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Widmung

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Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Jane Lovering bei LYX

Impressum

Cover

JANE LOVERING

Sag kein Wort

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Kerstin Fricke

Zu diesem Buch

Nach langer Zeit geht es endlich wieder bergauf in Jemimas Leben: Nicht nur, dass Gitarrenladenbesitzer Ben ihren handgefertigten Schmuck in seinem Laden verkauft, der verschlossene Musiker hat still und heimlich auch ihr Herz erobert. Doch bei einem Abendessen in Jemimas WG fliegt auf, dass Ben einst Frontmann von Willow Down war, der größten Indie-Rockband Großbritanniens, und von einem Tag auf den anderen untergetaucht ist – ein Teil seines Lebens, den er bisher erfolgreich verschwiegen hatte. Für Jemima stellt sich die Frage, ob ihre Liebe eine Chance hat, solange nicht alle Karten auf dem Tisch liegen? Dabei hat sie selbst eine dunkle Vergangenheit, die sie vor Ben lieber geheim halten würde …

In Erinnerung an Peggy Thomson, 1922–2010

1

Wenn der Teufel deinen letzten Schokokeks isst, dann hast du einen richtigen Scheißtag vor dir.

Gut, es war Saskia und nicht etwa Satan, und ihre Hufe waren in ihren Riemchen-Manolos auch gut getarnt, aber die anderen Übereinstimmungen bis hin zu den leicht rötlichen Augen und der Aura von grenzenloser Überheblichkeit ließen sich nicht übersehen.

»Ich habe leider schlechte Neuigkeiten, Jemima. Na ja, schlecht für dich, würde ich sagen, nicht für mich!« Sie lachte auf, und ich hätte ihr am liebsten eins mit einem Ziegelstein übergebraten. »Ich habe beschlossen, mich von jemand anders beliefern zu lassen.«

Sie legte die schmalen kleinen Lippen um den Keks und knabberte langsam am Rand herum, bis ich beinah laut aufgeschrien hätte: »Jetzt iss das Ding doch einfach!« Aber ich traute mich nicht.

»Entschuldige, was hast du gerade gesagt?«, fragte ich stattdessen.

»Deine Schmuckstücke sind sehr … nun ja, natürlich sehr schön, sehr kunstvoll, aber auch sehr teuer, wie du weißt.« Ich saß an jedem einzelnen Teil mehrere Wochen, und aus genau diesem Grund hatte Saskia sie auch bisher in ihrem Laden verkauft, da es sehr exklusive Stücke waren. »Ich habe mich mit ein paar Leuten in den Staaten unterhalten, die sehr ähnliche Schmuckstücke herstellen, und bei ihnen müsste ich nur die Hälfte von dem bezahlen, was du verlangst.«

Die Hälfte? Am liebsten hätte ich gefragt, was sie verwenden, etwa Plastik und Spachtelmasse? Ich hatte meine Kosten bereits so weit heruntergeschraubt, wie ich nur konnte, indem ich ein Zimmer in Rosies kleinem Haus gemietet hatte und mir den Platz in der Werkstatt in Jasons Scheune mit ihm teilte. »Ich könnte dir vielleicht einen Rabatt geben … oder preiswertere Materialien verwenden …«, setzte ich an, aber Saskia stand bereits auf.

»Ich habe jedenfalls beschlossen, dass mein Laden multikultureller werden muss, und werde jetzt in der ganzen Welt einkaufen. Genau das hat doch gefehlt, oder nicht? Ein Hauch von Weltkultur, oder? Okay, jetzt muss ich aber los. Ich habe noch so viel zu tun!« Sie legte den Überrest des Kekses beiläufig auf der Tischkante ab, hielt einen Moment inne, als wartete sie darauf, dass der Butler hinter ihr aufräumte, und marschierte dann mit einem kurzen Schulterzucken durch die Tür und hinterließ eine von Schwefelgeruch durchsetzte Wolke Arpège.

»Ist die Luft rein?« Rosie kam die schmale Treppe herunter und streckte den Kopf um die Ecke. »Ich wollte lieber aus der Schusslinie bleiben, solange sie da ist, um ihr nicht noch mehr Schießpulver zu geben. Ganz ruhig, mein Schatz, Cruella ist jetzt wieder weg!«

Die letzten Worte waren an ihren kleinen Sohn Harry gerichtet, der wie ein nasser Sack in ihren Armen hing. Sie ließ sich auf einem Stuhl in der Ecke nieder.

