Mario Covi
Seefahrt - Abenteuer oder Beruf? - Teil 2
Von Traumtrips, Rattendampfern, wilder Lebenslust und schmerzvollem Abschiednehmen . . .
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. WILLIAMSON-TURN UND PORTERHOUSE-STEAKS
2. EIN RÄTSEL
3. ALARMZEICHEN UND NOTRUFE
4. HINTER DEM ALTEN LEUCHTTURM
5. ABSCHIEDNEHMEN
6. SCHWARZE GANG
7. QSQ?
8. GEFÄHRLICHE LADUNG
9. WENN DIE SEELE SCHLAPP MACHT
10. PLAUDEREIEN - UND VOM VERLUST DER REDLICHKEIT
11. EIN LÄSTERLICHER SCHNACK
12. WEIHNACHTSSTIMMUNG
13. HOCH UND TROCKEN
14. EIN SCHIFF WIRD KOMMEN
15. PLATZHIRSCHE
16. HASS UND DANKBARKEIT
17. WIEDERSEHEN UND ERINNERUNGEN
18. HABARI – MZURI
19. ZWISCHEN KILIMANJARO UND FORMOSABAY
20. IM MEER DER ZANDSCH
21. ZYKLONE UND ZUCKERROHR
22. INSELABENTEUER
23. GROBE SEE
24. VON DER MOSESFABRIK AUF DIE ‚PASSAT‘
25. EINE SACHE DER DIPLOMATIE
26. VERÄNDERUNGEN UND ANSICHTSSACHEN
27. KAKERLAKEN UND ANDERES GETIER
28. VORSCHAU
Impressum neobooks
Am 12. Juli 1981 machte das M/S "Bernhard-S" wieder in Baltimore fest. Mit dem türkischen Schlüsselmatrosen und dem neuen Leichtmatrosen Wilfried (alle Personennamen geändert) fuhr ich zum "Inner Harbor", wo ein "Greek Festival" stattfand, ein griechisches Volksfest. Es herrschte ein toller Betrieb. Familien flanierten im typisch anmutenden Yankee-Look: Daddy in karierter Flatterhose, mit Baseballmütze auf dem Kopf und ausgelatschten Joggingschuhen, während Mama ihren prallen Hintern reißfesten rosa Shorts anvertraute. Amerika ist für Hinternfetischisten ein Erlebnis! Es hat wohl auch etwas mit freier Meinungsäußerung und Selbstbewusstsein zu tun, aber in keinem Land der Erde werden fettere Ärsche so selbstverständlich in enge Shorts und Jeans gezwängt und mit softeisschleckender Selbstverständlichkeit durch die Welt geschaukelt, wie im Land der unbegrenzten Möglichkeiten!
Die Schwarzen schienen zu dominieren. Elegante Dandys und gertenschlanke Gazellen, deren erotisierende Schönheit jeder weißen Rassenüberheblichkeit hohnlachte. Natürlich wimmelte es von Amerikanern, die allesamt stolz zu sein schienen, aus dem Land des Aristoteles, des Sirtaki und des Ouzo zu stammen. Vor allem die beiden letzten Merkmale hellenischer Lebensart wurden, zur Freude des Ohrs und Wonne der Kehle, in luftigen Zeltpavillons feilgeboten. Es gab noch vielerlei andere folkloristische Lustbarkeiten. Amerikaner, sind sie erst mal Bürger dieses Landes, entwickeln ein Faible für das Volksgut ihrer Väter. So waren die griechischstämmigen Amerikaner des Festivals mit Hingabe Hellenen, wie andernorts die Bierzeltbesucher irgendeines Präriedörfchens deutscher sind als die Durchschnittsgermanen in der alten Heimat. Selbst ein Achtelindianer weist mit Stolz auf seine roten Vorfahren hin, was er, wäre er Halbindianer, am liebsten verheimlichte. Im Falle eines schwarzen Vorfahren sieht es noch verlogener aus, denn da beginnen die politischen und gesellschaftlichen Behinderungen.
Umgekehrt sind Neueinwanderer oft amerikanischer als die Nordamerikaner. Das konnte man besonders während der Sechzigerjahre in den USA und Kanada beobachten. Manche Neuankömmlinge sprachen schon nach vierzehn Tagen kein Wort Deutsch mehr. Oder sie baten an Bord radebrechend um "German black-bread" und mimten herum: „Tell me, wie heißen Swarzbrot auf Deutsch?“ Hein Seemann zitierte in solchen Situationen gerne die alte Beschwörungsformel: „Gott schütze uns vor Sturm und Wind – und Deutschen, die im Ausland sind!“
Drei Tage später machten wir in aller Frühe in Charleston, South Carolina, fest. Mit dem Koch und dem Leichtmatrosen Wilfried fuhr ich in die Stadt, wo wir in einem Supermarkt riesige Porterhouse-Steaks einkauften. Klodeckelgroße Apparate von einem Pfund Gewicht. Das amerikanische Pfund, also 453 Gramm, für vier Dollars und siebzig Cents! Bezahlt wurde der Spaß aus der sogenannten Sportkasse, eine Einrichtung auf vielen Schiffen, die ursprünglich zur Finanzierung von Fußballzubehör oder Tischtennisgerätschaften gedacht war. Meist musste diese Sportkasse für gemeinsame Freizeitausgaben herhalten. Dafür bezahlte jedes Besatzungsmitglied monatlich einen freiwilligen Beitrag, etwa fünf Mark.
Zehn Stunden nach Einlaufen waren wir bereits wieder auf dem Weg nach Europa. Das Wetter war sonnig und warm, und der Alte erinnerte uns am nächsten Tag daran, dass ein Schiff keine Bremsen habe. „Na und?“ mag da die eine oder andere hartgesottene Landratte nachhaken: „Dann stoppt ihr halt die Maschine und gebt volle Kraft zurück!“ - Richtig, aber so ein eiserner Kahn braucht oft mehrere Kilometer, bis er steht. Für ein Mann-über-Bord-Manöver ein viel zu langer Bremsweg, den das Schiff anschließend auch noch zurückfahren müsste, um an die Unglückstelle zurückzukehren.
