HELMUT KOOPMANN
GOETHE UND FRIEDERIKE BRION
C.H.BECK
In Frankfurt und Leipzig erlebt der junge Goethe das erste Scheitern von Liebesbeziehungen: Er wird verlassen und rettet sich in sein dichterisches Talent. Die Verquickung von Liebe und Dichtung setzt sich auch in Sesenheim fort. «Wir lebten bloß wechselseitig für uns», schrieb Goethe später. Durch Friederike inspiriert, verfasst er einige seiner schönsten Gedichte, darunter das gewaltige «Willkomm und Abschied». Es nahm den wirklichen Abschied vorweg.
Der Abschied: wir wissen nicht, warum er kam. Käthchen Schönkopf in Leipzig hatte ihn verlassen, jetzt verließ er Friederike: da war eine schlimme Urerfahrung ins Gegenteil verkehrt. Friederike hat später nicht geheiratet, eigentlich nie ein eigenes Leben geführt; sie blieb die Verlassene. Goethe war noch einmal davongekommen. Aber nur so konnte er wohl zum Dichter werden. Denn in den «Sesenheimer Liedern» hat Goethe eine dichterische Sprache gefunden wie vorher nie.
Das Buch geht den Lebensspuren des jungen Goethe nach, aber es will auch zeigen, was aus der Geliebten geworden ist: jener unglücklichen Friederike, die mit Goethe so glücklich gewesen war.
Helmut Koopmann lehrte bis zu seiner Emeritierung als Professor für Neuere deutsche Literatur in Bonn und in Augsburg. Außerdem war er als Gastdozent u.a. in China, Indien, Italien, Südafrika und vielfach in den USA tätig. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe (22002) und Thomas Mann – Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder (2005).
VORSPIEL IN LEIPZIG. LIEBES-GRAUSAMKEITEN – UND IHR LITERARISCHES ECHO
Anfänge. Und eine erste schmerzliche Liebeserfahrung, ganz ohne Zutun der Geliebten
In die große Welt. Goethes Ankunft in Leipzig
Ein ziemlich ratloser Student
Wer war «Annette», Käthchen Schönkopf?
Quälereien eines Eifersüchtigen. Die späte Einsicht in Dichtung und Wahrheit
Gespielte Harmlosigkeiten in Versform: Die Laune des Verliebten
Lieder an und für Annette. Sprachkapriolen
Goethe will Poete werden. Selbstzweifel bleiben nicht aus
Briefe an Behrisch: Authentisches Protokoll eines verqueren Liebeslebens
Zurück in die «Antithese von Leipzig». Annette reist mit
Neue Lieder: Über die Zergliederung von Freuden
Mißvergnügen an Frankfurt: schon damals «spelunca, ein leidig Loch»
Käthchen Schönkopf und Goethes verletzte Seele: eine fast unendliche Geschichte
Die Mitschuldigen: Erträumte Hoffnungen und eine Komödien-Abrechnung
ZEIT DES GLÜCKS. EINE LIEBE IN SESENHEIM
Straßburg. Vom Leben eines Dilettanten
Herder. Theorien vom Ursprünglichen
Sesenheim. Leben im Ursprünglichen
Zitathaftes. Ein Roman als Wirklichkeit
Verkleidungen, Masken, Konfusionen: Goethe als Proteus
Ein Liebesbrief – aus «gewisser innerlicher Unruhe»
Die Familie Brion. Eine protestantische Welt
Eine Liebesgeschichte. «Wir lebten bloß wechselseitig für uns»
Verdunkelungen. Wer vom Land kommt, paßt nicht in die Stadt
Ein Abschied. Fast für immer
Verschleierungen und wiederholte Spiegelungen
DIE SESENHEIMER LIEDER. IM SPRACHRAUSCH
Nächtlich nach Sesenheim: Willkomm und Abschied
Blumen und Lerchen. Das Liebeslied eines Egoisten [Maifest]
Morgenständchen. Goethe hört sich selbst zu [Erwache Friedericke]
Morgen soll es sein wie heute. Ein Liebeswunsch [Jetzt fühlt der Engel]
Fröhliches Wirtshausabenteuer, auf dem Weg von Sesenheim [Nun sitzt der Ritter]
Weihnachtsidyll in Sesenheim. Mit Engelein [Ich komme bald]
Rokoko-Gefälligkeiten. Und mehr [Kleine Blumen, Kleine Blätter]
Vom Singen. Kann Kummer in ein Lied übergehen? [Balde seh ich Rickgen wieder]
Liebes-Schnitzerei, mit Todesahnung [Dem Himmel wachse entgegen]
Liebeszweifel. Sie machen produktiv [Ob ich Dich liebe]
Ein traumatisches Erlebnis: Die gebrochene Rose [Heidenröslein]
Ein Liebes-Abgesang, im Nebel [Ein grauer trüber Morgen]
Traumbilder als Wirklichkeit [Ach wie sehn ich mich nach Dir]
Volkslieder, von Goethe im Elsaß gesammelt. Eine grausame Welt
WAS WEITER GESCHAH. EIN LIEBESNACHFOLGER UND MEHRFACHES SELBSTGERICHT
Jakob Michael Reinhold Lenz: ein dunkler Bruder, intrigant
Die Person gewordene Treulosigkeit: Weislingen in Goethes Götz von Berlichingen
Clavigo: Doppelter Verrat, aus Wankelmut
Verrat, ins Extreme getrieben, mit Kindesmord: Faust
Ein Doppelporträt Goethes. Von ihm selbst entworfen
Unromantischer Rückblick eines Romantikers
DAS WUCHERN DER LEGENDEN
Kränkungen und das Bild eines Engels
Literaturhinweise
Abbildungen
Sein erstes Gedicht verfaßte Goethe zum Jahresanbruch 1757 – da war er sieben Jahre alt. Es ist ein Gedicht zum Jahreswechsel, den Großeltern überreicht «aus Kindlicher Hochachtung» und mit Segenswünschen an sie gerichtet. Ein Hauslehrer wird geholfen haben. Da schrieb ein Anfänger, der aber schon etliches gelernt hatte. Der junge Goethe hatte einige Lehrer, so einen Schreiblehrer, der auch Rechnen, Geschichte und Geographie unterrichtete; ein Theologiekandidat gab Latein- und später auch Griechischunterricht, bei einem Kupferstecher lernte Goethe zeichnen, aber hinzu kam auch Unterricht im Französischen und Italienischen, im Englischen und Hebräischen, und im übrigen gab es so etwas wie einen «Gesamtunterricht» durch den Vater – und dann noch Reiten, Tanzen und Fechten. Und daß die Bibel gelesen wurde, war Selbstverständlichkeit.
