Mario Covi
Seefahrt - Abenteuer oder Beruf? - Teil 1
Von Traumtrips, Rattendampfern, wilder Lebenslust und schmerzvollem Abschiednehmen . . .
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. VOM SALZGESCHMACK DER FERNE
2. DAS WAREN NOCH SCHIFFE!
3. LAGOS REEDE
4. REGENZEIT IM NIGER-DELTA
5. VOM REGEN IN DIE TRAUFE
6. LANDGANG IN ALEX
7. POLLERAFFEN, BILGENKREBSE UND TASTENQUÄLER
8. CRAZY HORSE
9. DEVISENSCHIEBEREI
10. TRAMPFAHRT
11. CHAMPERICO
12. NICHT GESELLSCHAFTSFÄHIG
13. WOLKEN AM HORIZONT
14. MUSTERROLLE
15. GOLDSCHMUGGELGESCHICHTEN
16. ANATOLISCHE WONNEN
17. BLINDE PASSAGIERE
18. DÖNTJES IM SCHATTEN DER AZOREN
19. NEWARK IST NICHT NEW YORK
20. THE BLOCK
21. IM GOLFSTROM
22. BERMUDADREIECK, RÄTSELHAFTES UND VERBRECHEN
23. ZIEHSCHEINHYÄNEN?
24. MELDUNGEN
25. VINYLIA
26. HART AM LIMIT
27. TRINKWASSER
28. EIN SCHARFES AUGE
29. ÜBER DEN ÄQUATOR
30. BELEM
31. AMAZONASFAHRT
32. HOLZLADEN IM TERRITORIUM AMAPÁ
33. KRUBOYS
34. ANKER HAT EINGETÖRNT
35. KAPITÄNE
36. ERST BOHRTURM, DANN BLITZKARRIERE
37. VORSCHAU
Impressum neobooks
Wir lagen vor Madagaskar…
Seefahrt... Na? Geht es da nicht gleich los mit den Klischees? Den blauen Jungs und den Mädels in jedem Hafen? Den tätowierten, Shantys singenden braungebrannten Matrosen in ihren blauweißen Ringelhemden? Ist es da nicht höchste Zeit, dass endlich einer aus dem maritimen Nähkästchen plaudert? Aus der übervollen Seemannskiste Döntjes, Schnacks und Anekdoten auspackt? Aus dem salzwasserverkrusteten Seesack die boshafte Bordkatze herauslässt?
Die folgenden Episoden, Storys, Gespräche, Lieder und Fotos über die christliche Seefahrt passen nicht ganz in das Bild, das uns die marineblaue und traditionsbeflissene Ahoi-Literatur weiszumachen versucht. Seefahrt als Abenteuer oder Beruf wird meistens von Nicht-Seeleuten geschildert. Lothar-Günther Buchheim sagt in seinem Buch 'Der Luxus-Liner' „... Wenn mehr Seeleute über ihren Beruf schrieben, müssten höchst interessante Geschichten zutage kommen. Sie tun es nicht. Wahrscheinlich hindert sie daran das Gefühl, so etwas schicke sich nicht ..."
Vergessen wir die Schicklichkeit. Wir leben längst in einer Gesellschaft, in der Tabubrüche fast langweilig geworden sind. Also werde ich offen vom kolumbianischen Sündenpfuhl "Schanker Hill" oder über die bizarre Liebesbeziehung eines Seemanns zu seiner Sexpuppe berichten. Auch über wüste Besäufnisse, rassistisches Gelaber, oder die ärgerliche Unaufrichtigkeit manch imagegeilen Kapitäns will ich keine zurückhaltende Verschwiegenheit mehr gelten lassen. Allerdings muss ich dann auch ehrlich das Schweigen über die eigene Unzulänglichkeit brechen. Ehrlichkeit tut immer irgendjemandem weh!
Vermutlich werde ich manches Klischee bedienen. Ich hoffe aber auch, dass einige schablonenhafte Vorstellungen und Bilder über die Seefahrt zurechtgerückt werden. Deshalb habe ich an Bord Gespräche mit Fahrensleuten auf Tonband aufgezeichnet, habe Geschichten und Schnacks aus vielen Seefahrtjahren gesammelt und niedergeschrieben. Manches ist derb, mag unbeholfen sein. Auch die Unfähigkeit, sich auszudrücken, kann beredt sein.
Subjektiv ist diese Schreibe, mitunter zornig, vielleicht sogar wehleidig. Vor allem dann, wenn ich Aufzeichnungen aus alten Tagebüchern so übernehme, wie ich sie vor vielen Jahren niedergeschrieben habe. Viele Namen von Personen habe ich deshalb geändert. Die Namen der Schiffe und Reedereien allerdings unverändert gelassen. Es gab eine Zeit, da schwiegen wir auf See lieber, um den Mächtigen der Handelsschifffahrt nicht auf die elitären Schlipse zu treten. Denjenigen, die als Reeder und Kaufleute, als gestrenge Inspektoren und Kapitäne ein gewichtigeres Wort in diesem Metier mitzureden hatten. Doch welcher dieser Sesselfurzer, welche Landratte interessierte sich damals eigentlich wirklich, wie es Hein Seemann dort draußen auf See erging? Klar, unser Verhalten weit hinterm Horizont an fremden Küsten war für die Daheimgebliebenen auch nicht immer nachvollziehbar...
Mittlerweile bin auch ich eine Landratte. In meinem Beruf als Schiffsfunker könnte ich nur noch als maritimes Museumsstück ausgestellt werden. Funker gibt es längst nicht mehr. Die Satelliten, Handy, Smartphone u. Co. haben übernommen. Gleichwohl scheinen die Zeiten von einst gerade erst gestern gewesen zu sein. 28 Jahre Seefahrtzeit, von 1962 bis 1990, lassen sich nicht einfach so wegheften!