Es war also ein Mann-über-Bord-Manöver angesagt, und Kapitän Arnold fuhr einen Williamson-Turn, für dessen fachmännische Durchführung unser Kommandant bekannt war. Bei diesem Williamson-Turn wird durch ein Hartrudermanöver zunächst rund 60 Grad Kursänderung erzwungen. Hierauf wird Gegenruder gegeben, so dass das Schiff auf ziemlich genauen Gegenkurs zu liegen kommt, und in das eigene Kielwasser – die Spur des Schiffes – einschwenkt. Von oben sähe es etwa so aus, als zeichnete das Schiff die Linie einer großen Schlinge.
Wir übten dieses Manöver mit einem Rettungsring. Vom Außenbordwerfen des Ringes, über das Auslösen des Generalalarms, das Einleiten des Williamson-Turns, Erreichen der Unfallstelle, Aussetzen des Rettungsbootes bis zum Auffischen des Rettungsringes vergingen rund zwölf Minuten. Nach zwanzig Minuten hing das Rettungsboot wieder in den Davits. Ein beachtlich schnell abgewickeltes Mann-über-Bord-Manöver!
Sollte man einmal über die Kante gehen, so war es beruhigend zu wissen, dass ein zielstrebig ausgeführter Williamson-Turn baldige Rettung versprach – sofern jemand den Unfall beobachtete. Ich glaube, dass jedem Seemann schon einmal die schreckliche Frage in den Sinn kam: „Was ist, wenn ich jetzt unbemerkt ins Meer falle?“ Mich quälten solche Gedanken gerne, wenn ich nachts über Deck ging und auch mal lange dem vorbeiziehenden unheimlichen Ozeangewoge nachträumte.
Am eindrucksvollsten ist in diesem Zusammenhang die Geschichte eines Seemannes, der mitten im Atlantik von einem deutschen Frachter ins Wasser gefallen war und – soweit ich mich entsinne – nach etwa anderthalb Tagen endlich gefunden worden war. Was musste der Mann durchgemacht haben, als des Nachts, nachdem erst Stunden später seine Nichtanwesenheit aufgefallen war, das hell erleuchtete Schiff mit Gegenkurs dicht an ihm vorbeituckerte – und nach ergebnisloser Suche wiederum, ohne seine Hilfeschreie zu hören, im Dunkeln der atlantischen Nacht entschwand! Der im Wasser treibende Seemann hatte daraufhin versucht, seine Pulsadern durchzubeißen, um seinem hoffnungslosen Zustand ein rasches Ende zu bereiten. Es war ihm aber nicht gelungen. Irgendwann hatte er begonnen, nur noch apathisch schwimmend dahinzudämmern, von einem nicht zu kontrollierenden Lebenswillen am Sterben gehindert. Der grausamen Nacht war ein endloser Tag der Verzweiflung gefolgt. Und nach über dreißig Stunden, just in dem Moment, in dem die Suche bei Sonnenuntergang als ergebnislos abgebrochen werden sollte, entdeckte der Matrose eines amerikanischen Küstenwachtbootes den verlorenen Seemann.
Am Tag nach unserem Mann-über-Bord-Manöver briste es auf und es begann zu regnen. Typisch, denn es war Samstag und abends sollte gegrillt werden. Wir ließen uns dennoch, achtern zwischen Pollern und Winschen vor dem Regen einigermaßen geschützt, die klodeckelgroßen Steaks schmatzend und grunzend schmecken!
Grillpartys an Bord waren ziemlich die einzigen kleinen gesellschaftlichen Ereignisse während eines langen Seetörns, abgesehen von gelegentlichen Geburtstagsbesäufnissen oder der traditionellen Weihnachtsprügelei, um mal ganz bitterböse und verallgemeinernd das Kind mit dem Bade auszuschütten. Bei renommierten Reedereien gingen diese Fressfeierlichkeiten zu Lasten der Firma, da so ein Barbecue im Freien schließlich eine normale Mahlzeit ersetzte. Das war einmal! Hier mussten derartige "kleine Freuden" selbst finanziert werden. Der Proviantsatz, die heilige Kuh vieler Kapitäne und Reedereien, hätte ja um einige Pfennige steigen können!
Am Proviantsatz, den durchschnittlichen Verpflegungskosten pro Tag und Kopf, wurde das Können von Kapitänen gemessen. So schien es jedenfalls, denn gar zu häufig spielten Reeder oder zuständige Inspektoren die Schiffsführer gegeneinander aus. Sie etikettierten und ordneten sie in die billigsten und die teuersten Proviantsatzfahrer!
Bei vielen Schifffahrtslinien machte der Funkoffizier die Verwaltung, und oft auch die Proviantabrechnung. Bei anderen Kompanien, wie der unseren, führte das der Kapitän aus. Eine Proviantabrechnung war mit einigen Mühen verbunden, ließ sich aber meist locker erledigen. Sie konnte allerdings auch zum kleinkarierten Kommastellenkampf von Pfennigfuchsern werden, als könne nur so der drohende Niedergang der Reederei abgewendet werden!
Bei einer Reederei kam folgendes Rundschreiben an Bord: „Wie uns zu Ohren kam, werden sonntags zum Nachtisch zwei Scheiben Ananas gereicht. Wir sind der Ansicht, dass auch eine Scheibe genügt.“ - Im Rundschreiben einer anderen Kompanie wurde die Konsequenz des Ausflaggens angedeutet, sollte nicht sparsamer verpflegt werden!