Der junge Mann aus gutem Hause war ungemein gelehrig. Es gab Regeln der Metrik, des Reimes, des Strophenbaus, die zu beherrschen waren und über die der junge Goethe auch unterrichtet wurde, und Spuren des erfolgreichen Unterrichts zeigen sich schon in jenem Neujahrsgedicht. Gelegenheitsgedichte zu schreiben galt als selbstverständliche Übung und Pflicht; Muster waren vorgegeben und waren zu beachten – Eigenwert und Individualität hatten diese Gedichte natürlich nicht, aber sie zeigen immerhin, daß Goethe sich mit Erfolg übte. Ein Gedicht des Zwölfjährigen zum 1. Januar 1762 bezeugt schon einiges mythologisches Wissen, und der Hinweis auf die «fremde Zunge» läßt erkennen, daß Goethe damals auch Kenntnisse in anderen Sprachen hatte – er wird sich ihrer in Briefen an seine Schwester Cornelia später gerne bedienen.
Ein Frühreifer – aber so ganz ungewöhnlich war das damals nicht. Kinderbücher gab es nicht, gelesen wurde sehr viel. Goethe hatte die Bibliothek seines Vaters zur Verfügung, und er berichtet in Dichtung und Wahrheit, was ihm an Büchern in die Hände kam: es war der Orbis pictus des Amos Comenius, eine «Welt im Bild»-Enzyklopädie für Kinder; eine große Folio-Bibel, Ovids Metamorphosen, die Acerra philologica («Philologisches Weihrauchkästchen», Titel einer Geschichtensammlung von 1633), und dazu kamen noch Les aventures de Télémaque, die Abenteuer des Telemach in der Alexandriner-Übersetzung von Benjamin Neukirch, mit «Kupfern im französischen Theatersinne» ausgestattet; aber da waren auch Die Insel Felsenburg von Johann Gottfried Schnabel (Wunderliche Fata einiger See-Fahrer) und Defoes Robinson Crusoe, es gab dazu die Volksbücher, die bei einem Büchertrödler zu finden waren: «Der Eulenspiegel, die vier Haimonskinder, die schöne Melusine, der Kaiser Octavian, die schöne Magelone, Fortunatus»: da war eine Phantasiewelt, «mit einer Masse von Bildern und Begebenheiten, von bedeutenden und wunderbaren Gestalten und Ereignissen angefüllt», die Goethe immerfort beschäftigten. Langeweile kam nicht auf, weil es ihm immer darum ging, «diesen Erwerb zu verarbeiten, zu wiederholen, wieder hervorzubringen». Goethe hat in Dichtung und Wahrheit ausführlich darüber berichtet. Er lernte Homer kennen, und es versteht sich von selbst, daß die Kinder, also Goethe und seine Schwester Cornelia, «auch eines fortwährenden und fortschreitenden Religionsunterrichts genossen». Der Unterricht war langweilig, aber die Bibel lieferte einen unendlichen Schatz an Bildern und Geschichten.
In Vaters Bibliothek waren auch Werke von Klopstock, Canitz, Hagedorn, Drollinger, Gellert, Creuz, Haller, neben dem schon erwähnten Neukirchschen Telemach auch Koppes Befreites Jerusalem und Klopstocks Messias: Goethe hatte, wie er selbst sagte, «diese sämtlichen Bände von Kindheit auf fleißig durchgelesen und teilweise memoriert». Auf dem Theater war der junge Goethe auch zu finden; Diderots Hausvater etwa wurde gegeben, Tänzer traten auf, und die französische Besatzung in Frankfurt unterbrach den gelehrten Zustrom kaum.
Ein reicheres Dasein eines jungen Menschen läßt sich kaum denken. Hinzu kamen Bekanntschaften mit Honoratioren der Stadt, und einige von ihnen wurden ihm zu Vorbildern: die Gebrüder Schlosser und Griesbach etwa, zwei Advokaten, Griesbach ein Student der Theologie, der später Professor in Jena wurde.
Und Goethe dichtete auch. Nicht nur, weil er viel gelesen hatte, fiel ihm das Versemachen nicht schwer. 1764, sicher aber spätestens 1765 entstanden seine Poetischen Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi – ein breit ausgemaltes Gedicht mit vielen Metaphern und Vergleichen; die Höllenfahrt Christi geschieht, um die Hölle zu strafen. Das Gedicht «erhielt von meinen Eltern und Freunden viel Beifall, und sie [die Ode] hatte das Glück mir selbst noch einige Jahre zu gefallen», schrieb Goethe später in Dichtung und Wahrheit; er meinte sich zu erinnern, daß Susanne von Klettenberg, eine Freundin seiner Mutter, ihn dazu veranlaßt habe. Am 17. März 1830 bemerkte er allerdings selbstkritisch zu Eckermann, dem späteren Weimarer Vertrauten und geschätzten Gesprächspartner: «Das Gedicht ist voll orthodoxer Borniertheit und wird mir als herrlicher Paß in den Himmel dienen.»
Goethe wurde einmal auch gefragt, ob er «einen recht artigen Liebesbrief in Versen» verfassen könne, den «ein verschämtes junges Mädchen an einen Jüngling schriebe, um ihre Neigung zu offenbaren». Goethe entgegnete damals: «Nichts ist leichter als das.» Mystifikationen und Attrappen waren ohnehin beliebtes Spielmaterial; «Wir hatten uns in unsern Knabenjahren einander oft angeführt», wußte noch der alte Goethe.
