Bruno Le Maire
Zeiten der Macht
Hinter den Kulissen der internationalen Politik
Aus dem Französischen von Grete Osterwald
Rowohlt E-Book
Bruno Le Maire, 1969 geboren, wurde 2009 von Nicolas Sarkozy zum Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Fischerei ernannt. Zuvor war er als politischer Berater und Diplomat tätig. Sein Buch ist in Frankreich ein großer Erfolg und wurde 2013 mit dem Prix du Livre Politique ausgezeichnet.
Ein Insider berichtet aus dem Politikbetrieb: Bruno Le Maire, Minister unter Nicolas Sarkozy, legt sein politisches Tagebuch vor.
Nicolas Sarkozy nimmt Angela Merkel mit in den kleinen Raum, der dem Präsidenten als Büro dient. ‹Kommst du, Angela?› Die beiden Übersetzer halten sich dicht hinter ihnen. Die Visagistin des Präsidenten fährt mit einem weichen Pinsel über sein Gesicht. Angela Merkel schaut ihn überrascht an: ‹Du lässt dich schminken, Nicolas?› Einer der Übersetzer flüstert es dem Präsidenten auf Französisch ins Ohr. ‹Oh ja, immer, Angela! Immer!› Sie nickt zweifelnd mit dem Kopf. Der Präsident fährt fort: ‹Du bist eben doch ganz schön kokett, Angela!› – ‹Kokett?› Schweißperlen bilden sich auf der Stirn des Übersetzers. ‹Aber ja, kokett! Glaubst du, die Sache mit deinem Ausschnitt wäre mir entgangen? Ah! Angelas Ausschnitt! Ganz Frankreich hat darüber geredet!› Alain Juppé kommt dem Übersetzer zu Hilfe. ‹Na, jetzt wird es aber wirklich intim, ich glaube, wir lassen euch besser allein.› Der Präsident lacht. Angela Merkel wendet sich zum Couchtisch und nimmt sich einen Keks.»
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2014
Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Jours de pouvoir» Copyright © 2013 by Éditions Gallimard, Paris. All rights reserved
Die französische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel «Jours de pouvoir» bei Éditions Gallimard, Paris. Sie wurde in Absprache mit dem Autor gekürzt.
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Lektorat Isabell Trommer
Umschlaggestaltung ANZINGER/WÜSCHNER/RASP, München
(Foto: Thorsten Wulff)
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ISBN Printausgabe 978-3-498-03807-6 (1. Auflage 2014)
ISBN E-Book 978-3-644-03531-7
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-03531-7
Französischer Leitindex (A.d.Ü.).
Deutsch im Original.
Hôtel Matignon, Amtssitz und Residenz des Premierministers (A.d.Ü.).
Minister für Haushalt, öffentliche Finanzen und Staatsreform (A.d.Ü.).
Ehemaliger Minister für öffentlichen Dienst in der Regierung von Dominique de Villepin; danach nicht mehr im Kabinett (A.d.Ü.).
Fraktionsvorsitzender der UMP-Gruppe in der Nationalversammlung (A.d.Ü.).
Generalsekretär im Élysée-Palast, wegen seines mächtigen Einflusses auch «Kardinal» oder «Präsident Nr. 2» genannt (A.d.Ü.).
Bis dahin Staatsminister und Minister für Umwelt, nachhaltige Entwicklung, Verkehr und Wohnungsbau; im Zuge der Kabinettsumbildung als neuer Premierminister gehandelt, zog Borloo sich nach der Wiederernennung von François Fillon aus der Regierung zurück (A.d.Ü.).
Bei den Parlamentswahlen 2007 nicht wieder in die Nationalversammlung gewählt, hatte Juppé seine Ämter als Staats- und Umweltminister niedergelegt (A.d.Ü.).
Sitzungssaal der jeweils stärksten Fraktion der Nationalversammlung im Palais Bourbon (A.d.Ü.).
Fédération Nationale des Syndicats d’Exploitants Agricoles.
Jean-David Levitte, diplomatischer Berater und Chefunterhändler von Staatspräsident Sarkozy (A.d.Ü.).
Ministerpräsident unter Jacques Chirac, bis er 2007 von allen Ämtern zurücktrat; im Juni 2010 gründete de Villepin eine neue Partei mit dem Namen République solidaire (A.d.Ü.).
Österreichischer Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft; ehemaliger Klubobmann des ÖVP-Landtagsklubs (A.d.Ü.).
Staatspräsident von 1995 bis 2007; im Zuge der Präsidentschaftswahl 2002 gründete Chirac gemeinsam mit Alain Juppé das rechtsbürgerliche Wahlbündnis UMP, Union pour la Majorité Présidentielle, später umbenannt in Union pour un Mouvement Populaire (A.d.Ü.).
Wenn der amtierende Vorsitzende der Mehrheitspartei zum Staatspräsidenten gewählt wird, wie es bei Sarkozy der Fall war, bleibt das Amt des Parteivorsitzenden bis zum Ende der Präsidentschaft vakant; dementsprechend erweitern sich die Funktionen und die Macht des Generalsekretärs (A.d.Ü.).
Total Allowable Catches.
Sitz des Verteidigungsministeriums (A.d.Ü.).
Kommissar für Wettbewerb und Vizepräsident der EU-Kommission (A.d.Ü.).
Nathalie Kosciusko-Morizet, kurz N. K. M. genannt, Ministerin für Umwelt, nachhaltige Entwicklung, Verkehr und Wohnungsbau (A.d.Ü.).
Ministerin für Wirtschaft, Finanzen und Industrie (A.d.Ü.).
Minister für Kultur und Kommunikation (A.d.Ü.).
Französische Managerin, Chefin des staatlichen Areva-Konzerns, der hauptsächlich auf dem Gebiet der Nukleartechnik tätig ist (A.d.Ü.).
Politikerjargon für Chefunterhändler einer Regierung (A.d.Ü.).
Ministerin für Hochschulwesen und Forschung (A.d.Ü.).
Place Beauvau steht für das Innenministerium mit Sitz im Hôtel de Beauvau (A.d.Ü.).
Im Dezember 2008 (A.d.Ü.).
Deutsch im Original.
Größte französische Landwirtschaftsmesse, die jedes Jahr Ende Februar/Anfang März in Paris stattfindet (A.d.Ü.).
Die beiden französischen Rechtsanwälte Jacques Vergès, bekannt als Verteidiger von Klaus Barbie, und Roland Dumas waren nach Abidjan gereist, um Gbagbo zu unterstützen (A.d.Ü.).
Minister für innere Angelegenheiten, Übersee, Gebietskörperschaften und Einwanderung (A.d.Ü.).
Staatssekretär im Wirtschafts- und Finanzministerium (A.d.Ü.).