Die Bordverpflegung auf deutschen Schiffen war in der Regel üppig bis ausgezeichnet. Je nach Können des Chefs natürlich. Doch dazwischen lag stets der Schiffshändler, und war dieser ein halsabschneiderischer Bandit, hatte der Koch einen schlechten Stand. Denn nicht selten wurde regelrechter Schrott geliefert! Ich erinnere mich an ranzige Butter, an Hähnchen, die den Beinamen "Fliegende Fische" erhielten, weil sie mit Fischmehl gemästet so kräftig nach Fisch schmeckten, an Konserven, Quarkspeisen oder Joghurt mit längst abgelaufenen Haltbarkeitsdaten. Nicht selten wirtschafteten Köche und Kapitäne hemmungslos in die eigene Tasche, indem sie eingesparten Proviant verscherbelten, oder bei Proviantbestellungen dem Schiffshändler den Zuschlag erteilten, der die höchste Schmiergeldsumme zahlte. So reichte der Schiffshändler den Schwarzen Peter an die Besatzung weiter, und lieferte billigsten Proviant, der nicht selten ungegessen über die Kante geworfen wurde. Mehr Qualität wäre auf Kosten der Quantität billiger gewesen!
Allerdings gab es auch Schiffe, Kapitäne und Reedereien, denen mit den geschilderten Zuständen Unrecht getan würde. Ich habe Schiffe erlebt, auf denen das Essen mit jeder gutbürgerlichen Küche konkurrieren konnte oder streckenweise ein kulinarischer Sinnenrausch war, dank ausgezeichneter Köche, die guten Proviant zur Verfügung hatten und keinen pfennigfuchsenden Speckschneider fürchten mussten.
Wir saßen also an Deck und genossen die Grillsteaks. Nachgespült wurde mit einer Bowle, obwohl einigen ein Bier oder einfacher Wein passender erschienen wäre. Doch der Stoff war süffig und heizte die Stimmung an. Dass die Bowle ein Schlitzohrengesöff war, dämmerte uns erst allmählich. Der Alte hatte sich nämlich vierzehn Flaschen Wein mit einem Hunderter aus der Gemeinschaftskasse vergüten lassen. Der Tischwein war allerdings eine geschenkte Probe der Weinladung, die wir von Italien in die USA gebracht hatten.
So hatte der Alte wieder ein bauernschlaues Geschäftchen gemacht. Was uns ärgerte, war nicht der lächerliche Geldbetrag, den er uns aus den Taschen zog, sondern die dreiste Selbstherrlichkeit, die ihn keinen Gedanken daran verschwenden ließ, wir könnten sein schäbiges Spielchen durchschauen. Wir fanden seine Handlungsweise einfach kleinlich und unkameradschaftlich!
Als der Erste die Sache durchschaute, sagte er: „Mensch, und ich hab noch den ganzen Kühlschrank voll von dem Stoff. Den hätte ich gerne auf den Markt geschmissen!“
Wir näherten uns wieder der Alten Welt und steuerten dieses Mal die Azoreninsel Santa Maria an. Sie ist das südöstlichste Eiland des Archipels. Das Seehandbuch verriet mir, dass sie neun Seemeilen lang, fünf Seemeilen breit, von 12.000 Menschen bewohnt und ihre höchste Erhebung der 590 Meter hohe Doppelgipfel "Pico Alto" sei.
Am Vormittag des 23. Juli 1981 tuckerten wir dann ziemlich dicht an Santa Maria vorbei, sahen Terrassenfelder, bewaldete Berggipfel, die jähen Ufer. Wir schauten wieder einmal Land, das Grün der Felder, das Weiß der Häuser. Wir blickten auf eine kleine Welt, die rasch vorbeizog, deren Farben verliefen, matt wurden, im Weißblau der Kimm zu Schatten unter einem Wolkenturm schrumpften, zu einer Schmuddelstelle an der blankgeputzten, leeren Linie des Horizonts: ferner Hauch, eine Ahnung, schließlich nichts mehr...
Während ich dem entschwindenden Eiland nachsann, fiel mir ein Ereignis ein, das sich hier vor fast genau vierzehn Jahren ereignet hatte. Ich war einige Zeit mit ein paar Seeleuten gefahren, die mir davon erzählten, wie sie die Explosion eines Chemikalientankers wie durch ein Wunder unbeschadet überlebt hatten.
Es war am 2. Juni 1967, da fuhren diese jungen Männer als Teil einer 46-köpfigen Besatzung auf diesem Spezialschiff. Der fast 13.000 BRT große Tanker war sehr kostspielig aufgerüstet worden und konnte, wenn ich mich richtig entsinne, an die zwanzig verschiedene Chemikalien transportieren. Man hatte besonders darauf geachtet, dass eine hochkarätige Isolation aller Tankgruppen voneinander gewährleistet wurde. Die Schotten und Tankwände waren mit extrem säurebeständigen Schutzbezügen versehen. Vier Jahre lang war auf dem Schiff alles in Ordnung und bestens gelaufen. Bis zu jenem 2. Juni 1967.
Damals befand sich die "Essberger Chemist" irgendwo südwestlich der Inselgruppe. Die Matrosen hatten an Deck ihre Arbeit unterbrochen, um während der "Tea-Time" ein kühles Bierchen zu schnasseln, wie das häufig so üblich war. In sommerlicher Azorenhochlaune meinte der Bootsmann: „Ach, einen können wir noch!“ – Und er überzog die Vormittagspause großzügig um einige Minuten und ließ das Bier zischen – als es zweimal donnerte. Und zwar so gewaltig, dass dort, wo die Männer inzwischen hätten arbeiten müssen, ein riesiges Loch klaffte. Der Tanker war explodiert!
Es war wirklich ein Wunder, dass keiner an Bord ernsthaft verletzt worden war. Das Schiff sah aus wie eine Heringsbüchse, die ein Grizzlybär in die gierigen Klauen bekommen hatte. Das Deck klaffte zerfetzt, Eisenplatten waren zerknüllt worden wie Papier, Spanten, Decksbalken, Verstrebungen, der gesamte Querverband verbogen und zerrissen. Leitungen und Rohe quollen hervor wie Gedärm. Der Chemikalientanker war zu einem Wrack zerschlagen, aus zwei nur noch lose aneinanderhängenden Teilen bestehend!