Es blieb nicht dabei. Eines Abends traf man sich wieder, Goethe langweilte sich und hatte wenig Freude an der «boshaften Verstellung», die einem «freilich nicht sehr aufgeweckten Menschen» galt, doch dann kam es zu einer «unerwarteten Erscheinung»: ein Mädchen trat herein, «von ungemeiner, und wenn man sie in ihrer Umgebung sah, von unglaublicher Schönheit». Es war jenes Gretchen, das Goethe in Dichtung und Wahrheit in ihrer Anmut beschrieben hat: «Das Häubchen saß so nett auf dem kleinen Kopfe, den ein schlanker Hals gar anmutig mit Nacken und Schultern verband. Alles an ihr schien auserlesen, und man konnte der ganzen Gestalt um so ruhiger folgen, als die Aufmerksamkeit nicht mehr durch die stillen treuen Augen und den lieblichen Mund allein angezogen und gefesselt wurde.» Goethes erste Liebe. Er tat alles, um die Schöne wiederzusehen, und es gelang auch: und als es um eine poetische Epistel ging, da konnte er nicht widerstehen: «Meine Neigung wuchs unglaublich, ich war nicht Herr von mir selbst.» Es waren «die ersten Liebes-Neigungen einer unverdorbenen Jugend». Goethe folgte ihnen. «Das liebe Mädchen zu sehen und neben ihr zu sein, war nun bald eine unerläßliche Bedingung meines Wesens» – aber es war eine Neigung mit einiger Distanz, denn die Angebetete erwiderte nichts: «Gretchens Betragen gegen mich war nur geschickt, mich in Entfernung zu halten. Sie gab Niemanden die Hand, auch nicht mir; sie litt keine Berührung».
Von «Gretchen», dem «schönen Kinde», wissen wir so gut wie nichts, nur das, was Goethe im Fünften Buch von Dichtung und Wahrheit über sie geschrieben hat. Die ersten «Liebes-Neigungen» endeten ebenso abrupt wie unglücklich. Gretchen war in eine kriminelle Affäre verwickelt, in «Verfälschung von Papieren, Nachbildung von Unterschriften»; Goethe litt «schmerzlich» unter den Anschuldigungen, die gegen sie vorgebracht wurden, geriet in «große Unruhe, Rasen und Ermattung», die in Krankheit ausartete. Gretchen verließ die Stadt, zog wohl wieder in ihre Heimat (Offenbach). Goethes «Verhältnis zu Gretchen zerriß» – Grund, sich noch enger an seine Schwester anzuschließen. Aber er brauchte Zeit, um über die Gretchen-Geschichte hinwegzukommen.
Die Zeit des Wechsels an eine Universität kam. Er dachte an Göttingen, doch der Vater wollte ihn in Leipzig sehen. Der Vater entwarf ihm auch einen «Cursus der Studien und des Lebens, wie ich ihn auf Akademieen und in der Welt zu durchlaufen hätte», aber Goethe hatte seine eigenen Vorstellungen und ersann sich einen «Gegencursus», der freilich ein mehr phantastischer als realer Zukunftsplan war, und so zog er denn nach Leipzig. Gretchen blieb verschwunden. Vergessen war sie aber keineswegs, Goethe sollte sich noch öfters an sie erinnern. Und der sonderbare Liebesroman mit Gretchen sollte sich, auch wenn er damals gar nicht ausgelebt worden war, fortsetzen; in Leipzig trat ein anderes Mädchen an die Stelle jenes Gretchens. Und nicht zuletzt war es der Umgang mit ihm, der ihm bestätigte, daß er «einige Eigenschaften besitze die zu einem Poeten erfordert werden» – und daß er, durch Fleiß, einmal einer werden könne. So schrieb er Cornelia am 11. Mai 1767. In diesem Brief findet sich auch der enthüllende Satz: «Man lasse doch mich gehen, habe ich Genie; so werde ich Poete werden, und wenn mich kein Mensch verbessert, habe ich keins; so helfen alle Criticken nichts.»
Diejenige, die in Leipzig an die Stelle jenes Gretchens tritt, wird seine Geliebte, später seine Freundin und schließlich so etwas wie seine Muse werden. Vor allem aber wird sie sein Dichten beflügeln. Die erste Gedichtsammlung ist an sie gerichtet. Jene Leipzigerin wird auch nicht die Einzige sein; in Straßburg oder vielmehr in Sesenheim wird sich wiederholen, was in Leipzig geschah; und wieder wird es eine Geliebte sein, die ihn zum Dichter werden läßt, der einige seiner schönsten Gedichte in Sesenheim und Straßburg schrieb. Goethes Lebenserfahrungen: das waren auch Liebeserfahrungen. Und die Liebeserfahrungen: das waren auch dichterische Erfahrungen.
Wahrscheinlich traf Goethe in den ersten Oktobertagen des Jahres 1765 in Leipzig ein; auf Wunsch seines Vaters sollte er dort Jurisprudenz studieren. Er wäre lieber nach Göttingen gegangen, doch sein Vater war hartnäckig geblieben. Goethe hatte gesehen, wie es ihm, dem Frankfurter Juristen, in seiner Heimatstadt ergangen war: ein einsames Leben hatte der geführt, war der Stadt nur als Privatmann verbunden, lebte «zwischen seinen Brandmauern». Goethe wollte hinaus, verschrieb sich einen eigenen Lebensplan; sein «Gegencursus» zum Lebensentwurf des Vaters ging dahin, sich «den Sprachen, den Altertümern, der Geschichte und allem was daraus hervorquillt» zu widmen. Und Leipzig schien Gelegenheit zu bieten, sich diese seine «eigne Lebensbahn vorzuzeichnen» und auch einzuschlagen. Frankfurt war ihm ohnehin verleidet; es war ihm ein Gefängnis geworden, er schrieb: «Die heimliche Freude eines Gefangenen, wenn er seine Ketten abgelöst und die Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht größer sein, als die meine war, indem ich die Tage schwinden und den Oktober herannahen sah.» Schon am 2. Juni 1756 hatte er in einem Brief an die «Arkadische Gesellschaft», der er gerne beitreten wollte, sein Frankfurt-Bild noch stärker geschwärzt: «Wir haben viele Dumm-Köpfe in unsrer Stadt».