Gaullistischer Politiker, 1993 bis 1995 Premierminister; 1995 trat Balladur neben Chirac als Kandidat für die Präsidentschaftswahl an und wurde dabei von Sarkozy unterstützt; Balladur schied im ersten Wahlgang aus, Chirac wurde zum Präsidenten gewählt (A.d.Ü.).
Compagnies Républicaines de Sécurité.
Ministerin für die Überseegebiete (A.d.Ü.).
Seit 1987 diktatorisch herrschender Präsident von Tunesien, der infolge der Massenproteste gegen sein Regime am 14. Januar 2011 nach Saudi-Arabien floh (A.d.Ü.).
Al-Qaida au Maghreb islamique, al-Qaida des Islamischen Maghreb (A.d.Ü.).
Die sogenannte TVA sociale bezeichnet einen Plan zur Erhöhung der Mehrwertsteuer – französisch TVA, taxe sur la valeur ajoutée –, um die soziale Sicherheit zu finanzieren, im Grunde eine Maßnahme zur Senkung der Lohnnebenkosten (A.d.Ü.).
Sozialversicherung der Landwirtschaft (A.d.Ü.).
Nationaler Verband der Schweinezüchter (A.d.Ü.).
Absolvent der französischen Eliteschule ENA, École nationale d’administration (A.d.Ü.).
Militärflugplatz nahe Paris, der auch als Basis für die Flugbereitschaft der französischen Regierung dient (A.d.Ü.).
Generaldirektor der Welthandelsorganisation (A.d.Ü.).
François Bayrou hatte 2007 die Partei Mouvement démocrate (MoDem) als alternative politische Kraft der Mitte gegründet und mit gutem Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl 2007 kandidiert (A.d.Ü.).
Dem Amt des Premierministers beigeordneter Minister für parlamentarische Angelegenheiten (A.d.Ü.).
Gründer der rechtsliberalen Partei Nouveau Centre (NC), die im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 2007 für Sarkozy gestimmt hatte (A.d.Ü.).
Politiker der Sozialistischen Partei und Geologe; 1997 bis 2000 Bildungsminister im Kabinett Lionel Jospin (A.d.Ü.).
Von 1997 bis 1999 Wirtschafts- und Finanzminister im Kabinett Lionel Jospin; seit 2007 geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF); ab 2010 als aussichtsreichster Kandidat des Linksbündnisses für die Präsidentschaftswahl 2012 gehandelt (A.d.Ü.).
Ségolène Royal, Kandidatin der Sozialistischen Partei bei der Präsidentschaftswahl 2007 (A.d.Ü.).
Amtierende Außenministerin; Michèle Alliot-Marie hatte ihren Weihnachtsurlaub in Tunesien verbracht und war wegen persönlicher wie auch geschäftlicher Beziehungen zum engsten Umkreis des tunesischen Diktators Ben Ali in die Kritik geraten (A.d.Ü.).
François Fillon hatte die Weihnachtszeit auf Mubaraks Kosten in Ägypten verbracht (A.d.Ü.).
Eine Protestaktion, bei der es schwerpunktmäßig um genveränderte Organismen, Grünalgen und den Einsatz von Pestiziden geht (A.d.Ü.).
Enger Vertrauter und Mitarbeiter von Jacques Chirac, während der ersten Amtszeit als Staatspräsident auch sein Kabinettschef (A.d.Ü.).
Französischer Unternehmer und Kunstsammler (A.d.Ü.).
Quai d’Orsay, in Kurzform einfach Quai, steht für das dort ansässige Verteidigungsministerium (A.d.Ü.).
Ministerialbeamter, zuletzt stellvertretender Generalsekretär im Präsidialamt (A.d.Ü.).
Deutsch im Original.
Deutsch im Original; FAZ vom 1. März 2011 (A.d.Ü.).
Vorsitzende des Front National, Nachfolgerin ihres Vaters Jean-Marie Le Pen in dieser Position (A.d.Ü.).
Vorsitzende der Sozialistischen Partei und Bürgermeisterin von Lille (A.d.Ü.).
Bernard-Henri Lévy, BHL genannt, ist Publizist und Philosoph. Ohne politisches Mandat vermittelte er den Kontakt zwischen Sarkozy und dem libyschen Nationalen Übergangsrat und nahm wesentlichen Einfluss auf die Entscheidungen des französischen Staatspräsidenten in der Libyen-Frage; Außenminister Alain Juppé wurde dabei übergangen (A.d.Ü.).
Empfang im Élysée-Palast für Geschäftsführer ausländischer Unternehmen mit Niederlassungen in Frankreich, zum Abschluss strategischer Beratungen über Standortfragen (A.d.Ü.).
Ministerin für Sport (A.d.Ü.).
Bei der Kabinettsumbildung Ende Februar 2011 als Innenminister ausgeschieden, wurde Brice Hortefeux zum politischen Berater des Präsidenten berufen (A.d.Ü.).
Seit 2008 Präsident des Generalrats von Corrèze (A.d.Ü.).
Abkürzung für den Gemeinsamen Markt Südamerikas, Mercado Común del Sur (A.d.Ü.).
Übliche Bezeichnung für das französische Wirtschafts- und Finanzministerium, das im Pariser Stadtviertel Bercy liegt (A.d.Ü.).
Minister für Arbeit, Beschäftigung und Gesundheit (A.d.Ü.).
Christine Lagarde, bisher Wirtschafts- und Finanzministerin, tritt am 4. Juni 2011 die Nachfolge von Dominique Strauss-Kahn beim IWF an (A.d.Ü.).
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, mit Hauptsitz im Pariser Schloss La Muette (A.d.Ü.).
Unmittelbar neben dem Élysée-Palast gelegenes Gästehaus des Staatspräsidenten (A.d.Ü.).
Seit 2007 Vorsitzender des Verfassungsrats (A.d.Ü.).
Das Fort de Brégançon diente bis 2013 als offizielle Sommerresidenz des französischen Staatspräsidenten (A.d.Ü.).
Petit déjeuner de la majorité, etablierte Bezeichnung für ein wöchentliches Treffen führender Politiker der Mehrheitsfraktion, normalerweise im Matignon, auf Einladung Sarkozys während seiner Amtszeit jedoch meistens im Élysée-Palast (A.d.Ü.).
Ehemaliger Minister der UMP und seit 2008 Senatspräsident (A.d.Ü.).
Stellvertretender Vorsitzender der UMP (A.d.Ü.).
Brice Hortefeux war 2010 wegen rassistischer Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt worden; am 15. September 2011 hatte er in der Berufungsinstanz einen Freispruch erlangt (A.d.Ü.).