Angst und Entsetzen zunächst. Die grauenhafte Vorstellung: gleich kracht es erneut und der Kasten steht in hellen Flammen. Oder die Fetzen fliegen donnergrollend mit "All Hands" gen Himmel und dann ab in die Hölle! Doch dann siegte die Einsicht, rasch zu handeln. Die Rettungsboote konnten ausgesetzt werden, dem Funker gelang noch ein SOS-Ruf, der Erste holte seine Filmkamera und der Dritte Offizier flitzte in seiner Pfiffigkeit in die Kajüte des Alten und packte den Kühlschrankinhalt in eine Isoliertasche. Dann aber nichts wie weg vom Dampfer, bevor es sich der Glücksgott anders überlegte.
In der Zwischenzeit hatte der Seenotruf Wirkung gezeigt und ein Flugzeug war von den Azoren zur Position der Katastrophe gestartet. Leider entsinne ich mich nicht mehr, ob es sich um eine amerikanische Coast-Guard-Maschine oder einen portugiesischen Marineflieger gehandelt hatte. Jedenfalls musste der zerrissene Tanker von oben einen derart schockierenden Eindruck gemacht haben, dass ein für Katastrophenfälle geschulter Mann sofort mit signalfarben leuchtendem Fallschirm über den Rettungsbooten absprang. Er hatte befürchtet, Tote und Schwerverletzte vorzufinden, Wunden nähen, Gliedmaßen schienen, vermutlich Amputationen vornehmen zu müssen.
So war auch die erste Frage des Fallschirmspringers, als er sich patschnass über das Dollbord auf die Duchten wälzte: „Wie viele Verletzte sind zu versorgen?“ - Der pfiffige Dritte aber winkte mit den anderen beschwichtigend ab und fragte stattdessen: „Was darf ich Ihnen anbieten? Bier, Whisky-Soda, Gin-Tonic, Bacardi-Coke...?“
Der Retter war so verdutzt, dass er prompt antwortete: „Whisky-Soda!“ – Wahrscheinlich nahm er an, die Schiffbrüchigen würden zum Abreagieren des Schocks einen dummen Spaß riskieren. Er staunte allerdings nicht schlecht, als ihm das Gewünschte tatsächlich gereicht wurde. Natürlich trank er auf das unfassbare Glück der Tankerfahrer.
Mittlerweile war ein griechischer Bergungsschlepper zur Unglückstelle geeilt. Von den beiden Teilen des Tankers war eigentlich nur noch das Achterschiff mit der Maschinenanlage und den Wohneinrichtungen als Bergungsbeute interessant. Zunächst aber ging ein gemeinsames Kommando der Schlepper- und Tankerbesatzung auf den vorderen Teil des Tankers mit seiner nach wie vor äußerst gefährlichen Ladung. Sie legten Sprengladungen, doch alles was knallte, waren die Sprengsätze selbst. Das Vorschiff trieb weiterhin mit 1.700 Tonnen hochaggressiver Chemikalien als bizarres Wrack im Nordatlantik und bedrohte die übrige Schifffahrt.
Es war grotesk, aber das Wrack wollte sich nicht versenken lassen. Man sprengte, man ballerte, man bombardierte. Schließlich musste die britische Fregatte "Salisbury" her, die volles Rohr auf den zähen Tanker feuerte. Das reichte aber nicht aus, denn das britische Atom-U-Boot "Dreadnought" setzte noch einige Torpedos in die Chemikalien-Kiste, die es irgendwann satt hatte, den Blaujacken als Zielscheibe zu dienen – und für immer im Atlantik verschwand!
Die Schiffbrüchigen wurden nach Ponta Delgada, der Hauptstadt des Azorenarchipels gebracht, dorthin, wo auch das Achterschiff, nun im Besitz der Bergungsfirma, geschleppt worden war. Und den Jungs blieb genügend Zeit, um ihre Wiedergeburt in diesem gastlichen Hafen zünftig zu feiern.
Hochbrisant muss die Mischung der diversen Gifte gewesen sein, als das Schiff noch fuhr. Da hatte scheinbar ein Fliegenfurz ausgereicht, um den Pott zur Hölle fahren zu lassen. Weshalb der Zarochel mit seinem komplizierten Pumpen- und Tanksystem explodierte, war auch während einer späteren Seeamtsverhandlung nicht zu ermitteln. Einer der Augenzeugen, der auch alles mit seiner Super-8-Filmkamera festgehalten hatte, erzählte, dass Experten vor den chemischen Formeln der Spezialbrühen kapitulierten. Was letztendlich ein vielleicht nur für Sekunden existierendes hochexplosives Gasgemisch der diversen Tankinhalte zündete, irgendein Zusammentreffen unvorstellbarer Begleitumstände, wird bleiben, was es von Anfang an war: Ein Rätsel!
Filmmaterial und Bilder zu dieser Katastrophe finden sie im Internet unter folgenden links:
http://www.criticalpast.com/video/65675042822_German-Essberger-Chemist_British-Dreadnought-submarine_torpedoes-hit_smoke-rises
http://dal-jte-sammlung.de/index.php?page=JTE/nach1945/wilhelmine
Sturmhimmel
24. Juli 1981. Es war 11.04 Uhr GMT, mittlere Greenwichzeit, die im Augenblick unserer Bordzeit entsprach, als ich auf der Notfrequenz 500 kHz das Alarmzeichen hörte. Dieses sollte nach Möglichkeit vor einem SOS-Ruf oder einer XXX-Dringlichkeitsmeldung ausgestrahlt werden. Es bestand aus mindestens vier Strichen – also langen Morsetönen – von jeweils vier Sekunden Länge mit einer Sekunde Zwischenpause. Alle Küstenfunk- und Seefunkstationen, die dieses Zeichen empfingen, reagierten sofort mit einem akustischen und optischen Alarm, der vom Autoalarmgerät ausgelöst wurde. Auf den Schiffen schrillte dann in der Funkstation, auf der Brücke und in der Kabine des Funkers eine Alarmklingel. Man wusste also sofort, da ist irgendetwas passiert und machte sich bereit, einen Hilferuf oder eine Warnung zu empfangen.
