Leben im Quadrat
edition 8
Leben im Quadrat
Die Herausgabe dieses Buches wurde durch einen Beitrag der Fachstelle Kultur des Kantons Zürich und durch ermöglicht.
Ein Dank geht auch an Elisabeth Sträter, Dortmund.
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April 2014, 1. Auflage, © bei edition 8. Alle Rechte, einschliesslich der Rechte der öffentlichen Lesung, vorbehalten. Lektorat: Katja Schurter; Korrektorat: Verena Stettler; Typografie, Umschlag: Heinz Scheidegger; Umschlagbilder, vorne: Gabriele Münter ›Meditation‹, © 2014, ProLitteris, Zürich, hinten: Brigitta Klaas Meilier Verlagsadresse: edition 8, Quellenstr. 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41/(0)44 271 80 22, Fax +41/(0)44 273 03 02, info@edition8.ch
ISBN 978-3-85990-226-8
1
Nur noch schnell, Frau Weber, wie hiess er schon wieder mit Vornamen, Alois oder Albert?
Alois, nun aber Ruhe bitte, damit wir anfangen können. Melanie, Ihr Handy gehört noch in die Tasche und die Tasche auf den Boden.
Antonia Weber liess ihren Blick über die Tische gleiten, zur Kontrolle, obwohl sie wusste, dass die Schülerinnen schon immer schlauer als sie gewesen waren, wenn es ums Abschreiben ging. Besonders beliebt war in letzter Zeit das Spicken mit dem Smartphone geworden, wo man unter der Schulbank mal schnell etwas bei Google oder Wikipedia nachschaute. Doch deswegen die Handys einziehen wollte sie nicht.
Allmählich wurde es ruhig im Raum, nur noch vereinzeltes Räuspern oder Schreibgeräusche, wo ein Blatt ohne Unterlage direkt auf der Tischplatte lag.
Antonia setzte sich an das Lehrerpult, überflog noch einmal die Prüfungsfragen.
Wieso heisst es Alzheimer-Demenz?
Was sind Lewy-Körperchen?
Weshalb werden Demenz und Depression im höheren Alter leicht miteinander verwechselt?
Was muss beachtet werden, wenn eine Bewohnerin die zeitliche und örtliche Orientierung völlig verloren hat?
Die Prüfung kam ihr plötzlich nicht mehr so leicht vor. Sie schaute hoch, als Melanie gerade die Hand hob. Antonia nickte ihr zu.
Muss man bei der Frage zwei nur das Wort erklären oder auch ein Beispiel dazu schreiben?
Beides, die Frage ist ja in a und b aufgeteilt.
Jetzt seh ich’s auch, danke. Melanie beugte sich wieder über das Prüfungsblatt, schrieb weiter.
Die anderen Schülerinnen hatten sich nicht stören lassen, sie können sich besser konzentrieren als ich, dachte Antonia, eine SMS schreiben, gleichzeitig miteinander reden, während in den Kopfhörern der Sound dröhnt. Am liebsten würden sie auch die Prüfung mit Musik im Ohr schreiben, es ginge besser so, sagten sie, auch die Hausaufgaben würden sie immer so erledigen.
Antonia begann im Unterrichtsdossier zu blättern, das sie für heute vorbereitet hatte. Hin und wieder schaute sie kurz in die Runde, ob nicht doch jemand bei der Nachbarin abschrieb oder sich sonst irgendwie eigenartig verhielt. Vor kurzem erst hatte sie entdeckt, dass Astrid ihre Handfläche beschrieben hatte. Also, das habe ich nur so gemacht, als Vorbereitung, während der Prüfung schaue ich sicher nicht darauf, hatte sie keck behauptet und der Lehrerin sogar in die Augen geschaut. Antonia hatte kein grosses Aufhebens machen wollen, hatte Astrid nur zum Spülbecken geschickt, damit sie sich gründlich die Hände wusch.
