schweizer wahrscheinlich die einzige Nation sind, die mehr Ferien für alle großmehrheitlich abgelehnt haben. Ebenso gehört auch dazu, dass es sieben Bundesräte gibt, was keine Oppositionspolitik zulässt, und der Föderalismus – eben die Urner, Appenzeller, Jurassier oder Tessiner – hochgehalten wird. Das ist der »Kantönligeist«, der unter anderem auch den Steuerwettbewerb befeuert, der mit dem interkantonalen Finanzausgleich wieder ausbalanciert wird.
Der Umgang mit Schweizern ist einfach. Ein paar Regeln gilt es zu beachten: Nicht zu forsch! Selbst in Restaurants und Geschäften sagt der Schweizer »Ich hätte gerne dies und das«, »Dürfte ich noch dies und das« – und bedankt sich danach sogar dafür, dass er bezahlen darf. Und beim Rausgehen »en Schöne« nicht vergessen, einen schönen Tag dann noch. Der Schweizer hat wenig Verständnis für Kritik an diesen Umgangsformen. »Dann bleib’ doch zu Hause, wenn’s dir hier nicht passt.« Wie gesagt, das Ziel ist dasselbe, nur der Ton dahinter ein anderer.
Apropos Ton: Der Schweizer zählt sich zum deutschen, französischen beziehungsweise italienischen Sprachraum – welchem sich die Rätoromanen zugehörig fühlen, ist unklar. Mit den dialektalen Unterschieden natürlich, die es zwischen Schweizerdeutsch und Hochdeutsch, zwischen dem »Français Fédéral« und dem Französisch der Franzosen gibt. Was das Schweizerdeutsche betrifft: Nicht darüber lustig machen. Ein angehängtes -li macht noch keine Mundart, besonders allergisch sind die Reaktionen auf »Fränkli«, ein Wort, das hier keiner benutzt, auch in der Schweiz geht es um Kohle und »Stutz« – und wenn jemand gerade kein »Münz« hat, so meint er einen Betrag mit mehreren Nullen vor dem Komma.
Die Schweiz war ein klassisches Auswandererland, das Jammern auf hohem Niveau ist eine Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs des letzten Jahrhunderts. Heute ist die Schweiz ein Einwanderungsland, was reaktionäre politische Kreise natürlich verhindern wollen. Man darf hoffen, dass sie sich nicht durchsetzen. Gräbt man ein bisschen tiefer in den Familiengeschichten, muss man oft nur wenige Generationen zurückgehen, um ausländische Wurzeln zu finden. Die Schweizer Fußballnationalmannschaft – »Nati« – erreicht nur deshalb ein gewisses Niveau, weil sie zu großen Teilen aus Spielern mit Migrationshintergrund besteht.
Der Schweizer ist selbstbewusst, manchmal auch aus Trotz und genährt von einem pathologischen Minderwertigkeitsgefühl, selten nachtragend. Er kann auch selbstironisch sein, aber das darf nur er. Fortschrittlich ist er ebenfalls, obwohl »Swissness« in den letzten Jahren einen ungewöhnlichen Boom erlebte, was man auch als Backlash bezeichnen könnte, und in einer Folklore mündete, die etwa bewirkte, dass der Nationalsport Schwingen plötzlich wieder für breite, auch jüngere Massen interessant wurde – sicher als Zuschauer, aber auch als Jödeler und Bödeler. Dass die Schweiz Wilhelm Tell den Dänen verdankt und einem Deutschen, der daraus ein taugliches Stück gemacht hat, gehört zum kollektiven Passivwissen.