Minister für Bildung, Jugend und Vereinswesen; das Ministerium befindet sich in der Rue de Grenelle (A.d.Ü.).
Die sogenannten Mousquetaires de l’UMP, eine Sechsergruppe gestandener Parteipolitiker (A.d.Ü.).
In der Karatschi-Affäre ging es um französische Waffengeschäfte mit Pakistan, Schmiergelder und Provisionszahlungen in den Neunzigerjahren. Große Summen sollen als Rückprovisionen nach Frankreich zurückgeflossen sein, unter anderem in Wahlkampfkassen der UMP. Über Zusammenhänge mit einem Anschlag in Karatschi, bei dem 2002 mehrere französische Ingenieure und Pakistanis ums Leben kamen, wird bis heute spekuliert (A.d.Ü.).
Deutsch im Original, wie auch die anderen deutschen Passagen dieses Dialogs (A.d.Ü.).
Redenschreiber von Staatspräsident Sarkozy (A.d.Ü).
Offiziell Les Restaurants du Cœur, Bezeichnung eines gemeinnützigen Vereins, der 1984 von dem französischen Humoristen Coluche gegründet wurde und mit einem weiten Netz an Einrichtungen in ganz Frankreich warme Mahlzeiten und andere Nothilfen für Bedürftige organisiert. Auch das 1987 geschaffene Europäische Nahrungsmittelhilfsprogramm PEAD geht zu einem großen Teil auf die Initiative von Coluche zurück (A.d.Ü.).
Deutsch im Original, desgleichen die folgenden drei Aussagen Aigners und ihrer Staatssekretäre in diesem Gespräch (A.d.Ü.).
Juppé bezieht sich hier auf die Debatte um die Anerkennung der Verantwortung Frankreichs für den Massenmord, dem 1962 sogenannte Harkis zum Opfer fielen, algerische Hilfssoldaten, die während des Algerienkriegs in der französischen Armee gedient hatten und beim Abzug der französischen Truppen schutzlos in Algerien zurückgelassen wurden (A.d.Ü.).
Deutsch im Original.
Ministerin für Solidarität und sozialen Zusammenhalt (A.d.Ü.).
Das Prinzip, kurz «un sur deux» genannt, bei der Verrentung von Beamten nur jede zweite Stelle wieder zu besetzen (A.d.Ü.).
Deutsch im Original.
Deutsch im Original.
Cours de justice de la République, ein Sondergericht, das über Verfehlungen französischer Minister in Ausübung ihres Amtes urteilt; es war 1993 unter Mitterrand gegründet worden, um unter anderem die Aufklärung des Skandals um HIV-verseuchte Blutprodukte zu erleichtern (A.d.Ü.).
UMP-Politiker und Präsident der Nationalversammlung (A.d.Ü.).
UMP-Politikerin, 2007 von Sarkozy zur Sprecherin seiner Wahlkampagne ernannt; anschließend Justizministerin, bis sie 2009 aus dem Kabinett Fillon entlassen wurde (A.d.Ü.).
Jean-Luc Mélenchon, Präsidentschaftskandidat des Wahlbündnisses Front de gauche, der im Wahlkampf Überraschungserfolge erzielen konnte (A.d.Ü.).
Juristische Sammelbezeichnung, die umgangssprachlich zumeist für Sinti und Roma steht (A.d.Ü.).
UMP-Abgeordnete, die verschiedene politische Ämter innehatte (A.d.Ü.).
Während des Präsidentschaftswahlkampfs von 1988, in dem sich die beiden scheidenden, aber noch in Kohabitation amtierenden Staats- bzw. Regierungschefs Mitterrand und Chirac gegenüberstanden, hatte eine als Protest gegen die französische Überseepolitik gedachte Geiselnahme französischer Polizisten auf der neukaledonischen Insel Ouéva und ihre blutige Beendigung durch eine französische Spezialeinheit die Stimmung in Frankreich aufgeheizt; Chirac, der trotz Mitterrands Verhandlungsbereitschaft die Gewaltaktion veranlasste, wurde unter anderem nachgesagt, er habe sich damit die Stimmen von Jean-Marie Le Pens FN für die Stichwahl sichern wollen (A.d.Ü.).
Parteivorsitzender der mit dem UMP-Bündnis assoziierten CPNT (Chasse, Pêche, Nature et Traditions); Nihous hatte frühzeitig zugunsten Sarkozys auf eine eigene Kandidatur verzichtet (A.d.Ü.).
Faillite civile, ein im Wahlkampf von Sarkozy angekündigtes System, um überschuldete Privathaushalte aus der Schuldenfalle zu befreien; in Wirklichkeit hatte Jean-Louis Borloo schon 2003, damals als Minister im Kabinett Raffarin I, unter dem Namen Loi de la seconde chance in ganz Frankreich ein entsprechendes System eingeführt (A.d.Ü.).
Deutsch im Original.
Für Pauline
Für Louis, Adrien, Matthias und Barthélemy
«You can keep on writing, but I think you ought to know what’s true.»
Toni Morrison, Home
«Einen großen Menschen, eine sogenannte bedeutende Persönlichkeit, wir ertragen den einen nicht als großen Menschen, die andere nicht als bedeutende Persönlichkeit, wir müssen sie karikieren. […] Jeder Mensch kann lächerlich und zur Karikatur gemacht werden, wenn wir wollen, wenn wir es notwendig haben.»