Im Laufe der Jahre bin ich nachsichtiger geworden, sanfter vielleicht auch, dachte Antonia, denn die meisten, die hier sitzen, haben auf irgendeine Weise mit Problemen zu kämpfen. Die Betreuung der kranken Menschen im Altersheim setzt den jungen Frauen mehr zu, als sie vor ihrer Ausbildung erwartet haben. Dann die vielen Todesfälle. Manche haben auch Schwierigkeiten zu Hause. Mit Aysa habe ich schon lange nicht mehr gesprochen, fiel ihr ein. Früher war sie häufig nach der Stunde noch etwas länger geblieben, um ihr von der Arbeit im Heim zu erzählen. Einmal hatte sie auch erwähnt, dass sie mit ihren zwei jüngeren Schwestern ein Zimmer teile, während der Bruder sogar im Wohnzimmer schlafen müsse. Die Wohnung sei eng, meistens laufe der Fernseher, so dass es fast unmöglich sei, sich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren. Der Pausengong hatte damals das Gespräch abrupt beendet, aber Antonia hatte gespürt, dass Aysa noch etwas anderes beschäftigte. Zwei Wochen vergingen, ohne dass sie nochmals auf sie zukam. Dann, kurz vor den Ferien, hatte sie um ein Gespräch gebeten. Die kommenden Wochen werde sie bei ihren Verwandten in der Türkei verbringen, hatte sie erzählt, dabei ihr langes, schwarzes Haar hinten am Nacken mit der Hand umfasst, als suchte sie nach Halt. Es gebe dort einen Cousin, der von der Familie als ihr zukünftiger Ehemann bestimmt worden sei. Oder besser: sie als seine zukünftige Frau. Aysa war auf die Stuhlkante vorgerutscht, hatte unruhig zur Schulzimmertür geschaut, ob nicht doch plötzlich jemand hereinkäme. Sie habe Angst. Aber richtig glauben, dass ihr eine Heirat mit ihm bevorstünde, könne sie nicht. Sie wohne doch hier in der Schweiz, er in Antalya, zudem spreche er kein einziges Wort Deutsch. Antonia hatte ihr aufzuzeigen versucht, wie sie der Zwangsheirat entgehen könnte, aber bei jedem Vorschlag hatte Aysa den Kopf geschüttelt, fest davon überzeugt, dass es für sie keine Alternative gebe. Erst gegen Ende der Ferien traf eine Mail bei ihr ein, worin Aysa ihr mitteilte, dass sie nun doch nicht gefahren sei. Seither aber wirkte sie niedergeschlagen und wich offensichtlich Versuchen aus, mit ihr zu sprechen. Wie sollte sie sich unter solchen Umständen auf den Unterricht konzentrieren können? Oder wenn die Scheidung der Eltern einem den Boden unter den Füssen wegzieht? Antonia dachte an Julia, die unter Tränen davon erzählt hatte, als sie die verschiedenen Familienformen behandelten. Würde ich alles auflisten, was die Schülerinnen belastet, man hielte es für übertrieben. Jasmin, zum Beispiel, bei der kürzlich ein Hirntumor festgestellt wurde. Christina, die ihren Bruder schmerzlich vermisst, seit er wegen seiner Aidskrankheit von den orthodoxen Eltern verstossen wurde und sie nicht weiss, wo er sich aufhält. Tamara, schon im siebten Monat schwanger, aber immer noch ist unklar, wer ihr Kind nach der Geburt betreuen wird. Wie weit darf oder muss ich mich einsetzen, wenn mir eine Schülerin ihre persönlichen Schwierigkeiten anvertraut? Schon oft hatten sie im Lehrerkollegium darüber gesprochen, aber es gab keine eindeutigen Antworten.
Antonia begann, eine Sonne mit lachendem Gesicht, was Sofie so gern mochte, auf die Rückseite des Prüfungsblatts zu malen. Manchmal wünschte sie sich auch ein Haus mit vielen Fenstern und herauswinkenden Kindern. Der letzte Sonnenstrahl war noch nicht auf dem Blatt, als jemand fürchterlich niesen musste, dreimal hintereinander. Jenny. Sie schneuzte sich kräftig, blickte entschuldigend zur Lehrerin, doch die Konzentration in der Klasse war zerstört. Offenbar aber waren die meisten ohnehin gerade fertig geworden, streckten sich, husteten, gähnten, schoben das Blatt von sich weg.