Vom Salzgeschmack der Ferne will ich erzählen. Von der Weite unseres vom Meerwasser umflossenen Planeten... Ich weiß, Sie meinen, die Welt sei klein geworden. Irgendwie stimmt das sogar. Im Internet lässt sich fast jedes Abenteuer aus dem Katalog bestellen. Jeder, der es sich leisten will, kann sich dort auf der Suche nach Extravaganz den absolut ober-geilen ultimativen Kick andrehen lassen. Doch, macht Massentourismus die Welt wirklich kleiner? Er verwässert nur den Reiz des Fremden, wenn man am anderen Ende der Welt ausschließlich auf andere Urlauber – und nicht auf die erwartete fremde Kultur stößt.
Zugegeben, manchmal bin ich ein arrogantes Lästermaul. Natürlich ist das Reisen kein Privileg der Seeleute! Aber ich bin überzeugt, auch Sie können sie nicht sonderlich leiden, diese Last-Minute-Lemminge, die unsere aufregende Erde breittreten, Exotik konsumieren wie Cola Light, nicht viel begreifen von der Faszination der Fremdartigkeit, und hinterher behaupten, es sei eigentlich überall wie auf 'Malle' gewesen. Das Reisen sollte ein Akt des Entdeckens sein, und nicht nur des Konsumierens. Oder ist das eine längst überholte Weltanschauung?
Ich erinnere mich an eine Zeitungsnotiz. Da beklagte das Corps Touristique, dass durch die Vermarktung der Tourismusindustrie die kulturelle Identität vieler Urlaubsländer bedroht sei. Den großen Konzernen gehe es darum, einzelne Länder in Marken zu verwandeln, die jede Eigenständigkeit "einfach platt walzen". Wenn sich die Länder erst ähnelten, könnten die Touristen ihren Urlaub ebenso gut unter der "Käseglocke eines Freizeitparks" verbringen, kritisierte der Verband.
Also, bevor unser Globus zu einem Freizeitpark verkommt, fahren Sie mit, kommen Sie an Bord, vergessen Sie den dämlichen Schnack, dass die Welt klein geworden sei! Lassen Sie sich vom Salzgeschmack der Ferne erzählen. Von Ländern, die uns jungem Seemannsvolk noch abenteuerlich fremd und aufregend erschienen, die wir noch selbst entdecken wollten. Auch wenn viele Seeleute es nicht zugeben, die meisten von uns wären gerne Kolumbus gewesen. Lassen Sie sich von Traumtrips erzählen, die jeder Seemann irgendwann erlebte. Aber auch von Rattendampfern, von vergeblichen Träumen und der Einsamkeit, die uns dort draußen zu schaffen machte. Von den Verführungen, denen wir ausgesetzt waren, von den freizügigen Mädchen, vom Teufel Alkohol, vom Schmuggel und manch bösem Erwachen.
Und stellvertretend für die Fahrensleute von einst – wir waren schließlich einmal 70.000 - möchte ich die Frage stellen, ob es die Jahre wert waren, auf so allerlei im Leben verzichtet zu haben. Für die Illusion, ein kerniger Macker zu sein? Für ein bisschen Abenteuer? Oder war es doch das großartige Gefühl der Freiheit, die wir dort hinterm Horizont suchten?
Vor der Pazifikküste Mittelamerikas
Anfang Februar 1981 musterte ich auf einem Schiff an, das erst zwei Jahre alt war. Ein ziemlich neuer Kahn, die "Bernhard-S". 5215 Bruttoregistertonnen, 117 Meter lang, rund 18 Meter breit, Maximalgeschwindigkeit 17,2 Knoten, was etwa 32 km/h entspricht. Eine beachtliche Geschwindigkeit für ein Frachtschiff.
Das war’s dann aber! Jeglicher weiterer Fortschritt, der dem Menschen hätte zugutekommen können, war dem eisernen Sparwillen der Reederei zum Opfer gefallen. Man sparte an allem, nicht nur an der Besatzung. Unterbesetzt zu fahren war längst gang und gäbe! Nein, man sparte an peinlichen Lächerlichkeiten. Der Reeder weigerte sich beispielsweise Handtücher zu stellen. Es gab nur zehn Stück – für 15 Mann Besatzung!
In solchen Augenblicken erinnerte man sich gerne der alten Schiffe. Jener gemächlichen Pötte, die gerade 8 oder 10 Knoten schafften, auf denen aber noch Stewards fuhren, die einen vollen Wäscheschapp verwalteten. Kähne mit Messingbullaugen, robusten Steuerrädern, qualmenden Schornsteinen und richtigen Holzdecks. Ach ja, wann hatte ich das letzte Holzdeck gesehen!
M/S 'Griesheim' Baujahr 1928
Da war die alte "Griesheim", ein Oldtimer mit geradem Steven und Tausenden von Nieten am Schiffsrumpf. Sie war 1928 in Norwegen gebaut worden, hatte einst, weiß gemalt und stolz, als Zuckerfahrer kubanisch-karibische Wogen durchpflügt. Sie war bereits 37 Jahre alt, als ich 1965 ihre weißgescheuerten Holzdecks betrat. Ein nostalgischer Zossen, vernarbt und rostzerfressen, gut genug für die dreckige Schwefelkiesfahrt zwischen Südspanien und Rotterdam. Die Decksbesatzung glich eher Kohlenpottkumpels als frischluftverwöhnten Marineros.
Eine fröhliche 'Teatime'-Runde auf M/S Griesheim, wo nach staubigem Schwefelkiesladen in Huelva Rotwein statt Tee getrunken wurde.
Die Fenster der oberen Aufbauten bestanden aus Holzrahmen, die sich zum Öffnen an einem Lederriemen versenken ließen, wie weiland die Fenster der Deutschen Reichsbahn. Staub, Wind und Spritzwasser fanden da ungehindert Durchlass. Als beim ersten schlechten Wetter Wasser in meinen Schapps (Seemannsprache für Schrank) schwappte, erklärte mir der Bootsmann: „Was meinste wohl, was da unter der Farbe ist? Rundherum Leukoplast und Isolierband. Überall dort, wo du mit dem Finger durch Rost stoßen kannst. Und dann halt ‘n Schlag Farbe drauf. Mit einem Kran könntest du den ganzen Aufbau abheben!"