»Sie … sie hat mich einfach fallen lassen.«

»Sie hat dich fallen lassen?« Ich versuchte, nicht hinzusehen, als Rosie ihr Pyjamaoberteil hochschob und sich Harry an die Brust setzte, als gehörte er dorthin. »Wie schlimm ist es? Au! Red ruhig weiter, Jem, ich schalte beim Stillen nicht gleich mein Hirn aus!«

»Ja, ich weiß, es ist nur so … irritierend, wenn du mit raushängender Brust vor mir sitzt und Harry freudig an dir rumgrapscht.«

»Klingt nach einer richtig guten Party«, meinte Rosie wehmütig. »Könntest du mir vielleicht ins Gedächtnis rufen, was genau Partys eigentlich noch mal sind, Jem?«

»Entschuldige mal, ich stehe kurz vor dem Bankrott, weil mich der Diamantendämon abserviert hat, und du lächelst mich nur debil an und schwelgst in alten Erinnerungen! Vermutlich wirfst du mich raus, und ich muss im Schnee schlafen, wenn ich meine Rechnung nicht mehr bezahlen kann. Und der Höhepunkt ist, dass sie den letzten Schokokeks gegessen hat!«

Rosie seufzte. »Sie ist die Inkarnation des Teufels, nicht wahr?«

Da Rosie den Laden mit ihren handgefertigten Grußkarten belieferte, kannte sie die schaurige Saskia ebenso gut wie ich. Allerdings hatte sie sich schon vor langer Zeit weitere Abnehmer gesucht und belieferte inzwischen viele Kartengeschäfte in diesem Teil von North Yorkshire. Wir hatten uns an einem Nachmittag bei Saskia kennengelernt, als ich eine Reihe von Gürtelschnallen auslieferte, die juwelengeschmückte Darstellungen der sieben Todsünden zierten, und sofort festgestellt, dass wir diese Frau derart leidenschaftlich verabscheuten, dass es schon an eine ungesunde Fixierung grenzte. Das kam uns sechs Monate später zugute, als Rosie aufgrund ihrer Schwangerschaft kürzertreten musste und die Kurzzeitmiete meiner Wohnung in York immer teurer wurde. Es war eine nahezu perfekte Situation, nur dass das Ergebnis der Schwangerschaft jetzt neben Rosies Kleiderschrank in einer Babytragetasche schlafen musste, und wenn Harry erst mal ein richtiges Bett brauchte, würden wir es wahrscheinlich ins Bad stellen müssen.

»Du wirst einen anderen Abnehmer finden.« Rosie zog sich das Schlafanzugoberteil wieder herunter und legte sich Harry über die Schulter, wo er derart laut rülpste, als hätte er gerade ein Bier getrunken.

»Du bist achtundzwanzig, blond und gut aussehend. Stellst die schönsten Schmuckstücke her, die ich je gesehen habe, und bist auch noch gertenschlank, du Hexe. Die Leute werden sich die Schädel einschlagen, um dir deine Sachen abzukaufen. Außerdem hat dich Saskia ohnehin nie richtig vermarktet. Deine Designs sollten weltweit Anerkennung finden und nicht in der Ecke eines mittelmäßigen Souvenirgeschäfts versauern!« Sie überlegte einen Moment und warf sich die schwarzen Locken aus der Stirn. »Und im Schnee schlafen musst du auch nicht, es ist schließlich nicht Winter.«

»Das war bildlich gesprochen. Aber mal im Ernst, Rosie, wie soll ich denn jetzt Geld verdienen? Es kann nicht mehr viel schlimmer werden. Ich teile mir die Werkstatt schon jetzt mit einem Kerl, der eine Eisenbahnzeitung liest und sich tatsächlich dafür interessiert.« Jason ist ein Künstler, der in einer wunderschönen Wohnung unter dem Scheunendach lebt, wie eine materiell erfolgreiche Taube, und er baut Sachen aus ausgemusterten Lokomotiven. Allerdings ist er nicht gerade der Hellste, was er jedoch dadurch wieder wettmacht, dass er aussieht wie eine Mischung aus Johnny Depp und Jack Davenport. »Und wir wissen beide, dass Saskia meine Sachen nur im Le Petit Lapin verkauft, weil ich mit Jason befreundet bin und er ein gutes Wort für mich eingelegt hat. Saskia steht derart auf ihn, dass sie den FC Liverpool kaufen würde, wenn er sie darum bäte. Du hast natürlich recht, dass meine Sachen überall gut angekommen sind, aber den meisten waren die Preise zu hoch.«

»Le Petit Lapin.« Rosie kicherte und ignorierte meine Schimpftirade. »Mal ganz im Ernst, Jem, immer, wenn ich diesen Namen höre, muss ich an einen Stripteaseklub denken. Eigentlich überrascht es mich, dass die Handelskammer von York sie nicht gebeten hat, den Namen zu ändern.«

»Bei einem derart reichen Ehemann wie Alex könnte sie ihn auch ›Reib mich mit deinem Schwanz‹ nennen, wenn sie wollte.« Ich starrte die Wand an. »Ich habe wirklich geglaubt, ich hätte es geschafft«, fügte ich dann leise hinzu.