Der Weg mit der Kutsche war beschwerlich, bei Auerstädt blieb sie stecken, Goethe half, das Vehikel wieder flott zu bekommen, überdehnte dabei «die Bänder der Brust» – Ursache eines immer wiederkehrenden, langanhaltenden Schmerzes, der ihm später noch oft zu schaffen machte. Aber schließlich kam er an. Es war Michaelismesse, er sah in dem Leben und Treiben auf den Straßen geradezu «die Fortsetzung eines vaterländischen Zustandes» vor sich, ihm «bekannte Waren und Verkäufer, nur an anderen Plätzen und in einer anderen Folge». Und dann entdeckte er die Stadt «mit ihren schönen, hohen und unter einander gleichen Gebäuden […]. Sie machte einen sehr guten Eindruck auf mich, und es ist nicht zu leugnen, daß sie überhaupt, besonders aber in stillen Momenten der Sonn- und Feiertage etwas Imposantes hat, so wie denn auch im Mondschein die Straßen, halb beschattet, halb erleuchtet, mich oft zu nächtlichen Promenaden einluden». An die Schwester schrieb er von einer Maler-Akademie, für die er sich interessierte; er erwähnte die wunderbaren Gärten – sie «sind so prächtig als ich in meinem leben etwas gesehen habe». Besonders hatte es ihm das «Entree des Apelischen» Gartens angetan. Es war der Eingang in den Garten eines reichen Kaufmanns, und Goethe schwärmte geradezu: «der ist königlich. Ich glaubte das erste mahl ich käme in die Elysischen Felder.» Die von den Preußen ruinierten Bäume und Hecken seien im übrigen alle wiederhergestellt. Das dürfte seinen Vater allerdings nicht sonderlich amüsiert haben, denn Sachsen, mit den Franzosen verbündet, war bis vor kurzem aus preußischer Sicht Feindesland gewesen, und Johann Caspar Goethe hatte es mit Friedrich dem Großen gehalten.
Leipzig im Herbst 1765, wie es Goethe im nachhinein, in seinem Bericht in Dichtung und Wahrheit erschien. Da war wenig romantisiert; auch andere haben die Stadt so gesehen:
«Leipzig ist ein Ort, der ohngefähr so groß als Preßburg ist, der schöne und hoch gebaute Häuser, ziemlich breite Straßen und artige, reinliche Plätze hat. Es fehlt daselbst nicht an vernünftigen Vergnügungen, ein wohleingerichtetes und mit guten Leuten besetztes Konzert ist alle Donnerstage, die Kochische Truppe, die aus sehr verdienstvollen Personen besteht, hält sich den Winter über hier auf, wo in einem dazu verfertigten Hause die besten Stücke von deutschen, französischen und italienischen Autoren aufgeführt werden. Assemblées, Bälle, Spazierfahrten, Gastereien, alles ist hier zu finden. Es hat eine ganz hübsche Lage, und wenn nur an die schönen Ebenen Berge grenzten, so würden die Gegenden vollkommen artig sein. Doch hat man verschiedene Örter, wo man sich Sommerszeit belustigt. Schöne öffentliche Gärten, verschiedene Dörfer, wo man in wohleingerichteten Häusern gut bewirthet wird. Das Rosenthal, ein schöner Wald, in den verschiedene Alleen gehauen sind. Und um die ganze Stadt geht man in Alleen von Linden und Maulbeersträuchern. Ist dies nicht alles schön? Ganz gewiß! Und wären die jetzigen Zeiten so gut wie die vergangenen, so würden die Messen und die Universität blühender sein, und so fehlte Leipzig nichts zu dem Namen einer großen Stadt. Die Einwohner sind ganz gute Leute; sie theilen sich in Gelehrte, Kaufleute und Handwerker. Die Gelehrten sind sehr schätzbare Männer, die Kaufleute gute Kaufleute, die übrigen Menschen so, wie man sie in der ganzen Welt antrifft: gute und böse durcheinander. Unsere Religion hat ein ernstes, feierliches Ansehen, und unsere Sitten sind artig herausgeputzt. Der vielen und verschiedenen Fremden wegen, die jährlich eine Universität und ein Handelsplatz herzuziehen, müssen wir uns verschiedentlich bilden, wir suchen einem jeden zu gefallen, und – sollten Sie es glauben? – wir gefallen oft den wenigsten. Darum denke ich immer: je natürlicher, je besser! Wir gefallen wenigstens den empfindsamen Kennern der Natur, und diese sind doch meines Erachtens nach vernünftige, gute Leute».
So beschrieb eine junge Leipzigerin ihre Stadt für ungarische Verwandte, eben zu der Zeit, als Goethe dort eintraf. Vom Siebenjährigen Krieg und seinen Folgen war noch einiges zu erkennen, Goethe erwähnt, daß «der Sachse» die Wunden noch spüre, die ihm «der überstolze Preuße geschlagen hatte». Aber er sah vor allem anderes: ihm begegnete eine bürgerliche Welt, ihre Denkmale waren «die mir ungeheuer scheinenden Gebäude, die, nach zwei Straßen ihr Gesicht wendend, in großen, himmelhoch umbauten Hofräumen eine bürgerliche Welt umfassend, großen Burgen, ja Halbstädten ähnlich sind». Es war eine Kaufmannswelt, sie bezeugte «Handelstätigkeit, Wohlhabenheit, Reichtum» – eine Gegenwelt zu Frankfurt, die er «gleichgültig» hinter sich gelassen hatte, «als wenn ich sie nie wieder betreten wollte».
Goethe fand Quartier, bezog ein paar Zimmer, zum Hof hin gelegen, in der «Großen Feuerkugel», einem Gasthaus in der Nähe des (alten) Neumarkts gelegen. Er hat über seine Anfänge in Leipzig in Dichtung und Wahrheit berichtet, daß er sich den Professoren vorgestellt habe; die beeindruckten den Sechzehnjährigen geradezu maßlos. An den Vater schrieb er: «Noch eins! sie können nicht glauben was es eine schöne sache um einen Professor ist. Ich binn ganz entzückt geweßen da ich einige von diesen leuten in ihrer Herrlichkeit sah. nil istis splendidius, gravius, ac honoratius. Oculorum animique aciem ita mihi perstrinxit, autoritas, gloriaque eorum, ut nullos praeter honores Professurae alios sitiam» – «Nichts Glänzenderes, Würdevolleres, Ehrenvolleres als sie. Ihr Ansehen und ihr Ruhm hat die Schärfe meiner Augen und meines Geistes so geblendet, daß ich nach keinen anderen Ehren als nach denen einer Professur dürste». Ein früher Lebenswunsch. Er sollte sich nicht erfüllen, aber Goethe bekam Besseres.