Oder die "Schürbek", ein spartanischer Dampfer aus den Nachkriegsjahren. Die Kolbendampfmaschine war allerdings eine Sehenswürdigkeit. Da blinkte Messing und Kupfer, und wenn sie lief, sah man, dass sich etwas bewegte. Eine Maschine, die lebte, pulsierte, stieß, drehte, verhalten zischte und stampfte.
Dampfer 'Schürbek'
Das waren noch Schiffe, möchte man erinnerungstrunken aufseufzen. Wie immer verblassen beim Rückblick die negativen Dinge. Hundsmiserable sanitäre Einrichtungen zum Beispiel, wo der einzige erfrischende Wasserstrahl nur eine Salzwasserdusche war. Ein älterer Steuermann beschrieb mir einmal in plastischen Worten den immer höher werdenden Fäkalienberg im Mannschaftsabort eines Kümos – eines Küstenmotorschiffes. „Dat war ‘n einziger Turmbau zu Babel, knochenhart gefroren in der Eisfahrt da oben in der Ostsee. Und einer schiss auf die Kupferbolzen des anderen, bis keiner mehr sitzen konnte... Und ich als Moses musste dann immer den verdammten Dreck auftauen!“
Dagegen hatte ich es regelrecht komfortabel auf dem M/S "Griesheim". Um zur einzigen gemeinsamen Dusche und Toilette für die Offiziere zu gelangen, musste ich, von ganz oben, wo die Funker üblicherweise hausten, zwei Decks hinunter aufs Hauptdeck. Dort waren die Zugänge in die Aufbauten. Ein Treppenhaus, Niedergänge im Schiff, gab es nicht. Das bedeutete, dass ich mich nach dem Duschen wieder durch Wind, Wetter, und Dunkelheit in die Funkbude hoch hangeln musste. Bei eisigem Wintersturm war das keine Freude!
Heutzutage haben fast alle eine eigene Dusche mit WC, so dass lästige Spaziergänge durchs Schiff der Vergangenheit angehören. Damals konnte es vorkommen, dass in irgendeinem Hafen die Gattin eines Schiffsoffiziers just in dem Augenblick zum WC huschte, als dieses von einer Dame verlassen wurde, die in der Seemannsfrau die falsche Kollegin vermutete und jovial auf den Busch klopfte: „Sag mal, was nimmst du denn hier für ‘ne Nachtschicht?“ Pech, wenn die Seemannsfrau daraufhin erhobenen Hauptes dem sündigen Schiff den Rücken kehrte. Ein schlauer Seemann klärt sein geliebtes Weib rechtzeitig über derlei dumme Zufälle auf.
Kaffeeladen mit 'Columbus-Geschirr'
Dennoch neigen Seeleute dazu, den alten Schiffen nachzutrauern. Klar, da gab es viele Minuspunkte. Angefangen beim "Columbus-Geschirr", jener traditionellen Lade- und Löschvorrichtung, die aus Mast, Ladebaum, Winde, Geien, Hanger und Runner bestand, bis hin zu den fehlenden Klimaanlagen, Waschmaschinen, Schwimmbecken oder Fernseh- und Videogeräten. Doch das Columbus-Geschirr war einfacher zu reparieren als die modernen elektronikverpäppelten Kräne. Und seit es Klimaanlagen gab, waren Erkältungskrankheiten weitaus häufiger und die Kammertüren ungastlich geschlossen. Außerdem, wer kannte das nicht: die Waschmaschine war dauernd "out of order", die Glotze lieferte wegen defekter Antennenanlage nur Bildrauschen und das Schwimmbecken musste als Rumpelkammer für Tauwerk oder Grillgerätschaften herhalten, da es, mit Wasser gefüllt, die Stabilität des Schiffes beeinträchtigt hätte!
Also, doch nostalgischer Rückblick auf die Oldtimer? Auf diese rostzerfressenen, unrentablen, sich von einer Reparatur in die nächste quälenden Kästen, Eimer, Pötte, Zossen, Zarochels und Schlorrens? Diese schwimmenden Särge mit ihrer leicht entflammbaren Holzvertäfelung und romantischem Edelholzmobiliar? Diese schrottreifen Seelenverkäufer, durch deren malerische Bullaugen im Notfall höchstens die eklige Schoßhundtöle des Alten entkommen konnte?
Nun, gemütlicher waren sie. Auch sahen sie wirkliche noch wie Schiffe aus, nicht wie ins Wasser gefallene Riesenbügeleisen oder albtraumhafte Fabrikanlagen. Wie hingeklotzte und in die See gerotzte Ungetüme und schwimmende Abschreibungsobjekte, deren Anblick einer echten Teerjacke das Herz zu einem Schäkel erstarren ließ! Monster moderner Seetransportsysteme, auf die Kosenamen wie Pott, Kahn oder Zossen nicht mehr passten. Sie existierten nur noch als Kürzel, als aküsprachliche Blabla-Schrumpfungen: Ro-Ro, Lash, Lo-Lo, Con-Ro, Ro-Lo, Baco, Ro-Lo-Flow, VLCC, ULCC und so weiter und so fort... Tja, man hätte nur unter griechischer, liberianischer oder zypriotischer Billigflagge fahren müssen, denn dorthin wurden sie schließlich verscherbelt und ausgeflaggt, die alten Pötte...
Ich gebe es ja zu, was war das oft für ‘n Schiet und Dreck auf diesen Rattendampfern! Auf der "Schürbek" hieß es zweimal täglich: „Rohre blasen!" Dann quoll aus dem Schornstein eine fette schwarze Rußwolke. Heizerflöhe rieselten über Deck, in die Aufbauten, wo man auch hin fasste, die Hände wurden schwarz. Der Zossen qualmte normalerweise schon so erbärmlich, dass die Crew, die achtern hauste, regelrecht geräuchert wurde.