Rosie legte eine Hand auf meinen Arm. »Du wirst es auch schaffen«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Die Leute lieben deine Stücke, du musst nur deine E-Mails lesen, um das zu wissen. Lass dich von Saskia nicht unterkriegen! Du wirst schon andere Geschäfte finden, die deine Sachen verkaufen. Was stellt sie sich wegen der Preise eigentlich so an?«

Saskias Mann Alex »machte« in Immobilien. Sie wohnten im selben Dorf wie wir, allerdings in einem sehr viel größeren Haus. Saskia war der Ansicht, zwanzig Kilometer von York entfernt zu leben wäre etwa so, als wohnte sie in der Nähe von Knightsbridge, wohingegen Rosie und ich uns insgeheim einig waren, dass das Landleben nichts für sie war, und wir konnten es kaum abwarten, dass sie von den Mistgabeln schwingenden Einheimischen wieder zurück in die Stadt getrieben wurde. Dummerweise war das höchst unwahrscheinlich, da Alex und sie verschiedene Einrichtungen im Dorf finanziell unterstützten; trotzdem rückten wir immer ein wenig von ihr ab, wenn sie sich über das Hahnengeschrei um fünf Uhr früh oder den Gestank des Kuhdungs beschwerte.

»Vielleicht haben sie Eheprobleme?«

Rosie schnaubte. »Ja, ganz bestimmt! Sie würde Alex im Falle einer Scheidung ausnehmen wie eine Weihnachtsgans! Was hat sie dir eigentlich für die letzte Lieferung bezahlt? Zwei Riesen? Zweitausend Pfund nimmt sie aus der Portokasse, das gibt sie einem Bettler auf der Straße, falls sie für Bettler überhaupt etwas anderes als ein hochnäsiges Schnauben und einen Tritt in den Allerwertesten übrig hat.«

»Sie tritt sie doch nicht wirklich, oder?«

»Natürlich nicht.« Rosie sah auf Harry herab, der in ihrem Arm eingeschlafen war, und küsste ihn zärtlich auf die Stirn. »Sie sieht allerdings so aus, als wäre sie tatsächlich dazu fähig, wenn niemand hinsieht. Aber was ich eigentlich sagen wollte … Ach, verdammt, Jem, was wollte ich eigentlich sagen? Ich dachte, mein Gedächtnis würde wieder besser arbeiten, wenn Harry erst einmal geboren ist. So langsam glaube ich, ich habe mit der Nachgeburt nicht nur die Plazenta, sondern auch mein Gehirn mit ausgestoßen.«

»Na, vielen Dank auch für das Kopfkino! Ich glaube, du wolltest sagen, dass Saskia nicht gerade knapp bei Kasse ist.«

»Ja. Ja, das stimmt. Und sie hat deinen letzten Schokokeks gegessen? Augenblick mal, ich bin hier die stillende Mutter, stehen mir denn gar keine Privilegien zu? Ich werde Harry jetzt schlafen legen und noch ein paar Karten fertigstellen. Da liegt noch eine Bestellung, die bis nächste Woche rausmuss, daher fange ich lieber an, solange er noch ruhig ist.«

»Willst du dich nicht lieber ein bisschen hinlegen?« Trotz seiner niedlichen Strampler war Harry nicht gerade das ruhige, entspannte Baby, auf das Rosie während ihrer von Yogakursen und CDs mit Walgesängen geprägten Schwangerschaft gehofft hatte, in der sie mehr und mehr wie ein Ei am Stiel ausgesehen hatte. Seit seiner Geburt wurden die Schatten unter ihren Augen immer größer, und sie war ständig blass und angespannt, als versuchte sie, in mehreren Universen gleichzeitig zu existieren.

»Nein, ich mach mich lieber an die Arbeit. Vielleicht kann ich mich nachher noch ein bisschen aufs Ohr legen.«

»Hast du mal darüber nachgedacht … na ja, du weißt schon …« Auch wenn ich den Satz nicht zu Ende brachte, wusste Rosie genau, was ich meinte.

»Ich kann Harry sehr gut allein großziehen, solange Saskia nicht beschließt, aus ihm einen Babyhautmantel, Würstchen oder etwas Ähnliches zu machen.«

Rosie weigerte sich, über Harrys Vater zu sprechen. Sie hatte seit wenigstens einem Jahr keinen festen Freund mehr gehabt, allerdings musste sie zum Zeitpunkt der Empfängnis mal einen Mann im Bett gehabt haben, doch es war mir bisher nicht gelungen, ihr irgendetwas über ihn zu entlocken. Ich vermutete, dass Jason der Vater war, aber eigentlich tippte ich in den meisten Fällen zuerst auf ihn, ob es nun um die Unterstützung von Terroristen oder herumliegenden Müll ging. Trotz allem hoffte ich allerdings eher, dass er der Vater war, denn er war wohlhabend und gut aussehend, und die Cleverness, die Harry von Jason nicht bekommen konnte, machten Rosies Gene durchaus wieder wett.