Thomas Bernhard, Alte Meister
Die Wahrheit der Macht findet sich weder in ihrer Eroberung noch in ihrer Bilanz: Die Wahrheit der Macht liegt in ihrer Ausübung. Daher entzieht sie sich meistens der Kenntnis der Öffentlichkeit, die sie mit einer Mischung aus Misstrauen, Respekt, Faszination und Furcht betrachtet, ohne genau zu wissen, worum es eigentlich geht. Dieser Mangel an Transparenz verleiht der politischen Praxis etwas Unscharfes. Die vorliegenden Aufzeichnungen sollen als Objektiv dienen, um die Dinge auf den Punkt und mehr Klarheit in die Welt der Politik zu bringen. An manchen Tagen ist die Brennweite kleiner, der Blickwinkel größer, der Text bildet die neuen Kräfteverhältnisse zwischen den Kontinenten wie auf einer Karte ab, lässt erkennen, wer die G 20 führt, wer in letzter Instanz über die Staaten oder das Finanzwesen entscheidet. An anderen Tagen fokussiert sich der Blick auf mikroskopische Feinheiten der Kleidung, der Rede, des Orts oder der Sichtweise, aus denen sich die Realität der Macht zusammensetzt. Überall nehmen die Aufzeichnungen den Umweg über Frankreich, seine Regionen und seine Sprache, die ich weniger als Erbe denn als Verheißung in mir trage: Unsere gemeinsame Geschichte liegt noch in der Zukunft. Wer spricht hier? Kein Zeuge, sondern ein Akteur: ein Abgeordneter, der in den Gängen der Ministerien groß geworden ist, bevor er gewählt wurde, den Boden bearbeitet hat und für eine per definitionem begrenzte Zeit ein Ministeramt erhielt. Ich bin in das politische Leben eingebunden, erhebe also keinen Anspruch auf Neutralität. Ein einfacher Zeuge hätte den Vorteil, dass er das Schauspiel von seinem Sessel aus betrachtet. Er sieht das Hin und Her der Akteure auf der Bühne, er selber rührt sich nicht, kommt nie ins Schwitzen. Er beobachtet dieses kleine Viereck, auf dem sich eine Tragödie oder eine Komödie abspielt, oder nichts außer der alltäglichen Routine der Regierungsmaschinerie, doch nie greift er mit den eigenen Fingern ins Räderwerk. Der Zeuge nimmt kein Risiko auf sich. Aber die Wahrheit der Macht lässt sich nicht ans Licht bringen, ohne dass man ein Risiko eingeht, sich einen Schritt weiter traut. Und dieser Schritt ist ein Sprung: Er befördert einen in ein anderes Leben mit seinen Ängsten, seiner Gewalt. Wenn die Wahrheit der Macht in ihrer Ausübung liegt, dann steckt sie auch in den Impulsen und im Eifer derer, die sie innehaben. Alles, was wir von der Politik zu sehen bekommen, ist und wird zunehmend falscher Schein. Frei erfundene Geschichten haben die Tatsachen ersetzt. Colin Powell, 5. Februar 2003, vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, rote Krawatte, weißes Hemd, dunkler Anzug, ein Fläschchen zwischen den Fingerspitzen: «This is anthrax.» Wir waren einige im Saal, die wussten, dass es keins war. Aber die Hunderte Millionen Fernsehzuschauer? Die Millionen amerikanischer Bürger, die George W. Bush auf den Krieg einschwören wollte? Was zählt, ist nicht mehr die Realität, sondern nur noch die Vorstellung von ihr. Bilder, Netzwerke, Gerüchte, E-Mails, ununterbrochene Nachrichten, alles trägt dazu bei, das Künstliche an die Stelle des Erlebten zu setzen. Am Ende bleibt nur eins, was wahr ist an der menschlichen Regierung, und das sind die Menschen, die die Regierung bilden. Ihre Aufrichtigkeit ist das einzige Licht, das einem zur Verfügung steht, um etwas zu erkennen, wenn man durch die dunklen Untergründe der Politik spaziert. Das ist das Motiv für dieses Buch: Indem ich von meinen Erfahrungen spreche, spreche ich von der Macht, und indem ich von der Macht spreche, gebe ich meine Wahrheit preis. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Jeder soll sie in die Hand nehmen, sie auch als Spiegel betrachten können, denn die Macht ist überall. Auf allen Etagen der Aktiengesellschaften des CAC 40[1] findet man kleine Chefs, genau wie man in den bescheidensten Landwirtschaftsbetrieben große Befehlshaber trifft. Jeder hat seine Auffassung vom praktischen Umgang mit der Macht. Diejenige, die ich vertrete, verlangt Respekt, Zeit und Willen; sie versucht, jedem Einzelnen einen angemessenen Teil der Verantwortung zuzuweisen; sie meint, kurz gesagt, eine Autorität. Eine Figur nimmt in diesem Buch einen zentralen Platz ein: Nicolas Sarkozy. Wir hatten Meinungsverschiedenheiten, aber ich bin ihm dankbar für sein Vertrauen und mache keinen Hehl aus meiner Bewunderung, die sicher viel mit unseren unterschiedlichen Temperamenten zu tun hat. Er wurde karikiert, zu politischen Zwecken. Es war nützlich, einen anderen Menschen herbeizureden, einzigartiger, komplexer. In dem Maße, in dem die Macht ihm entglitt und die meine folglich abnahm, nahte der Augenblick, da alles im Schweigen enden würde. Nichts würde bewahrt werden. Die Spekulationen würden noch ungezügelter ins Kraut schießen. Also habe ich mir gesagt: Du musst gegen dieses Schweigen kämpfen. Und seit dem Tag, an dem ich zu schreiben begann, drängten sich mir ständig neue Fragen auf: Was muss bewahrt werden? Was darf entfallen? Ich spürte zwar die Notwendigkeit, diese Tage der Macht dem Schweigen zu entreißen, aber wie und wozu? An einem Herbstmorgen, während eines Aufenthalts in Berlin, wo ich vor dem Kanzleramt auf eine Besprechung wartete, stieß ich auf ein Titelblatt des Magazins Der Spiegel. Es zeigte Helmut Kohl; Altkanzler Kohl, ein neuer Adenauer, ein konservativer Brandt und Vater der deutschen Wiedervereinigung, nun im Rollstuhl, das Gesicht erstarrt, sein einst verschmitzter Blick kalt und leer. Im Artikel erzählten zwei Journalisten, Kohl spreche nicht mehr, höchstens in Ein-Wort-Sätzen. Statt eine Bitte zu formulieren, verlange er einfach: «Zucker[2].» Was ist wahr an der Geschichte? Wir wissen es nicht. Jedenfalls spricht Helmut Kohl nicht mehr, und man spricht für ihn. Als ich die Zeitschrift zuklappte, sagte ich mir, alles sei besser als Schweigen. Das vorliegende Buch wird nützlich sein, wenn es die Leser anregt, sich mit Politik zu beschäftigen. Es wird seinen Zweck erfüllen, wenn die Wahrheit der Macht gelegentlich zu hören und zu sehen ist. Mir geht es nicht um eine Abrechnung, vielmehr wünsche ich mir, dass die Akteure würdig und Frankreich gestärkt daraus hervorgehen.