Einmal fiel die Dampfdruck-Ruderanlage aus, und der Schlitten musste mit dem Notruder über den Atlantik gesteuert werden. Dieses aber stand auf der Poop, dem erhöhten Achterdeck. Und dort durfte der Rudergänger an dem rustikalen Speichenrad drehen, umweht von Qualm und Ruß, das Rauschen von Palmen und südamerikanischen Mädchenröcken noch im Ohr. Ganz im Sinne eiserner Traditionalisten, die mit der Erfindung des Ruderhauses den endgültigen Untergang der Seefahrt heraufdämmern sahen. Gemäß dem Lehrsatz von den hölzernen Schiffen und den eisernen Seeleuten. Aber die Zeiten, da Jan und Hein noch nach Tang und Teer rochen, sind vorbei. Heute muffeln sie eher nach Maschinenöl, nach Verdünnung und Schweiß und, landfein gemacht, nach all den zollfreien Duftwässerchen aus dem Kantinen-Store.
Zurück zum M/S "Bernhard-S". Die Kammern waren hübsch eingerichtet, sogar mit ausziehbarer Koje. Jedenfalls bei den Offizieren. Das war im Allgemeinen immer noch die Ausnahme. Es schien nicht möglich zu sein, Kajüten so zu gestalten, dass bei einer Mitreise von Frauen und Kindern das Wohnen nicht zum Camping wurde. Mit improvisierten Feldlagern auf dem Boden und Kinderbetten aus zusammengeschobenen Stühlen. Die Skandinavier hatten uns da einiges voraus!
Manchmal kam es mir so vor, als sprächen Schiffskonstrukteure und Werften den Seeleuten jegliches Bedürfnis nach Lebensqualität von vornherein ab. Wenn Kajüten und Kojen auf kleinen Schiffen zwangsläufig schmal waren, musste man damit klarkommen. Yachtähnliche Enge konnte urgemütlich und voller Seefahrtsromantik sein. Auf einem kleinen Hochseeschlepper hatte ich eine Kajüte von vier Quadratmetern mit dem Dritten Offizier geteilt, ohne unglücklich zu sein. Unsere Kammer war derart eng, dass man nicht nebeneinander stehen konnte. Auf geräumigen Frachtern von 10 000 BRT indes standen mir manchmal nicht viel größere Kabinen zur Verfügung. Kajüten mit getrenntem Schlafraum gab es nur für die "heiligen drei Könige", den Alten, den Chief (Leitender Ingenieur) und den Ersten Offizier. Als ob die heilige Tradition der Bordhierarchie in den Konstruktionsbüros der Schiffswerften hätte verteidigt werden müssen. Wenn die Seeleute schon keine Uniformen mehr trugen und sich gleichmacherische Denkweise breit zu machen drohte, musste der Dienstgrad wenigstens an der Kojenbreite abzulesen sein: 120 Zentimeter für Kapitän, Chief und Ersten, 90 Zentimeter für die übrigen Schiffsoffiziere und 80 Zentimeter für die Mannschaft!
Klar, da gab es soziale Schutzgesetze und ein Sammelsurium von Verordnungen, das wäre doch gelacht! Oft waren sie uralt, stammten aus den Zeiten der Tiefwassersegler und hatten erst in den 1970-er Jahren einen zeitgemäßen Beschnitt erhalten. Etwa das löbliche Versprechen einer Wohnraumverordnung, demzufolge jedem Besatzungsmitglied vierzehntäglich frische Bettwäsche und wöchentlich mindestens zwei frische Handtücher zur Verfügung zu stellen war. Und Matratzen durften nicht mehr mit Stroh gefüllt sein!
Natürlich blieb die Bedeutung dieser längst fälligen Verordnungen ungeschmälert, man denke nur an die hunderttausend zu berücksichtigenden Dinge auf einem Schiff. Aber es blieben auch die Fragen vieler Seeleute, wo denn wirkliche Verbesserungen spürbar geworden waren und warum nicht nachdrücklicher kontrolliert wurde.
Ein Kapitän erzählte mir von einem Kühlschiff, dessen Vibrationen so enorm waren, dass man an manchen Stellen an Deck nach einer gewissen Zeit einfach ohnmächtig wurde. „Wenn man diese Ecken genau kannte, konnte man als Erster Offizier widerspenstige Matrosen leicht zähmen“, bemerkte er grinsend.
Auf einem sechs Monate alten Containerschiff schwollen einem Besatzungsmitglied die Hoden derart an, dass er an ein bösartiges Souvenir vom Karneval auf Trinidad glaubte, wo das Schiff zehn Tage gelegen hatte. Erst nach langwierigen Untersuchungen in Deutschland stellte man fest, dass rein platonische Vibrationen die Ursache gewesen war. Das wäre auf der alten "Schürbek" nicht passiert. Die Dampfmaschine drehte so sacht und langsam, dass man das Auslaufen leicht verschlafen konnte.
Einer wusste über seine Zeit auf einem dreiundzwanzig Knoten schnellen Bananenjäger zu berichten, auf dem Vibrationen den Alltag bestimmten: „Auf der Brücke konnte man kein Schiffstagebuch schreiben, in der Kammer konntest du keine Flasche Bier auf den Tisch stellen, im Aufenthaltsraum Mühle, Dame oder Schach zu spielen, alles unmöglich! Bei Schlechtwetter holte der Dampfer 35 oder 40 Grad über, bei einer Rollperiode von sieben Sekunden! Da klatschte dem Funker die Funkstation so von der Wand. In der Kammer versperrte dir losgerissenes Mobiliar den Weg, in der Dusche lösten sich die Fliesen und an Deck riss die Ersatzschiffsschraube aus ihrer Verankerung und rutsche über die Kante..."
Eigentlich müssten Schiffbauer und Reeder zwischendurch ein Pflichtjahr auf so einem Schiff abdienen, um das mal selber zu erleben, war unser Resümee nach diesem Gespräch.
Doch was soll’s, auch die miesen Zeiten auf See gehörten zum Abenteuer Leben! Wir wollten ja unbedingt hinaus, hinter den Horizont, irgendeiner unsäglichen Freiheit nachjagen. Und was schon hätte uns letztendlich wirklich davon abgehalten, zur See zu fahren? Wahrscheinlich die heutige Situation, die einem Ende der Handelsmarine unter deutscher Flagge gleichkommt. Nun ja, damals, auf den alten Pötten, schrieb man Seeschifffahrt noch mit zwei F!