Das Alarmzeichen wurde gerne mit dem Notzeichen SOS in einen Topf geworfen, so dass der Eindruck entstand, das SOS-Zeichen hätte bereits genügt, um das Autoalarmgerät zu aktivieren. Ärgerlich war allerdings, wenn in tropischem Fahrtgebiet atmosphärische Störungen in nervenaufreibender Häufigkeit Fehlalarme auslösten!
Da ich Wache hatte, hörte ich das Alarmzeichen. Es folgte eine Notmeldung von EAC, der spanischen Küstenfunkstelle Tarifa-Radio. Eine Funkstelle also, die nicht selbst in Not war und daher dem "SOS" ein "ddd" voranstellte: „ddd SOS ddd = following received from m/t moncloa/efzn = in position 36.00n 05.42w collision between tanker moncloa and cargoship camino/ediv stop motorship camino is sinking ...“
Tarifa, an der Straße von Gibraltar, meldete die Kollision zwischen dem Tanker "Moncloa" und dem Frachter "Camino". Unsere vorausberechnete Mittagsposition war 36.29 Nord 17.40 West, wir waren also gut zwei Tage westlich der Seenotposition. Bereits um 11.25 Uhr GMT informierte Tarifa-Radio "all ships", dass keine weitere Hilfe mehr nötig sei. Der Tanker habe alle Schiffbrüchigen übernommen. Die "Camino" habe ein Leck im Maschinenraum, sinke aber nicht mehr und werde mit starker Backbordschlagseite vom Tanker nach Algeciras geschleppt.
Ein Routinefall fürs Funktagebuch, eine kleine Katastrophe am Rande, wie sie in manchen Fahrtgebieten oder zu manchen Jahreszeiten fast täglich im Äther zu verfolgen war. Völlig uninteressant für die Öffentlichkeit. Ein einsames, von den Medien unbeobachtetes, ungefilmtes, zuweilen erbärmliches Verrecken irgendwo da draußen.
Im Laufe der Jahre hatten sich lapidare Notizen angesammelt, schlichte Funker-Kürzel und Q-Gruppen, mit denen ich den einen oder anderen Not- oder Dringlichkeitsfall notierte. Düstere Erinnerungen an Unfälle und Hilferufe, von denen ich willkürlich ein paar herausfische:
„5. Juni 1963. SOS Japaner "Kokoku Maru" QTH (Position) im Pazifik auf 37.55n 123.02w. Unsere QTH 31.30n 118.30w, zu weit entfernt, um helfen zu können...“
„20. Februar 1964. XXX, helfen nachts nach vermisstem weiblichem Fahrgast des Passagierschiffes "Seven Seas" zu suchen. Befinden uns etwa eine Tagesreise westlich des Panamakanals im Pazifik. Suche abgebrochen, nachdem Passagier an Bord wieder aufgetaucht – vermutlich aus fremder Koje...“
„29. und 30.Mai 1964. 20.30 GMT, höre SOS des norwegischen Schiffes "Hydro", Rufzeichen LAGH: "...SOS – Kessel explodiert - boiler exploded in position 50n 14w..." Alles Weitere wurde unleserlich und brach plötzlich ab. Der Norweger gab keine Antwort mehr. Einige Schiffe suchten in der angegebenen Position. Nachts sollen drei Raketen gesehen worden sein. Vom Schiff wurde jedoch nichts gefunden. "Hydro" antwortete nicht mehr, auch Suchflugzeuge fanden nichts...“
„8. und 9. September 1965. Südwest-Sturm Stärke 10. Liegen mit Schleppzug beigedreht in der Nordsee. Dauernd SOS und XXX. "Bowqueen" gesunken. 7 Mann gerettet, 4 Mann vermisst...“
„19. Januar 1966. SOS – deutsches Motorschiff "Kremsertor" treibt mit 20 Grad Schlagseite 60 Seemeilen hinter uns...“
Wir waren damals auf der alten "Griesheim" mit einer Ladung Schwefelkies von Huelva, Spanien, nach Rotterdam unterwegs. Normalerweise wären 60 Seemeilen Abstand zum Havaristen selbst mit unserem Zossen in sechs bis sieben Stunden zu schaffen gewesen. Da sich die Katastrophe mit der "Kremsertor" aber im meistbefahrenen Seegebiet der Welt ereignete, war eine schnellere Hilfeleistung – zumindest theoretisch – garantiert. Dennoch berührte uns der Hilferuf des Schiffes durch seine Nähe besonders.
Am nächsten Tag, dem 20. Januar 1966, empfing ich die Meldung, dass die "Kremsertor" mittlerweile 45 Grad Schlagseite hatte! Um 08.20 GMT piepsten mir die Morsezeichen ins Ohr, dass 28 Besatzungsmitglieder vom deutschen Hochseeschlepper "Atlantik" übernommen worden seien. Das hieß, dass immer noch einige Seeleute auf dem Schiff ausharrten, der Kapitän, wahrscheinlich der Chief und vermutlich auch der Funkerkollege. Auf der "Griesheim" hörten wir es mit Erleichterung, als um 09.06 GMT gemeldet wurde, dass man den Rest der Besatzung mit einem Helikopter von der "Kremsertor" geborgen habe. Denn das Schiff hatte mittlerweile eine Schlagseite von 70 bis 80 Grad, war also nicht mehr zu retten!