«Herr Minister? Persönliches Sekretariat des Premierministers. Einen Augenblick bitte, ich gebe Ihnen den Premierminister.» – «Bruno, wir sind uns einig mit dem Präsidenten, dass du die Landwirtschaft bekommst, dazu ein erweitertes Portefeuille für ländlichen Raum und Raumplanung.» Schweigen. Seine dumpfe Stimme klingt lustlos, es muss sein zehnter Anruf an diesem Abend sein, er ruft aus Pflicht an, ohne Begeisterung. «Ach ja, es gibt keinen Staatssekretär für dich. Aber unter uns, das wird dir das Leben erleichtern.» Er muss die Enttäuschung in meiner Stimme gehört haben. Er schließt: «Du bist also Minister für Landwirtschaft, Ernährung, Fischerei, ländlichen Raum und Raumplanung.» Er legt auf. Den Hörer noch in der Hand, beuge ich mich vor, seufze, richte die Augen auf meine Berater, die vor mir sitzend das Urteil erwarten. «Also gut, das war unsere Bestätigung für die Landwirtschaft. Sie geben uns ein Bonbon dazu, um uns eine Freude zu machen. Sonst nichts.» Draußen ist es dunkel. Im Büro brennen alle Lichter, die kleine Lampe auf meinem Tisch, die Mattglasröhren, der große Kronleuchter mit seinen Energiesparbirnen, die fahl auf unsere Gesichter scheinen. Die Scheiben der Terrassentür zum Park hinaus haben eine schiefergraue Farbe angenommen. Über uns dröhnen Schritte: Die Bronzeketten des Kronleuchters zittern. «Was den Staatssekretär betrifft, hat er schon recht. Ein Staatssekretär ist doch in der Regel zu nichts zu gebrauchen. Der drängt sich in den Vordergrund, erregt Aufsehen und löst kein einziges Problem oder schafft sogar noch welche. Ein Staatssekretär. Was hätten wir damit schon anfangen sollen? Aber ehrlich?» Meine Berater nähern sich dem Konferenztisch, einem langen rechteckigen Tisch aus hellem Holz. Wenn man mit der Hand genau in der Mitte unter die Platte fährt, stoßen die Finger an ein kleines Metallschild mit der Gravur: «An diesem Tisch wurde 1995 das Abkommen von Dayton unterzeichnet.» Bertrand Sirven, mein Presseberater, schweigt. Wir alle könnten uns freuen über die Bestätigung im Amt, hätte der Fortsetzungsroman der Kabinettsumbildung uns nicht die Aussicht auf wichtigere Posten vorgegaukelt, Außenminister, Premierminister. «Für Sie, Herr Minister, ist es hervorragend, bei der Landwirtschaft zu bleiben. Da können Sie Ihre Spuren hinterlassen.» Mein Kabinettsdirektor deutet ein schüchternes Lächeln an, starrt auf seine Schuhspitzen. «Und der Präsident», fragt Bertrand, «hat der Präsident dich angerufen?» – «Der Präsident? Nein. Warum, meinst du, sollte er mich anrufen?» Über uns verstärken sich die Schritte, die Bronzeketten zittern heftiger. «Du hattest ihm eine Mitteilung geschrieben, oder?» Ja, ich hatte ihm geschrieben, ermutigt von seinen Vertrauten, die in mir einen geeigneten Anwärter fürs Matignon[3] sahen. Wie leicht man sich doch in Ambitionen versteigt, die einem eingeflüstert werden, wie schnell sie sich um einen herum verhärten und eine feste Schale bilden, beinahe die Wirklichkeit werden. Meine Vorschläge: eine verschlankte Regierung, Maßnahmen zur Haushaltssanierung, eine tiefgreifende Reform unseres Produktionssystems und des Arbeitsrechts. Keine Rückmeldung. Nur ein Gespräch im September, nach der öffentlichen Erklärung, die ich gemeinsam mit François Baroin[4], Christian Jacob[5] und Jean-François Copé[6] im Figaro abgegeben hatte – ein Gespräch, das genau genommen eine Vorladung war. «Herr Minister? Persönliches Sekretariat des Präsidenten. Der Präsident möchte Sie morgen um 17 Uhr sprechen, zusammen mit Monsieur Baroin.» – «Wissen Sie, um was es geht?» – «Nein. Der Präsident möchte Sie sprechen.» Der Ton duldet keinen Widerspruch. Am nächsten Tag um 17 Uhr führt ein Staatsbeamter Baroin und mich ans hintere Ende der Steinterrasse vor dem Park. Der Präsident erwartet uns an einem Gartentisch, im dunklen Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, ein beigefarbener Schirm schützt ihn vor der Sonne. Er arbeitet mit Claude Guéant[7] an einer Akte. Er begrüßt uns mit der gewohnten Herzlichkeit, streckt eine parfümierte Hand aus und bittet uns, Platz zu nehmen. Seine Stimme klingt nach einer antrainierten Freundlichkeit, im Übrigen müde, mit drohendem Unterton. «Sie haben Krawatten an? Das war nun wirklich nicht nötig! Aber wirklich! Also, was wollen Sie trinken?» Bevor er zur Sache kommt, zieht er seine schwarze Brille ab, versenkt seinen klaren Blick in meine Augen, dann in die Augen meines Nachbarn. «Ihre Erklärung stört mich überhaupt nicht, glauben Sie mir, die stört mich überhaupt nicht. Im Gegenteil. Warum sollte sie mich stören, Sie sagen doch, dass Sie mich unterstützen. Sie unterstützen mich, sehr gut. Schließlich sind Sie meine Minister, was? Im Unterschied zu den beiden anderen sind Sie meine Minister. Das wissen Sie, ich erinnere Sie daran.» Das Thema wechselnd: «Nur wegen der Partei, sagen Sie es Jean-François, da sollte es kein Kräftemessen geben, man sollte mich nicht zwingen wollen, ja?» Gleichzeitig mimt er Armdrücken, ballt die Faust und senkt sie, bis die Venen unter dem geflochtenen Band an seinem Arm hervorquellen. «Kein Armdrücken, einverstanden? Jean-François, sicher kann ich ihm die UMP geben, wenn er sie haben will: Er hat Talent, er ist begabt, aber nicht, wenn man mich zwingen will, verstehen Sie? Wenn man mich zwingen will, kann ich nicht. Würden Sie ihm das ausrichten?» In einem anderen Ton, sanfter, fügt er hinzu, während er die schwarze Brille wieder aufsetzt: «Sie wissen auch, dass ich mit Ihnen rechne, oder? Ich bin Präsident, meine politische Karriere liegt hinter mir, ich muss Jüngere nach oben bringen. Jüngere, einen Jungen, warum nicht? Sie wissen doch, Ihr Name als möglicher Premierminister ist nicht durch Zufall in der Presse aufgetaucht, was? Ich war es, ich habe ihn genannt. Ihren Namen, ich habe ihn genannt. Eine Hypothese. Und das ist nicht schlecht für Sie.» Ein leichtes Rascheln in den Bäumen, die Verkehrsgeräusche von der Avenue de Marigny, gedämpft durch die Vegetation, und er, langsam wiederholend: «Das ist nicht schlecht für Sie.» Der Rest waren ein paar nette Worte, Höflichkeiten. Er machte sich die Mühe, uns persönlich vom hinteren Ende der sonnenerhitzten Terrasse bis an die Schwelle der Flügeltür zu begleiten. Dann drückte er mir die Hand, während er sich zugleich auf meine Schulter stützte: «Also dann, danke. Danke für alles!» Inzwischen ist es Nacht. Wieder die Schritte oben und der große Kronleuchter, der klimpert. Seit Wochen, seitdem das Schweigen eingesetzt hatte, wussten wir, dass der Präsident davon abgerückt war, einen Jungen ins Matignon zu holen. Hatte er eigentlich im Ernst daran gedacht? «Ich, ich werde mit den Alten regieren. Die Alten, die lassen einen in Ruhe, die sind keine Wadenbeißer.» Sein Lächeln, als er diese Worte 2007 in den Gärten des Matignon vertraulich ausgesprochen hatte – siegreicher Kandidat des ersten Wahlgangs bei den damaligen Präsidentschaftswahlen, noch nicht wirklich Präsident –, hätte mir als Warnung im Gedächtnis bleiben müssen. Man vergisst; man kommt auf den Geschmack; man erinnert sich – zu spät. François Fillon wird im Amt des Premiers bestätigt, nachdem er vorigen Mittwoch erklärt hat, er sei bereit, seine Arbeit fortzusetzen. Die letzten Hoffnungen von Jean-Louis Borloo[8] lösen sich in Luft auf. Der Haushalt geht an Baroin, die Bildung an Chatel, die Landwirtschaft an mich: Die Kontinuität sollte die Oberhand über unsere Ambitionen behalten. Alain Juppé[9] kehrt als Verteidigungsminister in die Regierung zurück. «Wer läuft da oben herum?» – «Berater, die arbeiten, Herr Minister.» – «Am Sonntagabend?» – «Ja, am Sonntagabend, es gibt viele dringende Probleme, das erzählen wir Ihnen morgen.» – «Ja, sehen wir morgen weiter.»