»Tja, wenn du meinst … Ich geh dann mal wieder ans Marketing-Zeichenbrett. Mal wieder. ›Multikulturell‹, ha! Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was sie aus diesem schönen kleinen Geschäft machen wird! Aber ich hätte es mir vermutlich denken können, da sie schon immer El Supremo der Innenstadt von York sein wollte.«

»Müsste sie dazu nicht schwarz sein?«

Ich starrte Rosie einen Moment lang an, während meine Synapsen versuchten, ihren Denkvorgängen als frischgebackene Mutter zu folgen. »Das sind die Supremes, Süße. Ich werde mal nach York fahren und einen Schmuckladen nach dem anderen abklappern. Soll ich dir was mitbringen?«

»Einen neuen Körper? Am besten einen, an dem alles noch knackig ist und nicht im Wind flattert?«

»Ich bringe dir eine weite Hose mit.«

Rosie sah an sich herab. »Am besten eine, die vom Hals bis zu den Knöcheln reicht.«

»So schlimm ist es doch gar nicht. Außerdem hast du vor gerade mal zwei Monaten ein zehn Pfund schweres Baby bekommen, und es dauert nun mal einige Zeit, bis alles wieder so ist wie früher.«

»Ja.« Rosie klang müde, und da kam mir auf einmal eine großartige Idee.

»Wie wäre es, wenn ich Harry mitnehme?«

Daraufhin wurde ihr Beschützerinstinkt geweckt, und sie beugte sich über den schlafenden Harry. »Warum?«

»Als Ablenkung. Als ich das letzte Mal meine Sachen an den Mann bringen wollte, wurde ich überall abgewiesen. Doch wenn ich mit Kinderwagen nebst Baby da auftauche, hat man vielleicht wenigstens Mitleid mit mir.«

»Du willst dir also mein Baby ausleihen, um auf die Tränendrüse zu drücken? Das ist wirklich sehr unmoralisch, Jemima.«

»Aber du könntest dann an deinen Karten weiterarbeiten. Und vielleicht sogar noch ein Nickerchen machen.«

Ich sah, wie ihre Augenlider schwerer wurden, als reichte die Aussicht auf etwas Schlaf schon aus, um sie einnicken zu lassen. »Okay. Im Kühlschrank stehen einige Flaschen abgepumpte Milch, falls Harry aufwachen sollte.«

»Aber du hast ihn doch gerade erst gestillt.«

Rosie warf mir einen Blick zu, der die Kluft zwischen Müttern und Nicht-Müttern überdeutlich zutage treten ließ. »Sei auf alles vorbereitet! Das ist mein Motto.«

»Ich dachte, dein Motto wäre ›Biskuits, Bustiers und Orlando Bloom‹?«

»Ja.« Sie seufzte. »Doch dann habe ich ein Baby bekommen.«

2

In York gibt es zahlreiche Straßen und Gassen, die sich durch einen kleinen Bereich mit nahezu unendlich vielen Geschäften ziehen, der somit fast schon ein Einkaufsparadies darstellt. Doch ich musste bald feststellen, dass a) die meisten Läden von außen zwar nach einem exklusiven Designergeschäft aussahen, aber nur die immer gleichen ökologisch korrekten Holztresen in deprimierenden Farben sowie Ohrringe aus Massenproduktion enthielten, und dass man b) einen Kinderwagen auf Kopfsteinpflaster nur sehr schwer schieben kann. Der Bodenbelag mochte ja malerisch aussehen, doch er schien dem Kind gar nicht gutzutun. Harry sah ein bisschen blass aus, während sein Kopf zum dritten oder vierten Mal auf der Matratze hin und her rollte. Außerdem begann er, immer lauter aufzubegehren. Er trug ein pastellfarbenes gehäkeltes Etwas über einem grünen Strampler, den Rosie besonders mochte, weil sie fand, dass Harry darin niedlich aussah; ich hingegen war immer der Meinung gewesen, der Kleine wirke darin wie ein Beutel Rosenkohl – aber er war ja nun mal nicht mein Baby.

»Nur noch ein Geschäft, Harry. Versprochen. Danach fahren wir nach Hause.«

Ich log ihn natürlich an, denn er war schließlich erst acht Wochen alt und konnte es mir später nicht vorhalten. Doch vielleicht würde ich es tatsächlich so machen und nach dem nächsten Laden aufgeben. Bisher hatte keiner der Inhaber angebissen, und die meisten Geschäfte waren so klein, dass ich vorwärts rein- und rückwärts wieder rausgehen musste, wobei ich Angst hatte, die Hälfte der Ware mitzuschleifen. Dass man sich über den Kinderwagen beugen musste, in dem ich meine Ware auf Harrys Körper ausgebreitet hatte, verbesserte die Verkaufschancen auch nicht gerade. Ich bekam immer wieder zu hören: »Tut mir sehr leid. Ihre Ware ist wunderschön, aber auch etwas zu teuer«. Irgendwann hatte ich alle Schmuckgeschäfte in der Innenstadt von York abgeklappert.