Und so geht es weiter. Seenotfälle, Mann über Bord, Meuterei, Todkranke an Bord, Suchmeldungen nach Schiffen, die oftmals nie wieder auftauchten. Ich überblättere einige Jahre...
„28. März 1973. SOS 120 Seemeilen südlich von Dakar. Kollision zwischen spanischem Schiff "Marquina" und einem Norweger. Einer von beiden soll ein lichterloh brennender Tanker sein...“
„23. Dezember 1974. XXX, bei Kap Finisterre Liberianer "Yaga" gesunken. Zwei Überlebende, ein Toter von deutschem Motorschiff "Heimersdorf" übernommen, ein Toter von deutschem M/S "Simone", drei Tote von dänischem M/S "Berina", "keep sharp lookout...“
Ich blättere weiter: „1. Januar 1986. SOS – Koreaner "Morning Park" sinkt in Position 18.12 Nord 120.17 Ost. Ich verfolge den Rettungsfunkverkehr und höre, dass 22 Mann das Schiff in Rettungsbooten verlassen haben. Der Brite "Gastrana" übernimmt später die Crew aus den manövrierunfähig treibenden Rettungsbooten und bringt sie nach Brunei. Die "Morning Park" treibt weiterhin mit 25 Grad Schlagseite durchs Südchinesische Meer...“
Mitunter spielten sich Dramen dort draußen im Äther ab. Da finde ich beispielsweise Notizen vom Februar 1990. Ich lag damals mit einem kleinen Containerschiff vor Marsaxlokk, Malta. Ich hörte den Hilferuf des Panamafrachters "Atlantic III", einem fast 9.000 BRT großen Zossen, der um Einlauferlaubnis nach Valletta bat. Der Hafenkapitän verweigerte das jedoch strikt, obwohl der Kommandant des Panama-Zossen seine verzweifelte Lage schilderte. Was war vorausgegangen?
Die griechische Reederei "Kent Trading Corp." aus Piräus hatte den mit pakistanischer Crew besetzten Frachter vor einem Monat mit einer Ladung für die libanesische Armee auf die Reise geschickt. Sechzig Seemeilen vor der israelischen Küste war das Schiff von vier libanesischen Entführern geentert worden. Der Erste Offizier wurde als Geisel in den Libanon verschleppt. Was mit der Ladung geschah, konnte ich nicht aus den Funkgesprächen herausklamüsern, aber merkwürdigerweise berichtete der Kapitän, dass sie die vier libanesischen Piraten überwältigt hätten. Da jedoch die Besatzung des Seelenverkäufers mittlerweile seit einem halben Jahr im Mittelmeer umherirrte, ohne einen Dollar Heuer erhalten zu haben, ohne Proviant, und jetzt auch noch ohne Trinkwasser, wäre ihre Geduld am Ende.
Der Hafenkapitän von Valletta blieb hart. Da drohte der Alte auf dem Panamesen: „...Wir haben nichts mehr zu verlieren. Wir haben kein Geld, keinen Proviant, kein Wasser, ich werde mein Schiff mit voller Fahrt in die Hafeneinfahrt setzen. Sie können uns alle erschießen... you can shoot us all!“
Wer die Hafeneinfahrt von Valletta auf Malta kennt, der weiß welche Katastrophe das gewesen wäre. Mit einem Wrack in der engen Einfahrt wäre diese am dichtesten besiedelte Inselgruppe der Welt in eine wirtschaftliche Problemzone gesegelt! Nun schaltete sich endlich die ITF, die Internationale Transportarbeiter-Gewerkschaft ein, und den Verzweifelten wurde ein Mannschaftswechsel, Proviant und Wasser versprochen. So ganz konnte ich den Verdacht nicht unterdrücken, dass hier tüchtig gemauschelt wurde. Man wollte die Leute erst mal beruhigen. Proviant und Wasser werden sie wohl bekommen haben. Aber der Mannschaftswechsel sah mir sehr danach aus, die aufsässigen Männer so schnell wie möglich loszuwerden und in ihr Heimatland abzuschieben. Und dort blühte ihnen unter Umständen eine rücksichtslose Bestrafung. Die Rekrutierungsbüros, die stets den erkauften Schutz der politischen Machthaber hatten, werden den Männern die Seefahrtbücher abgenommen und die ausstehende Heuer als Strafe für Nichterfüllung des Kontraktes einbehalten haben. Und wer aufmuckte, der wanderte in ähnlich gelagerten Fällen einfach in den Knast.
Die Aufzeichnungen ließen sich weiterführen und ausbauen, mit spektakulären Katastrophen würzen, an denen sich die Medien aufgeilen, wenn es sich um attraktive Schiffe, um weltbekannte Reedereien oder aufregende Begleitumstände handelt. Wenn aber der unbekannte Hein Seemann irgendwo mit einem Rattendampfer absäuft, aus Verzweiflung, von mir aus im besoffenen Kopf über die Kante springt oder einfach beim Nachlaschen der Ladung in den Bach fällt und nicht mehr gefunden wird, dann ist das einfach zu wenig für die Revolverblätter und Trivial-TV-Kanäle! Das ist dann eben eine von diesen Belanglosigkeiten, die da irgendwo draußen auf See passieren.
Ende Juli 1981, es herrschte typisch atlantikgraues Mistwetter mit zunehmendem Nordost 6 bis 7. Aber, es waren nur noch Tage bis zu meiner Urlaubsablösung. Ich hockte in der überfüllten Kammer des Motormann Martin (alle Namen geändert), wo noch mein vierkanter Macker Rolf, der Koch, der Zweite Ing und der Decksmann Klaus beim wer weiß wievielten Bierchen saßen. Bereitwillig ließen mich meine Kameraden die Quasselrunde mit meinem sturmerprobten "Uher-Report" mitschneiden.