François Fillon betritt die Salle Colbert[10] unter donnerndem Applaus. Er nickt bescheiden mit dem Kopf. Deutet ein Lächeln an. Steigt aufs Podium und nimmt seinen gewohnten Platz ein, zur Rechten des Fraktionsvorsitzenden, aber eine Stufe tiefer, vor dem Hintergrund der bukolischen Tapisserie aus den Vierzigerjahren: Weinreben, die sich unter dem Gewicht der Trauben biegen, grünes Blattwerk, Tauben, ihre Schnäbel über Kelche geneigt. Jean-François Copé drückt ihm die Hand. Der Applaus will nicht enden. Es ist eine Mischung aus Unterstützung und Erleichterung: Die meisten Parlamentarier im Saal hätten die Ernennung von Jean-Louis Borloo als Provokation empfunden. Durch eine beispiellose Umkehrung der Machtverhältnisse haben sie erreicht, dass der Präsident auf seinen Kandidaten verzichtet und mangels einer glaubwürdigen Alternative an François Fillon festhält. Fillon tippt mit den Fingerspitzen auf seine Uhr, wie um zu sagen: «Meine Freunde, meine Freunde, nun aber auf, an die Arbeit.» Der Applaus schwillt an. Im Sitzen, die Hälfte des Oberkörpers von der Holzverkleidung des Podiums verdeckt, wirkt er klein, etwas erdrückt, doch es ist ein vollendeter Triumph, und niemand hier würde seine Autorität bestreiten. Alain Juppé sitzt ihm gegenüber auf der königsblauen Samtbank, wo die meisten Regierungsmitglieder sich niederlassen, wenn sie sich nicht unter die Abgeordneten mischen, um am Puls der Mehrheit zu sein, ihre Stimmung zu spüren. Juppé zuckt nicht mit der Wimper. Er blickt direkt geradeaus. Abends liefert der Präsident auf zwei Fernsehkanälen Erklärungen, lobt die Arbeit von Fillon, rühmt die Rückkehr von Juppé. Die unzufriedenen Parteianhänger aus meinem Wahlkreis in Évreux sind gewonnen. Überall scheint die Rechte erleichtert zu sein über den Schlussstrich unter diese drei Monate sich hinschleppende Kabinettsumbildung, die auf einen Bruch und eine Erneuerung hoffen ließ und mit einem geordneten Rückzug beendet worden ist. Kein frischer Elan für das Wahljahr 2012, als hätten die Turbulenzen der Krise in Europa die Politik in Frankreich zur Stabilität verdammt.
«Und ich möchte Alain Juppé noch einmal sagen, wie sehr ich mich freue, dass er heute bei uns ist.» Der Präsident lächelt, setzt sich und wendet sich Alain Juppé zu, der im dunkelblauen Jackett rechts neben ihm sitzt. Schweigen am Kabinettstisch. Herzlich und grausam fügt der Präsident hinzu: «Wie lange sind wir schon dabei, was Alain? Fünfunddreißig? Siebenunddreißig Jahre?»
Bei der Versammlung des Bauerndachverbands FNSEA[11] im VIII. Arrondissement in Paris bekomme ich zu spüren, wie sehr mein Verbleiben im Ministerium von der Welt der Landwirtschaft geschätzt wird. Etwa hundert Vertreter aus ganz Frankreich sind anwesend. Jeder schickt seinem Redebeitrag ein paar Worte voraus, sagt, wie froh er sei über die Entscheidung, die der Präsident und der Premier getroffen haben, spricht von einer guten Nachricht, ehe er seine Fragen stellt. Sie sind weit entfernt, die ersten Monate meines Ministeramts, als die Bauern mich – dieses Produkt hoher öffentlicher Ämter, das zufällig in der Politik gelandet war, ohne landwirtschaftliche Wurzeln außer seinen Familienbeziehungen im Gers – mit einer Mischung aus Argwohn und Bestürzung betrachtet hatten. Heute gehöre ich zu ihnen, und ich bin stolz darauf. Die Politik hat den Vorteil, dass sie einen der Enge des eigenen Milieus entreißt und einen gewissermaßen aus dem Innenhof nach draußen verpflanzt, umgeben von neuen Gesichtern, Worten, Erinnerungen, Blicken, die einem nach und nach vertraut und zu einer Bereicherung werden.