Antonia stand auf, ging von Tisch zu Tisch und sammelte die Antwortblätter ein.
War es schwierig?, fragte sie.
Geht so, wahnsinnig, viel zu viele Fragen, nein, überhaupt nicht, kam es gleichzeitig von überall her. Bitte nicht zu streng korrigieren, bat Julia, als Antonia Weber bei ihr stand, ich konnte mich nicht gut vorbereiten.
Ich verstehe, sagte Antonia.
Und – Julia hielt kurz inne – danke nochmals für den Tipp wegen Alois Alzheimer.
Gern geschehen. Sie haben ja gerade noch rechtzeitig gefragt.
Antonia Weber ging einen Tisch weiter, wo Senta immer noch schrieb. Die Zeit ist leider um.
Nur noch diesen einen Satz, dann habe ich alles, bat sie, den Kopf weiterhin tief über die Prüfung gebeugt. Sie war erst seit kurzem in der Klasse, weil sie den Lehrbetrieb gewechselt und deswegen eine Berufsschule in der Nähe gesucht hatte.
Tut mir leid, sagte Antonia, Sie müssen jetzt abschliessen.
Es war für Sie noch etwas ungewohnt, nicht wahr?, fragte Antonia, als ihr Senta das Antwortblatt zögernd hinstreckte.
Die Schülerin nickte: Also, richtig schwierig war es nicht, aber ich war eben schon immer langsam. In der Schule und auch sonst überall.
Antonia stutzte, dann hatte der Wechsel des Lehrbetriebs womöglich auch noch schulische Gründe, dachte sie, wandte sich aber gleich der Klasse zu und rief in den anschwellenden Lärm: Ihr könnt zehn Minuten Pause machen. Sofort eilten einige hinaus, so dringend war es für sie, endlich eine Zigarette rauchen zu können.
Senta aber blieb sitzen.
Sie haben sicher schon einiges versucht, um schneller arbeiten zu können. Antonia lehnte sich gegen die Tischkante, denn das Gespräch könnte vielleicht etwas länger dauern als nur zwei, drei Sätze.
Das kann man nicht üben, ich bin einfach so, meinte die Schülerin in einer Mischung aus Stolz und Resignation. Zum Glück bin ich überhaupt, eigentlich hätte ich abgetrieben werden sollen. Zumindest wenn es nach dem Frauenarzt meiner Mutter gegangen wäre.
Diese Offenheit ohne jegliche Vorbereitung! Antonia drückte den Stapel mit den Prüfungen an sich, um sich irgendwo festhalten zu können. Wie kommt man aus einer solchen Situation wieder hinaus, ohne die Schülerin abrupt unterbrechen zu müssen, der Unterricht geht ja gleich weiter.
Das Kind wird behindert, hatte der Gynäkologe behauptet, was beim Alter meiner Mutter ja keine Überraschung sei, fuhr Senta unbeirrt fort, überzeugt, in der Lehrerin eine mitfühlende Zuhörerin gefunden zu haben.
So eine Unverschämtheit, sagte Antonia daraufhin, etwas lauter als beabsichtigt, wodurch sie aber ihre Souveränität zurückgewann. Gut, hat Ihre Mutter nicht auf ihn gehört.
Ja, zum Glück. Sie wollte mich behalten, unbedingt. Deswegen zog sie vom Dorf in die Stadt, wo sie einen neuen Arzt fand. Einen Arzt braucht man doch während der Schwangerschaft, nicht wahr?
Antonia nickte, es ist schon besser.
Senta lächelte, Antonia lächelte auch, nicht unglücklich darüber, dass die ersten Schülerinnen wieder in das Schulzimmer zurückkamen.