Inzwischen quengelte Harry immer lauter. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, indem ich den Kinderwagen energisch schaukelte, sodass sein Hasen-Mobile fast schon gefährlich wackelte, während ich mich auf den Rand des Brunnens vor der Kunstgalerie setzte und überlegte, was ich jetzt unternehmen sollte. Schließlich war ich doch in York, der Stadt der Pferdekutschen und mittelalterlichen Bauwerke. Wenn ich meine handgefertigten Gürtelschnallen hier nicht verkaufen konnte, dann konnte ich genauso gut wieder zurück nach Frankreich gehen. Den Kontinent hatte ich zwar nicht gerade im Sturm erobert, doch mein Scheitern war durchaus eine Reminiszenz an den gallischen Glanz. Oder ich hätte zurück nach Italien gehen können, wo ich herausgefunden hatte, dass die Bevölkerung über ein ungeheures Repertoire an abfälligem Schulterzucken verfügt, wenn sie einer Gürtelschnalle in Form der venezianischen Seufzerbrücke ansichtig wird. Sollten sich meine Schmuckstücke nicht verkaufen, konnte ich auch gleich ein Buch mit dem Titel Wie man in zehn europäischen Sprachen eine Abfuhr erteilt bekommt schreiben. Augenblick mal, war da vorn zwischen den beiden Sandwich-Läden nicht noch eine Gasse?

Oh ja, die Sonne erhellte einen Weg, der mir zuvor noch gar nicht aufgefallen war, weil es sich dabei wirklich nur um einen schmalen Durchgang handelte. Ich schob den missmutigen Harry hindurch, dessen Kinderwagen geradeso zwischen den Wänden hindurchpasste, ohne Spuren im Ziegelstein zu hinterlassen, und gelangte auf einen kleinen, mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Hof etwas abseits der Einkaufsstraße. Dort befanden sich zwei winzige Läden, von denen einer geschlossen und vernagelt war, während der andere bunte Tourposter und T-Shirts mit Tourneedaten im Fenster hängen hatte. Außerdem lag da, wie eine kleine Schlange in der Ecke zusammengerollt, ein breiter Ledergürtel. Und für einen Gürtel brauchte man auch eine Gürtelschnalle, oder nicht?

Ich drückte die Tür mit der Schulter auf und zog den Kinderwagen hinter mir her, bis mir klar wurde, dass in dem Laden nicht genug Platz für Harry und mich war. Als Kompromiss – und weil Rosie es bestimmt herausgefunden und mir den Kopf abgerissen hätte, wenn ich ihn draußen gelassen hätte –, platzierte ich den Kinderwagen so, dass er halb im Eingang stand. Für einen Geschäftsbesuch war das zwar nicht gerade ein würdevoller Auftritt, aber mit dem Häschen-Mobile und der bunt bedruckten Windeltasche hatte ich in der Beziehung ohnehin schlechte Karten.

Als ich die Tür öffnete, stieß die zerbrochene Glocke darüber einen Summton aus, den ich noch in den Zahnwurzeln spüren konnte. Jenseits des Eingangsbereichs wurde das Geschäft breiter, und ich sah CD-Regale, Gitarren an den Wänden und einen Stand mit Postern angesagter Bands. Zwischen den Fender-Gitarren hingen neonfarbene Flyer an den Wänden, die auf den Auftritt eines DJs namens Zafe hinwiesen. Im hinteren Teil des Ladens stand eine Kasse, aber ich konnte keine Menschenseele sehen. Es war dunkel und roch nach Poliermittel und altem Papier, fast wie in einer Bücherei, in der man leise sein musste und nichts essen durfte, was einen Fleck hinterlassen konnte.

»Hallo?«

Als Harry meine Stimme hörte, wimmerte er noch etwas lauter. Ich hoffte, dass er keinen Hunger hatte oder eine neue Windel brauchte, da ich keine Ahnung hatte, wie ich ihm in diesem Fall weiterhelfen konnte.

»Ist hier jemand?«

Harry quengelte noch etwas lauter und wurde immer roter im Gesicht. Vielleicht war ihm zu warm? Konnte Babys zu warm werden? Ich wusste, dass sie sich nicht verkühlen durften, aber von Wärme hatte Rosie nichts gesagt. Vorsichtig streckte ich die Hand aus und zog die Flauschdecke etwas weiter herunter. »Geht es dir gut?« Als ich die Decke noch mehr nach unten bewegte, entströmte ein eindeutiger Gestank dem Kinderwagen, und ich konnte die Flecken auf Harrys Strampler sehen. »Oh, nein …«

Jetzt war Harry ganz Mann und schien ziemlich stolz auf sich zu sein. Na super. Ihn zu füttern und zu wickeln hätte ich vielleicht noch hinbekommen, aber ein kompletter Wechsel von Kleidung und Laken … nein, so viel Wäsche hatte ich nun wirklich nicht dabei.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Die Stimme kam aus der dunklen Nische im hinteren Teil des Ladens. Ein Mann. Ganz toll.