»Das Land, in dem die Ausnahme die Regel ist.«
Manfred Rommel (1928–2013), deutscher Politiker, 1974–96 Oberbürgermeister Stuttgart
»Wo sich Fuchs und Nerz gute Nacht sagen.«
Friedrich Küppersbusch (*1961), deutscher Journalist und TV-Moderator
»In der Schweiz ist übrigens alles schöner und besser.«
Adolf Muschg (*1934), Schweizer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller
»Wenn Sie einen Schweizer Bankier aus dem Fenster springen sehen, springen Sie hinterher. Es gibt bestimmt etwas zu verdienen.«
Voltaire (1694–1778), französischer Philosoph und Schriftsteller
»Als Schweizer geboren zu werden, ist ein großes Glück. Es ist auch schön, als Schweizer zu sterben. Aber was tut man dazwischen?«
Alexander Roda Roda (1872–1945), Schriftsteller und Kabarettist
»Auch mir fällt es schwer, einen möglichen Untergang der Schweiz nicht als Weltuntergang zu sehen. Nur die Vernunft macht mich darauf aufmerksam, dass die Welt größer ist.«
Peter Bichsel (*1935), Schweizer Schriftsteller
»Die Schweizer sind unheimlich schlagfertig, wenn man ihnen genug Zeit dafür lässt.«
Markus M. Ronner (*1938), Schweizer Theologe, Publizist und Journalist
»Jeder Schweizer trägt seine Gletscher in sich.«
André Gide (1869–1951), französischer Schriftsteller und Nobelpreisträger
»La Suisse n’ existe pas!«
Ben Vautier (*1935), Künstler
»La Suisse existe!«
Adolf Ogi (*1942), Schweizer Politiker und Altbundesrat
»Wäre die Schweiz flach wie ein Pfannkuchen, wäre sie größer als Preußen.«
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), deutscher Dichter
»Wilhelm Tell ist noch immer der einzige Schweizer, den die ganze Welt kennt.«
Friedrich Dürrenmatt (1921–1990), Schweizer Schriftsteller, Dramatiker und Maler
»Sie beschäftigen sich in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit mit Kühemelken, Käsemachen, Keuschheit und Jodeln.«
Friedrich Engels (1820–1895), deutscher Philosoph
»Im Ausland werden Sie gefragt: Haben Sie gut geschlafen? – In der Schweiz: Haben Sie etwas aus der Mini-Bar gehabt?«
Kaspar Villiger (*1941), Schweizer Unternehmer und Politiker
»Es gibt Ausländer, die ein Deutsch ohne jeglichen Akzent sprechen; das sind Glücksfälle. Und dann gibt es Ausländer, die einen Akzent ohne jegliches Deutsch sprechen; das sind Schweizer.«
Raymond Broger (1916–1980), Schweizer Politiker und Landamtmann von Appenzell Innerrhoden
Die Schweiz hat vier Landessprachen – Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch (erst seit 1938) – und drei Amtssprachen, zu denen Rätoromanisch nur im Verkehr mit Rätoromanen dazukommt. Dabei bilden die Rätoromanen die mit Abstand kleinste Sprachgruppe, die sich in mehrere Dialekte aufsplittet. Rätoromanisch sprechen Skilehrer, wenn sie von ihren unsicher auf zwei Latten schlotternden, dafür umso teurer eingekleideten Anfängern nicht verstanden werden wollen. (Die Skischüler unter sich sprechen Russisch.) Rätoromanisch lernen Zürcher, die nach Graubünden ziehen – die sogenannten Züzis – und sich damit dauerhaft jede Integration in die dörfliche Bergwelt verbauen. Die Bündner heißen in der Restschweiz nicht umsonst »Steinbock-Tschinggen« (Tschingg = Schimpfwort für Italiener), und das ist noch eine freundliche Bezeichnung.
Die Mehrheit der Schweizer spricht Deutsch, Schweizerdeutsch, wobei sich auch dies in unzählige, mehr oder weniger beliebte Dialekte aufteilt. Beliebt ist Berndeutsch, Bündnerdeutsch (nicht zu verwechseln mit Rätoromanisch). Darüber hinaus gibt es auch noch das schwer verständliche Walliserdeutsch und die Sprachen der Innerschweiz, die man jedoch selten hört. Verhasst sind alle Ostschweizer Dialekte, die Zürcher bekommen Ohrensausen, wenn sie einem Basler zuhören, Basler hören Zürchern prinzipiell nicht zu. Die sogenannte Mundart wird auch geschrieben, durchaus mit literarischem Erfolg, hauptsächlich aber in SMS von Jugendlichen. Auch Mundartlieder haben großen Erfolg. Hier ist Berndeutsch klar die leading language.
Die Schriftsprache ist Hochdeutsch, leicht dialektal eingefärbt. Die meisten Deutschschweizer können kein Hochdeutsch sprechen, obwohl sie reflexartig im Gespräch mit Deutschen in diese Sprache wechseln. (Dieser Reflex ist jedoch als Folge der in Massen einwandernden Deutschen am Abflauen.) Am schlechtesten Hochdeutsch sprechen Parlamentarier und Bundesräte. Deutsche, die Mundart sprechen, mag man nicht. Das offizielle Schweizerdeutsche Wörterbuch heißt Idiotikon.