Es brauchte mehr als eine Bitte, bis es ruhiger wurde. Früher hat es mir nicht so viel ausgemacht, wenn ich mich durchsetzen musste, dachte Antonia, während sie mit der Zunge rasch die Zahnlücke abtastete, wo ihr seit letzter Woche ein Stiftzahn fehlte. Sie hatte nichts Hartes gekaut, Salat mit Pilzen, dann aber plötzlich doch etwas Hartes im Mund gespürt. Nun stand ihr ein Zahnarzttermin bevor, vor dem sie sich panisch fürchtete, erst recht, seit ihr während einer Behandlung einmal der Kiefer ausgerenkt war, was damals auch den Zahnarzt sichtlich überfordert hatte.
Antonia stellte sich vor die Klasse hin. Schweigend, abwartend, eine Ewigkeit. Sie wollte, dass ihr alle zuhörten und sie nicht alles zweimal sagen musste.
Wir alle haben schon einmal etwas Eindrückliches erlebt, etwas, das wir nie wieder vergessen, begann sie schliesslich. Ein Ferienerlebnis vielleicht, einen besonderen Geburtstag oder ein überraschendes Geschenk. Wenn ihr darüber nachdenkt, kommt euch sicher viel dazu in den Sinn. Genau so geht es auch den alten Menschen bei euch im Heim. Sie haben natürlich ein längeres Leben hinter sich, mit vielen Erinnerungen, guten und schlechten. Eine fachkundige Betreuung bezieht die Erlebnisse der Bewohnerinnen und Bewohner stets mit ein.
Ich weiss, rief Senta, man nennt das Biografiearbeit, das hatten wir in der anderen Schule schon. Dann fügte sie stolz hinzu: Für einmal war ich doch schneller als die anderen.
Genau, sagte Antonia, und bestätigte damit beides.
Habt ihr nicht auch Erlebnisse oder Gegenstände, die euch besonders wertvoll sind? Dann versteht ihr besser, weshalb auch die alten Menschen … Ja, Nicole?
Mir fällt gerade ein, dass ich einmal meinen Teddy in einer Raststätte liegen liess, auf der Rückfahrt von Spanien. Er war mein Lieblingsteddy, ich heulte so lange, bis mein Vater die ganze Strecke wieder zurückfuhr, sicher zwei Stunden. Zum Glück lag der Teddy noch da. Nicole drehte an ihrem Nasenpiercing und schob gedankenverloren nach: Voll geil.
Ein eindrückliches Erlebnis, sagte Antonia. Noch jemand?
Ich bin einmal fast ertrunken, im Sommer, wir waren in Italien oder so. Ich bin vom Dreimeterbrett ins Wasser gesprungen, hatte mich aber vorher nicht abgekühlt, mir hat es richtig den Atem verschlagen, ich japste nach Luft, aber meine Schwester hat mich nur ausgelacht. Irgendwie bin ich dann doch aus dem Wasser gekommen, aber seither habe ich Angst, wenn es tief ist. Rausschwimmen tu ich nicht mehr.
Nives?
Das hat mir meine Oma geschenkt, kurz bevor sie gestorben ist. Sie hob das Goldkreuz, das sie an einer filigranen Kette um den Hals trug, ein wenig noch, um es den anderen zu zeigen. Ich habe sie wahnsinnig gern gehabt, lieber noch als meine Mutter. Dann ist sie gestorben, zuhause in Kroatien, als ich gerade dort in den Ferien war. Sie war der erste Mensch, den ich tot gesehen habe, erzählte sie weiter. Es klang, als müsste sie gegen Tränen ankämpfen. Wenn bei uns jetzt jemand stirbt im Altersheim, macht mir das nicht mehr so viel aus, weil – sie hielt einen Moment inne –, weil ich ja schon meine Oma tot gesehen habe, im Sarg, mit gefalteten Händen.
Das hat Sie traurig gemacht, aber vielleicht auch stark, ich meine, für Ihre Arbeit jetzt im Heim?
Nives nickte. Es sind schon so viele gestorben, seit ich dort arbeite.
Für eine Weile schwiegen alle. Der Tod war für sie stets gegenwärtig, ganz anders als bei ihren gleichaltrigen Freundinnen, die eine Ausbildung in einem kaufmännischen Betrieb, als Verkäuferin oder auch als Coiffeuse machten.