Er war gewillt, sich von der Juristerei bald zu befreien, um quasi ein studium universale zu beginnen. Doch der Hofrat Böhme, an den er empfohlen war – er lehrte Geschichte und Staatsrecht –, hielt von den schönen Wissenschaften nicht sonderlich viel, machte ihm «Philologie und Sprachstudien» madig, mißbilligte auch Goethes poetische Exerzitien und überzeugte ihn schließlich vom Sinn eines etwas erweiterten Jurisprudenz-Studiums; er solle «Philosophie, Rechtsgeschichte und Institutionen» hören. Böhme gestand ihm allenfalls noch einiges von Christian Fürchtegott Gellerts, des Professors für Poesie, Beredsamkeit und Moral, Angeboten zu. Goethe besuchte seine Vorlesungen anfangs auch fleißig, aber das Philosophiestudium brachte nicht das, was er sich davon erhofft hatte, und mit den juristischen Kollegien stand es am Ende nicht sehr viel besser. Er sprach im übrigen nicht die Sprache der Leipziger, die Leipziger Gesellschaft hatte manches an ihm auszusetzen, seine Kleidung war nicht die rechte; er mußte sich anhören, daß er «wie aus einer fremden Welt herein geschneit» sei, und das verdroß ihn. Madame Böhme machte ihm überdies einiges an deutscher Literatur abspenstig, und so gab es bei ihm zunehmende «Geschmacks- und Urteilsungewißheit». Eigene Gedichte, die er Madame Böhme vorgelesen hatte, waren im übrigen von ihr vernichtend kritisiert worden, weshalb er ein erstes gründliches Autodafé veranstaltete. Er verbrannte «Poesie und Prose, Plane, Skizzen und Entwürfe» im Küchenherd – und versetzte seine alte Wirtin damit «in nicht geringe Furcht und Angst». Es gab auch vorher schon andere «kleine Unannehmlichkeiten» – wenn Hofrat Böhme nicht gewesen wäre, er hätte angefangen, «lässig zu werden und die geselligen Pflichten der Besuche und sonstigen Attentionen zu versäumen». Er fürchtete «vielfache Zerstreuung, ja Zerstückelung» seiner Studien – und seines Wesens.
Aber Goethe wurde dennoch kein Einzelgänger; er kam bald in die bessere Gesellschaft Leipzigs, machte diverse Aufwartungen. Er hatte im übrigen Empfehlungsschreiben noch an weitere Honoratioren mitgebracht, nahm seinen Mittagstisch beim Hofrat Christian Gottlieb Ludwig, einem Botaniker und Medizinprofessor, der nach Gewohnheit der Zeit auch eine Art Pension unterhielt. Da waren noch andere Gelehrte und Studenten, Mediziner und Naturwissenschaftler, und Goethe sah sich «in ein ganz ander Feld hinüber gezogen» als in das, weswegen er eigentlich nach Leipzig gekommen war. Man sprach und stritt über alles Mögliche: «Die Gegenstände waren unterhaltend und bedeutend, und spannten meine Aufmerksamkeit.» Vor allem aber interessierte er sich in seinen Studien und Betrachtungen für eines: die neuere Literatur.
Es war der Zufall, der ihn dann noch auf besondere Weise in die Leipziger Gesellschaft einführte. Goethe kannte den etwas älteren Johann Georg Schlosser von Frankfurt her, schätzte ihn seiner «schönen und seltenen literarischen Bildung» und seiner Sprachkenntnisse wegen. Schlosser (der später, 1773, Goethes Schwester Cornelia heiraten sollte) nun kam durch Leipzig, wollte eine Stelle als Erzieher beim Herzog von Württemberg annehmen, und Goethe war begierig, ihn zu treffen. Schlosser kam, stieg in einem kleinen Gasthof ab, dessen Wirt Schönkopf hieß; ein wenig besuchtes Haus, in dem aber zu Messezeiten viele Frankfurter wohnten. Goethe besuchte ihn dort, obwohl er sich an Schlossers Aussehen kaum noch erinnern konnte, und fand einen jungen Mann vor, der das genaue Gegenteil seiner selbst zu sein schien: selbständig, sicher, gebildet. Er hatte poetische und prosaische Aufsätze verfaßt – und für Goethe war diese Begegnung der Beginn einer dauerhaften Freundschaft. Goethe speiste mit ihm im Schönkopfschen Haus, solange Schlosser in Leipzig war, und nach Schlossers Abreise blieb er dort. Er fühlte sich in der Tischgesellschaft um so wohler, so berichtet er in Dichtung und Wahrheit, «als mir die Tochter vom Hause, ein gar hübsches, nettes Mädchen, sehr wohl gefiel, und mir Gelegenheit ward freundliche Blicke zu wechseln».
Es war der Anfang einer Liebesgeschichte mit Höhen und Tiefen, Verletzungen und Reue, Hoffnungen und Enttäuschungen, und sie machte Goethe noch zu schaffen, nachdem er Leipzig längst wieder verlassen hatte. Und: sie machte ihn produktiv. Geschrieben hatte er seinem eigenen Bekenntnis zufolge schon immer, seit er zehn Jahre alt war. Aber nun erreichte sein Schreiben neue Dimensionen: in Versdramen und Gedichten, vor allem aber in seinen Briefen. Viele hatten mit jener Tochter vom Hause zu tun: Käthchen Schönkopf, in seinen Gedichten auch «Annette» genannt. Sie wurde bald sein «Mädgen».
In einem Brief an die Schwester Cornelia vom 11. Mai 1767 läßt er auch die Leipziger Damenwelt, soweit er sie kennen gelernt hat, Revue passieren. Da ist die «Jfr. Breitkopf» – er hat sie gern, findet in ihrer Gesellschaft «ein unendliches Vergnügen». Mehr ist es aber auch nicht. «Jfr. Taenert», ihre Gefährtin: die hat «einen scharfen und spöttischen Geist», und so fürchtet man sich eigentlich vor ihr und hat sie nicht gern. Dann ist da Frau Rath Böhme – «Mit geradezu mütterlichem Eifer war sie bemüht, bisweilen die Fehler zu verbeßern, die sie bey mir bemerckte». Frau von Plotho, ihre Vertraute, die mit Offenherzigkeit zu ihm spricht, ist allerdings mehr Gouvernante als Freundin. Und schließlich ist auch die Rede von der «kleinen Schoenkopf»: «Es ist ein sehr gutes Mädgen, das mit ihrer Gradheit des Herzens eine angenehme Naivetät verbindet, wiewohl ihre Erziehung mehr streng als richtig gewesen ist. Sie ist mein Ökonom was meine Wäsche und meine Kleider anlangt, worauf sie sich gut versteht und hat Freude, mir dabey durch ihre Fertigkeit in solchen Sachen hülflich zu seyn und deßwegen habe ich sie gar gerne».