Es ging um die Seefahrt schlechthin, um schöne und miese Erlebnisse, um Probleme in der Partnerschaft, um die ziemlich trostlosen Zukunftsaussichten. Der Koch polemisierte heftig gegen die "Knackfüße", beschwor seinen Hass gegen „alles, was Allah schreit!“ Auch der Zweite Ing hegte seinen Groll: „... Ich mag sie nicht, und damit ist das für mich erledigt!" Aber alle waren sich sicher, gerne zur See zu fahren.
Wir diskutierten leidenschaftlich, es ging alles andere als akademisch oder "political correct" zu, und es fehlte auch tüchtig an einer gewissen Logik. Doch die war sowieso nicht gefragt als das Gespräch endlich eine scharfe Kurve Richtung Südamerika nahm!
Rolf erzählte von seiner Brasilienreise 1970: „...Ich bin siebzehn Monate Brasilien gefahren. Das ging los in Hamburg, Bremen, Stettin, England, dann Rotterdam und so weiter bis Nordspanien und Portugal: Dann nach Gran Canaria bunkern, und der erste Hafen war dann Belém. Dann Recife, Salvador/Bahia, Vitória, Cabadelo, Rio, Santos, Paranaguá, und dann sind wir runtergerutscht nach Montevideo...“
„Wie lange habt ihr immer gelegen?“
„Die längste Liegezeit war vier Wochen in Rio.“
„Hattest du noch Guthaben?“
„Ich hatte noch Guthaben!“, sagte er stolz und erzählte, wie er es bewerkstelligt hatte, mit seinem Geld gut über die Runden zu kommen:
„In Antwerpen lagen wir vier, fünf Tage in der Werft, weil wir ´n Propeller verbogen hatten. Wir hatten da zwei Plattenkühler, und in denen waren früher noch Messingplatten drin. Und da hab ich den Chief und die Assis ganz doof gefragt: "Da wollt ihr ja nichts von haben, ne?" – Und der Chief meinte: "Nee, kannste alles über die Kante schmeißen!" ...“
Rolf, der damals als Reiniger fuhr, hatte aber die pfiffigere Idee: „Allein für die Platten hab ich in Gran Canaria 450 Dollar gekriegt! Und dann hatte ich noch so alte Gas- und Sauerstoff-Flaschen aufgefixt. Die gingen beim Schrotthändler für 60 Dollar das Stück übern Süll. Und Buntmetall, Drehspäne, alles was so gesammelt wurde. Da kriegte ich 650 Dollar von dem Macker. Er hatte aber nur 500 Dollar. Wir haben uns dann geeinigt, dass er mir für die restlichen 150 Dollar Bacardi lieferte. Zwanzig Kisten Bacardi! Dem Steward habe ich später zehn Kisten verkauft. Aber da kamen mit einem Male meine Herren Assistenten. Da sag ich: "Ihr habt doch gesagt, ich soll das außenbords schmeißen!" – Und der Chief hat auch gesagt: "Der Mann hat recht." – Okay, ich hab dann jedem der drei Assis ´ne Kiste Bacardi gegeben, dann war Ruhe.“
Im Laufe des Abends stellte Rolf fest: „...Meiner Meinung nach ist Fortaleza immer noch der schönste Hafen in Brasilien. Der kleinste und der schönste Hafen. Da kannst du Rio vergessen, weil Rio zu teuer ist. Santos ist zu teuer. Fortaleza, Cabadelo, Bahia geht noch... Oder hier in Nordbrasilien Itaquim, ist auch ´n schöner Hafen. Aber Fortaleza ...“
Das kleine Fischerdorf hinterm Leuchtturm... Es waren immer die Rückblenden in Zwielichtiges, Fragwürdiges, die man als "gute Erinnerungen" hätschelte. Fortaleza, ach ja, das war schon ´ne verdammt wilde Zeit, damals, hinter dem alten Leuchtturm!
Es war jener alte Zossen, dessen versoffener Erster dem trinkfreudigen Kapitän den Sprithahn zuzudrehen versuchte, mit dem wir Mitte der Sechzigerjahre Fortaleza ansteuerten. Es war ein Wettrennen gegen die Regenzeit, das wir haushoch verloren. Die "Schürbek" war als Zehn- oder Zwölf-Meilen-Schiff an den Norddeutschen Lloyd verchartert worden. Aber der Kahn lief mit Rückenwind nur noch acht Knoten, so dass wir zum Baumwolle laden genau mit Beginn des großen Regens eintrudelten. Deshalb soff der Alte ja auch so verzweifelt, weil er die Telegramme des Charterers nicht wahrheitsgemäß beantworten konnte. Die dauernd drängende Frage nach unserem Ankunftsdatum, nach dem ETA, der "Estimated Time of Arrival". Und der Norddeutsche Lloyd war in deutschen Schifffahrtskreisen als ein eingebildeter, elitärer Haufen verschrien. Bei Neptuns fischschuppigem Barte, wenn die damals nur geahnt hätten, dass in ferner Zukunft mal ´ne Fusion mit dem Erzfeind "Hapag" stattfinden würde! Unvorstellbar, das Entsetzen! Alte Lloyd- und Hapagfahrer mögen mir meine frechen Bemerkungen verzeihen!
Der Alte trank natürlich auch, weil wir alle kräftig zechten und er mit seinen vom Krieg zerrütteten Nerven am ehesten Grund dazu hatte. Im Mittelmeer – so erzählte er mir einmal – war er innerhalb von vierzehn Tagen dreimal mit torpedierten und bombardierten Handelsschiffen eines Konvois abgesoffen. Und jedes Mal war er gerade noch, einmal sogar als einziger, mit dem Leben davongekommen.
Fortaleza, im nordöstlichen Armenhaus Brasiliens, war eine recht große Stadt. Der Hafen allerdings war eher unbedeutend und lag etwas außerhalb in einer weiten Bucht. Eine hohe Dünenkette erstreckte sich entlang der Küste, die beinahe einer Sandwüste ähnelte und nicht viel von tropischer Amazonasüppigkeit verriet, die man eigentlich erwartete. Hinter der Landzunge Mucuripe, auf deren Ende der rote achteckige Mucuripe-Leuchtturm stand, versteckte sich ein ärmliches Viertel jener Art, in dem sich Seeleute immer wieder zu Hause fühlten.