»Ich … Nein, tut mir leid, es ist nur … Er ist ein wenig …«

»Augenblick.« Ich hörte Schritte, eine Tür wurde zugeschlagen, und währenddessen trat Harry mit den Beinen um sich, als übte er für einen Cancan, und gewährte mir die volle Sicht auf den Ernst der Lage. Ohne zu übertreiben, aber er hatte sogar etwas in seinen Haaren. Dann stand auf einmal jemand vor der Tür, der aufgrund von Harry und seinem stinkenden Transportmittel daran gehindert wurde, das Geschäft zu betreten. »Hi. Das ist viel besser, so kann ich Sie wenigstens sehen. Kommen Sie wegen der Gitarre?«

»Wegen der Gitarre?«

»Deswegen sind Sie also nicht hier. Stellen Sie den Kinderwagen doch draußen ab und nehmen das Baby mit rein, dann können wir herausfinden, was ich für Sie tun kann, okay?« Er zog den Kinderwagen nach draußen, und ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen und mir den Mann genauer anzusehen.

Sein Erscheinungsbild als »seltsam« zu bezeichnen, wäre deutlich untertrieben gewesen und beschrieb seine Kleidung nicht im Entferntesten, die mir innerlich ein »Örks« entlockte. Er war groß und schlank, und er trug ein T-Shirt, das einem deutlich größeren Mann zu gehören schien. Sein dunkles Haar war ungekämmt und schlecht geschnitten, doch es konnte dennoch nicht verbergen, wie ausgemergelt sein Gesicht wirkte. Er trug eine mehrfarbige Hose, die schrecklich eng an seinen Beinen anlag. Ich konnte nur hoffen, dass es eine Lycrahose war. Um seine Hüften lag ein riesiger Gürtel, der vermutlich halb so viel wog wie er selbst und dessen Gürtelschnalle ein silberner Totenkopf zierte. Im Großen und Ganzen sah er aus wie ein Mann, der sich ein paar Lumpen übergestreift hatte und dann von einem Rasenmäher überfahren worden war.

Ich konnte den Blick nicht von seiner Gürtelschnalle abwenden.

Irgendwann räusperte sich der Mann, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. »Normalerweise habe ich ja kein Problem damit, dass mir Frauen in den Schritt starren, aber … Sie wirken dabei so angespannt, dass ich mir langsam Sorgen mache.«

»Oh, tut mir leid!«

»Das muss es nicht. Ich hätte mir ein Paar Socken in die Hose gesteckt, wenn ich geahnt hätte, dass dieser Bereich heute so intensiv gemustert wird. Wollen wir nicht reingehen? Der junge Mann hier sieht aus, als könnte er ein wenig Zuwendung gebrauchen.« Der Mann beugte sich vor, als wollte er Harry aus dem Kinderwagen heben, und ich sprang vor, um ihn daran zu hindern.

»Nicht!«

Daraufhin machte der Mann einen Satz nach hinten und hielt die Hände in die Luft. Er sah außerordentlich konzentriert aus, als wäre mein Gesicht das Wichtigste, was er den ganzen Tag gesehen hatte. »Hey, ganz ruhig, ich wollte ihm doch nichts antun!«

»Das habe ich auch nicht geglaubt. Er ist ganz schmutzig.«

»Schmutzig? Was hat er denn gemacht, hat er auf einer Baustelle gearbeitet?« Er warf sich die strähnigen Haare aus der Stirn und starrte auf Harry herab. »Du bist ein sehr frühreifer Junge, was?«

»Ich meinte vielmehr, dass seine Windel wohl nicht ausgereicht hat«, sagte ich, aber er schien mir nicht mehr zuzuhören, sondern starrte das Baby stattdessen konzentriert an. Die Linien in seinem Gesicht und sein leicht angespannter Mund, der in den langen Bartstoppeln kaum zu erkennen war, ließen vermuten, dass dies sein normaler Gesichtsausdruck war. Plötzlich begann seine Nase zu zucken.

»Ah, das haben Sie also gemeint! Ich habe da hinten eine kleine Küche, falls Ihnen eine Schüssel warmes Wasser und ein Handtuch weiterhelfen würden.«

Ich gab mir die größte Mühe. Wirklich. Ich konnte Rosies Blick praktisch spüren, als wäre ich eine Art Medium. Letzten Endes schlug ich mich für jemanden, der so etwas noch nie gemacht hatte, ganz gut, und ich trug Harry, den ich in jedes saubere Geschirrhandtuch gewickelt hatte, das ich hatte finden können, wieder zurück in den Laden. Mein ungewöhnlicher Retter lehnte an der Kasse.

»Großer Gott! Er sieht ja aus wie ein kleiner römischer Kaiser!«

»Ich werde die Handtücher waschen und sie Ihnen dann zurückgeben.«

Der schäbige Mann mit der engen Hose musterte die kleine, eingewickelte Gestalt und erschauderte kaum merklich. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen! Ich weiß nicht, ob ich damit je wieder eine Tasse abtrocknen könnte, ohne an das hier zu denken. Behalten Sie sie!«

»Er trägt darunter eine saubere Windel.« Ich ersetzte das Laken im Kinderwagen durch ein extragroßes Handtuch mit der Aufschrift Glasgow, Kulturstadt, das ich einmal faltete, sodass es die Matratze komplett bedeckte.