Mehr nicht? Anfangs wohl tatsächlich nicht mehr. Goethe setzt in seinem Brief an Cornelia hinzu: «Nicht wahr, meine Schwester, ich bin wunderlich genug, ich habe alle diese Mädgen gerne. Wer könte sich dagegen wehren, sie sind so gutherzig; Schönheit berührt mich nicht und warrlich alle meine Bekanntschafften sind eher gut als schön». Und: «ich habe sie alle gern, ohne einer anhänglich zu werden, alle sind mir wohlgesinnt, keine liebt mich, es ist alles was ich brauche und so binn ich zufrieden». Dieser Brief an seine Schwester muß noch nicht unbedingt ein aufrichtiges Dokument seiner Beziehung zu den Leipziger Schönheiten sein, aber Goethe schüttet seiner Schwester so sehr sein Herz aus, daß doch wohl ernst zu nehmen ist, was er über die Leipziger Damenwelt, und vor allem: was er über «die kleine Schoenkopf» schreibt. Sie sei die interessanteste unter seinen «Mädgen», die ihn veranlaßt habe, auch einige «Lieder» zu verfertigen – auf «Befehl». Am Ende seines langen Briefes aber bekennt er allerdings deutlich genug, daß es ihm nicht um Liebe und Liebelei, sondern vor allem um sein Dichten geht; die «Mädgen» stimulieren ihn allenfalls. Er schreibt: «Aber, meine Schwester, würde man bey Lesung meiner Verse nicht glauben, ich müsse gar sehr verliebt gewesen sein? wenigstens herrscht darinne eine grose Zärtlichkeit. Warrlich ich liebe die Mädgen allesammt, wiewohl ich offt singen kan:
Von kalten Weisen rings umgeben
Sing ich was heisse Liebe sey;
Ich Sing vom süßen Saft der Reben
Und Wasser trinck ich oft dabey.
Würckliche Liebe darf ein Poet nicht empfinden, er soll in seinen Gedichten entweder ideale, perfeckte, oder, wie sie ja sind, böse Mädgen darstellen; statt dieser wird er wenn er verliebt ist, seine Liebste darstellen, wie Seekatz sein Eheweib, wo Fürstinnen am Platz gewesen wären.»
Es folgen noch andere Verse:
Wie sehr auch für Venus Poeten sich bemühen,
Ein Musensohn ist in der Liebe wie ein Stern,
Dem Thelescop des menschlichen Gemühts zu fern.
Die Sphäre wo er lebt entrückt sich dem Verstehen,
Dem Leben gilt uns gleich was wir im Traume sehen,
Gefühl genügt, bringt alle Freuden die es giebt
Und in die Liebe nur sind wir von je verliebt.
So huldigen wir gern den Phantasiegebilden,
Des Herzens Flamme loht in des Mährgens Gefilden.
Und dann legt er seiner Schwester noch eine Kopie seiner Lieder bei.
Es sieht so aus, als sei er vor allem in die Liebe verliebt – und darüber kann er schreiben. Er liebt sie alle, «allesammt», die Leipziger «Mädgen»; aber vor allem liebt er die «kleine Schoenkopf», seine Annette. Doch das war mehr als Liebelei. Goethe wird seine erste wirkliche Liebe erleben. Eine glückliche war es am Ende nicht.
Es gibt ein Bild von ihr, nach einem Miniaturbildnis: es zeigt ein junges Mädchen mit einem völlig ausdruckslosen Gesicht, hochgesteckten Haaren, einem Halsband, einer umgehängten Schleife und in einem kostbaren Kleid; eine Frontalansicht, die an Leblosigkeit kaum zu überbieten ist. So sahen damals allerdings viele Porträts aus, ihnen fehlt Individuelles so gut wie ganz, und man kann sich nicht vorstellen, daß ein junger Goethe sich auf dieses Bild hin in sie hätte verlieben können. Aber es gibt auch ein literarisches Porträt, das etwas überzeugender wirkt: Johann Adam Horn, ein Frankfurter Jugendfreund, der mit ihm in Leipzig studierte, schrieb über sie: «Denke Dir ein Frauenzimmer, wohlgewachsen, obgleich nicht sehr groß, ein rundes freundliches, obgleich nicht außerordentlich schönes Gesicht, eine offene sanfte einnehmende Mine, viele Freimüthigkeit ohne Coquetterie, einen sehr artigen Verstand ohne die größte Erziehung gehabt zu haben.» Ein rundes freundliches Gesicht, nicht sonderlich schön: das zeigt ja auch die Miniatur. Aber Goethe verliebt sich in sie. Horn setzt hinzu: «Er liebt sie sehr zärtlich, mit den vollkommen redlichen Absichten eines tugendhaften Menschen, ob er gleich weiß daß sie nie seine Frau werden kann.» Das konnte sie schon nicht aus Standesgründen.
Die Schönkopfs kamen aus dem Thüringischen; der Großvater war 1709 Leipziger Bürger geworden. Käthchens Vater, Gottlob Christian Schönkopf, war nach Frankfurt gegangen, wollte dort eigentlich auch als Zinngießer bleiben. Als er Meister werden wollte, wurde das aber von den Vorstehern des Handwerks abschlägig beschieden (unter ihnen war auch Hermann Jakob Goethe, ein Halbbruder von Goethes Vater): er solle erst nach zwei weiteren Jahren zugelassen werden. Aber Schönkopf wollte das nicht abwarten, ging Ende 1739 oder Anfang 1740 nach Leipzig zurück und übernahm das von seinem Vater geerbte Haus am Brühl. Anna (oder Anne) Catharina (Käthchen) wurde am 22. August 1746 geboren. Der Vater war weiterhin Zinngießer, auch Schreiber für militärische Listen, machte dann aber 1756 einen Weinschank auf und öffnete sein Haus für Fremde, die die Leipziger Messe besuchten, gründete einen Mittagsund Abendtisch – nicht als unpersönlich geführte Pension, sondern als patriarchalisch verwaltetes Haus, in dem man wie in einer Familie verkehrte. Unter den Gästen waren Studenten der Leipziger Universität, aber ebenfalls Patriziersöhne und Adelige mit ihren Hofmeistern. Dort lebte auch Käthchen – von ihrem Bildungsweg, ihrem Unterricht weiß man so gut wie nichts, er dürfte angesichts des Siebenjährigen Krieges eher bescheiden gewesen sein. Sie war die Tochter des Hauses, half die Speisen zu bereiten, brachte Goethe abends den Wein, den er trank. Sie war, so sah es auch Goethe später, von jeder «Unbequemlichkeit» des Standes einer ledigen Dienstbotin von vornherein befreit. Goethe verliebte sich in sie.