Ende Februar 1981 lag die "Bernhard-S" vor Alexandria. Zirka 50 bis 55 Schiffe dümpelten mit ihr am Schlickhaken. "Alex", Ägyptens größter Hafen, war völlig verstopft, seine Kapazität dem Ladungsaufgebot nicht mehr gewachsen. Das war und ist in vielen Häfen dieser Welt so, überall dort, wo ein riesiges Hinterland über ein viel zu enges Einfallstor versorgt werden muss. Zum Beispiel Djidda in Saudi-Arabien oder Lagos in Nigeria. Letzterer Hafen war jahrelang ein Albtraum für Seeleute.
Vor Lagos hatten zeitweise mehr als 250 Schiffe geankert und nicht nur Tage oder Wochen gewartet. Sie lagen dort drei Monate, sechs Monate, zwölf Monate. Es gab sogar still vor sich hin gammelnde Rattendampfer, die es auf ganze zwei Jahre Wartezeit brachten. Ein paar von diesen Seelenverkäufern endeten als heimlich verlassene Wracks, deren Ladung längst unbrauchbar geworden war. Ich entsinne mich an einen auf Grund gesetzten Frachter von dem nur noch die Masten und der Schornstein aus dem Wasser schauten.
Nigeria hatte in seinem Petrodollarrausch Zement in derart größenwahnsinnigen Mengen bestellt, dass eine Entladung der Frachter-Armada in absehbarer Zeit nicht in Aussicht stand. Man erzählte sich haarsträubende Halsabschneider-Döntjes über kaltschnäuzige Geschäftemacher. Diese, meist levantinisch-griechischer Provenienz, kauften zunächst von irgendeiner gottverlassenen Abwrack-Werft einen billigen Schrottkahn. Hauptsache, der Zossen schaffte die georderte Zementladung gerade noch bis Lagos-Reede. Dann meldete der Kapitän und Eigner sein Schiff bei den Hafenbehörden löschklar. Die Antwort war so lapidar wie erhofft: „Ihr Schiff wird irgendwann – any time from now – zum Löschen aufgefordert werden. Sie hören von uns ...“
Daraufhin feuerte der Kapitän so viele Mitglieder der Besatzung wie eben möglich, denn die folgenden Monate auf Reede sollten ungeschmälerten Profit einbringen.
Nach einer vorgegebenen, vertraglich festgelegten Löschzeit, während der das Schiff normalerweise hätte entladen werden können, musste nämlich "demurrage", so genanntes Überliegegeld gezahlt werden. Ein Betrag, der den täglichen Kosten eines normal besetzten und funktionstüchtigen Frachters entsprach, sagen wir 6.000 Mark, was heute (2014) rund 6.000 Euro entspricht. Es war nur noch eine Frage der Zeit, ab wann ein derartiges Unternehmen zum todsicheren Geschäft wurde. Den Hafenbehörden sollen regelmäßig Schmiergelder zugeschoben worden sein, um den Einlauftermin weiter hinauszuzögern. Denn ein Monat Überliegegeld summierte sich, beim angenommenen Tagessatz von 6.000 Mark (Euro), auf 180.000 Mark (Euro). In zwölf Monaten waren es bereits mehr als zwei Millionen.
Lagos-Reede war Mitte der siebziger Jahre die größte Ansammlung von Frachtschiffen auf Erden. Eine schwimmende Stadt, deren Lichter in der Atlantikdünung auf und nieder schwankten, deren Abwässer den Strand verseuchten und deren Bewohner, mehrere Tausend Seeleute aus aller Herren Länder, in der tropischen Hitze gegen zermürbende Langeweile und gegen die Angst vor Piratenüberfällen ankämpften.
Schlitzohrigkeit blüht immer dort am üppigsten, wo Menschen darben. Da wollte doch ein ganz Schlauer einen Vergnügungsdampfer ausrüsten. Eine handfeste Kombination aus schwimmendem Bordell und Kasino mit Bars, Sexkino und willigen Weibern. Welcher Janmaat hätte da nicht gerne eine ganze Monatsheuer verhurt, versoffen und verspielt, um dem Lagos-Stress zu entkommen! Aber es wurde nichts aus der Idee mit dem Bums-Dampfer. Die nigerianischen Behörden stellten sich quer, ahnend, welch zusätzliches Chaos in ihren Gewässern geherrscht hätte.
Lagos und die westafrikanischen Tropengewässer waren ein Wildwest der Seefahrt. Als Folge des Biafrakrieges war dieses Gestade zum Sammelbecken entwurzelter, den traditionellen Bindungen an Sippe oder Stamm entrissener Afrikaner geworden. Afrikas bevölkerungsreichstes Land, Nigeria, zeigte sich uns als Brutstätte von Korruption und Kriminalität. Selbstherrlicher Militarismus, nationaler Größenwahn, das Elend der Massen, sowie die durch das reichlich sprudelnde Erdöl angestachelte Profitgier der Mächtigen war bester Nährboden, um Unbarmherzigkeit und Brutalität zur alltäglichen Normalität verkommen zu lassen.
Die Seeleute bekamen dies in Form einer Wiedergeburt der Piraterie zu spüren. Allnächtlich schwärmten Kanus und große, von starken Außenbordmotoren angetriebene Einbäume aus, um Schiffe zu überfallen und auszuplündern. Kleinere Frachter mit niedrigem Freibord wurden im Handumdrehen geentert, die Besatzung von den schwerbewaffneten Piraten zusammengeschlagen. In einem Fall kam der Kapitän ums Leben. Größere Handelsschiffe mit höherem Freibord waren etwas sicherer, doch die Wachen mussten verdoppelt und vervierfacht werden. Mehrere Schiffsgruppen bildeten Wachgemeinschaften und alarmierten sich gegenseitig, wenn auf dem Radarschirm ein sich nähernder Punkt ausgemacht wurde. Auf UKW-Sprechfunk waren Warnungen und wütende Hilfeschreie zu hören. Die Überfälle wurden immer dreister. Die Piraten wussten genau über die Ladung Bescheid. Sie gingen gezielt vor, drangen nur in Luken oder knackten Container, in denen Whisky, elektronische Geräte oder andere Luxusgüter lagerten.