Am späten Vormittag Verabredung mit dem Präsidenten. Seit einer halben Stunde warte ich im Empfangsraum der ersten Etage, blättere Zeitungen durch und wechsele gelegentlich ein paar Worte mit den Männern der Gardes Républicaines. «Herr Minister? Der Präsident lässt bitten.» Ein Staatsbeamter im Frack, eine schwere Silberkette um den Hals, führt mich durch den Grünen Salon zum Präsidentenbüro, dessen Gold mir im Novembergrau matt erscheint. Er rappelt sich von seinem Schreibtisch auf: «Entschuldigung, Bruno, die Verspätung tut mir leid, wirklich!» Und an Claude Guéant gewandt, der mir gefolgt ist: «Sehen Sie, Claude, mit dem Terminkalender, das muss sich wirklich ändern, sagen Sie es Jean-David[12], das muss sich ändern: Ich kann unmöglich Angela am Telefon haben und zehn Minuten später eine Besprechung, sagen Sie es Jean-David, das muss sich ändern. Nun setz dich doch, Bruno, setz dich!» Ich warte, bis er auf dem Sofa Platz genommen hat, ehe ich den Sessel gegenüber einnehme, Claude zu meiner Rechten. «Also, Bruno, du wolltest mich sprechen, ich höre.» Zuerst rede ich über seinen Fernsehauftritt am Vorabend, er sei bei den Unzufriedenen in Évreux gut angekommen. «Nett von dir, Bruno, wirklich nett! Immerhin haben wir es auf vierzehn Millionen Zuschauer gebracht, nicht schlecht, was, vierzehn Millionen?» Dann versichere ich ihn nochmals meiner Loyalität, die einige aus seiner Umgebung unter dem Vorwand in Zweifel ziehen, dass meine Antwort bei einer Diskussion mit Emmanuel Todd zu lasch gewesen sei. «Aber wer zweifelt daran, Bruno? Ich jedenfalls nicht. Ich habe dich auf deinem Posten bestätigt. Ihn sogar um ländlichen Raum und Raumplanung erweitert. Raumplanung, entschuldige, das ist keine Kleinigkeit, ja? Das ist ein Zeichen des Vertrauens. Raumplanung, die hatte ich auch einmal, die ist wichtig, das kann ich dir sagen. Aber du wirst zugeben, Bruno, wenn ein Typ im Fernsehen sagt, der Präsident sei ein Dingsbums, das war es doch, nicht wahr? Ein Dingsbums an der Spitze Frankreichs, na ja, du wirst verstehen, da könnte man von einem Minister schon erwarten, dass er ihn verteidigt, oder? Minister verteidigen den Präsidenten, oder? Wenn nicht sie, wer verteidigt ihn dann?» Ich sehe seinem Blick an, dass jeder Widerspruch sinnlos wäre, und komme zum eigentlichen Thema unserer Besprechung, dem «Projekt UMP 2012». Ich schlage vor, es in Zusammenarbeit mit Jean-François Copé, dem neuen Generalsekretär der Partei, vorzubereiten. Er zögert einen Moment, wirft Claude Guéant einen Blick zu: «Das ist interessant, gar nicht dumm. Besprichst du das mit Jean-François? Aber interessant, ja.» Während er mich hinausbegleitet, erkundigt er sich nach Dominique de Villepin[13], der gerade öffentlich erklärt hat, Nicolas Sarkozy sei ein Problem für Frankreich. Er drückt mir den Arm: «Ich sage dir, dein Freund ist verrückt, ehrlich, er ist verrückt. Weißt du, dass er mir sein Buch geschickt hat? Über zehn Seiten hinweg zieht er mich in den Dreck, und dann schickt er mir sein Buch. In Freundschaft auch noch. Jedenfalls steckt er in der Sackgasse. Sein Kram führt zu gar nichts. République solidaire, oder wie war das? Der wird nicht kandidieren. Ich sage dir, der wird nicht kandidieren.»
Drei Stunden später empfängt François Fillon mich im Matignon. Er schürt ein Feuer im Kamin. Bietet mir etwas zu trinken an. In seinen Sessel aus genarbtem Leder eingesunken, den Rücken zum Fenster, hört er zu, redet wenig. Ruhig, heiter nach seiner Bestätigung im Amt. Er kratzt sich mit dem Zeigefinger am Daumen, legt die Hände über Kreuz, zieht die Hosenbeine hoch, sodass scharlachrote Socken sichtbar werden. Am Ende unserer Unterredung steckt er mir wie im Selbstgespräch: «In Wirklichkeit hat er mir immer gesagt, er würde mich behalten. Immer. Ich weiß nur nicht, ob das alles äußerst geschickt von ihm ist oder äußerst ungeschickt. Vielleicht etwas von beidem.»
Unruhige Nacht. Eine Maus kratzt hinter der Fußleiste und weckt mich auf. Pauline schläft schon lange. Ein harter Schlag mit der flachen Hand auf den Boden, kein Kratzen mehr. Benommen, wie ich bin, argwöhne ich die Maus mit erhobenem Kopf im Hohlraum der Fußleiste, sehe ihre zitternden Tasthaare inmitten von Staub und Dunkelheit, lauschend, ob sich etwas regt. Zwei oder drei Minuten vergehen. Gerade bin ich eingedämmert, da geht das Scharren wieder los, vorsichtig, kaum eine Kralle, die etwas berührt, dann nimmt es zu, wird heftiger, kratzt wer weiß was in das Holz, immer schneller, wie besessen. An den Rand der Verzweiflung gebracht, erhebe ich mich zum nächsten kurzen Schlag auf den Boden. Vorübergehende Stille. Jetzt glaube ich, den Atem der Maus hinter der Holzleiste zu hören, kurze, keuchende Stöße aus ihrem winzigen Brustkorb, der in die hohle Hand passen würde, den hartnäckigen Atem dieses kleinen Nachtarbeiters, der wartet, bis Ruhe einkehrt, um wieder ans Werk zu gehen. Pauline schläft friedlich weiter. Es ist zwei Uhr morgens, ich beuge mich hinüber, um die Nachttischlampe anzuknipsen. Was tun? Unmöglich, wieder einzuschlafen, unmöglich, die Maus zu vertreiben. Ratlos greife ich mir eins der Bücher, die am Boden herumliegen. Während Locusta in Neros Auftrag alle möglichen Gifte an Ziegenböcken und an Ferkeln testet, um ihr Verbrechen zu vertuschen, nimmt die Maus ihre Arbeit eifrig wieder auf, scharrt und kratzt mit allen Krallen.