Eine erste wirkliche Liebesgeschichte Goethes – das war sie wohl, nach der Liebe zu jenem «Gretchen», jenem Mädchen von «unglaublicher Schönheit», das Goethe quasi als Vorgängerin Käthchens auch in Dichtung und Wahrheit erwähnt. Aber nun Käthchen Schönkopf. Wie sah die Geschichte mit ihr, diese neue Liebesgeschichte, aus? Es gibt sie in quasi fünf Varianten, die sie in unterschiedlichen Textformen widerspiegeln: in der Rekapitulation der Liebesgeschichte in Dichtung und Wahrheit; in einem Versdrama, das Goethe damals schon verfaßte, Die Laune des Verliebten; dann, wenn auch eher nur andeutungsweise und oft chiffriert, in den Liedern an Annette; höchst eindringlich in seinen damals geschriebenen Briefen, vor allem in jenen an seinen Leipziger Freund und Vertrauten Ernst Wolfgang Behrisch; schließlich auch in einem zweiten Versdrama, Die Mitschuldigen: ein späterer Rückblick, in Frankfurt geschrieben.
Es sind fünf sehr unterschiedliche Lebensberichte, allesamt Facetten einer am Ende unglücklichen Liebeserfahrung. Aber diese Erfahrung begründet noch mehr. Will man Goethes spätere Beziehung zu Friederike Brion verstehen, kommt man nicht um die Einsicht herum, daß das Verhältnis zu Käthchen Schönkopf einen Schatten selbst noch auf jene warf.
Goethe hat in seiner Autobiographie, aus der Entfernung des Alters, nachzuzeichnen versucht, was damals geschah und wieweit ihn das Zusammentreffen mit Annette wirklich berührt hat. Die Anfänge waren offenbar eher harmloser Natur, Goethe schreibt:
«Meine frühere Neigung zu Gretchen hatte ich nun auf ein Ännchen übertragen, von der ich nicht mehr zu sagen wüßte als daß sie jung, hübsch, munter, liebevoll und so angenehm war, daß sie wohl verdiente, in dem Schrein des Herzens eine Zeit lang als eine kleine Heilige aufgestellt zu werden, um ihr jede Verehrung zu widmen, welche zu erteilen oft mehr Behagen erregt als zu empfangen. Ich sah sie täglich ohne Hindernisse, sie half die Speisen bereiten, die ich genoß, sie brachte mir wenigstens Abends den Wein, den ich trank, und schon unsere mittägige abgeschlossene Tischgesellschaft war Bürge, daß das kleine, von wenig Gästen außer der Messe besuchte Haus seinen guten Ruf wohl verdiente. Es fand sich zu mancherlei Unterhaltung Gelegenheit und Lust. Da sie sich aber aus dem Hause wenig entfernen konnte noch durfte, so wurde denn doch der Zeitvertreib etwas mager. Wir sangen die Lieder von Zachariä, spielten den Herzog Michel von Krüger, wobei ein zusammengeknüpftes Schnupftuch die Stelle der Nachtigall vertreten mußte, und so ging es eine Zeit lang noch ganz leidlich».
Also ein geselliges Miteinander, eigentlich nur um des Zeitvertreibs willen? Goethe sah sie täglich, und es fand sich zu mancherlei Unterhaltung «Gelegenheit und Lust». Es wurde bald mehr. Goethe erlebte mit ihr glückliche Tage – wie die aussahen, wissen wir im einzelnen nicht. Goethe hat darüber so gut wie nichts erzählt, auch nicht seiner Schwester Cornelia. Aus seinen Briefen an sie erfahren wir, daß es ihm in Leipzig aber nicht nur um seine Liebesgeschichte ging: er wollte wissen, ob er als «Poete» tauge und etwas leisten könne – auch mit Hilfe dieser Liebesgeschichte.
Goethe liebte sie, doch sie drohte am Ende, so Goethe in Dichtung und Wahrheit, für ihn «mager» und langweilig zu werden. Und so wurde er «von jener bösen Sucht befallen, die uns verleitet, aus der Quälerei der Geliebten eine Unterhaltung zu schaffen und die Ergebenheit eines Mädchens mit willkürlichen und tyrannischen Grillen zu beherrschen». Er verfiel auf Unerfreuliches, denn er peinigte Annette, suchte deren «Ergebenheit» zu beherrschen, nahm als Unterhaltung, was Liebeszeichen waren, und es war nicht nur die Unzufriedenheit mit sich selbst, die ihn dazu brachte, sondern auch «die böse Laune über das Mißlingen meiner poetischen Versuche, über die anscheinende Unmöglichkeit hierüber ins Klare zu kommen». So trat der erfolglose Poet denn dem Liebhaber in den Weg, und der Liebhaber wurde grausam, quälte Annette offenbar geradezu mit Lust – und damit tat er alles, um sie von sich fernzuhalten. Und weil er bemerkte, «daß sich ihr Gemüt von mit entfernt habe», gab es «schreckliche Szenen». Er verdarb ihr die schönsten Tage: «Sie ertrug es eine Zeit lang mit unglaublicher Geduld, die ich grausam genug war aufs Äußerste zu treiben. Allein zu meiner Beschämung und Verzweiflung mußte ich endlich bemerken, daß sich ihr Gemüt von mir entfernt habe, und daß ich nun wohl zu den Tollheiten berechtigt sein möchte, die ich mir ohne Not und Ursache erlaubt hatte.» Und nun, so in seinem späten Bericht, habe er erst gefühlt, «daß ich sie wirklich liebte und daß ich sie nicht entbehren könne». Er versuchte alles, um ihr gefällig zu sein, wollte sie wiedergewinnen, aber: «Allein es war zu spät!» Goethe hatte diese Geliebte verloren, bevor er sie eigentlich gewonnnen hatte, und er wäre, so die Autobiographie, vielleicht «an diesem Verlust völlig zu Grunde gegangen, hätte sich nicht hier das poetische Talent mit seinen Heilkräften besonders hülfreich erwiesen». Er befreite sich, befreite sich als Dichter, und es war das kleine Drama Die Laune des Verliebten, mit dessen Hilfe er sich aus seinen Schwierigkeiten zu lösen versuchte, sich abzukehren auch von seiner «Unart», einen geliebten Menschen zu quälen. «Das arme Kind dauerte mich wirklich», schrieb er, «wenn ich sie so ganz ohne Not von mir verletzt sah. Ich stellte mir ihre Lage, die meinige und dagegen den zufriedenen Zustand eines anderen Paares aus unserer Gesellschaft so oft und so umständlich vor, daß ich endlich nicht lassen konnte, diese Situation, zu einer quälenden und belehrenden Buße, dramatisch zu behandeln». Freilich: es war eine «heile» Welt, die er in Verse brachte, ein Gegenbild zu den Quälereien und Selbstquälereien dieser Tage: das kleine Drama sollte Besseres zeigen als das, was er erlebt und sich selbst geschaffen hatte – Dichtung als Surrogat, als erfüllter Traum, wo doch die Wirklichkeit ihm wie ein böser Traum vorkommen mußte.