Dass alle Menschen, die ihr im Heim betreut, irgendwann sterben, ist für manche sehr belastend, versuchte Antonia, die nun plötzlich veränderte Stimmung in der Klasse aufzufangen. Wir sprechen später ausführlicher darüber, vielleicht möchte jetzt noch jemand von einem besonderen Erlebnis erzählen?
Celina hob die Hand, in der anderen hielt sie ein Foto, das sie gerade aus ihrer Agenda genommen hatte. Sie müssten aber etwas näher kommen, Frau Weber.
Die Schülerin streckte ihr das Foto entgegen, wollte wissen, ob Antonia sie darauf erkennen könne. Zwei kleine Kinder posierten in bunten Badehosen und orangefarbenen Schwimmhilfen an den Armen.
Hier waren wir im Sommer immer zum Baden, meistens haben wir ein Eis bekommen. Aber fast ertrunken bin ich nie.
Antonia tippte richtig. Celina freute sich: Und das ist mein Zwillingsbruder, er sieht doch fast so aus wie ich, ist aber drei Minuten älter. Manuel heisst er. Seinen Namen dürfen Sie ruhig wieder vergessen, meinen aber nie mehr, weil – später einmal, wenn ich Sie im Altersheim pflege, müssen Sie immer noch wissen, wie ich heisse.
Das verspreche ich Ihnen, Celina, sagte Antonia schmunzelnd. Auf die Schülerinnen wirkte sie also wie eine alte Frau, deren Heimeintritt unmittelbar bevorstand, obwohl er doch, statistisch gesehen, erst in ungefähr dreissig Jahren fällig würde, wenn überhaupt.
Antonia sah ihre Eltern vor sich, wie sie sie bei ihrem letzten Besuch angetroffen hatte: im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, neun Uhr, die Fensterläden immer noch geschlossen. Sie spüren keinen Impuls, aufzustehen. Auch ich bin schon unzählige Male am Morgen aufgestanden, auch für mich immer dasselbe. Antonia versuchte es zu überschlagen: Fünfundfünfzig mal dreihundertfünfundsechzig Tage, vielleicht abzüglich die Monate als Säugling und die Tage krank im Bett. Zu kompliziert ohne Taschenrechner.
Was sollen wir jetzt machen? Julias Frage holte Antonia ins Schulzimmer zurück. Sie sah, dass zwei Schülerinnen in der vordersten Reihe über das Sudoku einer Gratiszeitung gebeugt waren, die beiden neben ihnen überprüften ihr Make-up im Handspiegel. Auch in den hinteren Reihen sah es nur noch bedingt nach Unterricht aus. Kein Wunder, dachte sie, ich selbst bin ja auch nicht wirklich bei der Sache.
Sie teilte die Klasse in fünf etwa gleich grosse Gruppen auf, mit dem Auftrag sich zu überlegen, wie sie frühere Erlebnisse ihrer Bewohnerinnen und Bewohner für die tägliche Betreuungsarbeit sinnvoll nutzen könnten. Dann wies sie jeder Gruppe einen eigenen Arbeitsraum zu.
Nein, Melanie, Zigaretten und Handy lassen Sie bitte hier.
Nach einer Weile ging Antonia hinaus, um die einzelnen Gruppen aufzusuchen. Sie klopfte an die Tür des nächsten Arbeitsraumes, wie sie es immer tat, wenn sie nach einer Gruppe schaute. In dem Gemisch aus Kontrolle und Interesse, das einem solchen Augenschein stets anhaftete, überwog momentan das Interesse. Zwei, drei Schülerinnen wandten sich rasch nach ihr um, beteiligten sich aber sofort wieder am Gespräch. Es ging um eine alte Frau, die vor kurzem im Heim gestorben war. Die Schülerin, die das gerade erzählte, war aufgewühlt. Sie hätte ins Krankenhaus gehört, empörte sie sich, das hat doch wirklich jeder gesehen. Ich habe es megahäufig gesagt, aber auf mich hört ja keiner.