Hierhin stolperten wir Abend für Abend und zechten den billigen Bacardi-Rum, der in den Kneipen des Elendsviertels keine zwei Mark pro Flasche kostete. Schon damals war eine wertvolle Westerngitarre der Marke "Gibson" meine ständige Begleiterin, die ich nun in diese "Favela" mitschleppte und in den Bars Musik machte. Manche Nacht herrschte eine wirklich romantische Stimmung, die in jeden tropischen Kitschroman gepasst hätte! Im Kreis saßen wir mit den Mädchen beisammen, sangen Lieder, tanzten, lachten, schmusten und alberten und schlürften viel zu viel Cuba-Libre.
Da ich meinem geliebten Schatz im fernen Deutschland treu zu bleiben versuchte und sich der Dritte ein ähnlich schwieriges Vorhaben aufgebürdet hatte, soffen wir uns jede Nacht regelrecht impotent. Irgendwann wusste ich dann nicht mehr, wo meine Gitarre geblieben war, und irgendwann wusste ich auch nicht mehr, wo ich selber war. Aber, jeden Morgen wachte ich im Bett einer fürsorglichen kleinen Indianerin auf!
So ist es ja immer: Wenn man partout nicht will – oder nicht zu dürfen meint, dann hat man die traumhaftesten Chancen! Diese kleine Indianerin, Maria Nazaré, war wie wild hinter mir her. Meine Gitarre und die wonniglich melancholischen Lieder, die ich an Lateinamerikas Küsten gelernt hatte, mussten sie benebelt und verliebt gemacht haben. Sie war kein schönes Mädchen. Aber sie versprach mir die himmlischsten Liebeswonnen, was allerdings auch eine rassige, langbeinige, bildhübsche Mulattin tat, deren Herz mir ebenfalls zugeflogen war. Ach ja! Ich Idiot aber soff mich lieber handlungsunfähig und genoss dann im nüchternen Zustand das wilde Werben der beiden Frauen. Einmal saß ich mit drei oder vier Mädchen und einem Reiniger von Bord in Maria Nazarés engem Kabuff auf der Lasterliege. Die Mädchen rauchten Marihuana, ich klimperte sentimentale Lieder, da tauchte die Mulattin auf und machte mir schöne Augen. Das prachtvolle Weib stellte mir paradiesische Liebesfreuden in Aussicht, beschrieb leckermäulische Liederlichkeiten - wenn ich doch nur mit ihr ginge...
Das war zu viel für die Indianerin. Wütend stürzte sie sich auf die lange, kaffeebraune Schöne, zauberte urplötzlich eine Rasierklinge hervor und geiferte: „Jetzt will ich dein verdammtes Blut fließen sehen! Ich bin Indianerin, ich kann kämpfen, dein geiles Blut will ich trinken!“
Mann! Zwei heißblütige Frauen, die sich um die läppische Gunst eines belämmerten Funkenpusters rauften! Das hob das Selbstbewusstsein ungemein! – Nur konnte ich die billige Befriedigung unreifen Selbstgefühls nicht so richtig auskosten, denn die drohende Rasierklinge der vom Marihuana berauschten Nazareth-Maria war nun doch des Guten zu viel. Der Reiniger und ich hatten ganz schön zu tun, um den langhaarigen Amazonasteufel zu bändigen, der nach dem Blut der kraushaarigen Venus lechzte. Die wiederum drohte katzenkrallig und fauchend und musste von den anderen "Senhoritas" überwältigt werden. Tolle Verlockung, von zwei derartigen Wildlingen vernascht zu werden, Mannomann! Chauvinistische Pornomärchenvorstellung für zu Lustgreisen verkrüppelte Seelords, die ihren Mädels daheim mit aller Kraft treu zu bleiben versuchen in der abergläubischen Überzeugung, so ein lächerlicher Männerpint sei aus Seife, der sich schäumend abnutzen könnte...
Es kam schließlich zu einem Waffenstillstand, indem ich schwor, weder mit der Indianerin, noch mit der verführerischen Krauskopfvenus ins Lustlager zu hüpfen. Doch Morgen für Morgen kam der Zweite, der in aller Frühe die Hütten und Kaschemmen durchkämmte und die Seeleute einsammelte, auch in unseren Verschlag. Und er riss mich unsanft aus dem bacardiblauen Schlummer, indem er brutal an jenen Weichteilen zog, von denen sich die Senhoritas so viel versprachen! Und Morgen für Morgen war es der Sündenpfuhl von Maria Nazaré, aus dem mich der Zweite Steuermann hochscheuchte und in den wartenden Jeep verfrachtete, wo lauter verkaterte Zechbrüder und Hurenböcke beisammen hockten und triefäugig in den Tropenmorgen plierten, während sie über die Sanddünen zurück an Bord gekarrt wurden. Welch glückselige Zeiten das doch waren, als Aids noch völlig unbekannt war und den Jungs "höchstens" ein chronischer Tripper drohte! Allerdings muss man sich schon fragen, weshalb wir dieses Lotterleben führten. Nacht für Nacht an Bord in einem überhitzten, staubigen Brutkasten vor sich hin zu rotten erschien uns einfach nicht lebenswert...
Die treue kleine Maria Nazaré muss mich stets aufgelesen haben, wenn ich irgendwo volltrunken zusammenbrach. Selbst dann, wenn sie bereitwilligere Kundschaft hatte, ließ sie mich nicht im Stich. So wachte ich zuweilen auf und wunderte mich, dass wir zu dritt auf dem Lotterlaken lagen.
Die Gibson-Gitarre konnte ich unbeaufsichtigt in dem finsteren Viertel zurüüäüüßääöö