Wirren und Verwirrungen des jungen Goethe. Das mittlere Maß ist ihm fremd, er neigt zu Extremen, und das wird ihn noch Jahre hinaus prägen. Ihn quält seine poetische Unfertigkeit, und gleichzeitig versucht er zu dichten, um eben dieser Unfertigkeit zu begegnen. Man könnte den Eindruck gewinnen, daß Goethe Annette Schönkopf nur benutzt habe, um zu schreiben – damit allerdings würde man nur die halbe Wahrheit sehen. Es ist ein Wechselspiel zwischen Leben und Schreiben, aber da ihm das eine nicht glückt, meint er, daß ihm das andere auch mißlingen müsse. Doch nur so war es ihm letztlich wohl möglich, das in Worte zu bringen, was ihn beunruhigte und quälte, auch wenn es die immer wieder gefühlte Unfähigkeit war, eben dieses zu tun.
Am Ende war die Geliebte verloren, der Poet aber hatte gewonnen. Goethe hat damals gleichsam eine Grundformel seines Lebens und Dichtens gefunden, schrieb: «Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl Niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf.» Diese Verwandlung gelang ihm nicht immer, aber sie war ein poetischer Befreiungsschlag, den er bei Annette gleichsam erstmals erprobte. Die Laune des Verliebten war ein Versuch, die eigene unglückliche Liebesgeschichte ins poetische Gegenteil zu verkehren: hier ging alles gut aus, dem Verliebten wurden seine Launen gründlich ausgetrieben. Schäfer und Schäferinnen spielten miteinander, und sie spielten sich etwas vor; alles Bedrohliche war in die glückliche Ferne einer heiteren Bukolik hinübergespiegelt, in eine idyllische Welt, in der es am Ende nur Zufriedene gab: eine Tragödie war in ein «Lustspiel» verwandelt worden, in «Ein Schäferspiel in Versen und einem Akt».
Schäferspiele gab es im 18. Jahrhundert zahlreich. Goethe kannte das Genre, das im Zeitalter des Rokoko fest etabliert war. Das literarische Gesetzbuch hatte, nach den Vorbildern italienischer Modelle, also Tassos Aminta, Guarinis Pastor fido, der Leipziger Professor der Poesie, Logik und Metaphysik Johann Christoph Gottsched geschrieben: ein Schäferspiel müsse von einer naiven Welt handeln, von einer Welt der Einfalt und Unschuld. Schäferspiele waren Versdramen; der Vers stilisierte, bewahrte die Stoffe und deren Präsentation vor allzu viel Indezenz und vor dem «Niederen». Gottsched dachte eigentlich an ein fünfaktiges Drama, mit den bekannten Einheiten von Zeit und Ort. Aber er gestand auch eine lose Form mit einer Reihe von einzelnen Auftritten zu. Im übrigen boten Schäferspiele von Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Karl Christian Gärtner und Gellert Muster, an die Goethe sich halten konnte. Schäferspiele durften nicht allzu lang sein – Goethe folgt dem, da es in seinem Stück ja nur neun Auftritte gibt. Das dramatische Personal ist reduziert auf wenige Figuren, in der Regel auf zwei Liebespaare, Schäfer und Schäferin in verdoppelter Rolle: einfach, wie die Konstellation der Personen, ist in der Regel auch die Handlung, und so eignete sich das Schäferspiel besonders gut als Nachspiel zu «Hauptstücken», also zu Opern und Dramen. Häufig waren es einaktige Dramen.
Im Schäferspiel spricht man in Alexandrinern: es ist eine ins Hochstilisierte verwandelte Welt, vor allem eine Liebeswelt – mit Liebesintrigen, Liebesrätseln, Liebesverwirrungen und deren schließlicher Auflösung. Alles ist Spiel, und wenn es so etwas wie eine dramatische Entwicklung gibt, dann nur eine solche zur «Bekehrung» eines allzu naiven Schäfers zur Liebe oder auch einer sich zierenden Schäferin zum Liebesbekenntnis. Untreue und vermeintliche Untreue, Abweisungen und ein erneutes Zueinanderfinden gehören zum festen Schema. Es geht um Geselligkeit und Tändeleien, es passiert wenig, dafür wird sehr viel geredet, um den anderen vergnügt zu sehen und sich beglückt. Zur Ausstattung des Schäferspiels gehören Kränze und Rosen, Schalmeien und Flöten, und nicht selten eilt man «Zum Tanz, zum Fest!». Man blickt sich mit Empfindung an, und einmal heißt es in Goethes Drama gar: «sie affektiert eine zärtliche Entzückung, und sinkt an seine Brust, er schlingt seinen Arm um sie» – das ist aber auch schon das Äußerste an körperlicher Ausdrucksfähigkeit. Am Ende besiegelt häufig ein Kuß die wiederhergestellte Harmonie. Wenn Verführung durch andere droht, zerstreut der Glaube an die unzerstörbare