Auf Lagos-Reede spielte sich manch nächtliches Drama ab, und es gibt Seeleute, die sich fragen müssen, ob sie nicht einen Totschlag begangen haben. Die verdreckte Brandung des Atlantiks spie von Zeit zu Zeit tote Afrikaner an den Strand, wo sich keine Menschenseele um die Leichen kümmerte. Ich weiß von einem Fall, da hatte ein übereifriger Matrose einen an Bord kletternden Schwarzen gleich, ohne viel zu fragen, mit einem kräftigen Schlag in die See zurückgestoßen, wo ihn seine im Kanu wartenden Kameraden vergeblich aufzufischen suchten. Die Tragik dieses Zusammenpralls lag darin, dass Kapitän und Erster Steward mit diesen Schmugglern ein nächtliches Rendezvous ausgemacht hatten. Sie wollten Alkohol und Zigaretten verschieben, ein in der Seefahrt nicht ungewöhnliches Vorhaben. Nur hatten es die Herren aus verständlichen Gründen unterlassen, den Männern der Nachtwache einen entsprechenden Wink zu geben.
Aus Angst legten sich viele Seeleute Knüppel, Ketten, Schlachtermesser oder Eisenstangen als Notwehrarsenal zurecht. Sie bastelten sich Zwillen; Kugellagerkugeln oder Glasscherben dienten als Munition. Luftgewehre sollten scharfe Knarren vortäuschen, hatten die Banditen doch oft modernste Automatikwaffen. Gerüchten zufolge Leihgaben korrupter Polizisten oder Militärs. In dieser, einem Kriegszustand nicht unähnlichen Situation, waren markige und radikale Sprüche an der Tagesordnung. Totschlag oder spontane Lynchjustiz wurden als durchaus normale Reaktionen auf die Bedrohung angesehen, die von den nigerianischen Behörden nicht beseitigt werden konnte – oder wollte. Im Klüngel der Militärs und Mächtigen saßen bestimmt einige Hehler, die vom Verschieben der geraubten Ladung, auf Kosten ihrer Landsleute, wie die Made im Speck lebten. Ich stellte mir darunter immer Typen vor, die ihren aggressiven Nationalismus pflegten, von weißer Ausbeutung und den Folgen des Kolonialismus palaverten, aber genau wussten, wie man zu einem Nummernkonto in der Schweiz kam!
Es war zum Kotzen wie auf Lagos-Reede jeglicher Ansatz zur Verständigung zwischen den Rassen und Völkern im Keim erstickt wurde. Die banalsten Vorurteile über den ‚Kanaker‘ im Allgemeinen – wie Hein Seemann Menschen fremder Rasse bezeichnet – sowie den Afrikaner im Besonderen wurden als sich täglich bestätigende Lebenserfahrung betrachtet. Lagos-Reede war kein Nährboden, um über Hintergründe oder Zusammenhänge zu reflektieren. Was interessierte den Seemann die kaltblütige Wirtschaftspolitik, die halsabschneiderische Profitgier, die hinter diesem Chaos steckte! Für ihn war Lagos-Reede Ärger, Stumpfsinn, galliger Stress - und schlichtweg Angst!
In der Trampfahrt weiß man nie, wohin die nächste Reise geht. Als ich im Juli 1978 im mexikanischen Vera Cruz ein Wiedersehen mit lieben Freunden feierte, kam die neue Order via Norddeichradio in die Funkbude geknallt: Getreide und Mehl in New Orleans laden. Löschen in Nigeria! Tröstlich war, dass der Löschhafen nicht Lagos, sondern Sapele hieß!
Die Fahrt nach Sapele ist ein spannendes Unterfangen, da dieser Hafen tief im Labyrinth des Niger-Deltas liegt. Im Grenzgebiet zwischen der Bucht von Benin und der Bucht von Biafra müssen die Schiffe eine Flussmündung suchen, deren Barre – eine vor der Mündung liegende Untiefe - passierbar ist. Für Trampschiffe ist jede Küstenannäherung eine neue Erfahrung. So blätterten auch unsere Nautiker nervös im "Handbuch der Westküste Afrikas" und fanden folgende Passagen:
„Die Barre vor der Benin-Mündung ist veränderlich. Häufig läuft schwere Brandung über die ganze Barre. Vom Passieren wird abgeraten... Gegenwärtig ist die Barre der Escravos-Mündung am ungefährlichsten... Warnung! Vor den Barren der Mündungen des Escravos, Nun, Bonny und Opobo muss man mit dem Auftreten von Grundseen von erheblicher Stärke rechnen. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass man auch unter den besten Bedingungen nur mit einem Tiefgang, der noch einen Fuß Wasser unter dem Kiel behält, die Barre kreuzen darf..."
Kein Wunder, dass auf der Brücke eine angespannte Atmosphäre herrschte. Unser Tiefgang hatte einen kniffeligen Grenzwert, und wir näherten uns unaufhaltsam der Barre. Eine erschreckend hohe Brandung brach sich dort drohend. Außerdem sollte die dringend erforderliche Übernahme eines Lotsen erst in dieser wogenden Mündung stattfinden.
Ein Einbaum, von einem Außenborder angetrieben, scherte längsseits, und ein verwegen aussehender Afrikaner stellte sich als Lotse vor. Diese Lotsen sind meist einfache Leute aus dem Busch, die das weitverzweigte Fluss-System bestens kennen. Zwar können sie keine Manöveranweisungen geben, aber sie steuern die Schiffe geschickt durch das schwierige Revier. So dirigierte unser Lotse den Getreidefrachter auf verschlungenen Wasserpfaden und Urwaldflüssen durch Mangrovensümpfe, verfilzte Dschungel und Regenwald.
Kleine Urwalddörfchen zogen vorüber. Oft nur eine Ansammlung von zwei, drei armseligen Hütten, deren Bewohner vor der Bugwelle des Schiffes flohen, einer lehmbraunen Woge, die sich rauschend durch das wackelige Gefüge des Dschungelhäuschens ergoss und den kümmerlichen Hausrat ins Freie spülte. Sobald man sich größeren Ansiedlungen näherte, umringten Schwärme von Kanus das Schiff. Frauen, Kinder, Mädchen und junge Burschen riefen: „Oibo! Oibo! Dash me Oibo! – Weißer, weißer Mann aus Europa, schenk mir was!“
Dann flogen Klamotten, Konservendosen, Krempel und Kleinkram in die Kanus. Rüde Freigebigkeit packte uns. Wohlstandsmüll ergoss sich ins dunkle Flusswasser, die Satten kippten den Darbenden die Krumen des Überflusses vor die Füße. Und wir alle hatten einen verdammten Spaß dabei!