Bei uns ist das genauso, das macht mich halb wahnsinnig, regte sich auch Jasmin auf.
Sie waren sich einig, dass sie in den Heimen nicht ernst genommen wurden. Die denken, wir seien noch zu jung, hätten von nichts eine Ahnung.
Hat wohl nichts mit Biografiearbeit zu tun, dachte Antonia. Was war mit dem Gruppenauftrag? Sollte sie danach fragen? Sie spürte, wie sich die Empörung der Schülerinnen auf sie selbst übertragen hatte und liess es bleiben.
Auf mich hört man, sagte jetzt Celina, während sie sich selbstbewusst durch das leicht blondierte, lange Haar fuhr. Ich habe letzte Woche während der Intimpflege bei einer Bewohnerin einen beginnenden Dekubitus entdeckt. Das hättet ihr sehen sollen, wie da alle sofort gesprungen sind. Eine Diplomierte hat sich hinterher sogar bei mir bedankt.
Während Antonia noch eine Weile das Gespräch verfolgte, waren auf dem Flur die Stimmen der zurückkehrenden Schülerinnen zu hören.
Ein Blick auf die Wanduhr im Gruppenraum, dann: Kommt ihr bitte in zwei, drei Minuten auch?
Überlegen wir also nochmal, von welchen Erlebnissen die alten Menschen gern erzählen oder was sie immer noch belastet, begann Antonia, als alle Schülerinnen wieder im Schulzimmer waren.
Viele haben den Krieg miterlebt, deshalb bleiben sie ein Leben lang sparsam. Sie würden keinen Krümel Brot wegwerfen.
Wenn wir eine Hose schon längst nicht mehr tragen würden, wollen unsere Bewohnerinnen sie immer wieder ausbessern. Krass, finde ich.
Weil manche Frauen schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht haben, lassen sie sich im Heim von keinem Betreuer intim pflegen, nur von einer Frau.
Von der Hochzeit erzählen sie immer gern.
Oder von den Kindern, vor allem, als sie klein waren.
Und von den Ferien.
Viele konnten früher gar nie verreisen, sie hatten viel zu wenig Geld dafür.
Manche erinnern sich gern daran, wie sie und ihr Ehemann sich kennengelernt haben, da gibt es ja die verrücktesten Geschichten.
Wie meinen Sie das, fragte Antonia.
Eine Frau hat mir einmal erzählt, dass sie und ein Kollege sich darin einig waren, nie und nimmer eine feste Beziehung einzugehen oder gar zu heiraten. So freiheitsliebend waren beide. Geschworen hätten sie darauf – und was geschah dann? Ein Jahr später waren sie miteinander verheiratet, schon im Jahr darauf kam das erste Kind, dann das zweite und so fort. Schliesslich traten beide mit über achtzig bei uns ein. Sechs Kinder, ein Dutzend Enkelkinder und drei Urenkel sind trotz des damaligen Schwurs entstanden. Und wahrscheinlich werden es noch mehr, Urenkel, meine ich natürlich.
Nun meldete sich auch Aysa. Bei uns hat sich letzthin ein Paar gefunden, oder ich müsste besser sagen, wieder gefunden. Die beiden waren als Jugendliche ineinander verliebt gewesen, gingen dann aber getrennte Wege. Bis, ja, was meinen Sie, Frau Weber?
Sie haben sich im Heim wieder getroffen, mutmasste Antonia.
Genau, freute sich Aysa. Beide kamen zwar mit Ehemann oder eben Ehefrau ins Heim, als diese dann aber starben, entflammten die Herzen der beiden Jugendlieben erneut. So haben sie es jedenfalls bezeichnet: Das Herz ist wieder entflammt.