»Lieber nicht! Und, was kann ich jetzt für Sie tun?«

Ich spulte mein übliches Verkaufsgespräch ab, zeigte ihm meine Entwürfe und holte dann mein wunderschönes, absolut passendes Glanzstück hervor: eine Gürtelschnalle, die geformt war wie miteinander verwobene Musikinstrumente und in deren Mitte ein Mikrofon prangte. Er begutachtete sie vorsichtig und strich dann mit den Fingern darüber, ohne den Blick von meinem Gesicht abzuwenden, während ich ihm die Geschichte dieses Stückes erzählte und von seiner Herstellung berichtete. Ich beschrieb, wie ich den Draht erhitzt und bearbeitet hatte, wie ich die Kristalle vorsichtig daran angebracht hatte, dass sich jedes Werk so anfühlte, als hätte es eine Seele und würde sich selbst erschaffen, wobei ich nichts als das Werkzeug seiner Herstellung war. Er hatte schöne Hände, wie ich bemerkte, mit langen, schlanken Fingern. Aber seine Augen … Irgendetwas war tief in ihnen verborgen.

»Ben«, sagte er auf einmal, als ich eine Pause machte, um Luft zu holen.

»Was?«

»Mein Name. Ich heiße Benedict. Benedict Arthur Zacchary Davies. Ich dachte, Sie hätten danach gefragt.«

»Ihre Eltern haben wohl gleich die Hälfte der Namen aus dem Buch mit den Babynamen genommen, was?« Das war ziemlich unhöflich von mir. Ich hatte ihm zwar alles über meine Stücke erzählt, mich jedoch noch nicht einmal vorgestellt, damit er wusste, mit wem er es zu tun hatte. Himmel, ich war doch sonst nicht so eine Amateurin! »Jemima Hutton.« Etwas spät streckte ich die Hand aus, wobei ich Harry ein wenig umlagern musste.

»Hutton? Wie der Betrieb im Sumpf?«

»Äh, ja. Schätze schon.« Wechsle das Thema, Jemima! »Und, sind Sie interessiert?«

Seine Augen schienen mein Gesicht festzuhalten. »Interessiert?«

»An meinen Sachen.«

»Oh, ja! Genau. An Ihren Sachen.«

Inzwischen kam er mir wirklich seltsam vor. Die komische Art, wie er mich ansah. Was für ein merkwürdiger Kerl! Und undurchschaubar. Ben Davies hatte etwas Vielschichtiges an sich, das sich weit unter der Oberfläche fortzusetzen schien. »Ja, meine Sachen.«

Seine Finger spielten mit der Gürtelschnalle, und er wirbelte sie durch die Luft wie ein Magier, der gleich eine Münze verschwinden lassen wollte. Seine Körpersprache war verwirrend und passte nicht zu seinen Antworten. Es war fast so, als würde er etwas sagen, aber etwas ganz anderes denken, und ein Teil dieses in ihm tobenden Kampfes drückte sich in seinen Bewegungen aus. In diesem Moment waren seine Augen nur auf mein Gesicht gerichtet, und dennoch hatte ich den Eindruck, er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ich endlich verschwinden würde. »Ich bin mir nicht sicher.«

Ich musste ihn dazu bringen, seine Meinung zu ändern. Wenn Saskia glaubte, dass jemand anders an meiner Ware interessiert war, dann beschloss sie vielleicht doch noch, sie weiterhin exklusiv zu verkaufen. Außerdem war ich fast pleite. Selbst dieser seltsame Kerl mit seinem Geschäft in der Seitenstraße war besser als gar nichts.

»Wie wäre es, wenn ich noch einmal wiederkomme? Vielleicht morgen? Ich könnte einige der einfacheren, preiswerteren Stücke mitbringen. Als kleinen Vertrauensvorschuss lasse ich Ihnen auch diese Gürtelschnalle da. Dann können Sie sich die Sache noch mal durch den Kopf gehen lassen. Was sagen Sie?« Alle Marketingbücher raten einem dazu, eindeutige Aussagen zu machen und dem Kunden keine Wahl zu lassen, doch ich konnte dem Mann – Ben – ansehen, dass ich es vermasselt hatte.