Ich entsinne mich einer Reise durch diese Gewässer, da war die Begeisterung eines Matrosen so überschwänglich, dass er sämtliche persönliche Kleidungsstücke in die vor Freude johlende Flottille der Kanus und Pirogen warf. Als er nichts mehr zu verschenken hatte, schleuderte er seinen Wintermantel in die tropisch-heiße Dschungelluft und letztendlich mit den Worten „den brauch‘ ich jetzt auch nicht mehr!" – seinen guten Reisekoffer... Der Seemann musste anschließend bei seinen Kameraden um ein paar Klamotten bitten.
Wir waren also mit unserer Getreideladung auf dem Weg nach Sapele, als der Lotse auf halbem Wege, mitten in dieser Landschaft aus Dschungel und Wasser, den Anker fallen ließ. Er eröffnete uns, dass wir hier zu warten hätten. Die Pier am Getreidesilo sei besetzt. Auf die Frage unseres Alten, wann wir denn an die Pier sollten, gab es die meistgehörte Phrase in nigerianischen Schifffahrtskreisen zu hören: „Any time from now!“
„Any time from now“, dieses „Irgendwann-ab-Jetzt“ wurde ein zermürbendes Harren und Hoffen, ein Trödeln und Gammeln. Die Regenzeit fiel mit Vehemenz über das Nigerdelta herein. Sie sperrte uns in die Enge des Schiffes, zögerte unseren Löschtermin immer weiter hinaus. Zum Glück hatte ich Beschäftigung mit meinen Hobbys, schnitt Filme und klimperte auf meiner Gitarre. Natürlich hatte ich auch mit der Funkerei und anfallendem Verwaltungskram zu tun.
Jeden Morgen brachten mir die Matrosen riesige Herkuleskäfer, groß wir Spatzen. Sie waren vom Licht des Schiffes angelockt worden, schafften aber den Weg über den breiten Benin-River nicht zurück in den Urwald. Ich hatte begonnen, die zum Tode verurteilten Kreaturen wenigstens als Sammlerstücke zu präparieren. Auf den Geräten der Funkstation trockneten sie, schwarzbraune Riesenkrabbler mit geweihähnlichen Zangen. Ihre Heimat ist eigentlich Südamerika, aber in diesem kleinen Teil Afrikas kommen sie ebenfalls vor.
Wir lagen vor Koko, einem Dörfchen, das Jahre später in die Schlagzeilen geraten sollte, als kriminelle Profiteure dort klammheimlich hochgiftigen Sondermüll entsorgten! Beim Landgang wurden wir neugierig beobachtet. Die Kneipe des Kaffs bot lauwarmes Bier und irrsinnig laute Reggaemusik, die damals in allen Pinten Westafrikas groß in Mode war. Da unser Proviant zur Neige ging, zog der Alte bei solchen Landgängen über den Markt und durch die kleinen Läden der Ansiedlung, um jedes erreichbare Hühnerei und fades Weißbrot aufzukaufen. Die anderen Waren des Marktes eigneten sich nicht unbedingt als Schiffsproviant: lebende Krokodile, handlich mit Tragegriff verschnürt; Fluss-Schnecken, faustgroß und zu schleimigen Haufen gestapelt; fette weiße Engerlinge mit schwarzen Knopfaugen.
Mit den Dorfbewohnern kamen wir bestens aus. Sie waren liebenswürdig und friedlich. Ein paar lebenslustige Mädchen schlichen sich des Nachts mit ihren Kanus zum Schiff, wo sie von unseren Jungs bereits erwartet und heimlich über eine Strickleiter an Bord geholt wurden.
Ein etwas lüsternes Macho-Vergnügen war, die Frauen und Mädchen beim Bad im Fluss zu beobachten. Kaum ein Menschenschlag schäumt sich so ausgiebig mit Seife ein und badet so genussvoll wie die Afrikaner. Da waren einige bildhübsche Mädchen darunter, und wir ausgehungertes Mannsvolk gierten nicht schlecht durch die Ferngläser auf der Brücke. Die Haut einer jungen Frau glich dunklem Milchkaffee, ein Geschöpf von goldbraunem Liebreiz. Wenn sie sich mit ihren Gefährtinnen im Wasser tummelte, rief mich der Chief immer mit den Worten: "Funker, komm schnell, die Weiße badet!"
Eines Nachts, gegen vier Uhr, wurden wir überfallen. Einer der wachenden spanischen Matrosen riss am Typhon, der Schiffssirene, brüllte den Niedergang hinab, und im Handumdrehen war jeder an Bord hellwach. Der Alte schrie mit aufgeregter, weinerlich-kippender Stimme: „Diese Schweine! Diese gottverdammten Schweine!“ - Ich muss zugeben, mir wurde verdammt mulmig, ich spürte Angst.
Es ging glimpflich aus. Kaum hatte ich mich angekleidet und irgendeine Schlagwaffe ergriffen, da waren unsere spanischen Matrosen und Decksleute bereits knüppelschwingend und wilde Kriegsschreie ausstoßend hinter den Piraten her, die sich kopfüber in die Fluten des nächtlichen Benin-Rivers retteten. Uns fiel ein Stein vom Herzen, war doch nicht ganz klar, welche Art von Beute die Banditen erhofft hatten. Das Getreide lag als loses Schüttgut in den Luken, was unserem Pott einen gewissen Sicherheitsstatus verlieh. Blieb als Beute nur die Schiffsausrüstung und unsere persönliche Habe.