Diskussion mit Benoît Hamon auf France 2. Er zerreißt die Kabinettsumbildung in der Luft. Im Gegenzug werfe ich ihm das Schweigen der Sozialistischen Partei (PS) zur Euro-Krise vor. Der Rahmen für die kommenden Monate ist abgesteckt: Verteidigung der Kontinuität auf der Rechten, Kritik an der herrschenden Macht auf der Linken. Wer wird es wagen, sich mit den Mängeln unseres Wirtschafts- und Sozialsystems zu beschäftigen? Als wir das Studio verlassen, ruft uns eine Pressereferentin zu: «Tolle Diskussion! Sie beide kommen gut an mit Ihren blauen Augen, wirklich, glauben Sie mir, man sah nur Ihre Augen!» Am späten Nachmittag Abreise nach Wien. Landung um 20 Uhr. Ein feiner Nieselregen fällt ins gebündelte Licht der Scheinwerfer, macht das Rollfeld nass, trübt die Konturen der Glasbrücke, an der unser Flugzeug langsam festmacht, Zentimeter um Zentimeter, ehe der Pilot die Triebwerke abschaltet und die zwei Stunden lang in enge Sitze gequetschten Passagiere sich wie ein Mann erheben. Ein Vertreter unserer Botschaft in Österreich erwartet uns am Ausgang. «Hatten Sie eine gute Reise? Hier ist es nicht sehr schön, Wiener Wetter, aber schließlich haben wir November, werden Sie sagen.» Er führt uns durch beige Marmorgänge, gesäumt von Luxusboutiquen, die größtenteils geschlossen sind. «Es ist Sonntagabend, werden Sie sagen.» Er lächelt, nimmt das Lächeln sogleich zurück, setzt wieder seine ernste Miene auf und bietet mir an, den Koffer zu tragen, beharrt darauf, ich lehne ab. Drei Schaufenster weiter sieht er, dass mein Blick auf einem Mozart-Plakat ruht, verschlossenes Gesicht, rote Samtjacke, weiße Perücke, ein Notenblatt als Hintergrund. Schüchtern merkt er an: «Wir sind in Wien, werden Sie sagen.» Und als wollte er sich für seine Dreistigkeit entschuldigen: «Kommen Sie. Lassen Sie mich den Koffer tragen! Lassen Sie, lassen Sie! Ich nehme ihn!»
Zu den vielen guten Eigenschaften Nikolaus Berlakovichs[14] zählen seine Ruhe und ein umgängliches Wesen. Jedes Mal ist es mir eine Freude, ihn wiederzusehen. Er spricht so langsam Deutsch, dass ich mich wie in meiner eigenen Sprache fühle. Keine Schwierigkeit wird bei ihm zum Drama. Er mischt sich selten in etwas ein, hält sich bei den Versammlungen in Brüssel meistens zurück. Mit seiner gutmütigen Art sucht er die Wogen zu glätten, wo er kann, wenn nicht, bleibt er still, geht hinaus und überlässt den Platz seiner Mitarbeiterin, einer jungen, etwa dreißig Jahre alten Frau mit heller Haut und von Lack glänzenden, streng zurückgekämmten schwarzen Haaren. Unter meinen europäischen Amtskollegen ist er übrigens einer der wenigen, die es unveränderlich für ihre Aufgabe halten, die Verhandlungen zu erleichtern, statt sie noch komplizierter zu machen. Sein Ministerium liegt im Zentrum Wiens, gleich hinter dem Ring. Trotz der Kälte wartet er draußen auf meinen Wagen, in blauem Jackett, Klubkrawatte, die Haare im Wind. Ein Händedruck, ein Schulterklopfen. Wir fahren in den dritten Stock hinauf. Er öffnet die Tür zu seinem Büro, funktional und schmucklos, mit einer Reproduktion des Blauen Pferds von Franz Marc an der Wand. Er bittet die Delegation, uns allein zu lassen, fasst mich am Arm, öffnet ein Fenster und zieht mich auf den Rundbalkon. «Schau, Bruno: ein herrlicher Blick!» Es ist eiskalt auf dem Balkon, Schneeregen setzt ein. Der Blick beschränkt sich auf eine Landschaft aus Bleidächern, überragt von der Spitze des Stephansdoms. Wenn man sich vorbeugt, kann man zehn Meter weiter unten eine Straßenbahn beobachten, die sich metallisch quietschend um die Kurve windet, ihre rot-weißen Wagen schwanken hin und her, aus der Oberleitung sprüht ein Funke; die Bahn setzt ihren Weg fort, fast leer, bis auf zwei alte Frauen, einander gegenübersitzend, mit geblümten Kopftüchern. Nikolaus sieht, wie ich zittere. «Du frierst ja! Komm schon! Wir gehen rein!» Er lässt sich in einem Sessel nieder, bietet mir einen Kaffee an und eröffnet das Gespräch über die Verhandlungen zur Zukunft der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). «Also, mir kommt eure deutsch-französische Position sehr entgegen. Alles, was dazu dient, das Budget der GAP auf dem bisherigen Stand zu halten, kommt mir sehr entgegen.» Er beugt sich vor, seine Klubkrawatte rutscht aus dem Jackett. «Jetzt muss Polen überzeugt werden. Wie überzeugt man Polen? Hast du Marek getroffen? Hast du mit Ilse darüber gesprochen?» Ilse ist meine deutsche Amtskollegin. Nach einem Jahr Vorverhandlungen und einem Dutzend Reisen nach Berlin hat sie mir soeben grünes Licht für die Beibehaltung des GAPGAPnietGAPFPÖFPÖFPÖ
UMP[15][16]UMP2012
Im Senat verliest Alain Juppé die Regierungserklärung, die François Fillon gleichzeitig vor der Nationalversammlung hält. Sehr rasch entspannt er sich. Liest mit der richtigen Intonation. Erlaubt sich einen Scherz, als sein eigener Name in der Rede vorkommt: «Entschuldigen Sie, dass ich mich zitiere!» Man könnte fast vergessen, wie verquer die Situation ist: ein ehemaliger Premierminister, der den Text des neuen Premierministers liest, eines Mannes, der ihm untergeben war und der nun sein Chef ist. Abends ein Anruf von Jean-François Copé. «Fandest du ihn gut, Fillon? Ehrlich gesagt, hat mich seine Rede nicht gerade vom Hocker gerissen. Er bekam viel Applaus? Täusch dich nicht. Sie beklatschen das Amt, sonst nichts.» Im Grunde reicht es manchmal, eine einzige Figur auf dem Spielfeld zu verschieben, damit zwei andere zu Rivalen werden.
20112074712Gendarmerie Mobile2012
TAC – für . Seit über zwei Tagen kämpfen meine Beraterstäbe und die Mitarbeiter unserer ständigen Vertretung in Brüssel, angeführt von Philippe Léglise-Costa, verbissen darum, dass die Kommission ihre für die Fischer inakzeptablen Vorschläge zurücknimmt. Gleich nach meiner Ankunft am Vortag habe ich der griechischen Kommissarin, Maria Damanaki, meinen Unmut bekundet: 2011«You know, Bruno, it is quite realistic. You have to make an effort if you want to comply with your international obligations. Think about it, Bruno! Think about it!» – «Maria, I will never let that kind of compromise be adopted by the Council! It is a non starter!»70EU23«Well, this is the new compromise and I must tell you, there is little room of manoeuvre. So please, try to be constructive.»«So please, try to be constructive.»TAC
USAGaleerentagebuchGaleerentagebuchglaubtglauben macht
2012