Antonia spürte plötzlich ein ganz ähnliches Gefühl in sich aufsteigen. Und dass sich ihr Gesicht zu röten begann. Nein, dachte sie, das gehört nun wirklich nicht hierher. Sie hustete willentlich, damit es aussah, als käme die rötliche Gesichtsfarbe davon. Doch die Schülerinnen schienen nichts bemerkt zu haben. Antonia erhob ihre Stimme, um wieder im Schulzimmer anzukommen: Ihr habt ergreifende Beispiele genannt. Ich freue mich, dass ihr die Bewohnerinnen und Bewohner in eurem Heim schon so gut kennt, obwohl ihr dort noch gar nicht so lange arbeitet. Zur Vertiefung des Themas habe ich noch einige Aufgaben vorbereitet, die ihr auch zu zweit lösen könnt. Sie bat eine Schülerin, die Blätter zu verteilen. Falls ihr ein Fremdwort nicht versteht und euer Smartphone auch keine gescheite Erklärung anbietet, könnt ihr natürlich mich fragen.
Oho, kam es aus einer Ecke, so superschlau möchte ich auch mal sein.
Antonia wandte sich um. Bitte etwas anständiger.
Die Schülerin lächelte verlegen. Sorry.
Noch eine gute Viertelstunde bis zur Pause. Antonia schaute auf ihr Pult. Schon wieder dieses Durcheinander von Dossiers, Plastikmappen und Stiften. Um die Konzentration in der Klasse nicht zu stören, setzte auch sie sich nochmals hin und tat so, als würde sie im Dossier lesen. Müsste ich nachher meine Eltern anrufen?
Der Pausengong wirkte elektrisierend. Auf Wiedersehen!
Während sie das Unterrichtsmaterial zusammenpackte, bemerkte sie plötzlich Jenny neben sich. Frau Weber, können Sie mir vielleicht sagen, welche Übungen es gibt, um die Brüste zu straffen?
Wie bitte?
Ich meine, wieso manche Frauen auch im hohen Alter immer noch richtig schöne Brüste haben. Das möchte ich wirklich gern wissen.
Wie kommt sie nur jetzt auf eine solche Frage? Trage ich etwa eine Bluse, die … Antonia konnte ihren Gedanken nicht zu Ende führen.
Schau mal, so geht das, sagte Nicole, die ebenso plötzlich dastand und die Handflächen über der Brust zusammenpresste. Wenn du das jeden Tag machst, kriegst du später garantiert keinen Hängebusen. Lachte und packte die Freundin am Arm, um draussen mit ihr eine Zigarette zu rauchen.
Halb vier. Antonia schlenderte durch die schmalen Gassen zum Bahnhof. Bis zur Abfahrt der S-Bahn hatte sie noch genügend Zeit, um ein Brötchen und einen Schokoriegel für Sofie zu kaufen, wie es sich für eine Grossmutter gehörte. Zwar war sie nicht im eigentlichen Sinne Sofies Grossmutter, aber sie liebte das kleine Mädchen wie eine Enkelin. So wie sie Laura, Sofies Mutter, liebte, als wäre sie ihre eigene Tochter. Später einmal würde sie Sofie erzählen, wie all das gekommen war und es ihr daher folgerichtig erschien, doch Nonna genannt zu werden.
2
Die Wohnung, die Laura und Remo vor einigen Jahren gekauft haben, liegt im Dorfzentrum, von der S-Bahn-Haltestelle nur wenige Minuten entfernt. Ich beeile mich, überquere rasch die Gleise. Noch während ich in ihre Strasse einbiege, sehe ich Laura auf der Terrasse, wie sie sich bückt, hinter der Bambusumrandung verschwindet und gleich darauf mit Sofie auf dem Arm wieder auftaucht. Mit der freien Hand zeigt sie in meine Richtung. Jetzt hat auch Sofie mich entdeckt. Sie winkt heftig, ruft etwas. Ich winke zurück, schwenke die Tüte mit dem Brötchen und dem Schokoriegel. Als ich bei der Wohnungstür ankomme, steht sie schon da: lachend, die blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten, im dunkelblauen Wolljäckchen, darunter eine grüne Cordhose mit einem bunten Aufnäher auf dem Knie. Ich hebe sie hoch und muss aufpassen, dass ich sie vor lauter Freude nicht zu fest an mich drücke.
Der Elefant ist aus dem Käfig davongelaufen, sagt sie aufgeregt.