Einige Nächte später, so gegen drei Uhr, wir hatten eine kleine Bordparty gefeiert und ich saß mit ein paar Unentwegten bei einem letzten Whisky-Soda auf dem Palaverdeck, da hörten wir Schüsse. Unsere Nachtwache-Matrosen ließen die Bordscheinwerfer über die finstere Urwaldszenerie streifen, erfassten die Hütten von Koko, ein heruntergekommenes Herrschaftshaus aus kolonialen Tagen, die kleine Pier, an der hin und wieder ein Frachtschiff festmachte und Koko zur "Hafenstadt" machte. Dort herrschte Unruhe, man sah Männer laufen, ein oder zwei Kanus aufgeregt fortpaddeln.
Das alles begriffen wir in den wenigen Sekunden, in denen es sich abspielte, gar nicht so richtig, als es abermals knallte. Irgendeiner unserer trunkenen Zechbrüder lallte etwas von Feuerwerk und Nationalfeiertag. Ich rannte zur Brücke hoch, um einen besseren Überblick zu bekommen. Dort traf ich auf zwei Spanier der Nachtwache, die sich gerade hochrappelten und ihre Gliedmaßen rieben.
"Hijos de puta – Hurensöhne!", grollte der eine, ein drahtiger kleiner Bursche.
"Diese Kanaker auf uns schießen!"
Der andere bestätigte den Zwischenfall: "Ich mit Lampe leuchten auf Canoa. Bumm! Scheiß Kanaker schießen, ich hören zing! Ich mich schmeißen auf Boden!"
Am folgenden Tag erfuhren wir, dass Banditen aus Sapele im friedlichen Koko ihr Unwesen trieben. Sie hätten einen Überfall auf die Lagerschuppen an der Pier vorgehabt, seien aber von Polizisten vertrieben worden.
Es kursierte eine Story über einen russischen Frachter, der vor einigen Jahren in Sapele von einer schwerbewaffneten Räuberbande geentert wurde. Es war noch lange vor Glasnost und Perestroika, also leistete sich das System vollbesetzte Schiffe. So gelang es den Männern der Nachtwache, die Piraten in einem Teil der Aufbauten einzukesseln und fertig zu machen. Der Kapitän ließ die Leinen kappen, fuhr ohne Lotsen durchs Nigerdelta seewärts und meldete über Funk jeweils die Position, wo er in provozierenden Abständen einen der insgesamt acht oder neun Banditen über Bord werfen ließ. Tot. Erschossen oder erschlagen, ich weiß es nicht...
Die Regenzeit floss träge dahin wie der düstere Benin, der in den frühen Morgenstunden als dunstverschmierte Fläche um unser Schiff lag. Alles war klamm und feucht, der Urwald ein stetes Tropfen und Triefen. Über den höchsten Baumriesen segelten Nebelfetzen, waberten Wolken, legten sich wie nasse Lappen über knorriges Astwerk. In der tropfnassen Tiefe dieses Waldes hatte vor ein paar Tagen ein Einheimischer auf der Pirsch nach Ducker-Antilopen eine Begegnung mit einem Gorilla, der ihn so entsetzlich zurichtete, dass er wohl nie wieder wird jagen können.
Es war reizvoll, der ungestümen tropischen Natur so nahe zu sein, mit all ihrem furchterregenden Schrecknis. Aber oft erkennt man Reize erst, wenn sie räumlich oder zeitlich passiert sind, falls der versteckte Zauber überhaupt spürbar wurde... Viele von uns waren mürrisch, maulten, die bedrückende Warterei in einem noch bedrückenderen Klima legte sich aufs Gemüt.
Sicher, da war ein sonniger Sonntag, wir puckerten mit dem Rettungsboot auf verschlungenen Wasserläufen hinein in eine wilde Landschaft, in ein paar Stunden verwegenen Lebens! Sonnenverbrannt und biertrunken kamen wir uns wie Abenteurer, wie gutmütig-draufgängerische Sonntags-Söldner vor. Wir alberten mit der Leuchtpistole herum, die wir für alle Fälle mitgenommen hatten, kamen uns beim Ballern echt tollkühn vor. Wir staunten aber auch, wie armselig das Leben im Busch sein kann. Wir sahen Hütten, die inmitten moskitoverseuchten Sumpfgrasröhrichts im Wasser standen. Und wenn sie auf festem Grund erbaut waren, fand sich Wasser nur fußabdrucktief darunter. Zwischen drohenden Drachenbaumdschungeln und dem wirren Wurzelwerk der Mangroven wurde der Mensch nur geduldet. Wir lachten mit den Bewohnern des schwankenden Sumpflandes, verschenkten mitgenommene Koteletts, versuchten Palmwein und "African Gin" und stellten fest, dass Afrikaner gastfreundliche, lebensfrohe Menschen sind, - und keineswegs nur Banditen oder korrupte Beamte!
Doch dann herrschte wieder angespannte Stimmung. Der Koch hatte keine Lust mehr, einer aus der Maschine stänkerte dauernd, legt sich mit dem Chief an, mimte schließlich krank. Neben uns ankerte ein kleinerer Frachter, ein nach Panama ausgeflaggter Holländer. Kapitän, Chief und Erster Steuermann waren Niederländer, das restliche Dutzend der Besatzung kam von den Kap-Verde-Inseln. Als der Erste anfing durchzudrehen, wurde er auf dem schnellsten Wege in die Heimat geflogen. „Was soll ich mit einem ‚Chief-Mate‘, der den Tropenkoller hat?“ - so der Kapitän während eines Klönschnacks am UKW-Sprechfunkgerät.
Einige Tage später klang seine Stimme ernst und gehetzt: Unser Rettungsboot sei doch motorisiert und rasch zu Wasser zu lassen? Der Elektriker sei über die Kante gegangen, vor aller Augen, einfach so – und er sei doch Nichtschwimmer!
Die Suche blieb erfolglos. Nach drei Tagen rief uns ein Fischer aus seinem Einbaum zu, er habe flussabwärts die Leiche entdeckt. So konnten die grausam stinkenden Überreste des Insulaners geborgen werden, den irgendwelche, wohl für immer unbekannt bleibende Beweggründe ins Wasser getrieben hatten. In einer Persenning hing dann der Tote noch tagelang am weit außenbords geschwenkten Ladebaum des Frachters, bis der träge BehöÜüößäöäöääääüäüä