»Ich habe keine Kunden dafür. Die Leute, die hier herkommen, kennen mich bereits, und sie wollen Gitarren oder andere Ausrüstung kaufen und keinen Schmuck.«

Verzweifelt sah ich mich im Laden um. Ich musste eine Gemeinsamkeit finden, etwas, das uns beide interessierte, irgendetwas. Mir stach eine knallgelbe, sternförmige Gitarre ins Auge, die im hinteren Teil des Ladens hing, fast schon in der Küche, in der ich Harry gewaschen hatte. »Ein schönes Stück. Mein … Cousin steht auf Gitarren. Spielen Sie auch?«

Er schluckte schwer und legte die Gürtelschnalle auf die Ladentheke. »Nein«, antwortete er entschieden. »Nicht mehr.«

»Sie haben aufgehört? Warum?« Er antwortete nicht, und als ich ihn ansah, starrte er zu Boden. An seiner Wange zuckte ein Muskel, und er bewegte und streckte die Finger, fast so, als spielte er auf einem unsichtbaren Instrument. Plötzlich schämte ich mich. In seinem Gesicht lag eine solche Verletzlichkeit, die er nicht hinter seiner verschrobenen Körpersprache und nachlässigen Art verbergen konnte. Da waren auch Sehnsucht und Verzweiflung zu erkennen.

Harry, der auf meiner Schulter lag, hörte auf, mit dem Kopf zu wackeln und fing an zu wimmern. Ich verlagerte ihn ein wenig, und als ich wieder aufsah, beobachtete mich Ben erneut. »Okay, ich werde die Gürtelschnalle behalten«, meinte er und legte die Hand auf das fragliche Stück. »Wenn ich sie verkaufe, dann bestelle ich weitere Teile bei Ihnen. Falls nicht, vergessen wir das Ganze.«

In mir flackerte Hoffnung auf. Das war nicht gerade ein eindeutiges Ja, aber er hatte mich auch nicht unverrichteter Dinge wieder weggeschickt. »Danke, Ben.«

Als er lächelte, sah er auf einmal richtig gut aus. »Keine Ursache, Jemima.« Er schnippte gegen die Visitenkarte, die ich ihm gegeben hatte. »Ich schicke Ihnen eine E-Mail, wenn es Neuigkeiten gibt.«

»Oder rufen Sie einfach an! Meine Handynummer steht auch drauf.«

»Bringen Sie den jungen Mann jetzt lieber nach Hause! Er sieht so aus, als arbeitete er schon an der nächsten Eruption.« Ben deutete mit dem Kinn auf Harry, der in der Tat ein nachdenkliches Gesicht aufgesetzt hatte. »Und ich habe keine Geschirrtücher mehr, die ich Ihnen leihen kann.«

Als ich Harry im Kinderwagen verstaute, blickte ich durch die Tür zurück in den Laden und sah, wie Ben die grelle Sternengitarre von der Wand nahm. Er berührte die Saiten und spielte dann ein Riff, wobei er die Finger bewegte wie ein Mann, der sich erneut mit einer lange verlorenen Geliebten vertraut machte. Dabei sah er so ruhig und so natürlich aus, wie er die Gitarre locker in der Hand hielt und auf den Oberschenkel stützte, dass ich mich noch einmal fragte, wieso er nicht mehr spielte. Während ich den Kinderwagen langsam rückwärts durch die Gasse zog, schoss mir durch den Kopf, dass Ben, der mit gebeugtem Kopf dastand, beinahe so aussah, als weinte er.

21. April

Wetter gut. Verkauft: 2 Gitarrensaiten, ein Poster (Iggy Pop, reduziert auf 2 Pfund). Frühstück: 3 Vollkornkekse.

Soll ich so etwas aufschreiben, Doktor? Gibt Ihnen das die Art von Einsicht, die Sie sich erhoffen?

Hab eine Flasche Wein getrunken. Zum Mittagessen. Früher hätte ich noch ein paar Gramm Schnee eingeworfen und weitergespielt, während die Welt in meinem Kopf federleicht wurde und ich mich fühlte, als wäre ich der Herrscher über das Universum. Jetzt habe ich das Gefühl, als müsste ich jeden Tag am Genick packen. Was soll ich noch tun? Was soll ich schreiben? Wollen Sie die Wahrheit hören, wissen, wie es mir geht? Ich habe Angst, so sieht es aus, ich habe eine Scheißangst und bin deprimiert. Was soll das alles überhaupt noch?

Heute war … ein Tag. Mittwoch? Könnte sein. Wen interessiert das schon? Wer will das überhaupt wissen? Es ist nichts Außergewöhnliches passiert, ich hab nur die Stunden hier in dieser Schachtel abgesessen. Stimmt nicht, da war doch was: Eine junge Frau kam mit ihrem Baby her und wollte, dass ich ihr den Schmuck abkaufe, den sie herstellt. Sie hat mir irgendwie leidgetan, da sie ziemlich unsicher wirkte, als hätte sie noch nicht so viel Übung und den Dreh noch nicht so ganz raus. Offenbar muss sie wie wir alle erst mal mit der Situation klarkommen. Durch die Scheiße laufen, bis sie erkennt, dass auf der anderen Seite nur noch mehr Scheiße wartet. Sie war … süß und dünn. Sah irgendwie verschüchtert aus. Aber ihre Augen … Ich hab ihr meinen Namen gesagt, doch sie hat nicht darauf reagiert, daher glaube ich … Hey, es muss doch ein paar von ihnen geben, oder nicht? Ja, ich weiß, was Sie jetzt denken, aber nein, danke.

Ich brauche niemanden.